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MUSIK-KONZEPTE Neue Folge

Die Reihe über Komponisten

Herausgegeben von Ulrich Tadday

Heft 188/189

Rebecca Saunders

Herausgegeben von Ulrich Tadday

April 2020

Wissenschaftlicher Beirat:

Ludger Engels (Berlin, Regisseur)

Detlev Glanert (Berlin, Komponist)

Jörn Peter Hiekel (HfM Dresden/ZHdK Zürich)

Birgit Lodes (Universität Wien)

Laurenz Lütteken (Universität Zürich)

Georg Mohr (Universität Bremen)

Wolfgang Rathert (Universität München)

Print ISBN 978-3-86916-833-3
E-ISBN 978-3-86916-835-7

Der Abdruck der Notenbeispiele bzw. Abbildungen erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Henry Litolff’s Verlag, Hinrichsen Edition und C. F. Peters Ltd & Co. KG.

Umschlaggestaltung: Thomas Scheer

Umschlagabbildung: Porträt Rebecca Saunders, © Astrid Ackermann

Die Hefte 1–122 und die Sonderbände dieses Zeitraums wurden von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn herausgegeben.

E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2020

Levelingstraße 6a, 81673 München

www.etk-muenchen.de

Inhalt

Vorwort

Klaus Angermann
Klang – Körper – Raum – Klang
Kontrolle und Offenheit im Werk von Rebecca Saunders

Lukas Haselböck
»Wie klingt die Stille?«
Klangräume und Klangdramaturgie bei Rebecca Saunders

Lydia Jeschke
Außen und Innen
Gespräch mit Rebecca Saunders über Räume

Rainer Nonnenmann
Musik um Nichts
Rebecca Saunders’ Traditionen, Routinen, An- und Widersprüche

Martin Kaltenecker
Bemerkungen zu Rebecca Saunders’ Scar

Tobias Schick
Klang, Dramaturgie und Präsenz in Rebecca Saunders’
Alba für Trompete und Orchester

Jörn Peter Hiekel
Klang-Raum-Drama auf den Spuren von James Joyce
Zu Rebecca Saunders’ Werkkomplex Yes, seinen Kontexten und seinen Besonderheiten

Yuval Shaked
InSideOutSideIn
Über Fletch von Rebecca Saunders

Mark Barden
Die Komponistin Rebecca Saunders aus sechs Blickwinkeln

Abstracts

Bibliografische Hinweise

Zeittafel

Autorinnen und Autoren

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Vorwort

Vielleicht kommt die philosophische Rede von der »Autonomie des Klangs«, um mit Gunnar Hindrichs zu sprechen, der kompositorischen und ästhetischen Intention Rebecca Saunders (*1967) am nächsten. Damit ist der musikalische Eigensinn, den die Komponistin nicht allein auf dem Notenpapier gestaltet, behauptet und zugleich – konzeptionell – die Wahrnehmung der Hörer eingeschlossen, denen Rebecca Saunders neue musikalische Räume eröffnet. Die Autoren des Doppelbandes führen durch diese Räume, für deren kompositorisch farbige wie strukturell differenzierte Ausgestaltung Rebecca Saunders 2019 mit dem Ernst von Siemens Musikpreis ausgezeichnet worden ist.

Die Frage, welche Farbe ein Klang annimmt (Klangfarbe) und welchen Raum er einnimmt (Klangraum), wie er Raum gewinnt, indem er in einem Raum erklingt und fortklingt (Klangkörper und Raumklang) und diesen für unsere Ohren färbt (Klangfarbe), enthält schon eine Antwort, die von der Voraussetzung ausgeht, dass das musikalische Kunstwerk und unsere Wahrnehmung wechselbezüglich sind. Diese Frage, warum das Werk und seine Wirkung nicht zu trennen sind, die im Grunde genommen eine musikphilosophische ist, greift Klaus Angermann am Beispiel unterschiedlicher Kompositionen Rebecca Saunders’ zu Anfang des Bandes auf. Die Autoren, die ihm im weiteren Verlauf folgen, gewinnen der Frage im Grundsätzlichen immer neue Antworten ab, sodass die Musik Rebecca Saunders’ nicht nur in der praktischen Realisation, sondern auch in der wissenschaftlichen Reflexion unerschöpflich auslegungsfähig erscheint. Quod erat demonstrandum, veranschaulicht Lukas Haselböck Saunders’ kompositorische Räume anhand der Analyse der Werke Crimson (2004–05) für Klavier solo und Void (2013–14) für zwei Schlagzeuger und Orchester, bevor die Komponistin selbst in einem Interview mit Lydia Jeschke zu Wort kommt. Während Rainer Nonnenmann im Anschluss daran die Grenzen des Raumdenkens kritisch erkundet, geht Martin Kaltenecker anhand einer kleinen Anzahl vorbereitender Skizzen für Scar (2018–19) sowie eines 2019 mit der Komponistin geführten Gespräches auf die Frage, ob Saunders’ Klangfarbenkompositionen sich der Gefahr des Ästhetizismus aussetzen, weiter ein, um Saunders in der Art und Weise, wie sie musikalische Räume erschafft, als eine Komponistin der Jetztzeit zu erweisen. Tobias Schick untersucht im Anschluss, wie im Trompetenkonzert Alba (2014) die Setzung spezifischer Klanggestalten die Struktur des Werkes bestimmt und wie – ungeachtet musikalischer Sub- und Paratexte – durch das Weitertragen der klanglichen Energie zielgerichtete Entwicklungsprozesse entstehen, die nicht nur zu expressiven und dramatischen Momenten führen, sondern auch die Großform des Werkes beeinflussen. Wie es Rebecca Saunders versteht, klanglich komplexe Strukturen zu gesteigerter Expressivität und Emotionalität räumlich zu schichten, zeigt Jörn Peter Hiekel in einer Analyse des auf Joyces Ulysses bezogenen »Polywerks« Yes (2016/2017). Und Yuval Shaked gibt dem Leser durch die exemplarische Analyse von Strukturen auch einzelner Klänge des Streichquartetts Fletch (2012) Einblicke in die Klang- und Ausdruckswelt einer Komponistin, hinter deren Namen Mark Barden am Ende des Bandes ein unkonventionelles Ausrufezeichen setzt.

