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Impressum

Herstellung und Verlag:

BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt

September 2014

ISBN 978-3-7357-1459-6

Covergestaltung:

Dr. Franz-Josef Kleschnitzki, Witten

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Die kleine Auswahl der hier veröffentlichten Predigten und Andachten entstammt einem Zeitraum von mehr als vier Jahrzehnten. Sie wurden an den Orten gehalten, die die Schwerpunkte meines beruflichen Lebens darstellen: in der Universitätskirche in Münster, an den Predigtstätten meiner Kirchengemeinde Hamm-Heessen und in verschiedenen Kirchen im übrigen Stadtgebiet von Hamm sowie in der Anstaltskirchengemeinde Diako-niewerk Ruhr Witten. Das gemeindliche, kirchenjahreszeitliche und zeitgeschichtliche Kolorit der Predigten ist bewusst weitgehend beibehalten.

Es war mir stets ein wichtiges Anliegen und eine große Herausforderung, dass meine jahrelange wissenschaftliche Arbeit an alttestamentlichen Texten ihre ständige Begleitung und Ergänzung dadurch erfuhr, dass diese Texte auch Grundlage und Gegenstand meiner gottesdienstlichen Predigt waren. Das aus dem 23. Kapitel des Jeremiabuches stammende Wort, das ich deshalb als Titel für dieses Büchlein ausgesucht habe, hat mich dabei stets an die mir anvertraute göttliche Gabe und die daraus erwachsende, mir auch durch mein Ordinationsgelübde und meinen Doktoreid verpflichtend gemachte Aufgabe zu erinnern vermocht. Es hat mich immer wieder motiviert, Gottes Wort zur Tröstung und Stärkung, Mahnung, Wegweisung und Auferbauung der Gemeinde weiterzusagen.

Ich widme dieses Büchlein meinen beiden Enkeltöchtern Ella Marie und Luisa in der Hoffnung, dass auch sie auf ihrem Lebensweg etwas von dem erfahren, was Gottes Wort uns bedeuten kann.

Witten, 1. September 2014

Rainer Schmitt

Des Menschen Fall

Genesis 3, 1 - 19

(Sonntag Invokavit, Reihe III)

Wir haben eben als Evangeliumslesung des Sonntags die Geschichte von der Versuchung Jesu gehört (Mt 4, 1-11) – eine Geschichte, die wie der Gegenpol zu dem erscheint, was uns in der Geschichte vom Sündenfall erzählt wird. Versuchungsgeschichten mit weitestreichenden Folgen, je nach Ausgang: Versuchung und Gehorsam hier, Versuchung und Schuld da.

Ich vermute, beim Hören der Geschichte vom Anfang der Bibel gehen unsere Gedanken und Empfindungen weit auseinander. Was ist mit ihr nicht alles an volkstümlichen, aber auch hoch theologischen Vorstellungen verbunden! Und vielleicht merken wir auch: Je mehr wir uns wirklich mit dieser Geschichte beschäftigen, ihren Inhalt und Kontext bedenken, desto deutlicher tritt ihre zeitlose Aktualität hervor.

Was hier am Anfang der Bibel erzählt wird: von Adam und Eva, vom Paradies, von der Schlange, von der Schuld und dem Fluch der bösen Tat, das ist ja kein einmaliger Unfall am Anfang der Geschichte, ganz früher einmal! So verstanden wäre es längst vergangen und rückte es uns immer ferner, je mehr die Zeit fortschreitet.

Es geht in dieser Geschichte vielmehr um das, was immer und überall und deshalb auch heute und bei uns aktuell und wahr ist. Nichts, was einmal war, ist hier von Interesse, sondern das, was von allem Anfang an und immer da ist. Fragen, die sich immer wieder stellen, die also auch wir uns stellen, sollen beantwortet werden. Die Geschichten am Anfang der Bibel, in der sog. Urgeschichte, befassen sich mit unseren elementaren Lebensfragen.

In Adam und Eva begegnen uns ja nicht zwei historische Einzelgestalten, wie man denken könnte, wenn man von den uns geläufigen Personennamen Adam und Eva ausgeht. „Adam“ bedeutet ursprünglich „Mensch“ als Sammelbegriff für „alle Menschen, Menschheit“, und zwar mit Blick auf seine Herkunft, seinen Ursprung, wie das Wortspiel am Ende unseres Textes verdeutlicht: Adam ist der, der von der adama (Erde) stammt und zu ihr zurückkehren wird. Und „Eva“ bedeutet „Mutter (alles Lebendigen)“ – der Mensch also in seiner schöpfungsgemäßen Doppelgestalt als Mann und Frau. Und dieser Mensch wird und ist schuldig vor Gott, wie unsere Geschichte vom Fall des Menschen hervorhebt.

