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Antike und moderne Skepsis zur Einführung

Markus Gabriel

Antike und moderne Skepsis
zur Einführung

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Wissenschaftlicher Beirat
Michael Hagner, Zürich
Dieter Thomä, St. Gallen
Cornelia Vismann, Frankfurt a.M. †

Junius Verlag GmbH
Stresemannstraße 375
22761 Hamburg
Im Internet: www.junius-verlag.de

© 2008 by Junius Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Florian Zietz
Titelbild: Sextus Empiricus
Veröffentlichung der E-Book-Ausgabe März 2016
ISBN 978-3-96060-000-8
Basierend auf Print-Ausgabe
ISBN 978-3-88506-649-1
2., ergänzte Aufl. 2015

Die Deutsche Nationalbibliothek – CIP-Einheitsaufnahme

Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Zur Einführung …

… hat diese Taschenbuchreihe seit ihrer Gründung 1978 gedient. Zunächst als sozialistische Initiative gestartet, die philosophisches Wissen allgemein zugänglich machen und so den Marsch durch die Institutionen theoretisch ausrüsten sollte, wurden die Bände in den achtziger Jahren zu einem verlässlichen Leitfaden durch das Labyrinth der neuen Unübersichtlichkeit. Mit der Kombination von Wissensvermittlung und kritischer Analyse haben die Junius-Bände stilbildend gewirkt.

Von Zeit zu Zeit müssen im ausufernden Gebiet der Wissenschaften neue Wegweiser aufgestellt werden. Teile der Geisteswissenschaften haben sich als Kulturwissenschaften reformiert und neue Fächer und Schwerpunkte wie Medienwissenschaften, Wissenschaftsgeschichte oder Bildwissenschaften hervorgebracht; auch im Verhältnis zu den Naturwissenschaften sind die traditionellen Kernfächer der Geistes- und Sozialwissenschaften neuen Herausforderungen ausgesetzt. Diese Veränderungen sind nicht bloß Rochaden auf dem Schachbrett der akademischen Disziplinen. Sie tragen vielmehr grundlegenden Transformationen in der Genealogie, Anordnung und Geltung des Wissens Rechnung. Angesichts dieser Prozesse besteht die Aufgabe der Einführungsreihe darin, regelmäßig, kompetent und anschaulich Inventur zu halten.

Zur Einführung ist für Leute geschrieben, denen daran gelegen ist, sich über bekannte und manchmal weniger bekannte Autor(inn)en und Themen zu orientieren. Sie wollen klassische Fragen in neuem Licht und neue Forschungsfelder in gültiger Form dargestellt sehen.

Zur Einführung ist von Leuten geschrieben, die nicht nur einen souveränen Überblick geben, sondern ihren eigenen Standpunkt markieren. Vermittlung heißt nicht Verwässerung, Repräsentativität nicht Vollständigkeit. Die Autorinnen und Autoren der Reihe haben eine eigene Perspektive auf ihren Gegenstand, und ihre Handschrift ist in den einzelnen Bänden deutlich erkennbar.

Zur Einführung ist in verstärktem Maß ein Ort für Themen, die unter dem weiten Mantel der Kulturwissenschaften Platz haben und exemplarisch zeigen, was das Denken heute jenseits der Naturwissenschaften zu leisten vermag.

Zur Einführung bleibt seinem ursprünglichen Konzept treu, indem es die Zirkulation von Ideen, Erkenntnissen und Wissen befördert.