Ulrich Tadday

Klaus Angermann

Klang – Körper – Raum – Klang

Kontrolle und Offenheit im Werk von Rebecca Saunders

Die Titel der Werke von Rebecca Saunders verweisen auf Außerklangliches. Sie erwecken Assoziationen an Haptisches, an Räumliches, an Farben; sie beziehen zuweilen theatrale Momente ein und weisen explizit literarische Einflüsse auf, vorwiegend von James Joyce und Samuel Beckett. In einem scheinbaren Widerspruch dazu stehen Äußerungen der Komponistin, die in verschiedenen Zusammenhängen immer wieder die Autonomie ihrer Musik betont und von der Schwierigkeit spricht, »etwas komplett Abstraktem einen Namen zu geben«:

»Denn eigentlich geht es in meiner Musik um überhaupt nichts. Es gibt keine politische Agenda, es gibt keine gesellschaftliche Auseinandersetzung, es gibt keinen Bezug zur Literatur. Es gibt einfach Klänge, die mich begeistern … Aber eigentlich gibt es gar nichts zu sagen.«1

Weil der Klang eben für sich selbst spricht.

Die Auffassung von Klang als autonomes Phänomen mit eigenen Eigenschaften, mit eigenem Charakter jenseits von Tonsatzregeln und Formgesetzen ist nicht erst mit der Auflösung der traditionellen musikalischen Syntax im 20. Jahrhundert ins Zentrum des Interesses gerückt, sondern rührt an die Ursprünge jeder musikalischen Äußerung. Die »Befreiung des Klangs«, Edgard Varèses »son organisé«, die »Klangprojektion« und »Abreise in den Raum«2 bezeichnet trotz aller visionären Begleitmusik keine völlig neue Stufe der musikalischen Entwicklung, sondern rekurriert auf die ursprüngliche Freiheit des Klangs, die mit der Faszination und Magie des Erklingens verbunden ist – der Faszination des Menschen vor den sein Ohr erreichenden Klängen der Natur oder vor der Möglichkeit, selbst den Dingen Klänge entlocken zu können.

»Ich schreibe, was ich hören möchte«, sagt Rebecca Saunders in einem ihrer Interviews3 und bringt mit diesem lapidaren Satz ihr Komponieren auf den Punkt, das der Erforschung des Klanges gewidmet ist und in der fixierten Verschriftlichung der Komposition den Forschungsprozess quasi protokolliert. Wie akribisch und detailreich dieser Forschungsprozess ist, davon legen allein schon die ausführlichen Spielanweisungen Zeugnis ab, die jeder Partitur vorangestellt sind und den Musikern vor jedem Abspielen der Noten mittels erweiterter Spieltechniken ein eigenes Forschen nach den Möglichkeiten ihres Instruments abverlangen – Möglichkeiten, die die Komponistin selbst zuvor experimentierend erkundet hat: »Entscheidend ist deshalb der physische Kontakt mit dem Instrument. Wenn ich das Instrument nicht selbst spielen kann, ist es trotzdem oft nützlich, eines zu leihen und zu lernen, wie man darauf einen einfachen Ton hervorbringt.«4

I Klanglandschaften

Das Forschen nach dem Klang ist für Saunders eine Suchbewegung nach dem Ungehörten und Unerhörten und somit weniger ein Erfinden als ein Finden. Im Vorwort zur Partitur von void heißt es:

»Unter der Oberfläche der Stille liegt eine Kakophonie von Klang und Geräusch, ein unendliches zu entdeckendes und hörbar zu machendes Potenzial. Der Kompositionsakt enthüllt es und macht es sichtbar, indem er sanft den Klangfaden aufnimmt, aus der Tiefe farbige Fragmente hervorzieht, den Moment ergreift und den Klang aus der imaginären ruhenden Stille hervorbrechen lässt.«5

