Totenpfad

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Prolog

Es hat die ganze Nacht geregnet, jetzt am Morgen dampft der Boden leicht, Nebel steigt auf und mischt sich mit den tiefhängenden Wolken. Nelson holt Ruth mit einem Zivilwagen ab. Er sitzt vorne neben dem Fahrer, Ruth hinten, wie im Taxi. Schweigend fahren sie zu dem Parkplatz, in dessen Nähe die ersten Knochen gefunden wurden. Auf der Straße, die zum Salzmoor führt, hört man kaum ein Geräusch, bis auf das unvermittelte, abgehackte Knistern des Polizeifunks und die schweren, verschnupften Atemzüge des Fahrers. Nelson sagt nichts. Es gibt auch nichts zu sagen.

Sie steigen aus und stapfen durch das regenschwere Gras bis zum Moor. Der Wind flüstert im Schilf, hier und da sehen sie trübe, stehende Tümpel, in denen sich der graue Himmel spiegelt. Am Rand des Sumpflands bleibt Ruth stehen und sucht den ersten eingesunkenen Pfahl, den Kiesweg, der sich zwischen den tückischen Wasserlöchern hindurch bis ins Watt windet. Als sie ihn schließlich findet, halb verdeckt vom brackigen Wasser, marschiert sie ohne Zögern los.

Schweigend überqueren sie das Moor. Auf dem Weg zum Meer löst sich der Nebel langsam auf, schwaches Sonnenlicht fällt durch die Wolken. Die Ebbe hat den Henge-Ring freigelegt, der Sand glitzert im frühen Morgenlicht. Ruth kniet sich hin, wie sie es damals, vor Jahren, Erik tun sah. Behutsam macht sie sich daran, mit dem Spatel im nachgiebigen Schlamm zu stochern.

Sie hat ja gewusst, was sie finden würde.

1

Unter der Dusche gehen die verklebten Augen auf, und das Haar fließt ihr nass den Rücken hinunter. Das wäre dann wohl eine Art Taufe. Ruths Eltern sind Christen, Wiedererweckte Christen, und eifrige Verfechter der Ganzkörpertaufe für Erwachsene. Ruth kann den Reiz daran durchaus verstehen, sie hat nur das kleine Problem, dass sie nicht an Gott glaubt. Trotzdem beten ihre Eltern täglich für sie (täglich!), was allerdings bisher nicht allzu viel genützt hat.

Fertig geduscht geht sie auf feuchten Sohlen ins Schlafzimmer zurück. Heute hat sie Vorlesungen und muss sich deshalb etwas offizieller kleiden. Schwarze Hose, weites, schwarzes Oberteil. Fast ohne hinzusehen, nimmt sie die Kleider aus dem Schrank. Dabei mag sie Farben und Stoffe und hat eine ausgesprochene Vorliebe für Pailletten, Glasperlen und Strass. Ihrem Kleiderschrank sieht man das allerdings nicht an: eine einzige düstere Reihe dunkler Hosen und weiter Blazer in gedeckten Farben. Die Schubladen ihrer Kiefernholzkommode sind mit schwarzen Pullovern, langen Strickjacken und blickdichten Strumpfhosen gefüllt. Früher hat sie Jeans getragen, aber seit sie bei Größe 44 angelangt ist, trägt sie lieber Cordhosen, selbstverständlich in Schwarz. Jeans sind ohnehin zu jugendlich für sie. Nächstes Jahr wird sie vierzig.

Als sie angezogen ist, steigt sie die Treppe hinunter. Die Treppe in ihrem Häuschen ist ausgesprochen steil, eigentlich eher eine Leiter. «Da komme ich nie im Leben hoch», hat ihre Mutter bei ihrem ersten und einzigen Besuch verkündet. Und Ruth dachte sich im Stillen: Verlangt ja auch keiner von dir. Ihre Eltern haben in einer Pension ganz in