Drei Fragen helfen uns, die Wahrheit dieser Geschichte tiefer zu erfassen: Worin besteht die Schuld? Wie äußert sich die Schuld? Welche Folgen hat die Schuld?

1. Schuldig wird der Menschen, indem er sich auf die schiefe Bahn begibt – durch innere Einflüsterung? Durch äußere Beeinflussung? Er weiß nur zu genau, was Gott ihm geboten und verboten hat und um was es dabei geht. Aber er hält an dem, was Gott ihm gesagt hat, nicht fest, er stellt es zur Disposition, er hinterfragt es, indem er zum einen die Konsequenz einer Übertretung in Zweifel ziehen lässt: „… ihr werdet keineswegs des Todes sterben“, zum andern Gott egoistische Motive unterstellen lässt: „Gott weiß…, euch werden die Augen aufgehen, und ihr werdet sein wie Gott und selbst wissen, was gut und böse ist“. Gott will euch abhängig und dumm halten. Er ist ein eigennütziger Tyrann. Welch wirkungsvolle Propaganda gegen Gott und seine Gebote! Propaganda im Namen der Selbstbestimmung, der Freiheit. Aber in Wahrheit, wie sich zeigen wird, auf Kosten der Freiheit!

Schuldig wird der Mensch also dadurch, dass er Gott nicht nur den Gehorsam verweigert, sondern vor allem die Ehrfurcht. Er vertraut Gott nicht, dass er es gut mit uns meint, er lässt Gott nicht „einen ehrlichen Mann sein“ (Luther); er will selbst wissen und entscheiden und ausprobieren, was für sein Leben förderlich oder abträglich, eben: gut und böse ist. Diese Freiheit beansprucht und behauptet er: „Freiheit von Gott“, wie sie bis heute frech und stolz und vermessen proklamiert und praktiziert wird. Darin, dass er seine Freiheit gegen Gott geltend macht, besteht seine Schuld und sein Verderben.

2. Wie äußert sich diese Schuld? In einem bekannten Verschiebespiel! Schuld wird nicht bekannt und akzeptiert, sondern abgeschoben, auf andere gelenkt: Nicht Adam ist schuld, sondern „die Frau, die du mir zugesellt hast“. Aber auch die weiß sich zu entschuldigen: „Die Schlange betrog mich, sodass ich aß“. Schuld sind die anderen, nicht ich. Und zuletzt ist Gott der Schuldige. Er erschuf die Schlange und die Frau, die je zur Ursache des Falls wurden. Wir alle kennen – und praktizieren – diesen Mechanismus der Entschuld(ig)ung nur zu gut, im kleinen Privaten wie im großen Gesellschaftlichen und Politischen… Keiner will verantwortlich sein für das (Böse), was er getan hat. Und gerade dadurch erweist sich der Mensch seiner Freiheit und Würde als unwürdig.

3. Solche Schuld hat Folgen, unweigerlich. Gott lässt Adam und Eva nicht laufen und sich verstecken. Er holt sie aus der Deckung. Er ruft: „Mensch, wo bist du?“ Und er ruft sie zur Verantwortung. So wie er in der Urgeschichte noch einmal zur Verantwortung rufen wird: „Mensch, wo ist dein Bruder?“ Das sind die beiden Grundfragen, die Gott uns nach dem Sündenfall stellt. Es sind die Fragen nach unserer Beziehung zu Gott und zum Mitmenschen, nach unserem Leben „vor Gott“ und „für den Nächsten“. Indem Gott uns diese Fragen stellt, will er, dass wir zu uns selbst und zur Erkenntnis unserer Schuld kommen.