Michael Hagner
Dieter Thomä
Cornelia Vismann

Inhalt

Vorwort

Einleitung

I.Antike Skepsis

1. Der Ursprung der Skepsis in der vorsokratischen Metaphysik

2. Das Traumargument bei Platon und das skeptische Problem der Aparallaxie

3. Der stoische Repräsentationalismus und seine skeptische Dekonstruktion

4. Das Außenweltproblem bei Sextus Empiricus

5. Sextus Empiricus: Urbane oder rustikale Skepsis?

6. Das skeptische Heilsversprechen – die pyrrhonische Skepsis als Lebensform

7. Das Problem des Quietismus

II. Moderne Skepsis

1. Die cartesische Skepsis – vom Dämon zum Gehirn im Tank

2. Die Wiederkehr der pyrrhonischen Skepsis – Ludwig Wittgenstein und Richard Rorty

3. Die Wahrheit des Skeptizismus – von Kant zu Stanley Cavell

4. Der amerikanische Neo-Pyrrhonismus

Schluss

Anhang

Anmerkungen

Literatur

Über den Autor

Vorwort

Die vorliegende Einführung in die antike und moderne Skepsis geht auf eine längere Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Skepsis zurück. Dieses tritt immer dort in Erscheinung, wo die Anstrengung des Wissens, sich selbst über seine eigenen Bedingungen aufzuklären, scheitert oder zu scheitern scheint. Die Auseinandersetzung mit der Skepsis ist daher stets eine Auseinandersetzung mit unserer (epistemischen) Endlichkeit. Dem Leser wird hoffentlich nicht zu viel abverlangt, wenn diese Einführung in das Phänomen der Skepsis so entworfen ist, dass sie keinen Ausweg aus der Skepsis zeigt. Denn zunächst müssen wir die Härte der Endlichkeit einsehen, die sich auch in unseren epistemischen Anstrengungen zeigt. Wie wir über die Endlichkeit hinausgelangen können, ist eine weitreichende Frage, die nur in einer Beschäftigung mit dem Verhältnis der Metaphysik zur Skepsis beantwortet werden kann. Eine solche Beschäftigung wird in diesem Buch bewusst ausgespart.

An dieser Stelle sei vor allem mein Dank an die Mitarbeiter des Forschungsprojekts über »Skeptizismus und Idealismus in der Antike« ausgesprochen, das im Rahmen des Eliteprogramms für Postdoktoranden der Landesstiftung Baden-Württemberg am Philosophischen Seminar der Universität Heidelberg durchgeführt wird: Ich danke Stephan Zimmermann, Marius Bartmann und Julian Ernst ganz herzlich für ihren unermüdlichen Eifer in der Sache und für ihre Hilfe bei der Erstellung des Manuskripts sowie für ihre gründliche Arbeit des Korrekturlesens! Außerdem gilt mein besonderer Dank Steffen Herrmann, dessen sachdienliche Hinweise maßgeblich in die Erstellung dieses Buches eingegangen sind.

Heidelberg, im Herbst 2007
Markus Gabriel

Einleitung

Die Wissenschaft zeigt uns, dass die Welt anders ist, als sie uns auf den ersten Blick erscheint – eine einfache Einsicht, die zum Erfahrungsschatz eines jeden Menschen gehört. Der Mond ist größer, als er dem bloßen Auge erscheint; es stellt sich heraus, dass es das Unbewusste (oder was auch immer) ist, das unser Bewusstseinsleben maßgeblich steuert. Wenn wir aber immer wieder entdecken, dass die Welt anders ist, als sie uns erscheint, wieso erkennen wir dann nur ein Weltbild, nur eine Interpretation der Welt an? Woher eigentlich das Zutrauen in die Wissenschaft, wo doch diese selbst ihr Bild der Wirklichkeit beständig revidiert? Und woher wissen wir, dass die Welt nicht wiederum anders ist, als die Wissenschaft zu einer Zeit uns lehrt, und zwar auf eine Weise anders, die wir noch gar nicht absehen können?

Diese Frage führt auf den scheinbar einfachen Unterschied von Sein und Schein. Das Phänomen der Skepsis entsteht grundsätzlich dort, wo Sein und Schein unterschieden werden: Die Suche nach dem verborgenen, dem wahren Sein jenseits der trügerischen Welt der Erscheinungen, in der wir leben, bringt im Fahrwasser unserer Wissensbemühungen die Skepsis unablässig als ihren Schatten hervor. Die Frage ist, wie wir der grundlegenden Einsicht der Skepsis begegnen sollen: Wie können wir Sein und Schein unterscheiden, ohne dadurch das Sein selbst zum Schein zu machen? Wie können wir überhaupt über unsere Wissensansprüche hinaus auf eine Welt zugreifen, die unabhängig von unseren Wissensansprüchen – und in diesem Sinne objektiv – ist?

Diese Fragen werden im Folgenden als Grundfragen der Skepsis diskutiert. Dabei wird nicht ausgeblendet, dass die Skepsis stets auch aus einer existenziellen Erfahrung, der Erfahrung der Endlichkeit unseres Verstehens von anderen und der Welt, hervorgeht. Die Skepsis wirft nicht nur theoretisch verwickelte Probleme auf, sondern bietet auch besondere Weisen des Umgangs mit unserer Endlichkeit an. Dabei trägt sie immer auch unverkennbare Züge einer Tragödie des menschlichen Wissens. – Man erinnere sich nur daran, dass im Namen ›Ödipus‹ das griechische ›oida‹, d.h. ›ich weiß‹, anklingt. Der tragische Protagonist par excellence ist aufgrund seiner Wissensanstrengungen tragisch.

