Für meine Enkelkinder Darian, Lorena und Elida.

Nach einer Idee von Lorena

Ein herzliches Dankeschön gilt Simone Zacharias, die mit ihren wunderschönen Bildern sehr zum Gelingen dieses Buches beigetragen hat.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2013 Hans-Joachim Wildner

Illustration: Simone Zacharias

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7322-6735-4

Inhalt

Die Felsenbucht

„Schelli“, ruft die Mama ihr zu, „ich schwimme zum Fischen raus. Achte auf die Walrosse und geh ihnen aus dem Weg. Hörst du?“

Schellis Mama ist wegen der Walrosse immer sehr besorgt, wenn sie Schelli zum Fischen allein lassen muss.

Der Strand in der kleinen Felsenbucht, in der Schelli und ihre Mama leben, ist sehr beliebt bei Robben und Walrossen, und deshalb geht es hier ziemlich eng zu. Es wird ständig geschubst, gestoßen und gedrängelt. Weiter oben in den Felsen streiten sich die Möwen um die besten Plätze. Die großen Walrosse nehmen meist wenig Rücksicht auf die Robben und stoßen sie einfach zur Seite, anstatt ihnen auszuweichen. Das ist besonders für die kleinen Robben gefährlich.

„Ja, ja, Mama. Mach dir keine Sorgen und komm bald zurück“, antwortet Schelli und sieht ihrer Mama mit ihren großen, dunklen Kulleraugen nach. Sie legt sich etwas abseits in den weichen Sand nahe am Wasser und lässt sich von den ausrollenden Wellen am Bauch kitzeln. Schelli liebt diese Felsenbucht mit den hoch aufragenden Felswänden, die vor den kalten Winden schützen. Sie lauscht gern dem Heulen des Sturmes und dem Donnern der Wellen, die mit voller Wucht gegen die steilen Klippen schleudern. Das Wasser schäumt und spritzt wild umher. Die Luft schmeckt nach Salz und riecht nach Seetang. Bis ihre Mama vom Fischen zurückkommt, vertreibt sich Schelli die Zeit mit Muscheln. Am liebsten legt sie damit Mosaikbilder in den Sand. Diesmal soll es ein Schloss werden mit vielen Türmen und drum herum einem Garten aus Vogelfedern. Schelli betrachtet zufrieden das fertige Bild und ist ganz stolz darauf. Aber sie muss aufpassen. Da kommt ein Walrossbulle direkt auf sie zu. Er ist auf dem Weg zum Wasser und robbt schnurstracks geradeaus, egal, was ihm in die Quere kommt. Achtung, Schelli! – Zu spät.

Er rempelt sie an, stößt sie zur Seite und tritt ihr dabei auf die rechte Flosse. „Aua“, schreit sie auf. Das schöne Muschelschloss ist auch dahin. Schelli ist echt sauer und schreit ihn an: „Pass doch auf, wo du hintrittst. Sieh, was du angerichtet hast, du – du – Grobian.“ Aber das berührt ihn gar nicht. Er dreht nur kurz seinen riesigen Kopf über die Schulter, blickt Schelli abfällig an und brummt: „Von wegen Grobian. Sei froh, dass ich dir nur auf die Flosse getreten bin.“

Als Schelli ihn so ansieht, ist sie ein wenig verdutzt. Er sieht irgendwie anders aus als die anderen Walrosse, nicht ganz so grimmig, findet Schelli. Der eine Stoßzahn ist etwas kürzer als der andere, und seine Barthaare hängen lockig herunter. Das hat sie noch nie bei einem Walross gesehen. Ach du dickes Ei, denkt sie, der sieht ja lustig aus. Sie muss ein Grinsen unterdrücken, hält sich schnell eine Flosse vor den Mund und starrt ihn erschrocken an. Trotzdem, denkt Schelli, auch wenn er nicht so grimmig aussieht, er hat mir wehgetan und mein schönes Muschelschloss kaputt gemacht, er ist und bleibt für mich ein Grobian.

„Mama hat recht. Ich muss einfach mehr auf der Hut sein, wenn sie nicht da ist“, flüstert Schelli leise zu sich selber. Der Walrossbulle robbt inzwischen zielstrebig weiter zum Wasser und verschwindet in den Wellen.

Schelli ärgert sich noch eine Weile, beginnt aber sogleich ihr Muschelschloss wieder aufzubauen. Diesmal geht es einfacher, und sie findet ihr Muschelschloss noch schöner als beim ersten Mal. Zwischendurch blickt sie immer wieder aufmerksam um sich, ob nicht wieder so ein rücksichtsloses Walross auf sie zusteuert. Als sie fertig ist und sich noch einmal nach allen Seiten umschaut, da sieht sie den Walrossbullen mit dem abgebrochenen Stoßzahn gerade wieder aus dem Wasser zurückkommen.