Die Küche bietet gerade genug Platz für einen Kühlschrank und einen Herd, doch Ruth kocht so gut wie nie, trotz der vielen Kochbücher. Jetzt macht sie den Wasserkocher an, steckt Brot in den Toaster und schaltet mit geübter Hand das Radio ein. Dann sucht sie ihre Notizen für die Vorlesung zusammen und setzt sich damit an den Tisch am Fenster. Das ist ihr Lieblingsplatz. Vor ihrem Vorgarten mit dem windzerzausten Gras und dem wackligen blauen Zaun beginnt das Nichts. Nur Sumpfland, kilometerweit, hier und da sind mickrige Ginsterbüsche zu sehen und kreuz und quer verlaufende schmale, hinterhältige Wasserläufe. Um diese Jahreszeit ziehen manchmal große Schwärme von Wildgänsen über den Himmel, das Gefieder rosig verfärbt von den Strahlen der aufgehenden Sonne. Heute allerdings, an diesem grauen Wintermorgen, sieht man weit und breit kein einziges Lebewesen. Alles wirkt blass und verwaschen, Graugrün mischt sich mit Grauweiß, dort, wo das Moor in den Himmel übergeht. Und in der Ferne als dunkelgrauer Streifen das Meer, wo die Möwen auf den Wellen an Land treiben. Es ist eine ganz und gar trostlose Landschaft, und Ruth weiß beim besten Willen nicht, weshalb sie das alles so sehr liebt.

Der unvermeidliche «Gedanke zum Tage» dringt aus dem Radio in ihr Unterbewusstsein und erinnert sie daran, dass es Zeit zum Aufbrechen wird: «In mancher Hinsicht ist Gott wie ein iPod …» Ruth räumt Teller und Tasse in die Spüle, stellt ihren beiden Katzen, Sparky und Flint, etwas zu fressen hin und verteidigt sich dabei gegen den unermüdlichen, spöttischen Fragensteller in ihrem

«Kommt Gott in der Liste unserer kürzlich gespielten Songs vor, oder taucht er nur auf, wenn wir die Zufallsfunktion drücken?», ertönt es aus dem Radio.

Ruth streichelt Flint und geht zurück ins Wohnzimmer, um ihre Unterlagen in den Rucksack zu stecken. Sie wickelt sich einen roten Schal um den Hals – ihr einziges Zugeständnis in punkto Farbe: Schals dürfen schließlich auch dicke Leute tragen – und streift ihren Anorak über. Dann macht sie das Licht aus und verlässt ihr Häuschen.

Ruth bewohnt eines von drei kleinen Häusern am Rand des Salzmoors. Das zweite gehört dem Wärter des Vogelschutzgebiets, das dritte ist ein Wochenendhaus, dessen Bewohner im Sommer hier einfallen, die Luft mit Grilldünsten verpesten und Ruth mit ihrem Geländewagen die Aussicht versperren. Im Frühling und im Herbst ist die Straße häufig überschwemmt, im Winter manchmal völlig unpassierbar. «Warum wohnst du nicht etwas zentraler?», fragen ihre Kollegen. «Es gibt doch wunderschöne Grundstücke in King’s Lynn oder auch in Blakeney, wenn du mehr Natur willst.» Ruth kann sich selbst nicht recht erklären, weshalb sie, ein Großstadtkind, im Süden von London geboren und aufgewachsen, sich zu diesem gottverlassenen, unwirtlichen Sumpfland, dem trostlosen Watt, dieser ganzen unerbittlichen Landschaft hingezogen fühlt. Das erste Mal ist sie aus beruflichen

Heute ist die Straße frei, nur der ewige Wind weht eine dünne Salzspur auf die Windschutzscheibe. Ruth sprüht automatisch Wischwasser darauf, während sie im Schritttempo über den Weiderost holpert und dann der kurvigen Straße ins Dorf folgt. Im Sommer neigen sich die belaubten Bäume aufeinander zu und bilden einen geheimnisvollen, grünen Tunnel, doch heute sind sie bloße Gerippe, die ihre kahlen Arme gen Himmel strecken. Ein bisschen schneller, als ratsam wäre, fährt Ruth an den vier Häusern und dem vernagelten Pub vorbei, die das Dorf bilden, und nimmt die Abzweigung nach King’s Lynn. Ihre erste Vorlesung beginnt um zehn.