Genaues Hinsehen (und nichts anderes heißt das griechische Wort ›skepsis‹) lehrt, dass alles Wissen endlich ist – dies ist jedenfalls die Lektion, die uns die Skepsis beibringen möchte. Ob sich diese Lektion streng genommen durchführen und ihr Ergebnis behaupten lässt, wird eine der Grundfragen dieser Einführung sein. Die dabei aufgeworfenen Probleme sind Probleme der Philosophie unserer Zeit, genauso wie sie Probleme der Philosophie überhaupt sind. Insofern gehören skeptische Probleme zur philosophia perennis. Da die Philosophie unserer Zeit oftmals allzu selbstbewusst über die Geschichte ihrer Probleme hinweggeht, kommt in dieser Einführung zunächst die antike Skepsis ausführlich zur Sprache. Denn ohne eine gründliche Kenntnis der antiken Skepsis kann nicht wirklich geklärt werden, was in der gegenwärtigen Skepsis-Debatte auf dem Spiel steht.

Die Geschichte der Philosophie ist bereits in der Spätantike als ein Streit von Dogmatismus und Skepsis aufgefasst worden. Alle Versuche, eine positive Philosophie zu entwickeln, die uns darüber aufklärt, wie unsere Position im Ganzen der Wirklichkeit zu verstehen ist, waren stets von skeptischen Attacken bedroht, die mit hartnäckigen Argumenten geführt wurden und darzulegen versuchten, dass die weitreichenden Erkenntnisansprüche der Philosophen nicht eingelöst werden können. Diese niemals an ein Ende gelangende Auseinandersetzung zwischen dogmatischen Erkenntnisansprüchen und ihrer skeptischen Infragestellung hat im Laufe der Jahrhunderte zu einer Verfeinerung der skeptischen und antiskeptischen Strategien geführt. Insbesondere die Skepsis-Debatte der letzten dreißig Jahre hat ein neues Licht auf die Funktion der Skepsis geworfen.

Vor diesem Hintergrund führt das vorliegende Buch sowohl in die antike als auch in die moderne Skepsis ein, denn nur auf diese Weise lässt sich ein breiter Überblick über die grundlegenden Strategien und Probleme der Skepsis gewinnen. Dabei können natürlich nicht alle Epochen berücksichtigt werden. Für diejenigen, die sich ausführlicher mit dem Problem der Skepsis im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit beschäftigen möchten, sei daher an dieser Stelle auf die Arbeiten von Dominik Perler und Richard Popkin hingewiesen.1 Da die Skepsis-Debatte in vollem Gange ist und in gewisser Weise einen Grundzug der Gegenwartsphilosophie ausmacht, finden neben der antiken und cartesischen Skepsis auch zeitgenössische Strömungen Erwähnung. Wenn die Auswahl auch kontingent ist, so kann sie dennoch als repräsentativ gelten. Denn es ist eine gut begründbare Beobachtung, dass die Skepsis vor allem in der Antike entwickelt wurde und in unserer Zeit auf dem bisher höchsten Niveau diskutiert wird.

I. Antike Skepsis

1. Der Ursprung der Skepsis in der vorsokratischen Metaphysik

Die antike Skepsis geht auf die vorsokratische Metaphysik zurück. Diese entspringt einer einfachen Unterscheidung, nämlich der Unterscheidung zwischen Sein und Schein. Die griechische Kultur, von der sich die meisten der tradierten metaphysischen Grundbegriffe herleiten, welche in die europäischen Begriffssprachen von Philosophie und Wissenschaft eingegangen sind, basiert zu wesentlichen Teilen auf dieser Unterscheidung, die ihre Vorgeschichte in der griechischen Religion und Literatur hat. Die Unterscheidung von Sein und Schein ist kein philosophisches Artefakt, keine plötzliche Entdeckung eines reinen Denkens, sondern Ausdruck einer Erfahrung mit der auf eine bestimmte Weise gedeuteten Welt.

In der griechischen Tragödie und bereits bei Homer werden die Heroen in ein tragisches Geschehen verstrickt, indem sie durch Atê, die Macht der Verblendung, getäuscht werden und nicht mehr sehen, wie es wirklich um sie bestellt ist. Bei Homer ist Atê gar eine Tochter des Zeus, die im Bündnis mit dessen Gattin sogar ihn, den mächtigsten unter den Göttern, getäuscht hat (Ilias, 19. Gesang, 91ff.). Die Erfahrung, dass die Götter und schließlich auch die Mitmenschen anders erscheinen können, als sie sind, gibt Anlass zu einer Reflexion darauf, wer oder was sie wirklich sind. Denn ohne die Besinnung auf das Sein, das sich hinter dem Schein verbirgt, laufen wir ständig Gefahr, Opfer eines grausamen Schicksals zu werden. Unsere existenzielle Aufgabe als Sterbliche (und d.h. als endliche Wesen) besteht darin, den Schein möglichst zu durchschauen.