„Oh nein, der schon wieder“, sagt Schelli laut vor sich hin. Sie legt sich vor ihr Muschelschloss, bereit, es diesmal zu verteidigen. Da bemerkt sie, dass er sich sehr langsam und hinkend aus dem Wasser bewegt. Mit schmerzverzerrtem Gesicht schleppt er sich über den Sand und stöhnt leise vor sich hin. Nanu, da stimmt doch was nicht, denkt Schelli.

Als er näher kommt, sieht sie unterhalb seiner rechten Flosse einen Blutfleck auf seinem Fell.

Er ist verletzt, denkt sie und hat auf einmal gar keine Angst mehr, sie verspürt sogar etwas Mitleid mit ihm.

„Du blutest. Kann ich dir helfen?“ fragt sie mutig und ist über sich selbst erschrocken. Ein verletzter Walrossbulle kann sehr gefährlich werden. Das weiß Schelli von ihrer Mama.

„Du willst mir helfen, obwohl ich dir vorhin wehgetan habe? Das ist aber sehr nett von dir“, antwortet der Walrossbulle mit stotternder Stimme.

„Leg dich auf die Seite und heb die Flosse hoch. Ich sehe mir das mal an“, sagt Schelli bestimmt, so, als würde sie keinen Widerspruch dulden. Gehorsam legt sich der Walrossbulle auf die Seite und hebt die Flosse an. Schelli sieht ein Stück von einer Koralle im Fell stecken.

„Das muss raus“, sagt sie, „sonst wird sich die Wunde entzünden.“

„Kannst du es rausziehen?“, fragt der Walrossbulle.

„Es wird aber wehtun. Du musst mir versprechen, dass du mir nichts tust.“

„Versprochen. Nun mach endlich.“

Schelli nimmt das Stück Koralle zwischen ihre Kiefer und zieht es mit einem Ruck heraus. „Auaaaaa“, brüllt der Walrossbulle so laut auf, dass sich alle in der Bucht fürchterlich erschrecken. Die hektische Betriebsamkeit am Strand und in den Felsen kommt spontan zum Erliegen. Die Möwen hören auf zu streiten, die anderen Walrosse und Robben blicken sich ängstlich an.

Erst als das Echo verklungen ist, und sich alle wieder sicher fühlen, wird erneut gestritten, geschubst und gedrängelt. Der Walrossbulle holt tief Luft, schnaubt vor Erleichterung und richtet sich wieder auf.

„Danke, du hast etwas gut bei mir“, sagt er, „vielleicht kann ich mich mal erkenntlich zeigen. Übrigens, ich heiße Hugo, und du?“

„Schelli.“

Hugo robbt, noch etwas humpelnd, davon und verschwindet im Gedränge der Bucht.

Ein Schutzengel

Es vergehen einige Tage. Von Hugo hat Schelli nichts mehr gehört und gesehen. Schellis Mama ist gerade zum Fischen hinausgeschwommen und Schelli ist wieder einmal allein. Sie genießt es, im weichen Sand zu liegen und dreht sich auf den Rücken, damit ihr die Sonne auf den Bauch scheint. Sie grunzt zufrieden, schließt ihre dunkelbraunen Kulleraugen und träumt von der leckeren Milch ihrer Mutter.

Je länger Schelli davon träumt, umso größer wird ihr Hunger. Ihre Mama muss bald wiederkommen. Sie ist ja schon eine ganze Weile weg. Hoffentlich ist ihr nichts zugestoßen, denkt Schelli voller Sorge. Denn draußen im Meer gibt es nicht nur Futter, es lauern auch viele Gefahren in der Tiefe. Besonders gefährlich sind die Haie, die am liebsten kleine Robben jagen.

„Mama ist eine schlaue und erfahrene Robbe, die lässt sich nicht so einfach schnappen“, beruhigt sich Schelli. Sie streckt ihre Flossen weit aus und genießt die wärmende Sonne. Doch plötzlich wird ihr kühler, so, als ob sich ein Schatten über sie legt. Hat sich vielleicht eine Wolke vor die Sonne geschoben? Sie öffnet die Augen und erschrickt. Über sie beugt sich ein halbstarker Walrossbulle mit langen Stoßzähnen.