void für Schlagzeugduo und Orchester, das 2013/14 im Auftrag des Westdeutschen Rundfunks entstand, ist – wie viele andere Werke von Rebecca Saunders – von Texten Samuel Becketts inspiriert, den Texts For Nothing, in denen der Klang der Sprache, der zum murmelnden Laut gewordene monologisierende Bewusstseinsstrom das sinnverweigernde Schweigen des Raumes durchbricht. Der Titel des Stücks ist dabei vieldeutig und lässt unterschiedliche Bedeutungsebenen anklingen: »void« meint zunächst eine Leere, ein Vakuum, eine Abwesenheit, im philosophischen Sinne das Nichts. In normativer Bedeutung bezeichnet es aber auch das Nichtige, Nutzlose, Ungültige und Sinnentleerte – die Stille, die den Klang umschließt. Und aus dieser Stille löst sich ein Klang, um sofort wieder darin zu verschwinden. Dabei zeigt sich bereits in den Anfangstakten die nicht nur für dieses Werk charakteristische differenzierte klangfarbliche Gestaltung: Unter der Vortragsbezeichnung »Expansive. Static« eröffnen die zarten Metallklänge des Soloschlagzeugs (Aluminiumgefäße, Federn, Metallplatten mit komplexem Obertonspektrum, dazu gestrichene Klangschalen) einen Resonanzraum, der in den Streichern (Flageolett und Flautando) sowie dem hohen Register des Akkordeons nachschwingt und verklingt. In variierter und klanglich verdichteter Form folgt im vierten Takt ein analoger Vorgang, in den nun auch zunächst hohe Holzbläser und Impulse von Harfe, Klavier und E-Gitarre einbezogen sind und an dessen Ende der Resonanzraum durch Kontrabassklarinette und Kontrabässe im tiefen Register erweitert wird (Notenbeispiel 1).

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Notenbeispiel 1: Rebecca Saunders, void, Anfang (Partiturausschnitt). © Copyright 2016 by Henry Litolff’s Verlag. Abdruck mit freundlicher Genehmigung C. F. Peters Ltd & Co. KG

Solche Klangentwicklungen stellen einerseits auskomponierte Ein- und Ausschwingvorgänge dar und suggerieren andererseits eine räumliche Bewegung, bei der sich ein »Klangobjekt« dem Hörer nähert und wieder von ihm entfernt, aus unterschiedlichen Perspektiven und Beleuchtungen betrachtet wird und seine Physiognomie in verschiedenen Graden von Deutlichkeit offenbart. Wiederholt werden in void den flächigen, schwebenden oder glissandierenden Klängen pulsierende Strukturen als Kontrast gegenübergestellt, die sich unmerklich aus dem Klang der mit den Fingerspitzen gestrichenen tiefen Klaviersaiten und dem rhythmischen Bottle-neck-Vibrato der E-Gitarre entwickeln und in repetierten Flageoletttrillern der Streicher Kontur gewinnen.

Diese Elemente multiplizieren sich im letzten Teil des Stücks – geradezu im Sinne einer Finalwirkung – zu einem vielschichtigen und sich dynamisch steigernden Aggregat asynchroner Pulse, deren vorwärtstreibende Kraft durch eine vom Blech dominierte changierende Klangfläche abrupt gebremst wird. Unwillkürlich ergeben sich in solchen Momenten Wirkungen, die räumliche Vorstellungen von miteinander kollidierenden Klangmassen erwecken.

Wie mit einem Suchscheinwerfer streift Rebecca Saunders über eine schweigende Klanglandschaft, lässt die gefundenen Objekte entweder sanft aufleuchten oder taucht sie plötzlich in grelles Licht, um sie in den immer wiederkehrenden langen Fermaten ausklingen zu lassen, wobei die gelegentlich in der Partitur auftauchende Anweisung »listen and wait« nicht nur auf die Musiker, sondern ebenso gut auf den Hörer bezogen werden kann als Aufforderung, den Resonanzen, der nachschwingenden Stille und dem Verschwinden des Klangs im Raum zu lauschen. Dabei entstehen zuweilen Momente von Offenheit, in denen die Komponistin die Kontrolle über die klanglichen Details vorübergehend aus der Hand gibt und den Musikern – und auch den Hörern – überlässt. In void ist dies unter anderem kurz vor dem Ende des Stücks ein mit »Cadenza« bezeichneter Takt von bis zu 30 Sekunden Länge, in dem die Schlagzeugsolisten über einem Cluster der Streicher und Klarinetten quasi improvisierend die vorausgehende pulsierende Struktur in ein schillerndes Klangfeld über den Ton Fis übergehen lassen. Die Anweisung lautet auch hier »explore and listen« und übergibt die Verantwortung für das Gesamtergebnis an die Musiker, die in diesem Freiraum den Resonanzen des Klanges nachhören sollen.

Der Musiker als Mitschöpfer des Werkes ist für Rebecca Saunders von zentraler Bedeutung. Viele ihrer Kompositionen entstehen im intensiven Austausch mit den Instrumentalisten und der gemeinsamen Erforschung der Möglichkeiten des Instruments, weshalb ihr Werkkatalog zahlreiche Solowerke aufweist. Es ist überdies bezeichnend, dass Orchesterwerke nur einen geringeren Teil ihres Schaffens ausmachen, wobei diese in der Mehrzahl konzertanten Charakter haben – allerdings nicht im Sinne der traditionellen Gattung – und verschiedene Solisten einbeziehen, neben void mit den beiden Schlagzeugsolisten beispielsweise in miniata (2004) Klavier und Akkordeon, in Still (2011) die Violine oder in Alba (2014) die Trompete. Und selbst da, wo dies nicht der Fall ist, wie in Stratum von 2010, ist der Orchestersatz häufig kammermusikalisch aufgebrochen, und das Orchester erscheint wie ein großes Kammerensemble.