Ruth unterrichtet an der University of North Norfolk, der UNN, wie die wenig einnehmende Abkürzung lautet, einer jungen Universität am Stadtrand von King’s Lynn. Sie ist Dozentin für Archäologie, einem jungen Studienfach an dieser Uni, und ihr Spezialgebiet ist forensische Archäologie, eine noch sehr viel jüngere Disziplin. Phil, der Lehrstuhlinhaber, witzelt häufig darüber, dass Archäologie ja eigentlich so gar nichts Jugendliches an sich habe, und Ruth lächelt jedes Mal pflichtschuldigst. Insgeheim ist sie überzeugt, dass es nicht mehr lange dauern kann, bis Phil sich einen lustigen Autoaufkleber zulegt: «Grab doch mal ’nen Archäologen an» oder «Für Archäologen ist man nie zu alt». Sie selbst interessiert sich vor allem für Knochen. Wann klappern Skelette am lautesten? Wenn sie

Die Universität besteht aus mehreren niedrigen, langgestreckten Gebäuden mit gläsernen Verbindungsstegen dazwischen. An einem grauen Morgen wie diesem wirkt der ganze Komplex fast einladend: Gelbliches Licht fällt auf die zahllosen Parkplätze hinaus, und eine Reihe winziger Lämpchen weist den Weg zu dem Gebäude, in dem die Fachbereiche Archäologie und Naturwissenschaft untergebracht sind. Aus der Nähe ist das Ganze dann schon weniger eindrucksvoll. Obwohl der Campus erst zehn Jahre alt ist, haben die Betonfassaden bereits erste Risse, die Wände sind mit Graffiti beschmiert, und ein gutes Drittel der kleinen Lämpchen ist defekt. Ruth bemerkt das alles kaum.

Auf dem Weg durch das muffige Treppenhaus zu ihrem Büro denkt sie über ihre erste Vorlesung nach: «Grundprinzipien der Ausgrabungstechnik». Obwohl sie alle schon einen Studienabschluss haben, verfügen ihre Studenten in der Regel über wenig bis keine Ausgrabungspraxis. Viele kommen aus dem Ausland – die Universität kann ihre Studiengebühren gut brauchen –, und der steinhart gefrorene Boden East Anglias wäre ein zu großer Kulturschock für sie. Ihre erste offizielle Ausgrabung absolvieren sie deshalb nicht vor April.

Während Ruth auf dem Flur vor ihrem Büro nach der Schlüsselkarte kramt, sieht sie aus dem Augenwinkel zwei Männer auf sich zukommen. Der eine ist Phil, der Lehrstuhlinhaber, den anderen kennt sie nicht. Ein großer, dunkler Typ mit raspelkurzem, graumeliertem Haar. Er hat etwas Hartes an sich, wirkt beherrscht und fast ein wenig gefährlich, weshalb Ruth vermutet, dass er kein Student und ganz sicher auch kein Dozent ist. Sie macht einen Schritt zur Seite, um die beiden vorbeizulassen, doch Phil bleibt zu ihrem Erstaunen vor ihr stehen und sagt mit ernster Stimme, in der die Aufregung deutlich zu hören ist: «Ruth, hier ist jemand, der dich gern kennenlernen würde.»

Also doch ein Student. Ruth will schon ihr Willkommenslächeln aufsetzen, doch Phils nächste Worte lassen sie überrascht innehalten.

«Das ist Detective Chief Inspector Harry Nelson. Er will mit dir über einen Mord reden.»

2

«Ja, natürlich», sagt Phil eifrig und wirft Ruth dabei einen Blick zu, der in etwa ausdrückt: «Siehst du, ich rede mit einem echten Detective!» Ruth verzieht keine Miene.

«Das ist Doktor Ruth Galloway», fährt Phil fort. «Unsere Expertin für forensische Fragen.»

«Freut mich sehr», sagt Nelson, ohne zu lächeln. Dann deutet er auf Ruths verschlossene Bürotür. «Können wir vielleicht …?»

Ruth schiebt ihre Schlüsselkarte ins Schloss und öffnet die Tür. Ihr Büro ist winzig, es misst kaum sechs Quadratmeter. Eine Wand wird komplett von Bücherregalen eingenommen, eine weitere von der Tür, die dritte von einem schmuddeligen Fenster mit Blick auf einen nicht minder schmuddeligen Zierteich. An der vierten Wand steht Ruths Schreibtisch, über dem ein gerahmtes Indiana Jones-Plakat hängt – rein ironisch natürlich, wie sie stets hastig versichert. Wenn Ruth hier ihre Tutorien hat, sitzt ein Teil der Studenten meist auf dem Gang, und sie hält die Tür mit einem Stopper in Katzenform offen, den Peter ihr einmal geschenkt hat. Jetzt allerdings lässt sie die Tür hinter sich zufallen. Phil und der Detective bleiben verlegen stehen und wissen nicht, wohin mit sich. Als Nelson sich mit finsterer Miene an die Fensterbank lehnt, kommt es Ruth vor, als verdunkelte sich das Zimmer. Er wirkt viel zu breit, zu groß, zu erwachsen für diesen Ort.