Das menschliche Leben wird von der klassischen griechischen Literatur, insbesondere im Epos und in der Tragödie, grundsätzlich als die Auseinandersetzung zwischen Sein und Schein verstanden. Wir sind im Leben der beständigen Gefahr ausgesetzt, uns und unsere Mitwelt nicht so zu erkennen, wie sie wirklich ist. Der Verdacht, dass selbst die Götter etwas im Schilde führen könnten, das den Sterblichen verborgen ist und allenfalls vom Dichter dargestellt werden kann, ist für die frühgriechische Literatur und für die Tragödie leitend. Der Unterschied zwischen Sein und Schein, der die Metaphysik begründet, ist also im Ursprung des Abendlandes kulturell verankert.2

Insofern liegt auch Friedrich Nietzsche völlig richtig, wenn er von der vorsokratischen Philosophie als einer »Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen«3 spricht. In der Tat gehören Tragik und Metaphysik zueinander, insofern sie auf dem Unterschied von Sein und Schein in der Form eines Unterschieds zwischen den Göttlichen und den Sterblichen aufbauen. Daher wird das Denken, der Logos, der allein uns einen Zugang zum wahren Sein eröffnet, in der vorsokratischen Philosophie auch als göttlich aufgefasst, was den prophetischen Gestus erklärt, mit dem viele Vorsokratiker auftreten.

Die Suche nach dem wahren Sein führt die Vorsokratiker ständig auf die Einsicht des Scheincharakters unseres gewöhnlichen Wissens, das daher als bloße Annahme, als Doxa der Sterblichen, entlarvt wird, die nicht wissen, was wirklich der Fall ist. Aus diesem Grunde finden sich bei den Vorsokratikern zwei Tendenzen, eine dogmatische und eine skeptische: Auf der einen Seite wird das wahre Sein im Logos entdeckt und der sterblichen Doxa entgegensetzt (dogmatische Tendenz). Der Logos gilt als vollständig erkennbar und ermöglicht ein Wissen (epistêmê) davon, was in Wahrheit ist. Auf der anderen Seite wird die sterbliche Doxa im Unterschied zum Logos als die Quelle des Irrtums ausgewiesen (skeptische Tendenz). Wir sind in unseren bloßen Annahmen gefangen. In diesem Zusammenhang sind die skeptischen Probleme entsprungen, die das philosophische Denken bis zum heutigen Tag und seit einiger Zeit wieder besonders intensiv beschäftigen.

Der Zusammenhang von Sein und Schein lässt sich an drei Vorsokratikern besonders deutlich ablesen. Parmenides von Elea (spätes sechstes Jahrhundert bis frühes fünftes Jahrhundert v. Chr.) behauptet, dass es nur eine einzige Wahrheit gebe. Diese sieht er in der Offenbarkeit des Seins (to eon) für das reine Denken (noein). Das Sein zeige sich uns in seiner Einzigartigkeit. Darin unterscheide es sich von den vielfältigen Irrtümern, denen wir als Menschen aufsitzen, indem wir für wahr halten, was doch bloßer Schein ist. Diese Irrtümer geschehen insbesondere in der Wahrnehmung. Denn jeder macht leicht die Erfahrung, dass unsere Wahrnehmung fallibel, d.h. dem Irrtum unterworfen ist, und nicht ausschließlich erfasst, was wirklich der Fall ist. Daraus schließt Parmenides, dass es eine einzige Quelle des Irrtums geben müsse. Diese sieht er in der mangelnden Fähigkeit der »doppelköpfigen Sterblichen« (DK 28 B 6, 4f.) zu erkennen, dass es eben nur eine einzige Wahrheit geben könne. Diese Wahrheit liegt in der Einsicht, dass die Offenbarkeit des Seins allein darin bestehe, dass sich uns etwas zeige, ohne dass dasjenige, was sich jeweils zeigt, seinerseits etwas Seiendes sein könne. Das einzige, was sensu stricto ist, ist das eine wahre Sein, welches das nur scheinbar viele Einzelseiende der Erkennbarkeit preisgibt. Denn was sich uns jeweils zeigt, verändert sich und unterscheidet sich von allem anderen, was sich uns jeweils zeigt bzw. was jeweils abwesend ist. Wenn sich etwas aber von etwas anderem unterscheidet und dadurch bestimmt ist, so sagen wir von dem, welches wir als wirklich Seiendes erfassen wollen, dass es genau dadurch das ist, was es ist, dass es alles andere nicht ist. Das Sein von allem, was sich jeweils zeigt, ist somit paradoxerweise sein Nichtsein. Das Sein des Seienden ist sein Nichtsein. Da man aber das Nichtsein, das absolute Nichts, nicht denken kann, weil es eben nichts Bestimmtes, kein Seiendes ist, kann es Parmenides zufolge das viele Seiende eigentlich auch gar nicht geben. Dennoch ist uns etwas offenbar, nämlich die Einsicht in die Unhintergehbarkeit des Gedankens des Seins, die zugleich die Einsicht in die Unmöglichkeit des Gedankens des Nichts ist. Nur diese Einsicht, dass allein die Offenbarkeit nicht trügt, da sie alles und daher auch das vermeintliche Nichtsein zur Erscheinung bringt, kann nach Parmenides festgehalten werden. Denn auch das vermeintliche Nichts erscheint und ist eben dadurch schon nicht mehr nichts, sondern etwas Bestimmtes.