II Resonanzen

Im Gespräch mit Rainer Nonnenmann bezeichnete die Komponistin die Kammermusik als ihren »Home Ground«, weil hier die Zusammenarbeit mit den Musikern eher möglich ist als bei einem Orchester.6 Noch mehr gilt dies natürlich für Solostücke, die häufig auch das klassische Instrumentarium überschreiten, wie Werke für E-Gitarre, Akkordeon oder die von Marco Blaauw gespielte Trompete mit zwei Schalltrichtern, deren Klänge zusätzlich durch die Resonanzen eines offenen Flügels, den »Schatten« des Trompetenklangs, eingefärbt werden.

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Notenbeispiel 2: Rebecca Saunders, shadow, Phrase 1. © Copyright 2016 by Henry Litolff’s Verlag. Abdruck mit freundlicher Genehmigung C. F. Peters Ltd & Co. KG

Die Vorstellung des Klangschattens ist für das kurze Klavierstück shadow aus dem Jahr 2013 bestimmend. In dieser »Studie« erforscht Rebecca Saunders die Resonanzräume des Flügels mittels des genau festgelegten Einsatzes von rechtem Halte- und drittem Sostenuto-Pedal, die die Attacken der Clusterfolgen in den Ruhepausen der Fermaten in einem reichhaltigen Obertonspektrum nachklingen lassen. Aus den heftigen Impulsen der Cluster treten immer wieder einzelne akzentuierte und ausgehaltene Töne hervor, die sich wie zu einer verborgenen, extrem verlangsamten Melodie formieren, deren Fragmente in elf Abschnitten oder »Phrasen« die Komposition durchziehen. So lösen sich im ersten Abschnitt die Töne cis″ und d″ aus den Clustern, werden weitergeführt zu e″, schließlich zu fis″ und g″, um am Ende des Abschnitts wieder zum Ausgangspunkt (des/cis″ und d″) zurückzukehren und im Resonanzraum der Cluster zu verschwinden (Notenbeispiel 2).

Die Melodielinie ist erahnbar, aber nie direkt präsent. Indem ihre Umrisse aus den kompakten Klangballungen vage hervortreten, erscheint sie als ungreifbare Gestalt, die ihr Geheimnis bewahrt und Eindeutigkeit verweigert in einem offenen und unbegrenzten Raum.

Klänge neu zu entdecken, indem die Aufmerksamkeit auf das gelenkt wird, was vor und nach ihnen liegt, auf die Schwingungen der sie umgebenden Stille, aus der sie hervortreten, dies ist ein wichtiges Movens für Rebecca Saunders’ Musik, die weniger kom-ponierend im wörtlichen Sinne, sondern forschend entsteht. In einem Interview beschreibt sie ein Experiment, das wie eine Vorstudie zu shadow wirkt: »Mit einem Komponistenkollegen haben wir in Karlsruhe merkwürdige Sachen ausprobiert, zum Beispiel Bach hundert Mal langsamer als sonst zu spielen, in großen, halligen Räumen.«7 Die »elongated melodies«, auf die sie auch in den Spielanweisungen vieler Werke die Interpreten immer wieder hinweist, lassen in ihrer extremen Dehnung Platz für Zwischenräume, die wechselnde Perspektiven auf die als Klangskulptur verstandene melodische Gestalt ermöglichen.

Allerdings verfestigen sich solche Gestalten nicht zu »Themen« oder »Motiven« im traditionellen Sinn. Es sind eher Umrisse, die sich vor dem Hintergrund einer ungeordnet tönenden Stille abzeichnen. Konturen sind wahrnehmbar, ohne sich doch zum Bild »für etwas« oder zu einer Erzählung zu fügen. Gerade aber in ihrer Unschärfe, Vieldeutigkeit und Unabgeschlossenheit eröffnet sich ein weiter Resonanz- und Assoziationsraum, in dem das mitschwingt, was nicht gesagt ist.

III Sprache, Körper und Emotion

In ähnlicher Weise verfährt Rebecca Saunders mit Sprache, wobei sich die literarischen Vorlagen schon von sich aus gegen eindeutige Lesarten sperren. Mehreren Werken liegt der Schlussmonolog der Molly Bloom aus James Joyce’s Ulysses zugrunde, der nicht als diskursiver Text, sondern vielmehr als in sich kreisender, scheinbar ungeordneter Gedankenstrom erscheint. Wie im halbbewussten Zustand kurz vor dem Einschlafen sich die Gedanken überlagern, auseinanderwuchern, abbrechen und plötzlich andere Richtungen einschlagen, so schafft Joyce in diesem Monolog ohne Punkt und Komma eine assoziative Polyphonie, in der die Ereignisse des zurückliegenden Tages, Erinnerungen an die Kindheit, Orte der Vergangenheit, erotische Fantasien zeitliche und räumliche Ordnungen außer Kraft setzen. In der Stille der Nacht tobt ein lauter innerer Gedankenstrom; Worte tauchen auf, verschwinden wieder, werden abgelöst von neuen Bildern, die ihrerseits weitere Resonanzketten in Gang setzen.

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Notenbeispiel 3: Rebecca Saunders, O, Gesten 1–3. © Copyright 2018 by Henry Litolff’s Verlag. Abdruck mit freundlicher Genehmigung C. F. Peters Ltd & Co. KG

Die Berührungspunkte mit Rebecca Saunders’ assoziativem Komponieren, das die Klänge aus der Stille holt, liegen auf der Hand. Gleichwohl stellt sich die Frage, wie eine solch komplexe Textstruktur in Musik »übersetzt« werden kann. Der Text ist ohnehin in einem Maße musikalisch, dass er keiner Musikalisierung im Sinne einer konventionellen »Vertonung« bedarf. Vielmehr geht es Saunders darum, die Atmosphäre und den Geist des Textes einzufangen und ihn in ihrer Musik nachklingen zu lassen.