„Eh, hau ab hier. Das ist mein Platz“, brummt er mit tiefer Stimme. „Nein“, antwortet Schelli, entschlossen, ihren liebgewonnenen Flecken zu verteidigen, „das ist nicht deiner. Und gleich kommt meine Mama zurück, die wird dir schon zeigen, wo dein Platz ist.

„Werd bloß nicht frech, du kleines Ding, sonst zeige ich dir mal, wer hier der Stärkere ist“, brüllt der Wallrossbulle sie an. Er beugt sich vor und will Schelli mit der Schnauze wegschubsen. Aber dazu kommt er nicht mehr. Hugo hat alles aus der Nähe beobachtet und ist rechtzeitig zur Stelle. Er verpasst dem Walrossbullen einen kräftigen Flossenhieb auf die Nase.

„Aua“, schreit der schmerzerfüllt auf. Die Tränen schießen ihm in die Augen, so dass er kaum noch gucken kann.

„Wenn du diesen Platz haben willst, musst du dich mit mir anlegen, du Großmaul“, droht Hugo mit fester Stimme. Der Walrossbulle reibt sich die schmerzende Nase und schleicht sich mit gesenktem Kopf davon.

„Hugo“, ruft Schelli erleichtert, „du bist gerade rechtzeitig gekommen. Danke für deine Hilfe. Ich hatte solche Angst.“ Eine Träne rollt über ihre Wange.

„Ist schon okay “, sagt Hugo, „du hattest sowieso etwas gut bei mir. Nun sind wir quitt.“

„Sind wir jetzt auch Freunde?“, fragt Schelli.

„Natürlich, was sonst?“, antwortet Hugo.

Da kommt Schellis Mama gerade zurück und traut ihren Augen nicht. Ihre kleine Schelli und der riesige Walrossbulle, friedlich nebeneinander. Sie mustert Hugo mit prüfenden Blicken und sagt:

„Was hast du mit meiner Schelli zu schaffen? Wage es nicht, ihr auch nur ein Haar zu krümmen, sonst …“

„Bitte, Schellimama“, fällt ihr Hugo ins Wort, „du musst dir keine Sorgen machen. Schelli hat mir sehr geholfen. Sie ist so tapfer und hilfsbereit. Ich freue mich, ihr Freund zu sein.“

„Ja, Mama, wir sind jetzt Freunde“, sagt Schelli zustimmend.

Schelli und Hugo erzählen ihr dann, was passiert ist.

„So, so, dann hat Schelli ja einen echten Schutzengel gefunden, und ich kann in Zukunft beruhigter zum Fischen rausschwimmen. Danke, dass du sie beschützt hast“, sagt Schellis Mama. Sie reden noch eine ganze Weile und haben Spaß zusammen. Schellis Mama freut sich darüber, „Schellimama“ von Hugo genannt zu werden. Und seinen lockigen Schnurrbart findet sie auch ganz sympathisch.

Es wird spät an diesem Tag, und nachdem Hugo fort ist, liegt Schelli bei ihrer Mama auf dem Rücken und beide schauen aufs Meer hinaus. Ganz weit draußen am Horizont berührt die glutrote Sonnenscheibe das Meer und zaubert einen Goldschimmer auf das Wasser.

„Mama?“, beginnt Schelli, „dort hinten, wo die Sonne ins Meer taucht, gibt es dort vielleicht eine Insel?“ „Es ist ein geheimnisvoller Ort, den noch niemand gesehen hat, und wenn es dort tatsächlich eine Insel gibt, dann muss man sehr, sehr weit schwimmen, um sie zu erreichen“, erklärt ihre Mama, „dazu bist du sowieso noch zu klein.“

„Aber wenn ich groß bin, wollen wir dann einmal dorthin schwimmen?“

„Wenn du groß genug bist und so gut schwimmen und tauchen kannst wie ich, dann werden wir eine weite Reise machen. Wir suchen uns ein anderes Zuhause, wo es nicht so eng ist wie hier. Und wenn wir Glück haben, dann finden wir sogar eine Insel“, sagt ihre Mama. „Und Hugo nehmen wir mit“, antwortet Schelli, als wäre das ganz selbstverständlich.

„Auch wenn Hugo dein Freund ist, so hat er doch seine eigene Familie, die er nicht so einfach verlassen kann. Aber du musst dir jetzt noch keine Gedanken darüber machen, noch ist es nicht so weit“, beruhigt sie Schelli, „lass uns jetzt schlafen.“

„Wann bin ich groß, Mama?“

„Es dauert noch ein bisschen. Wenn es so weit ist, werde ich es dir rechtzeitig sagen.“

Sturm über dem Meer