«Bitte.» Ruth deutet auf die Stühle, die neben der Tür gestapelt stehen. Phil überlässt Nelson mit großer Geste den ersten Stuhl und kann sich offenbar nur knapp davon abhalten, ihn vorher noch mit dem Pulloverärmel abzustauben.

«Wir haben Knochen gefunden», sagt er. «Sieht aus, als stammten sie von einem Kind, aber sie wirken irgendwie alt. Ich muss wissen, wie alt.»

Ruth schweigt, doch Phil mischt sich eifrig ein. «Wo haben Sie die Knochen denn gefunden, Inspector?»

«Beim Vogelschutzgebiet. Im Salzmoor.»

Phil sieht Ruth an. «Aber das ist ja gleich bei dir …»

«Ja, ich weiß», bremst ihn Ruth. «Wie kommen Sie darauf, dass die Knochen alt sein könnten?»

«Sie sind bräunlich verfärbt, wirken aber sonst gut erhalten. Ich dachte, das ist Ihr Fachgebiet?» Sein Ton wird unvermittelt aggressiver.

«So ist es», erwidert Ruth ruhig. «Deshalb sind Sie ja hier, nehme ich an.»

«Können Sie mir nun sagen, ob es neuere Knochen sind, oder nicht?», fragt Nelson unvermindert streitlustig.

«Neuere Funde lassen sich meist schnell bestimmen», sagt Ruth. «Man erkennt sie am Erscheinungsbild und an der Oberfläche. Mit älteren Knochen ist es da schon komplizierter. Oft lässt sich nicht sagen, ob sie nun fünfzig oder zweitausend Jahre alt sind. Dann muss man eine Radiokarbonanalyse durchführen.»

«Doktor Galloway ist Expertin für das Konservieren von Knochenmaterial.» Schon wieder Phil, der vor lauter Aufregung ständig dazwischenquatscht. «Sie war sogar in Bosnien bei den Kriegsgräbern im Einsatz.»

Ruth tut, als würde sie nachdenken, obwohl sie längst geködert ist. Knochen! Im Salzmoor! Wo sie damals ihre erste, unvergessliche Ausgrabung mit Erik absolviert hat. Das kann alles Mögliche bedeuten. Eine Entdeckung vielleicht. Oder aber …

«Und Sie vermuten einen Mord?», fragt sie.

Nelson sieht zum ersten Mal etwas unbehaglich drein. «Darüber möchte ich lieber nicht sprechen», sagt er ernst. «Zumindest jetzt noch nicht. Können Sie sich die Sache ansehen?»

Ruth steht auf. «Ich habe eine Veranstaltung um zehn. Aber in der Mittagspause hätte ich Zeit.»

«Dann schicke ich Ihnen um zwölf einen Wagen», sagt Nelson.

 

Zu Ruths heimlicher Enttäuschung schickt Nelson ihr keinen Streifenwagen mit Blaulicht und allem Drum und Dran. Stattdessen kommt er selbst in einem verdreckten Mercedes. Ruth wartet wie vereinbart am Haupteingang, und Nelson bequemt sich nicht einmal aus dem Wagen, sondern beugt sich nur herüber, um die Beifahrertür zu öffnen. Ruth steigt ein und fühlt sich dick und unförmig dabei, wie immer im Auto. Sie wird von der krankhaften Befürchtung geplagt, dass der Gurt einmal nicht um sie herumpassen oder ein versteckter Gewichtssensor einen grellen Alarmton auslösen könnte. «Neunundsiebzig Kilo! Neunundsiebzig Kilo an Bord! Alarmstufe Rot! Schleudersitzfunktion einleiten!»

Nelson mustert ihren Rucksack. «Haben Sie alles, was Sie brauchen?»

«Ja.» Sie hat ihre Taschenausrüstung dabei: eine Spitzkelle, eine kleine Handschaufel, Tiefkühlbeutel für Fundstücke

«Und Sie wohnen also in der Nähe vom Salzmoor?», fragt Nelson, während er den Wagen mit quietschenden Reifen durch den Verkehr steuert. Er fährt wie die berühmte gesengte Sau.