Auch ihr Vokalsolo O von 2018, entstanden für die Sopranistin Sarah Maria Sun, basiert auf dem Monolog der Molly, der zwar stets präsent ist, aber in unterschiedlichen Deutlichkeitsgraden erscheint. Das Werk besteht aus zwölf Abschnitten, »Gesten« genannt, die wie kurze Szenen wirken. Dabei reicht das lautliche Material von dem Text entnommenen Vokalen und Konsonanten bis hin zu einzelnen Wörtern, die plötzlich deutlicher hervortreten. Zusammenhängender Text tritt nur in den als »text images« bezeichneten Takten auf, wobei hier der Verständlichkeit bewusst entgegengearbeitet wird durch Flüstern, geschlossenen Mund, gepresste Artikulation, Sprechen bei gleichzeitigem Einatmen und vielen anderen vokalen Techniken, die einerseits die Aussage des Textes allenfalls in Umrissen aufscheinen lassen und andererseits emotionale Zustände repräsentieren (Notenbeispiel 3).

Der Text wird zur Klanggeste und der Körper der Solistin zum Schauplatz eines inneren Monologs, in dem Worte nur noch als verschwommene Erinnerungen auftauchen.

Auf ähnliche Weise geschieht dies in Skin von 2016, in dem die Sängerin integraler Bestandteil eines Instrumentalensembles ist, dessen Klänge mit dem Stimmklang kommunizieren, diesen einfärben, nachklingen lassen und in Dialog treten. Das sprachliche Material besteht aus eigenen Texten der Komponistin, die sich an der Sprache Samuel Becketts orientieren, und wiederum einer Passage des Molly-Monologs aus Ulysses. Die Sprachebene bildet aber gewissermaßen nur eine Oberfläche, die »Haut« der Komposition, die im Aufbrechen von Bedeutungszusammenhängen durchlässig wird und das aufscheinen lässt, was unter ihr verborgen ist. Rebecca Saunders möchte ausdrücklich den Text nicht im Programmheft abgedruckt haben, denn in der differenzierten Gestaltung von Artikulation und Atemvorgängen, von Prozessen der Sprachfindung, im unterdrückten Flüstern, in der Modellierung der Stimme durch die Instrumentalklänge tritt die Wortbedeutung in den Hintergrund zugunsten des performativen Aspekts stimmlicher Äußerung, einschließlich ihrer gestischen, emotionalen und theatralen Qualität. Wie O bewegt sich auch Skin auf der Grenzlinie zwischen erkennbaren sprachlichen Elementen und deren Auflösung in Klang und Geste. Der Sprachlaut ist die Membran, die den Austausch der semantischen Ebene mit der darunter liegenden nonverbalen Emotionalität ermöglicht.

IV Instrumentales Drama

In einer Reihe von Kompositionen aus den 1990er Jahren hat Rebecca Saunders ganz auf Sprache verzichtet, obwohl auch ihnen ein Fragment aus dem Molly-Monolog zugrunde liegt, und zwar die Worte »… O and the sea the sea crimson sometimes like fire …«.8 Spielen Farbassoziationen in zahlreichen ihrer Werke eine Rolle, ist es hier die Farbe »crimson«, also Purpurrot, die die Atmosphäre der betreffenden Werke assoziativ umschreibt. In Mollys Song 3 – Shades of crimson von 1996 wird man illustrative Anklänge an den Text von Joyce allerdings vergeblich suchen. Es handelt sich um ein Trio für Viola, Altflöte und Gitarre, bei dem allenfalls die häufigen Klangattacken und bohrenden Glissandi Assoziationen an die aggressive Farbe nahelegen mögen. Doch abgesehen davon ist das Stück jenseits aller programmatischen Interpretationen zunächst eine Abfolge von Abschnitten höchst unterschiedlicher Klangcharakteristik, die gleichwohl einem dramaturgischen Verlauf folgen.

Die drei Instrumente bilden eine klangliche Einheit, wobei nur an zwei exponierten Stellen, die zugleich formale Zäsuren markieren, die Viola solistisch in Erscheinung tritt. Nach einem heftig bewegten ersten Abschnitt mit perkussiven, um einen Cluster um die Töne f und ges gelagerten geräuschhaften Klängen und Glissandi (Notenbeispiel 4) treten ab T. 50 Liegetöne der Flöte hervor, die in ein erstes ruhigeres Solo der Viola, wiederum um den Ton f spielend, überleiten (Notenbeispiel 5).

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Notenbeispiel 4: Rebecca Saunders, Mollys Song 3 – Shades of crimson, Anfang. © Copyright 1997
by Peters Edition Limited, London. Abdruck mit freundlicher Genehmigung C. F. Peters Ltd & Co. KG

Mit Flageoletts und Flatterzungenklängen färbt die Flöte das Solo ein, bis schließlich die Gitarre weitere Liegetöne mit dem E-Bow hinzufügt und zu einem neuen Abschnitt überleitet, der von sanften pulsierenden Klängen der Viola (col legno battuto) und zwischen Ton und Geräusch changierenden Klangflächen der beiden anderen Instrumente geprägt ist. Es folgt, wieder um den Zentralton f, ein weiteres kurzes, aber diesmal sehr zerklüftetes und mit dynamischen Extremen arbeitendes Solo der Viola, das auf seinem Höhepunkt brutal unterbrochen wird durch das weiße Rauschen von vier Radios (Notenbeispiel 6).