Wir können mit unserer Schuld vor Gott nicht fliehen. Der Fluch unserer bösen Taten holt uns ein und lastet auf unserem Leben – unweigerlich, unabwendbar. Wir mögen das als ein namenloses Geschick ansehen, aber in Wahrheit ist es Gottes Gericht. Zwar lässt er uns nicht sofort “des Todes sterben“, wie er angekündigt hatte, aber das von ihm gewährte Leben mit all seinen Minderungen, Belastungen und Anfechtungen lässt uns doch immer den Tod vor Augen stehen:

Leben mit Schmerzen und in Abhängigkeit, wie es der Frau angekündigt wird. Leben mit Mühsal und Entbehrungen, wie es der Mann zu erwarten hat: „Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Leben fristen“. Leben in trostloser Hinfälligkeit: „Du bist Erde und sollst zu Erde werden“. Leben in einer von Feindschaft zerrissenen Schöpfung, die das Zusammenleben stört: „Ich will Feindschaft setzen zwischen Eva und der Schlange und ihren Nachkommen“. Leben mit all den Unversöhnlichkeiten, Irrungen und Anmaßungen, von denen die weiteren Geschichten der Urgeschichte erzählen…

Als diese Menschen leben wir in einer Welt, die von uns und unseresgleichen nicht nur vorgefunden, sondern immer wieder und immer weiter schuldhaft gestaltet wird. Paulus hat in einem schonungslos nüchternen Gedankengang die alte Wahrheit der Sündenfallgeschichte so auf den Punkt gebracht: „Sie sind allesamt Sünder, und deshalb können sie vor Gott nicht bestehen“ (Röm 3, 23). Die Passion Jesu ist die letzte, illusionslose Bestätigung dieser Wahrheit.

Wo ist der Ausweg aus dieser unheilvollen Lage? Die Urgeschichte mündet ein in die Geschichte von der Erwählung Abrahams. Ihm gibt Gott die Verheißung, dass in seinem Namen alle Menschen (unter dem Fluch ihrer Schuld) Segen empfangen werden (Gen 12, 2f.). Wie Paulus die Geschichte vom Sündenfall kennt, so auch diese Abrahamsgeschichte, und er knüpft in seiner Christusbotschaft an beide an: Weil der Segen Abrahams in Christus, dem wahren Abrahamssohn, zu den Menschen kommt (Gal 3, 14), darum werden sie (die allesamt Sünder sind) ohne ihr Verdienst gerecht durch Gottes Gnade, wie er sie uns im Leiden, Kreuz und Auferstehen Jesu Christi erwiesen hat (Röm 3, 24).

Das ist das zentrale Thema, um das es in allen Andachten und Gottesdiensten auch jetzt wieder in der vor uns liegenden Passionszeit gehen muss.

Kains Brudermord

Genesis 4, 1 - 16a

(13. Sonntag nach Trinitatis, Reihe IV)

Um was geht es in dieser Geschichte? Um eine Familientragödie aus frühster Zeit? Um den ersten Mord? Um die Feindschaft zwischen Nomaden und Bauern? Um nichts von alledem! Es geht um etwas viel Grundsätzlicheres, um die Frage nämlich: Wer ist der Mensch? Die Frage, die Menschen von Anbeginn bewegt hat. Die Menschheitsfrage! Und was für Antworten haben Menschen auf diese Frage gegeben! Optimistische, pessimistische, tiefschürfende, oberflächliche, gelehrte, volkstümliche…

Der biblische Erzähler gibt uns seine Antwort, indem er eine Geschichte erzählt. Wahrscheinlich gab es sie schon lange vor ihm; er hat sie aufgegriffen und in den Dienst seines Anliegens gestellt.

Wer ist der Mensch? Auch wenn wir meinen, unsere Antwort auf diese Frage schon gefunden zu haben, lohnt es sich, die Antwort des biblischen Erzählers aufmerksam zu hören!

Der Mensch trägt hier den Namen Kain. Und das erste, was von ihm gesagt wird, ist dies: Kain rebelliert gegen Gott. Und der Grund wird fast unverständlich kurz genannt: „Und der Herr sah gnädig an Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an“.

Ist Abel frömmer als Kain? Ist sein Opfer wertvoller als Kains Opfer? Woran erkennt Kain Gottes Gunst und Missgunst? Ist Gott parteiisch, ungerecht? Ist Kains Reaktion nicht verständlich?