Wenn das Nichts nicht denkbar ist, so gilt dies gerade deshalb auch für das Phänomen des Werdens, das Parmenides als Übergang vom Sein in das Nichts und umgekehrt hält. Doch aus nichts wird nichts, wie sein Schüler Melissos später explizit gesagt hat (DK 30 B 1). Das Nichts ist undenkbar, weil wir es stets im Unterschied zum Sein bestimmen und damit wiederum zu etwas Bestimmtem, also etwas Seiendem machen. Da alles Seiende – und mithin auch der paradoxe Sachverhalt des Nichts – nur vor dem Hintergrund der Offenbarkeit des Seins erscheint, kann das Sein nicht aus dem Nichts stammen bzw. ins Nichts übergehen. Das Sein ist; mehr können wir von ihm nicht sagen, ohne es von etwas zu unterscheiden – was unmöglich ist, da es ansonsten das Nichts gäbe, das zwischen das Sein und das von ihm Unterschiedene träte. Doch das Nichts gibt es nicht:

»Denn es ist unmöglich, daß dies zwingend erwiesen wird: es sei Nichtseiendes / Vielmehr halte du von diesem Wege der Forschung den Gedanken fern / Und es soll nicht vielerfahrene Gewohnheit auf diesen Weg zwingen, / Walten zu lassen das blicklose Auge und das dröhnende Gehör / und die Zunge, nein, mit dem Denken bring zur Entscheidung die streitreiche Prüfung, / die von mir genannt wurde.« (DK 28 B 7-8, 1)

Was Parmenides damit lehrt, die alleinige Wahrheit des Seins, ist selbst natürlich nicht nichts. Die Wahrheit des Seins zeigt sich vielmehr im Denken (noein). Doch wenn sich die Wahrheit des Seins im Denken zeigt, so kann das Denken nur zum Sein gehören, weil es ansonsten ja nichts wäre, wodurch sich die Wahrheit des Seins selbst aufhöbe. Parmenides nimmt deshalb an, dass das Denken im Sein »ausgesprochen« (DK 28 B 8, 35) ist. Das Denken gehört zum Sein, wobei Denken hier nur das Denken eines einzigen Gedankens, nämlich des Gedankens der Wahrheit des Seins, meinen kann. Die Wahrheit findet sich demnach nur im Denken, weshalb jeder Versuch, sie in der veränderlichen Wirklichkeit zu suchen, die wir mit unseren Sinnen wahrnehmen, scheitern muss. Parmenides behauptet also einerseits dogmatisch, dass es nur das Sein, nicht aber das Seiende im Plural gebe. Andererseits vertritt er der Wahrnehmungswelt gegenüber, in der es nichts gibt, was erkannt werden könnte, da es sie im eigentlichen Sinne überhaupt nicht gibt, einen radikalen Skeptizismus. Die Wahrnehmungswelt ist Parmenides zufolge geradezu logisch inkonsistent, weil sie der Schein einer Vielheit von Seienden ist, die durch das Nichtsein voneinander unterschieden sind.