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Notenbeispiel 5: Rebecca Saunders, Mollys Song 3 – Shades of crimson, T. 57–74. © Copyright 1997 by Peters Edition Limited, London. Abdruck mit freundlicher Genehmigung C. F. Peters Ltd & Co. KG

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Notenbeispiel 6: Rebecca Saunders, Mollys Song 3 – Shades of crimson, T. 153–167. © Copyright 1997 by Peters Edition Limited, London. Abdruck mit freundlicher Genehmigung C. F. Peters Ltd & Co. KG

Dieser Moment ist der Einbruch eines anderen, das die immanente Logik der Komposition radikal außer Kraft setzt, als würde in der Partitur plötzlich eine Leerstelle erscheinen, die das Außen einlässt. Mehr noch erfährt dieser Moment eine geradezu surreale Wendung, indem sich aus dem diffusen Geräuschfeld die leisen Klänge einer Spieluhr lösen, die den Kaiserwalzer von Johann Strauß erklingen lässt. Die Wirkung solcher objets trouvés, die in den früheren Kompositionen von Rebecca Saunders häufiger erscheinen, hat die Komponistin so beschrieben:

»Im Rahmen vorwiegend strenger musikalischer Strukturen sind dies vorübergehende flüchtige Erscheinungen von etwas Konkreterem und offenbar Emotionalem, auch wenn man keine klare ›Bedeutung‹ daraus ableiten kann. Die Assoziationen dieser Klangobjekte bleiben undeutlich, angedeutet, aber nicht eindeutig. Gleichzeitig verlangt die Einfügung solcher Klangobjekte in eine Form eine gewisse Flexibilität, bei der ich die Kontrolle über einen oder viele Parameter aufgeben muss – etwas das ich normalerweise zu vermeiden suche, dem ich mich aber stellen muss.«9

Und an gleicher Stelle schreibt sie diesen Elementen »an almost theatrical quality« zu.

Tatsächlich wirkt diese merkwürdige Unterbrechung wie eine Peripetie, nach der sich die Instrumente bei ihrem Wiedereintritt neu zu formieren scheinen. Eine Pendelbewegung des bottle neck auf den Saiten der Gitarre bildet eine Art obertonreiches Ostinato, während der Gitarrist mit der rechten Hand gleichzeitig eine Melodie hervortreten lässt, die sich mit den leisen Klängen der Spieluhr zu einem irreal anmutenden Duo vereinigt (Notenbeispiel 7).

Viola und Flöte »stören« dieses Duo mit geräuschhaften Klangakzenten und Glissandi und lösen damit einen Auflösungsprozess aus, der nach dem Auslaufen der immer langsamer werdenden Spieluhr in ein langes Glissando der Viola und schließlich in einen dunklen, nach Anweisung der Partitur fast eine halbe Minute lang erklingenden Schlussklang mündet – ohne Diminuendo, ein endgültiger Stillstand.

Die gestische Qualität der Klänge lässt das Werk wie ein imaginäres Monodrama erscheinen, das einen Prozess der Dissoziation beschreibt. Aus der anfänglichen Einheit des Ensembles lösen sich zunehmend Einzelaktionen, die schließlich die kompositorische Struktur aufbrechen und ein fremdes Außen einlassen. Trotz des Versuchs, sich mit dieser Außenwelt zu arrangieren, ist die Einheit nicht wieder herstellbar. Setzt man diesen Prozess in Bezug zum Molly-Monolog, auf den sich das Werk ja explizit stützt, zeigt sich eine Entsprechung zum Joyce’schen Bewusstseinsstrom, die nicht inhaltlicher, sondern struktureller Art ist. Wie Joyce das, was jenseits der Gedankenketten ist, nämlich das Unausgesprochene, im unabgeschlossenen Assoziationsraum der Worte mitschwingen lässt und so die lineare Logik der Gedanken auflöst, so scheint in der Musik von Rebecca Saunders eine von Klängen erfüllte Stille jenseits des Komponierten auf, die sich als Resonanzraum öffnet oder, wie in diesem Fall, als fremdartiges objet trouvé in den Lücken der Komposition erscheint und sich dabei letztlich der kompositorischen Logik und Kontrolle entzieht.

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Notenbeispiel 7: Rebecca Saunders, Mollys Song 3 – Shades of crimson, T. 168–179. © Copyright 1997 by Peters Edition Limited, London. Abdruck mit freundlicher Genehmigung C. F. Peters Ltd & Co. KG

V Imaginärer und realer Raum

Angesprochen auf ihre Werke, in denen der reale Raum ein Parameter der Komposition ist, sagte Rebecca Saunders: »Die Hinwendung zu diesen räumlich konzipierten Werken empfand ich als natürliche Entwicklung.«10 In der Tat ist der Übergang von imaginären Klangräumen, wie sie sich in den Pausen, in Resonanzen oder in Assoziationen innerhalb der Komposition auftun, zum realen Raum fließend. Indem sich die kompositorische Struktur in solchen Momenten öffnet, wird der Raum, in dem die Musik erklingt, wahrnehmbar. Und so wie die Klänge den Raum modellieren, wirkt umgekehrt auch der Raum auf die Klänge ein – durch seine Akustik, durch die Position jedes Hörers, durch die hörbare Anwesenheit des Publikums, durch die Aktionen der Musiker usw. – alles Faktoren, die jede Aufführung auf unvorhersehbare Weise beeinflussen.