Viele Fragen, aber keine Antworten im Text. Nur die Feststellung: Dem einen schenkt Gott seine Gunst, dem anderen nicht. In einem späteren Text wird das so ausgedrückt: „Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich“ (Ex 33, 19). An dieser Freiheit Gottes wird Kain zum Rebell. So hat er sich Gott nicht vorgestellt. Er hat ein anderes Bild von Gott. Jesus hat später gegen die kämpfen müssen, die Gott seine Freiheit und Güte ver übelten. Dieser Gott passt oft so schlecht in unsere Vorstellungen von Gott…

„Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster seinen Blick“ – Neid, Eifersucht, Hass gegen Gott und seinen Bruder packen ihn; man sieht es ihm förmlich an, dass er Gott und seinen Bruder nicht ertragen kann. Wir wollen lieber einen Gott, der unseren Vorstellungen, Vorurteilen und Prinzipien entspricht.

Darin, wie Kain mit seinem Bruder umgeht, kommt’s heraus, wie er zu Gott steht. Kain, der Rebell gegen Gott, wird zum Brudermörder. In lapidarer Kürze heißt es: Kain ging mit Abel aufs Feld, und als sie dort waren, schlug er ihn tot. Ein Schauder des Entsetzens durchzittert die Erzählung. Unbegreiflich, dass der Bruder seinen Bruder – den, der auch Menschenantlitz trägt! – erschlägt! Nichts muss hier ausgemalt werden wie im Kino oder Roman. Der Mord ist kein Theater!

Wir haben uns daran gewöhnt, dass Kain seinen Bruder erschlägt – raffinierter, perfekter vielleicht als damals, aber aus denselben Motiven der Aggression, verpackt in religiöse, ideologische, soziale, politische Begründungen. Dieser Mord findet nicht erst da steht, wo der Schuss kracht oder die Bombe fällt. Er hat darin seine Wurzeln, dass einem anderen Menschen gegenüber Neid, Hass, Verachtung, Unduldsamkeit in mir erwachsen. In dieser Radikalität hat Jesus in der Bergpredigt von Mord gesprochen. Müssen wir nicht darüber erschrecken, dass Kain in uns allen steckt!

Gott fragt Kain nach seiner Verantwortung, seiner Mitmenschlichkeit: „Wo ist dein Bruder?“ Diese Frage ist nicht überholt. Im Gegenteil: Sie ist eine der dringendsten und bedrängendsten Fragen auch unserer Zeit! Mitmenschlichkeit, Verantwortung im kleinen privaten wie im großen gesellschaftlichen und politischen Raum.

Kain entzieht sich dieser Frage: „Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein?“ Kain lügt, weil ihm die Verantwortung lästig ist, die ihm mit seinem Bruder auferlegt ist. Muss man sogar noch einen Schritt weiter gehen: Ihm ist die Verantwortung für seinen Bruder lästig, weil ihm Gott lästig ist? Kain will nicht seines Bruders Hüter sein, er will frei, unabhängig, durch Verpflichtungen nicht gebunden sein. Aber was er sich als Freiheit vorstellt, wird zum unheimlichen Zwang.

Kain ist der Sklave seiner Schuld. Er hat die Folgen seiner Rebellion gegen Gott und seiner Unmenschlichkeit unabwendbar zu tragen, er kann ihnen nicht entrinnen. Hineingebannt sein in die Lage, in die man sich selbst durch sein Denken und Handeln gebracht hat, das ist der Fluch der bösen Tat!

Für Kain wird dieser Fluch an zwei Punkten konkret: Zum einen verweigert ihm die durch Bruderblut geschändete Heimaterde ihren Ertrag. Kain ist der entwurzelte, der halt- und heimatlose Mensch, der unstet und flüchtig umherirrt, weil er nicht weiß, wohin er gehört. Zum andern ist ihm der Gottesdienst verwehrt. Vielleicht fällt es uns schwer zu ermessen, was das bedeutet. Für die Frommen Israels war jedenfalls Leben im wahren Sinn nur möglich in der gottesdienstlichen Gemeinde, im Achten auf Gottes Tora und im Gotteslob. Kain hat zu alledem keinen Zugang mehr. Er ist der Gott entfremdete Mensch, außerhalb der elementaren Lebensordnungen…

Vielleicht kennen wir diesen Menschen, der immer nur Böses fürchten, der den Folgen seiner Schuld nicht entrinnen kann, der isoliert und voller Angst lebt; der aus den Zwängen, aus dem Teufelskreis seiner Vorurteile, seiner Intoleranz, seiner bösen Gedanken und Taten nicht mehr frei kommt. Vielleicht kennen wir Situationen, in denen Hass immer neuen Hass, Schuld immer neue Schuld hervorbringt… Menschen haben keine Macht, sich aus ihrer Lage selbst zu befreien, vielleicht können sie sie gar nicht wirklich wahrnehmen…