«Ja.» Ruth hat das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen, obwohl sie eigentlich gar nicht weiß, warum. «An der New Road.»

«An der New Road!» Nelson lacht bellend auf. «Ich dachte, da wohnen nur Vogel-Freaks.»

«Der Vogelschutzwart wohnt tatsächlich gleich nebenan.» Ruth versucht, höflich zu bleiben, während sie mit dem Fuß immer wieder unwillkürlich auf eine nicht vorhandene Bremse tritt.

«Für mich wäre das nichts», sagt Nelson. «Viel zu einsam.»

«Mir gefällt es», sagt Ruth. «Ich habe dort eine Ausgrabung gemacht und bin geblieben.»

«Eine Ausgrabung? Was Archäologisches?»

«Ja.» Ruth denkt zurück an den Sommer vor zehn Jahren. Die Abende am Lagerfeuer, wo sie halb verkohlte Würstchen aßen und rührselige Lieder sangen. Das Vogelzwitschern am Morgen, der blühende Strandflieder, der das ganze Sumpfland lila färbte. Die Schafherde, die mitten in der Nacht ihre Zelte niedertrampelte. Die Angst, als Peter bei Flut auf dem Watt festsaß und Erik auf allen vieren herüberkroch, um ihn zu retten. Die fiebrige Aufregung, als sie den ersten hölzernen Pfahl entdeckten, den Beweis, dass der Henge tatsächlich existierte. Ruth hat den Klang von Eriks Stimme noch im Ohr, als er sich umdrehte

Sie sieht Nelson an. «Wir waren auf der Suche nach einem Henge.»

«Einem Henge? So was wie Stonehenge?»

«Ja, genau. Das Wort bezeichnet im Grunde nur einen kreisförmigen Erdwall mit einem Graben drum herum. Im Inneren des Kreises stehen meistens Pfähle.»

«Ich habe mal irgendwo gelesen, dass Stonehenge eigentlich eine Art riesige Sonnenuhr war. Zur Bestimmung der Uhrzeit.»

«Wir wissen nicht genau, wozu es tatsächlich diente», sagt Ruth. «Aber fest steht in jedem Fall, dass es dabei um Rituale ging.»

Nelson wirft ihr einen merkwürdigen Blick zu.

«Rituale?»

«Ja. Eine Kultstätte für Gaben und Opferhandlungen.»

«Opfer?», wiederholt Nelson. Er wirkt plötzlich ernstlich interessiert, der leicht herablassende Ton ist aus seiner Stimme verschwunden.

«Gelegentlich finden wir Belege für Opferrituale. Gefäße, Speere, Tierknochen.»

«Was ist mit Menschenknochen? Haben Sie auch schon mal menschliche Knochen gefunden?»

«Ja, hin und wieder schon.»

Nach kurzem Schweigen fragt Nelson: «Ist das nicht ein etwas komischer Ort für so ein Henge-Ding? Direkt am Meer?»

«Damals war hier noch kein Meer. Landschaften verändern sich im Lauf der Zeit. Vor zehntausend Jahren war unsere Insel noch mit dem Kontinent verbunden. Man hätte von hier zu Fuß bis nach Skandinavien gehen können.»

«Im Ernst?»

Nelson dreht sich zu ihr um und mustert sie skeptisch. Der Wagen gerät gefährlich ins Schlingern. Ruth fragt sich, ob er wohl glaubt, sie hätte sich das ausgedacht.

«Und was war da, wo jetzt das Meer ist?»

«Ebenes Sumpfland. Wir vermuten, dass unser Henge am Rand eines Moores errichtet worden ist.»

«Scheint mir trotzdem ein komischer Ort für so was.»

«Sumpfgebiete waren in der prähistorischen Zeit von großer Bedeutung», erläutert Ruth. «Sie sind so etwas wie symbolische Landschaften. Wir vermuten, dass sie deshalb so wichtig waren, weil sie Land und Wasser in sich vereinen. Oder auch Leben und Tod.»

Nelson schnaubt verständnislos. «Hä?»

«Nun, ein Sumpf ist kein Festland, er ist aber auch kein Gewässer, sondern eine Mischung aus beidem. Wir wissen, dass Sümpfe für den prähistorischen Menschen von großer Bedeutung waren.»