Saunders’ Musik trägt dem insofern Rechnung, als der reale Raum als »Unschärfe« immer mitgedacht ist durch eine flexible Struktur der Werke, die vom Begriff des Moduls bestimmt wird. Module in diesem Sinn sind selbstständige Klangformen, die das Material einer komplexeren Struktur bilden. Dabei können solche Module ein einzelner Klang, eine Klanggeste, ein Klangobjekt, ein sprachliches Element oder auch ein ganzes Werk sein, das in neue Zusammenhänge eingefügt wird. Module bestimmen die Gesamtform nicht in dem Maße wie ein Motiv oder eine Reihe, die die Werkgestalt im Idealfall quasi zwingend aus ihrer Struktur hervorgehen lässt. Vielmehr sind sie Bausteine und Spielmaterial, das sich immer wieder in neue Zusammenhänge stellen lässt. Die Komponistin verwendet hierfür Begriffe wie Collage oder auch Mobile, um dieses Prinzip zu verdeutlichen, wobei Collage auf die Heterogenität der Einzelteile verweist, während die Bezeichnung als Mobile einen raum-zeitlichen und skulpturalen Aspekt hinzufügt:

»Es entsteht eine riesige Skulptur, ein Mobile, das unberührt verharrt, während man es aus verschiedenen Perspektiven betrachtet: Das Licht verändert sich, wie sich auch der Fokus und die Position der Wahrnehmung ändern, wie sich Nähe und Distanz zum Objekt abwechseln – eine manifeste komplexe Dehnung des einen Gegenstandes.«11

Damit ist aber auch die Unschärfe bzw. die Unvollständigkeit der Wahrnehmung angesprochen, mit der ein Hörer solcher Werke wie Yes, Stasis oder chroma konfrontiert ist. Allein die Tatsache, dass es zu diesen Stücken keine Gesamtpartitur gibt, sondern allenfalls Einzelpartituren für die einzelnen Module und ein zeitliches Raster für deren Abfolge, illustriert die tendenziell offene Konzeption, die jede Realisierung zum einmaligen und unwiederholbaren Ereignis macht, zumal im Hinblick auf die Klangbalance für verschiedene Räume auch jeweils eigene Aufstellungen der Musiker erprobt werden müssen, die das Werk immer wieder in anderem Licht erscheinen lassen. In unvergleichlich höherem Maß als beim Hören unterschiedlicher Interpretationen ein und desselben klassischen Werkes wird der Hörer nie auch nur in die Nähe eines definitiven Gesamtbildes kommen. Jede Komposition stellt ein Feld von Möglichkeiten dar, dessen Rahmen zwar gestaltet ist, in den Details aber große Variabilität besitzt.

So existieren von chroma, das erstmals 2003 in der Tate Modern London aufgeführt wurde, inzwischen 20 eigenständige Versionen, die auf den jeweiligen Aufführungsort zugeschnitten sind, handelt es sich bei diesem Werk doch um ein installatives Konzept, bei dem verschiedene Instrumentalgruppen, angereichert mit Spieluhren und Plattenspielern, in den Räumen eines Gebäudes simultan ihre separat komponierten Module erklingen lassen. Die Architektur des Ortes bestimmt das Klangergebnis. Aber mehr noch: Der Hörer definiert das, was er hört, in hohem Maße selbst, denn je nach Standort und Weg, den er durch das Klanglabyrinth wählt, wird sich sein Hörerlebnis von dem jedes anderen Hörers unterscheiden. Wenn man auf die Metapher des Mobiles rekurriert, könnte man sagen, dass der Hörer hier selbst zu dessen Bestandteil wird, zumal auch die Bewegungen, die Geräusche und Kommentare des Publikums das Klangergebnis modellieren.

Während in chroma der Hörer den Klangraum erkundet und seine Perspektive selbst bestimmt, besitzen Werke wie Yes oder Stasis eine immanente Variabilität. Hier ist das sitzende Publikum umgeben von wechselnden Musikergruppen, die gemäß einem detaillierten Zeitplan ihre jeweiligen Module, darunter in Yes auch in die räumliche Performance integrierte selbstständige Werke wie Either/Or, O oder Nether, spielen. Es ergeben sich genau geplante Phasen unterschiedlicher Dichte und Entfernung, die gleichwohl von Aufführung zu Aufführung eine hohe Variabilität besitzen. Denn obwohl die Aktivitäten der Gruppen zeitlich festgelegt sind, gibt es keine übergeordnete Partitur. Die Module überlappen sich, sind aber nicht im Detail koordiniert. Und auch hier ist der Aufführungsraum ein prägender Faktor, der die Aufstellung der Gruppen hinsichtlich der Klangbalance bestimmt. »Durch die Bewegung des Klangs wird der Raum zum Resonanzkörper.«12