Ist das nicht alles zu pessimistisch vom Menschen gedacht: Kain, der Rebell gegen Gott, der Brudermörder, der sich die Grundlagen seiner Existenz zerstört und deshalb Sklave seiner Schuld ist? Wer – trotz aller Kultur, Moral, Konventionen – noch darüber zu erschrecken vermag, wozu Menschen fähig und bereit sind, der muss doch sagen: Ja, in Kain erkennen wir uns selbst, Kain lebt als unser Zeitgenosse. Hier ist sehr realistisch, ohne Illusionen vom Menschen geredet!

Aber zu diesem Realismus gehört auch dies: Kain ist der Mensch, von dem sich Gott trotz allem nicht abwendet! Das Kainszeichen macht das deutlich. Es ist kein Schandmal, wie wir es gewöhnlich verstehen, sondern ein Schutz- und Eigentumszeichen. Kain bleibt trotz allem unter Gottes Schutz, bleibt Gottes Eigentum, über das kein anderer verfügen darf.

Schwer zu sagen, woran der biblische Erzähler bei diesem Zeichen dachte. Dem Sinn nach darf man es vielleicht so verstehen: Gott setzt in der Welt, in der gemordet wird und der Mord eine ständige Bedrohung ist, eine Ordnung, die vor der völligen Verwüstung menschlichen Zusammenlebens schützen soll. Ich denke an das, was wir Menschenwürde nennen -, ein Grundrecht, das keinem genommen werden darf und über das menschliche Justiz zu wachen hat. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, sagt unser Grundgesetz.

Der biblische Erzähler fügt aber noch eine Aussage hinzu, sehr verhalten, sehr indirekt, nur vom Kontext her zu vernehmen: Kain ist der Mensch, der fluchbeladene, der den Segen braucht, der Abraham verheißen wird. Kain, der Mensch unter dem Fluch, wird gnädig bewahrt, weil ihm die Chance gegeben werden soll, des göttlichen Segens teilhaftig zu werden.

Das Evangelium bezeugt uns, wie in Jesus Christus, dem wahren Abrahamssohn, dieser verheißene Segen für alle Menschen Wirklichkeit geworden ist als die Kraft, die aus dem Teufelskreis der Schuld befreit, die Frieden zwischen uns Menschen schafft und unser Leben ausrichtet auf Gottes Wort. Kain muss nicht der Alte bleiben: der Rebell gegen Gott, der Brudermörder, der Sklave seiner Schuld. Neues Leben wird ihm angeboten. Und die Frage: Kain, wo ist dein Bruder?, findet dann eine andere Antwort – nicht eine Antwort des Neids und Hasses und der Intoleranz, sondern der Verantwortungsbereitschaft.

Dieses Wunder des Segensangebotes Gottes gehört dazu, wenn wir von Kain, vom Menschen, von uns reden – realistisch, ohne Illusionen.

Das Ende der Flut

Genesis 8, 1 – 12

(4. Sonntag nach Epiphanias, Reihe VI)

„Nach uns die Sintflut“ – so denken manche und handeln danach. „Mir bricht eine Welt zusammen“ – diese Erfahrung machen andere, und beiden ist gemeinsam: No future! Keine Zukunft! Die Erfahrung der Ausweglosigkeit und Verlorenheit, wenn in mir und um mich her alles zusammenbricht, verbaut alle Wege nach vorn. Das rücksichtslose und verantwortungslose Leben im Augenblick, das die Folgen für die Zeitgenossen und Nachgeborenen zu bedenken nicht bereit ist, denkt nicht an Wege nach vorn. No future! Keine Zukunft! Und erst recht für alle, die die Erde schon als toten Stern ihre Kreise im Weltall ziehen und die Menschen, die intelligentesten Fahrgäste im schönen Raumschiff Erde, sich selbst umbringen sehen, gilt: No future! Keine Zukunft!

Unser Abschnitt aus der Sintflutgeschichte setzt dem die Botschaft entgegen: Dennoch Zukunft! Und darum Zuversicht und Hoffnung, weil Gott des Noah und mit ihm aller Menschen und so auch unser gedacht hat. Nicht Angst vor der Katastrophe und blinde, widerstandslose Resignation sind deshalb das Gebot der Stunde, sondern Zuversicht und Hoffnung.