Damit ist nicht nur die Weiche für Platons Metaphysik gestellt, sondern auch die Skepsis der Wahrnehmungswelt gegenüber begründet. Die Wahrnehmungswelt ist nur Schein, was spätere Nachfolger des Parmenides, insbesondere Melissos (ca. fünftes Jahrhundert v. Chr.) und Zenon (ca. Ende des sechsten, Mitte des fünften Jahrhunderts v. Chr.), dazu angeregt hat, populär gewordene Paradoxien zu formulieren, die im Begriff der Bewegung liegen. Beispiele sind die Paradoxie von Achill und der Schildkröte bzw. jene eines Pfeils, der nicht von der Stelle kommt, da er unendlich viele Punkte durchlaufen müsste, um sich zu bewegen. Zenon zufolge kann der schnellste Läufer der homerischen Welt, Achill, eine Schildkröte im Wettrennen nicht überholen, weil er jeden Punkt durchlaufen muss, den die Schildkröte bereits durchlaufen hat. In dem Augenblick, wo er jenen Punkt durchläuft, ist die Schildkröte ihm wiederum einen Schritt voraus, weshalb er sie niemals einholen kann. Die Welt der Wahrnehmung wird auf diese Weise systematisch als Quelle des Irrtums verstanden und als Schein der einen Wahrheit des Seins entgegengesetzt. Scheinbar selbstverständliche Phänomene wie Bewegung werden einer paradoxen begrifflichen Struktur überführt, wodurch das Vertrauen in die Wahrnehmung erschüttert wird.

Der gegenüber Parmenides vermutlich zeitlich frühere Heraklit von Ephesos (ca. zweite Hälfte des fünften Jahrhunderts v. Chr.) setzt Sein und Schein einander auf ganz ähnliche Weise entgegen. Wie bei Parmenides ist die Wahrheit nur dem Logos, dem reinen Denken, aufgeschlossen, den Heraklit als das strukturbildende Agens überhaupt ansetzt. Die vielen Sterblichen verstehen seine Aussagen nicht, weil sie – so Heraklit – nicht verstünden, »wie das Auseinandergetragene [d.h. Unterschiedene] mit sich selbst im Sinn zusammengeht« (DK 22 B 51). Wie Parmenides meint auch Heraklit, dass die Phänomene dieser Welt durch einen durchgängigen Unterschied konstituiert seien. Alles ist nur, indem es anderes nicht ist – doch genau darin kommt alles überein. In einem berühmten Fragment drückt Heraklit dies folgendermaßen aus: »Krieg ist aller Dinge Vater, aller Dinge König. Die einen erweist er als Götter, die anderen als Menschen, die einen macht er zu Sklaven, die anderen zu Freien.« (DK 22 B 53)

Dieses Fragment ist bodenlos vieldeutig. Zunächst einmal müssen wir festhalten, dass man den von Heraklit verwendeten Ausdruck für Krieg (polemos) nicht als bewaffnetes Gefecht oder militärische Schlacht verstehen darf, sondern vielleicht am besten mit ›Aus-einander-Setzung‹ wiedergeben kann. Die Aus-einander-Setzung, der Unterschied, der einiges hierhin und anderes dorthin setzt, macht alles zu dem, was es ist. Im Wort ›polemos‹ klingt vielleicht sogar die Wurzel ›pel-/pol-‹ an, die im Verb ›pelein‹ vorkommt, welches ›sein‹ bedeutet. Auseinandersetzung und Sein wären so ein und dasselbe.

Das Fragment besagt weiterhin, dass die Auseinandersetzung Menschen und Götter unterscheidet, indem sie zeigt (deiknynai), wer ein Gott und wer ein Mensch ist. Das Zeigen, welches unterscheidet, ist der Logos, der zugleich alles zusammenbringt und unterscheidet: Er bringt sie zusammen als Unterschiedene. Er ist der Unterschied, der alles konstituiert, weshalb alles Unterschiedene auch im Logos zusammengeht (homologeei). Man kann sogar vermuten, dass Heraklit, dessen überlieferte orakelhafte Aussprüche voller Wortspiele sind und die Wörter mittels ihrer (etymologisch nicht immer korrekten) Wurzeln in Verbindung bringen, einen Zusammenhang zwischen ›pol-emos‹ und ›pol-is‹, d.h. zwischen Sein und Stadt/Staat, herstellt. Denn sein Denken ist durchweg politisch in dem Sinne, dass er den »hellen Tag« der allgemein geteilten Polis dem »Schlaf« der Einzelnen gegenüberstellt. Der öffentlich verhandelbare Logos, welcher der Grundzug des Seins selbst ist, das sich als polemos und polis zeigt, organisiert alle Unterschiede und verwaltet sie zugleich, genau so, wie das Gesetz (nomos) der Polis das Verhalten der Bürger regiert (DK 22 B 114). Das Allgemeine (xynon) steht wie ein göttliches Gesetz über allem Seienden, selbst wenn die Sterblichen dies nicht erkennen.