VI Under the skin

Resonanzen sind nicht die komponierten Klänge selbst, sondern die durch diese ausgelösten Schwingungen. Sie sind abhängig von Faktoren, die sich der totalen kompositorischen Kontrolle entziehen, vom verwendeten Material, von den physikalischen Eigenschaften der Instrumente, den körperlichen Aktionen der Musiker, vom Raum und schließlich auch von der Haltung der Zuhörer, sei es dass diese ihre Position zur Musik selbst bestimmen oder die Klänge in individuellen Assoziationen nachklingen lassen. Der Ausdruck »Klangoberflächen«, den Rebecca Saunders häufig zur Beschreibung ihrer Musik verwendet, definiert die komponierten Klänge als Verweise auf den Hintergrund eines unbegrenzten Klangraumes. Die fragmentarische Struktur von Rebecca Saunders’ Musik, die sich in der Collagierung und assoziativen Reihung von Modulen, in den Momenten des Abbrechens und der Stille, der bewussten Undeutlichkeit, in der Variabilität und »Unvollständigkeit« eines konkreten Hörerlebnisses zeigt, lässt in ihren Zwischenräumen das Unkontrollierbare ein, das sich in seiner anarchischen Fülle einer kompositionstechnischen »Zurichtung« verweigert. Und nicht zuletzt gewinnt die Musik aus dieser Offenheit eine emotionale Komponente, die jedoch nicht manipulativ ist – eine ungerichtete, gestische und halbbewusste Emotionalität, die auf Eindeutigkeiten oder gar Botschaften verzichtet.

Denn Rebecca Saunders geht es um das ephemere Phänomen des Klangs als unabgeschlossene Geste, ein hörbarer Ausschnitt aus der tönenden Stille:

»Klang verschwindet in Stille oder Resonanz und wird gerahmt von diesen schweigenden oder resonierenden Pausen, wobei jede Geste eine Projektion des Klangs in den hörbaren Raum darstellt, wie ein statisches Objekt, ein Bild, oder mehr noch wie eine Skulptur oder ein Mobile.«13

Und auch wenn Kommentare wie dieser und die Titel ihrer Werke in ihrer Plastizität außermusikalische Assoziationen nahelegen mögen, sind es doch lediglich metaphorische Hinweise auf den Klangraum unter der »Haut« der Komposition. »Die Stille ist nicht stumm, sie ist voller Erwartung, Geräusche, gewollter und nicht gewollter Resonanzen.«14

1 Zit. nach Rainer Nonnenmann, »Eigentlich gibt es nichts zu sagen«, in: NZfM 180 (2019), H. 2, S. 32. — 2 Vgl. Edgard Varèse, »Die Befreiung des Klangs«, in: Edgard Varèse – Rückblick auf die Zukunft, hrsg. von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn, München 1983 (= Musik-Konzepte 6), S. 11 ff. — 3 »I write what I want to hear.« James Saunders, »Interview with Rebecca Saunders« (2019), online unter: www.james-saunders.com [letzter Zugriff: 11.2.2020]. — 4 »It is therefore the physical contact with the instrument that is decisive. If I cannot play the instrument myself, it is nevertheless often useful to borrow one and learn how to make a simple sound on it.« Saunders, »Interview with Rebecca Saunders« (s. Anm. 3). — 5 »Beneath the surface of silence lies a cacophony of sound and noise, an endless potential to reveal and make audible. The act of composing unveals, makes visible: pulling gently on the fragile thread of sound, drawing out fragments of colour from the depths, seizing the moment and allowing sound to erupt from the stasis of imagined silence.« Rebecca Saunders, void, Ed. Peters 14042. — 6 Nonnenmann, »Eigentlich gibt es nichts zu sagen« (s. Anm. 1), S. 30. — 7 Jeffrey Arlo Brown, »Ein Interview mit der Komponistin Rebecca Saunders« (2016), online unter: https://van.atavist.com/rebecca-saunders [letzter Zugriff: 11.2.2020]. — 8 Dt. Übersetzung von Hans Wollschläger: »… oh und das Meer das Meer glührot manchmal wie Feuer …«, James Joyce, Ulysses, 2. Auflage, Frankfurt/M. 1984, S. 1015. — 9 »Within the context of a predominantly intense musical phenomenology, these are momentary glimpses of a more concrete and overtly emotional agenda, although no clear ›meaning‹ can be deduced from this material. The associations of these sound objects remain indistinct, suggested but not explicit. At the same time, inserting these objects into a form demands a certain flexibility, requiring me to give up control of one or many parameters – something that I naturally tend to avoid and find necessary to confront.« Saunders, »Interview with Rebecca Saunders« (s. Anm. 3). — 10 »It felt like a natural development to move to these spatially orientated works.« Saunders, »Interview with Rebecca Saunders« (s. Anm. 3). — 11 Rebecca Saunders, Werkkommentar zu Yes anlässlich der Uraufführung im Kammermusiksaal der Philharmonie Berlin, 2017, Quelle: Edition Peters Verlag. — 12 Rebecca Saunders, Werkkommentar zu Yes (s. Anm. 11). — 13 »Sound disappears into silence or resonance, and is framed by these silent or resonating pauses, each gesture being a projection of sound into audible space, like a static object, a picture, or even more, like a sculpture or mobile.« Saunders, »Interview with Rebecca Saunders« (s. Anm. 3). — 14 Rebecca Saunders, Werkkommentar zu Crimson – Mollys Song 1, zit. nach: https://www.edition-peters.de/works/crimson-mollys-song-1/137792 [letzter Zugriff: 11.2.2020].