Hören wir aufmerksam hin, was uns die Sintflutgeschichte zu sagen hat, deren entscheidenden Wendepunkt unser Text markiert. Da ist der gottesfürchtige Noah, der von Gott den Auftrag erhält, eine Arche zu bauen, in der er und seine Familie und Tiere aller Art in der Flut bewahrt werden sollen, die über die Menschen als Gottes Strafgericht für ihre Gottlosigkeit hereinbricht und die Schöpfung in Chaos verwandelt.

Diese Sintflutgeschichte ist Teil der biblischen Urgeschichte (Gen 1 – 11), das ist wichtig für ihr Verständnis. Ihre Absicht ist es nämlich nicht, von einer großen Flutkatastrophe in uralten Zeiten zu berichten. Selbst wenn hier eine Erinnerung an eine solche Katastrophe vorliegen sollte – Archäologen haben immer wieder im Zweistromland nach entsprechenden Belegen geforscht -, der biblische Erzähler verfolgt eine andere Absicht.

Sie erschließt sich vom Ende her, auf das unser Textabschnitt vorausweist. Am Ende steht ein Versprechen Gottes, in doppelter Form:

„Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen…, ich will hinfort nicht mehr schlagen alles, was da lebt, wie ich getan habe. Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht“ (8, 21f.). Und: „Ich richte meinen Bund so mit euch auf, dass hinfort nicht mehr alles Fleisch verderbt werden soll durch die Wasser der Sintflut und hinfort keine Sintflut mehr kommen soll, die Erde zu verderbe“ (9, 11).

„Nie wieder!“ So verspricht es Gott, obwohl auch nach der Flut unvermindert gilt, was schon vor der Flut (und zur Begründung für diese!) gesagt war: „Das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf“ (6, 5; 8, 21). Trotz bleibender Schuld des Menschen hält Gott seine schützende, bewahrende Hand über seiner Schöpfung. Der bleibenden Schuld des Menschen, die eigentlich den Einbruch des alles vernichtenden Chaos ständig neu herausfordert, steht die bleibende Treue Gottes entgegen, in der er seine Schöpfung nicht mehr dem Chaos preisgibt. Die Lösung der Schuldfrage geschieht nicht mehr durch ein großes Vernichtungsgericht.

Das also ist die Welt, in der wir leben – alle Menschen überall und zu allen Zeiten leben: die von der Schuld des Menschen erfüllte und bedrohte, aber trotz allem von Gott bewahrte Welt. Diese Welt finden wir vor, wir gestalten sie mit als Sünder. Aber die, die Gottes Wort lesen und hören, wissen um Zeichen der Rettung und der Hoffnung in dieser Welt – und um den Auftrag, vom Worte Gottes her Zeichen der Hoffnung zu setzen. Gottes Gedenken ist wie für Noah, so auch für uns das Unterpfand seiner Gnade und Vergebung, seiner Geduld und Treue.

Von dieser Botschaft her kann jedenfalls die eingangs erwähnte Parole „Nach uns die Sintflut!“ keinen Platz haben. Die Einstellung „No future!“ kann nicht die von Christenmenschen sein. In den Chor der Angstmacher und Weltuntergangspropheten einzustimmen, ist nicht ihre Aufgabe. Sie haben vielmehr von Gottes gnädigem Gedenken und seiner Treue Zeugnis zu geben durch ihr Reden, Verhalten und Tun.

„Nie wieder!“ So hat es Gott versprochen, und er unterstreicht dieses Versprechen öffentlich und für alle Zeiten durch unübersehbare Zeichen: durch den Bogen in den Wolken und – unter diesem Bogen – das Kreuz auf Golgata. Hier das Zeichen, dass Gott seine Schöpfung in bewahrender Geduld trägt und erhält, dort das Zeichen, dass er im stellvertretenden Leiden und Sterben seines Sohnes Vergebung der Schuld und neues Leben schenkt.