«Und woher wissen wir das?»

«Weil wir entsprechende Gegenstände im Randgebiet von Sümpfen gefunden haben. Votivgaben.»

«Votivgaben?»

«Opfergeschenke an die Götter, die an heiligen Stätten dargebracht wurden. Manchmal auch Leichen. Sie haben doch sicher schon von Moorleichen gehört? Vom Lindow-Mann beispielsweise?»

«Kann sein», antwortet Nelson zögernd.

«Leichen, die in torfhaltigem Boden begraben wurden, sind meist fast vollständig erhalten. Und es gibt Forscher, die glauben, dass diese Toten absichtlich im Moor beigesetzt wurden, um die Götter gnädig zu stimmen.»

Nelson wirft ihr einen weiteren Blick zu, sagt aber nichts

Der Parkplatz ist leer, bis auf einen einsamen Streifenwagen, dessen Insasse aussteigt, als er sie kommen sieht. Er wirkt verfroren und schlecht gelaunt.

«Doktor Ruth Galloway», stellt Nelson sie vor. «Detective Sergeant Clough.»

DS Clough nickt trübsinnig, und Ruth hat den Eindruck, dass es nicht zu seinen Lieblingsbeschäftigungen zählt, sich stundenlang auf einem windgepeitschten Moor herumzutreiben. Nelson hingegen kann es offenbar kaum abwarten, er tritt sogar ein wenig auf der Stelle wie ein Rennpferd, das die Galoppbahn schon vor Augen hat. Er geht voraus auf den Kiesweg, den ein Schild als «Besucherpfad» ausweist. Sie passieren einen hölzernen Unterstand, der auf Pfeilern über dem Sumpfland thront. Bis auf ein paar Chipstüten und eine leere Coladose auf der umlaufenden Plattform ist er leer.

Nelson bleibt nicht einmal stehen, er deutet nur im Vorbeigehen auf den Abfall und bellt: «Mitnehmen.» Ruth kann sich eine gewisse Anerkennung für seine Sorgfalt nicht verkneifen, wenn auch nicht für sein Benehmen. Offenbar hat Polizeiarbeit eine gewisse Ähnlichkeit mit der Arbeit des Archäologen. Auch sie würde alles einsammeln, was sich an einer Ausgrabungsstätte findet, und es sorgsam beschriften, um den Kontext zu erkennen. Auch sie wäre bereit, tage- und wochenlang zu suchen, immer in der

Ruth ist bereits außer Atem, als sie endlich an die Stelle kommen, die mit blauweißem Absperrband, wie sie es von Verkehrsunfällen kennt, gekennzeichnet ist. Nelson ist gut zehn Meter vor ihr, er hat die Hände in die Taschen geschoben und den Kopf vorgereckt, als würde er in die Luft schnuppern. Clough trottet hinter ihm her, die Plastiktüte mit dem Abfall aus dem Unterstand in der Hand.

Hinter dem Absperrband findet sich ein nicht sehr tiefes Loch, das zur Hälfte mit schlammigem Wasser gefüllt ist. Ruth bückt sich unter der Absperrung durch und hockt sich hin, um hineinzuschauen. Im schweren Schlamm schimmern deutlich sichtbar Knochen.

«Wie haben Sie die bloß gefunden?», fragt sie.

Diesmal antwortet Clough. «Auf Hinweis einer Passantin, die mit ihrem Hund spazieren war. Das Tier hatte plötzlich einen Knochen im Maul.»

«Haben Sie den noch? Den Knochen, meine ich.»

«Auf dem Revier.»

Ruth fotografiert den Fundort und macht in ihrem Notizbuch eine grobe Lageskizze. Sie befinden sich im äußersten Westen des Sumpfgebiets – hier hat sie noch nie gegraben. Das Strandstück, wo der Henge entdeckt wurde, liegt gut drei Kilometer östlich. Ruth kniet sich auf den schlammigen Boden und macht sich sorgfältig daran, mit einem Plastikbecher aus ihrer Ausgrabungsausrüstung das Wasser abzuschöpfen. Nelson kann seine Ungeduld kaum bezähmen.

«Können wir da nicht mithelfen?», fragt er.

«Nein», antwortet Ruth knapp.