Die Wahrheit der All-Einheit, dass »eines alles ist«, zeigt sich nur dem Logos, der selbst jenes Eine ist, das alles ist. »Haben sie nicht mich, sondern den Logos vernommen, so ist es weise, dem Logos gemäß zu sagen, daß eines alles ist.« (DK 22 B 50) Dieser ist folglich auch das Allgemeine (xynon), das sich von den vielen Privatmeinungen der Sterblichen unterscheidet (DK 22 B 113 f.). Der Logos, das Allgemeine, ist als die Weltordnung die ungeschaffene All-Einheit, die »für alle dieselbe« (DK 22 B 30) ist.4

Sein und Schein werden von Heraklit also strikt getrennt, und das Sein findet sich wiederum allein im Denken, welches die »verborgene Harmonie« (DK 22 B 54) der Welt entdeckt, die in jenem einzigen Gedanken Heraklits liegt. Alles andere ist Schein, den es nach tragischer Weisheit zu vermeiden gilt, will man nicht zum Opfer der Verblendung werden. Das Allgemeine, der Logos, unterscheidet sich dabei von den privaten Meinungen der Einzelnen wie das Wachsein vom Traum (vgl. DK 22 B 21, 26, 73, 75, 88), der von Heraklit als tragischer Zustand der Verblendung aufgefasst wird, welcher uns in unsere Jemeinigkeit einschließt. Der Traum steht für die Gefahr des Solipsismus, die Heraklit offenkundig bereits bewusst war.

Beim Solipsismus handelt es sich um die Annahme, dass es möglicherweise nur ein einziges vorstellendes Subjekt gibt, dem es nur so scheint, als ob es eine Welt außerhalb seiner Vorstellungen gäbe. Ein solches Subjekt wäre metaphysisch einsam. Im Traum sind wir wie das solipsistische Subjekt mit unseren Traumbildern allein, obwohl wir scheinbar mit anderen kommunizieren. Doch die Welt des Traums ist nicht die gemeinsame Welt, in der wir mit unseren Mitmenschen leben. Es gilt daher zu verstehen, was die geteilte Welt der Wachen von der rein privaten Welt des Träumenden unterscheidet. Dies ist Heraklit zufolge der vernünftige Zusammenhang der All-Einheit, der allen im Logos aufgeschlossen ist.

Der Gefahr, dass das Leben ein Traum, also eine unablässige Illusion sein könnte, bietet nur der Logos Einhalt, den man cum grano salis mit ›Sprache‹ übersetzen kann. Denn die Sprache ist das allgemeine Medium, das den Solipsismus überwindet, welcher drohte, wenn unser Leben nur ein Traum wäre. Wir wären mit unseren Traumbildern allein, weil auch alle Mitmenschen, die wir für wirklich halten, lediglich geträumte Mitmenschen wären, mit denen man schließlich keine Welt teilen kann. Die Möglichkeit, dass das Leben ein Traum sein könnte, ist im Laufe der Geschichte der Skepsis allmählich zu einem bloßen Gedankenexperiment, einem skeptischen Szenario verkümmert, das unsere epistemische, d.h. unsere Wissensbiografie nicht ernsthaft bedroht. Von Heraklit wird sie noch als eine reale tragische Erfahrung erlebt, der es den Logos entgegenzusetzen gilt. Deshalb hat das Traumargument bzw. das Argument des Wahnsinns, dem zufolge wir nicht sicher sein können, vernünftig zu sein und nicht wild zu halluzinieren, seit der Antike auch eine literarische Geschichte – man denke etwa an Euripides’ Tragödie Herakles, in der Herakles seine eigene Familie tötet, die er – vom Wahnsinnsdämon Lyssa geschlagen – nicht wiedererkennt.

Wie wir bei Platon noch sehen werden, verrät die Skepsis in der Antike allenthalben ihren existenziellen bzw. tragischen Ursprung. Sie erwächst aus der Erfahrung, dass vertraute Menschen plötzlich völlig anders erscheinen als zuvor, d.h. aus der Erfahrung, dass wir nicht wissen, wer wir und unsere Mitmenschen wirklich sind. Auf dieser tragischen Grundlage entsteht allererst eine scheinbar harmlosere epistemologische Skepsis, die das Problem des Irrtums als allgemeines Problem von Sein und Schein formuliert.