In unserem Textabschnitt aus der Sintflutgeschichte sind die Taube und der Ölzweig Boten neuen Lebens. Sehr eindrucksvoll und lebensnah wird erzählt, wie sich das neue Leben entwickelt, Schritt für Schritt: Die Quellen der großen Flut versiegen, Wind kommt auf, das Wasser sinkt und verläuft sich, mehr und mehr wird die Erde sichtbar. Und Noah hält Ausschau nach Zeichen neuen Lebens. Das erste Mal kehrt die ausgesandte Taube ohne Lebenszeichen zurück. Das zweite Mal mit einem Ölbaumzweig, nicht mit einem Stück Schwemmholz, das nur Zeuge der Katastrophe sein könnte, sondern mit frischem Grün, Zeichen des Neubeginns. Beim dritten Mal kehrt die Taube nicht mehr zurück, sie hat alles gefunden, was sie zum Leben braucht…

Taube und Ölzweig – sie weisen über die Noahgeschichte hinaus, sie haben symbolische Bedeutung: die Taube als Symbol des Gottesgeistes, verbunden mit der Taufe Jesu und so auch mit unserer Taufe. Als Zeichen der Errettung, der Anteilhabe am Erlösungswerk Jesu Christi ist die Taufe zugleich Zeichen und Kraft des neuen Lebens. Und ebenso ist der Ölzweig Symbol des Friedens und der Versöhnung, die Gott uns in Christus schenkt.

So ist unser Text Teil einer großen Hoffnungsgeschichte, die eingeschrieben ist in unsere von Schuld und Angst und Katastrophen geplagte Welt: Gott vergisst uns nicht, er bewahrt, er rettet, er schenkt uns neues Leben und Zukunft.

Gottes Versprechen

Genesis 8, 18 - 22

(20. Sonntag nach Trinitatis, Reihe III)

Der Zusammenhang dieses kurzen Textes ist uns allen bekannt: Der fromme Noah und seine gottlosen Zeitgenossen, deren Gedanken und Pläne böse sind von Jugend an (Gen 6, 5) – er findet Gnade vor Gott, sie erleiden Gottes Gericht. Auf Gottes Geheiß baut Noah eine Arche, in der er mit seiner Familie und Tieren aller Art Schutz und Rettung findet. Die Katastrophe vernichtet alles Leben, das nicht in der Arche ist. Vögel, die ausgesandt werden, bringen schließlich ein frisches Lebenszeichen. Noah verlässt mit den Seinen die Arche und tut, was jeder in dieser Situation tun würde: Er dankt Gott für die Errettung aus der Katastrophe…

Diese Geschichte ist uralt. Im Alten Orient gab es sie schon, lange bevor es Israel gab und das Alte Testament entstand. Eine Geschichte aus uralter Zeit, vom Anfang, eine Urgeschichte…Eine Kindergeschichte: „Es war einmal…?“ Lang, lang ist’s her!

Auch eine Geschichte für moderne, aufgeklärte Leute? Was vermag sie uns zu sagen in den Katastrophendrohungen und -stimmungen und – ängsten unserer Tage, in den Umwelt-, Bevölkerungs-, Hunger-, Wirtschafts-, Kriegs- und Bildungskatastrophen? Die Angst geht um, den ungeheuren Problemen ausgeliefert zu sein, die sich – mit oder ohne unsere Schuld – überall auftürmen. Die Angst geht um, dass wir das, was wir wissen und können, tun, ohne die Folgen sicher abzuschätzen, ohne die moralische Kraft aufzubringen, das Machbare auch zu unterlassen. Die Angst geht um, dass wir Menschen mit unserem Anspruch, selbst bestimmen und Herr sein zu wollen, unfähig werden, uns selbst und die Zukunft zu beherrschen. Was hat die alte Noahgeschichte uns in dieser Situation zu sagen? Kann sie uns Orientierung, Hilfe und Hoffnung vermitteln?

Zweierlei sagt sie uns sehr deutlich und unmissverständlich. Und das, was sie so sagt, ist weder für Optimisten noch für Pessimisten, weder für Fortschrittsgläubige noch für Angstpropheten eine Selbstverständlichkeit.

Zum ersten sagt sie: Wie es immer war, so wird es immer bleiben, solange es Menschen auf dieser Erde gibt. „Das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf“ (6,5; 8, 21). Das ist schwer erträglich für alle, die den Menschen in einem besseren Licht sehen möchten, die ihm mehr zutrauen, die die Entwicklung positiver sehen, die dem Einfluss von Aufklärung, Bildung, Erziehung und Kultur mehr Chancen geben, die davon ausgehen, dass der Mensch von Jugend auf gut, aber leider durch Erziehung und Gesellschaft und schlechte Gewöhnung verdorben worden ist…