Als das Loch weitgehend wasserfrei ist, schlägt ihr Herz

«Und?» Nelson schaut ihr erwartungsvoll über die Schulter.

«Eine Leiche», sagt Ruth zögernd. «Aber …»

Langsam zieht sie ihre Kelle hervor. Sie darf nichts überstürzen. Eine einzige kleine Nachlässigkeit kann ganze Ausgrabungen ruinieren, das hat sie selbst häufig genug erlebt. Und so trägt sie, dem zähneknirschenden Nelson zum Trotz, ganz behutsam den durchnässten Boden ab. Darunter kommt eine leicht zur Faust geballte Hand zum Vorschein. Um das Handgelenk liegt ein Armband, das offenbar aus Gras geflochten ist.

«Ach du Schande!», murmelt Nelson hinter ihr.

Ruth arbeitet jetzt wie in Trance. Sie markiert den Fund auf ihrem Lageplan, notiert die Ausrichtung. Dann macht sie ein Foto und beginnt erneut zu graben.

Diesmal stößt sie mit der Kelle auf Metall. So langsam und sorgfältig wie zuvor greift Ruth in das Loch und zieht den Gegenstand aus dem Schlamm. Stumpf glänzt er im Winterlicht, wie die Münze im Weihnachtskuchen: ein verbogenes Stück Metall, in der Form eines Halbkreises.

«Was ist das denn?» Nelsons Stimme dringt wie aus einer anderen Welt an ihr Ohr.

«Ich glaube, es ist ein Torques», antwortet Ruth versonnen.

«Und was soll das bitte sein?»

«Ein Halsring. Vermutlich aus der Eisenzeit.»

«Aus der Eisenzeit? Und wann war die?»

«Vor ungefähr zweitausend Jahren», sagt Ruth.

Clough lacht unvermittelt auf, und Nelson wendet sich ohne ein weiteres Wort ab.

 

Plötzlich sagt Nelson: «Sind Sie sich mit der Datierung ganz sicher?»

«Was den Torques angeht, ja, der stammt mit Sicherheit aus der Eisenzeit, und die logische Folgerung wäre, dass er zusammen mit der Leiche begraben wurde. Aber ganz sicher wissen wir das erst, wenn wir eine 14C-Datierung durchführen.»

«Was ist das?»

«14C ist ein Kohlenstoff-Isotop, das in der Erdatmosphäre enthalten ist. Es wird von Pflanzen aufgenommen, die Pflanzen werden von Tieren gefressen und die Tiere dann wiederum von uns. Das bedeutet, dass wir alle ständig Radiokohlenstoff zu uns nehmen, bis wir sterben. Danach nehmen wir nichts mehr auf, und der Radiokohlenstoff in unseren Knochen zerfällt ganz langsam. Man kann das Alter von Knochen bestimmen, indem man nachweist, wie viel 14C noch in ihnen enthalten ist.»

«Und wie genau ist diese Methode?»

«Nun, man muss natürlich die kosmische Strahlung einkalkulieren, die die Funde beeinflussen kann … Sonnenflecken,

«Wann war denn diese Eisenzeit?»

«Ganz genau kann ich Ihnen das auch nicht sagen, aber ungefähr von 700 vor bis 43 nach Christus.»

Nelson schweigt einen Augenblick, während er diese Informationen verdaut, dann fragt er: «Und wieso liegt da eine Leiche aus der Eisenzeit im Moor?»

«Als Gabe an die Götter. Möglicherweise war sie an Pflöcken festgebunden. Haben Sie das Gras am Handgelenk gesehen? Das könnte eine Art Schnur gewesen sein.»

«Mein Gott. Festgebunden und ihrem Schicksal überlassen?»

«Ja, möglicherweise. Vielleicht war sie aber auch schon tot, als sie dort angebunden wurde. In dem Fall waren die Pflöcke nur zur Fixierung gedacht.»

«Mein Gott», sagt Nelson noch einmal.

Plötzlich fällt Ruth wieder ein, warum sie hier mit diesem Mann in seinem Wagen sitzt. «Wie kamen Sie eigentlich darauf, dass es sich um neuere Knochen handeln könnte?», fragt sie.

Nelson seufzt. «Vor etwa zehn Jahren ist hier ganz in der Nähe ein Kind verschwunden. Wir haben nie eine Leiche gefunden. Ich dachte, vielleicht ist sie das ja.»

