Vorwort
Seit meiner Studienzeit in Wien treiben mich die Fragen um:
Wie soll ich leben?
Wie lebe ich richtig?
Was muss ich tun, um mein Leben zu erfüllen?
Diese Fragen haben mich nicht verlassen, sie begleiten mich durch die Höhen und Tiefen meines Lebens, ich stelle sie fast täglich. Von Anfang war mir bewusst, dass ich den Boden meines christlichen Glaubens, in dem ich eingewurzelt bin, nicht verlassen könne. Aber rundum wartete die Welt.
Ich studierte moderne deutsche Literatur, Theaterwissenschaft und Philosophie. Jeden Abend besuchte ich entweder ein Konzert, eine Oper oder ein Theaterstück. Stehplätze waren billig und man konnte sie als Student an der Universität abholen. Ich wollte so viel lesen, sehen, hören und erleben wie möglich, um durch Erfahrungen meinen Fragen näherzukommen. Die Unruhe trieb mich einen Sommer lang nach Indien, wozu mir ein Stipendium verhalf. In Indien entdeckte ich, dass ich dort Erfahrungen machen konnte, die in Europa unmöglich waren, und ich entschloss mich, nach dem Studium für ein, zwei Jahre nach Indien zurückzukehren.
In Wien ging mir in der ukrainisch-katholischen Kirche Sankt Barbara das Licht einer neuen Glaubenserfahrung auf. Ich besuchte die Liturgie des heiligen Chrysostomos jeden Morgen und fühlte mich in ihrer Mystik tief aufgehoben. Gern wäre ich Mönch geworden und besuchte die Klöster mehrerer Orden in Österreich, Deutschland und später in Indien. Doch lernte ich, dass ein von außen reglementiertes Leben meiner Entfaltung als kreativer Mensch nicht förderlich wäre. Ich brauchte die Freiheit, mir meine eigene Disziplin aufzuerlegen. Um sie habe ich ein Leben lang gekämpft und kämpfe bis heute.
In Indien wohnte ich zunächst zusammen mit Hindu-Mönchen der Ramakrishna-Mission in der Nähe von Kalkutta, dann mit indischen Jesuiten in Madras (heute Chennai). Ich konnte mich von Indien nicht lösen. Ein Grund war, dass ich hier ideale Voraussetzungen für meinen Beruf vorfand. Nie wollte ich anderes als schreiben und es in Freiheit tun. In Indien wurde ich Schriftsteller und befand mich inmitten des faszinierendsten Erlebnisfeldes, das ich mir wünschen konnte: der indischen Wirklichkeit – Indiens Leben, seine Religionen und Kulturen. Nie habe ich über etwas anderes schreiben wollen. Oft fuhr ich nach Europa, aber hauptsächlich, um durch Vorträge und Seminare Indien vorzustellen und danach zurückzukehren.
Dieses Buch ist ein Lebensbuch. Seitdem ich mir diese Fragen stellte Wie soll ich leben? – Wie lebe ich richtig? – Was muss ich tun, um mein Leben zu erfüllen? habe ich Antworten gesucht, indem ich mir Themen oder Grundworte setzte. Was ist mir am wichtigsten? Ein einfaches Leben? – Ja! Das ist immer maßgeblich für mich gewesen. Muße? – Ja, sie ist so bedeutsam als Antwort auf die Überwältigung durch das moderne Leben in Europa wie in Indien. Dankbarkeit? – Ich habe Grund zur Dankbarkeit! Über vierzig Jahre konnte ich dieses Land erleben und mit so vielen Menschen in engen Kontakt kommen. Freundschaft? – Haben sich nicht wesentliche Beziehungen in Indien angebahnt, mit jenen Menschen, die so weltoffen, so unmittelbar und begeisterungsfähig sind? Glück? – Habe ich nicht auch das Glück gesucht und suche es weiterhin? Aber nicht in Äußerlichkeiten. Wo also finde ich es?
Auch Treue, Weisheit, Mut waren mir wichtig, und sie waren ursprünglich als eigenständige Kapitel geplant. Ich las viel, machte Exzerpte und Kopien, schrieb Notizen, die ich nach Themen ordnete. Über Jahrzehnte begleitete mich dieses Projekt. Lange fühlte ich mich nicht bereit, über philosophisch-religiöse Lebensthemen aus der eigenen Erfahrungsperspektive zu schreiben. Das verlangt eben genügend Erfahrung und Reife, und nie ist man sicher, ob beides ausreicht. Mut braucht es, sein Inneres zu entblößen und von Gott und den wesentlichen Dingen des eigenen Lebens zu sprechen. Jahrzehnte hatte ich über den Hinduismus geschrieben und das Wort »Gott« und »Seele« benutzt. Jetzt aber hieß es: Wer ist mein Gott? Was glaube ich? Wie kann ich meine Erfahrungen mitteilen, sodass sie bei anderen Menschen weiterwirken?
Im Jahr 2008 hielt ich in Wien einen Vortrag über Trauer und Versöhnung. Das Thema hatte das Kardinal-König-Haus gewünscht. Danach wagte ich, ein Thema nach dem anderen als Vortrag anzubieten. Das gesammelte Zuhören und anschließend die langen Diskussionen bekräftigten mich in dem Eindruck, dass ich etwas sagte, das viele hören und bedenken wollten.
Mein letztes Thema, Erinnern und Vergessen, schließt die Reihe jener Grundworte ab, nach denen ich mein Leben zu gestalten versuche. Es fällt scheinbar aus dem Rahmen. Erinnern und Vergessen sind keine Tugend, keine Fähigkeit, keine Haltung, die ich beachten soll und einüben kann. Warum dieser Abschluss? In ihm denke ich über die vorherigen Themen noch einmal aus einer ungewöhnlichen Perspektive nach: Ein bestimmtes Erlebnis hatte mir mit Erschrecken deutlich gemacht, wie schwankend unsere Wirklichkeit ist, mit wie vielen Wirklichkeiten wir umgehen, wenn wir bewusst die normalen Prozesse von Erinnerung und Vergessen einbeziehen. Es zeigte mir, wie sehr wir uns unserer soliden existenziellen und geistigen Grundlagen vergewissern müssen, bevor wie daran denken können, Tugenden, Fähigkeiten und Haltungen zu untersuchen und einzuüben.
Warum lautet der Buchtitel wahrhaftig sein? Als ich darüber nachdachte, welche Grundhaltung alle meine Lebensthemen durchflutet und färbt, war mir nur die Anwort möglich: Wahrhaftigkeit. Im Zusammenhang mit dem Glück schreibe ich ausdrücklich über sie, doch auch in den übrigen Kapiteln bemühe ich mich darum, die Themen nie oberflächlich und konventionell zu betrachten, sondern tiefer zu schauen, bis auf den Grund zu kommen. Was ich auch darstellen mag, die Freundschaft, die Dankbarkeit oder die Einfachheit, es soll wahrhaftig und mit Leidenschaft geschehen.
In keinem der sieben Kapitel fehlt Indien. Die dort gesammelten Erfahrungen flechte ich hinein. Bestimmte philosophische Grundbegriffe wie karma, māyā und pūjā erscheinen in mehreren Kapiteln; sie haben mein christliches Verständnis bereichert. Schließlich komme ich immer, beinahe jedem Grundwort zugeordnet, auf die Triade Gnade, Intuition und Meditation zu sprechen.
Die meisten Kapitel enden mit der Frage, was Bestand hat, worauf wir inmitten schwankender Wirklichkeiten bauen können. Darauf versuche ich Antworten zu finden, die uns helfen.
Santiniketan, im März 2016