Bei Demokrit von Abdera (ca. 460-360 v. Chr.) findet der Gegensatz von Sein und Schein seinen wissenschaftlichen Ausdruck, der uns heute eher vertraut ist. Denn gerade heute macht jeder Mensch mithilfe der Wissenschaft die Erfahrung, dass die Welt in Wahrheit anders ist, als sie uns erscheint – selbst wenn nicht jeder glaubt, dass es eine göttliche Weltordnung gibt. Der Mond ist größer als die Erscheinung, die sich unserem perspektivischen Blick darbietet; die Gegenstände, mit denen wir umgehen, bestehen aus Partikeln, die unterhalb der mesoskopischen, d.h. mit bloßem Auge wahrnehmbaren, Wirklichkeit liegen; die Psychoanalyse lehrt, dass unsere Triebstruktur von unseren manifesten Wünschen unterschieden ist; die evolutionäre Biologie legt nahe, dass Liebe oder Erkenntnis keine hehren Gebilde, sondern Überlebensstrategien sind usw. Verallgemeinert man diesen Gedanken, so sieht man leicht, dass uns die Wissenschaft stets mit der Differenz von Sein und Schein konfrontiert. Demokrits Atomismus geht daher nicht zufällig mit einer radikalen Skepsis gegenüber der Wahrnehmungswelt einher. In einem berühmten Text sagt Demokrit: »Durch Konvention [nomos] gibt es Süßes, durch Konvention Bitteres, durch Konvention Warmes, durch Konvention Kaltes, durch Konvention Farbe. In Wahrheit [eteê] aber gibt es die Atome und das Leere.« (DK 68 B 125)

Konvention (nomos) und Wahrheit (eteê) werden hier also entgegengesetzt. Damit trifft Demokrit die wichtige Unterscheidung zwischen phänomenalen Qualitäten, die nur im Aufeinandertreffen der Welt mit unseren Sinnesorganen entstehen, und primären Qualitäten, die den Dingen an sich zukommen. Die Welt der Erscheinungen, in der es gewöhnliche Gegenstände wie Menschen, Katzen und Berge gibt, ist demnach eine bloße Konvention, eine Überzeugung, die durch uns in die Welt kommt und die der Wahrheit, d.h. dem, was unabhängig von uns der Fall ist, nicht entspricht. Wenn es eigentlich nur Partikel (Atome) und den leeren Raum zwischen ihnen gibt, so sind die Gegenstände, die wir für wirklich halten, nur Schein.

Es ist nicht verwunderlich, dass Demokrit einerseits einen Atomismus vertritt und andererseits eine skeptische Haltung unseren Erkenntnismöglichkeiten gegenüber bezieht. Ihm zufolge wissen wir »in Wahrheit [eteê] nichts. Denn in der Tiefe liegt die Wahrheit.« (DK 68 B 117) An anderer Stelle sagt er: »Dieser Logos [d.h. Demokrits Grundgedanke] macht ja klar, daß wir in Wahrheit [eteê] von nichts irgend etwas wissen, sondern Zustrom [nämlich der Atome] ist den Menschen ihr Meinen.« (DK 68 B 7; vgl. auch B 6, 8, 10) Demokrit transformiert die tragische Haltung der Vorsokratiker Parmenides und Heraklit gleichsam in eine wissenschaftliche Leistung und ebnet damit den Boden für die epistemologische Skepsis, in der ihre tragische Genealogie verblasst. An die Stelle einer existenziellen Erfahrung tritt allmählich eine wissenschaftliche Überlegung, die darauf aufbaut, dass das Sein selbst (die wahre Wirklichkeit) sich vom Schein unterscheidet. Die Differenz zwischen Sein und Schein führt auf diese Weise das Problem des metaphysischen Realismus herbei, das die Philosophie seither nicht mehr losgelassen hat und das in unserer Zeit die Spielregeln der Erkenntnistheorie weitgehend bestimmt, wie wir im zweiten Kapitel sehen werden.

Der metaphysische Realismus ist die These, dass die Welt (das Sein, die epistêmê) potenziell vollständig von unseren Überzeugungen über die Welt (der Schein, die doxa) divergiert. Die Welt könnte ganz anders sein, als sie uns erscheint. Metaphysisch ist diese Annahme, weil sie über die Erscheinungen hinausgreift und damit rechnet, dass es außer der Welt, die uns erscheint, noch eine wirkliche Welt gibt, die uns nicht erscheint, sondern die rational erschlossen werden muss. Demokrits metaphysischer Realismus ist dabei insofern optimistisch, als er dem Logos vertraut, nach dessen Gesetzen es in Wahrheit nur Atome und das Leere gebe. Auf diese Weise gerät ihm sein metaphysischer Realismus nicht zum Problem. Denn er meint schließlich, dass sein Atomismus vorbehaltlos wahr sei, die Meinungen der Sterblichen hingegen bloß relativ wahr bzw. nur konventionelle Meinungen, also Doxa seien.