«Sie?»

«Sie hieß Lucy Downey.»

Ruth schweigt. Ein Name macht alles gleich viel realer. Deshalb hat ja auch der Archäologe, der den ersten echten Menschen fand, dem Skelett gleich einen Namen gegeben – kurioserweise auch den Namen Lucy.

«Was genau?», fragt Ruth verwirrt.

«Über Rituale und so was. Diese Briefe sind nämlich voll mit allem möglichen krausen Zeug, aber eins kommt immer wieder vor: dass Lucy ein Opfer war und wir sie dort finden werden, wo die Erde auf den Himmel trifft.»

«Wo die Erde auf den Himmel trifft», wiederholt Ruth. «Das kann praktisch überall sein.»

«Richtig. Aber dieser Ort hier, da fühlt man sich doch irgendwie wie am Ende der Welt. Und deshalb … als ich hörte, dass dort Knochen aufgetaucht sind …»

«Da dachten Sie, es könnten ihre sein?»

«Ja. Die Ungewissheit ist das Schlimmste für die Eltern. Wenn wir die Leiche endlich finden würden, hätten sie wenigstens die Möglichkeit zu trauern.»

«Dann sind Sie also sicher, dass sie tot ist?»

Nelson zögert einen Moment und konzentriert sich darauf, kurz vor einer scharfen Kurve einen Laster zu überholen. «Ja», sagt er schließlich. «Eine Fünfjährige, die mitten im November verschwindet und dann zehn Jahre lang nicht mehr auftaucht? Sie muss tot sein.»

«Im November?»

«Ja. Fast auf den Tag genau vor zehn Jahren.»

Ruth denkt an die langen, dunklen Abende, den Wind, der über das Moor heult. Sie stellt sich die Eltern vor, wie sie warten und beten, dass sie ihre Tochter zurückbekommen, wie sie jedes Mal zusammenzucken, wenn das Telefon klingelt, jeden Tag von neuem auf Nachricht hoffen. Und wie die Hoffnung dann nach und nach versiegt und der dumpfen Gewissheit des Verlusts weicht.

«Was ist mit den Eltern?», fragt sie. «Leben die noch hier in der Gegend?»

Ruth ist entsetzt. «Die Eltern bringen ihr eigenes Kind um?»

Nelsons Ton klingt sachlich, die nordenglischen Vokale noch dumpfer als zuvor. «In neun von zehn Fällen. Da hat man diese völlig verzweifelten Eltern, Pressekonferenzen, bitterliche Tränen, und am Ende findet man das Kind im Garten hinterm Haus verscharrt.»

«Aber das ist ja furchtbar.»

«Ja. In diesem Fall allerdings … ich weiß nicht, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie es nicht waren. Sie sind so ein nettes Paar, nicht mehr sonderlich jung, sie haben jahrelang versucht, ein Kind zu kriegen, und dann kam Lucy. Sie war ihr Ein und Alles.»

«Wie schrecklich für sie», sagt Ruth hilflos.

«Ja, schrecklich.» Nelsons Stimme bleibt ausdruckslos. «Aber sie haben uns nie Vorwürfe gemacht, weder mir noch dem Ermittlungsteam. Sie schicken mir jedes Jahr eine Weihnachtskarte. Darum wollte ich auch …» Er ringt kurz nach Worten. «Ich hätte die Sache einfach gern für sie zu Ende gebracht.»

Sie sind wieder bei der Universität angekommen. Nelson hält mit quietschenden Reifen vor dem Naturwissenschaftsgebäude. Ein paar Studenten auf dem Weg zur nächsten Vorlesung bleiben stehen und schauen herüber. Obwohl es erst halb drei ist, wird es bereits dämmrig.

«Danke fürs Herbringen», sagt Ruth leicht verlegen. «Ich lasse die Knochen für Sie datieren.»

«Danke», sagt Nelson. Plötzlich scheint er Ruth zum ersten Mal richtig anzusehen, und sie wird sich schmerzlich ihrer zerzausten Haare und ihrer schlammverklebten Kleider

«Ja», antwortet Ruth. «Vielleicht.»

«Dann ist ja zumindest einer glücklich.» Er fährt los, als Ruth ausgestiegen ist, ohne sich noch einmal zu verabschieden. Sie rechnet nicht damit, ihn jemals wiederzusehen.