Über Mohammed Hanif

Foto: Angelika Leuchter / Wissenschaftskolleg Berlin

Mohammed Hanif, geboren 1965 in Okara, Pakistan, wandte sich nach einer Pilotenausbildung bei der pakistanischen Luftwaffe dem Journalismus zu. 1996 zog er nach London, war dort für die BBC tätig und schrieb Artikel u. a. für die New York Times und den Guardian. Sein Debütroman Eine Kiste explodierender Mangos wurde 2008 für den Booker Prize nominiert, 2011 erschien Alice Bhattis Himmelfahrt. Seit 2008 lebt Mohammed Hanif wieder in Pakistan und arbeitet heute in Karatschi als Korrespondent der BBC.

 

 

Der Übersetzer

Michael Schickenberg, geboren 1975 in Haan, studierte Anglistik/Amerikanistik, Skandinavistik und Germanistik in Greifswald, Poughkeepsie und Cádiz. Er übersetzt aus dem Englischen und Norwegischen und lebt in Leipzig.

»Und blicke ich hindurch, ist es rot.«

Shah Hussain (Madhu Lal Hussain)

 

 

»Irgendwas ist jedem passiert, und wenn es noch nicht passiert ist, wird es passieren. Nur eine Frage der Zeit.«

»Bitte nehmen Sie Platz und schalten Sie Ihre Handys aus. Gleich geht’s los.«

Sabeen Mahmud (1975 – 2015)

In der Wüste

Ellie

Am dritten Tag finde ich das Flugzeug. Ich hatte nach etwas zu essen oder trinken gesucht, egal was, Hauptsache, Kalorien. Mir ist klar, dass ich mit den kümmerlichen Rationen meines Überlebenspakets nicht lange durchhalten werde. Als ich zu mir gekommen war, hatte ich nur noch einen zerrissenen Fallschirm und eine Dienstsonnenbrille am zerschundenen Leib gehabt. Die Roving Angels waren bestimmt schon unterwegs, um mich zu retten, aber manchmal brauchen Engel eine Weile, und für eine erfolgreiche Rettung muss ich am Leben bleiben.

Noch einmal öffne ich den Reißverschluss des Überlebenspakets und inspiziere den Inhalt, die Dinge, die mich am Leben halten werden.

Vier Energieriegel.

Zwei Vitamin-Smoothies.

Eine Rolle Verbandswatte.

Eine Mullbinde.

Nadel und Faden.

Sie geben dir einen 65-Millionen-Dollar-Flieger, dazu eine supersmarte leitstrahlgelenkte Bombe, an der irgendein Lichtwellenreiter in Salt Lake City jahrelang rumgetüftelt hat, du verbrennst knapp sechzig Liter Treibstoff pro Sekunde, aber wenn du am Arsch bist, erwarten sie von dir, dass du mit vier

Ich blicke nach unten und stelle fest, dass mein linker Stiefel, mein Fliegerstiefel, mit Blut beschmiert ist. Ich betaste meine Stirn, bewege Arme und Beine: nichts gebrochen. Ich wackele in den Stiefeln mit den Zehen: alles gut, da blutet nichts. Perfekte Landung. Meine Überlebenschancen lägen höher, wenn ich jetzt noch das Flugzeug finden würde, oder besser, die Überreste dieser 65-Millionen-Dollar-Maschine. Komm schon. Taschen auf Hinweise durchsuchen. Nichts. Topographische Übersichtskarten. Ein Kugelschreiber. Mehrere Nieten. Die müssen immer dabei sein, nur für den Fall. So ein paar Nieten schaden nie, wenn man sich in der Wüste verirrt hat.

In der Brusttasche Sand. Ein halb fertiger, genau genommen erst angefangener Brief. Liebste Cath, ich schreibe dies schweren Herzens …

Ich stehe unter Schock, es wird mir schon wieder einfallen. Fürs Erste alle Hinweise aufbewahren, den Standort bestimmen …

Auf meinem Namensschild steht Ellie, um meinen Hals baumelt eine Sauerstoffmaske. Mein Fliegeranzug weist keine Rangabzeichen auf, wie immer bei Kampfeinsätzen. Ein Captain stünde jedoch in der Rangordnung zu weit unten, um ohne Formation zu fliegen, und die meisten Colonels sind zu weit oben und zu vernünftig, um plötzlich planlos in der Wüste zu stehen. Also, darf ich vorstellen: Major Ellie.

 

Angefangen hatte alles mit einer Besprechung bei Colonel Slatter. Ich erinnere mich an eine Tasse schwarzen Kaffee, einen Donut mit Zuckerguss und ein informelles Treffen anlässlich meines jährlichen Mitarbeitergesprächs.

Aber Formulare müssen nun mal ausgefüllt werden, auch im Krieg. Und für Colonel Slatter ist das Ausfüllen von Formularen für ein 360°-Feedback der Krieg.

 

Schauen Sie sich um, der Horizont ist klar, der Himmel so blau wie die Augen von Cath. Der perfekte Tag für eine allerletzte Mission. Nicht allzu weit vor mir senkt sich der Himmel und verschmilzt mit dem Sand. Nirgends ein Grashalm, nicht mal verdorrtes Gestrüpp. Die Erde eine Herdplatte, die nicht mal Reptilienspuren zulässt, selbst die Skorpione scheinen aus dieser gottverlassenen Einöde geflohen zu sein. Nichts erweckt auch nur den Anschein, essbar zu sein. Hätte ich bloß den Donut gegessen.

 

Das Mitarbeitergespräch lief gut, wie ich fand. Meine Untergeordneten und Vorgesetzten respektierten mich. Ich hatte den »Aufbaukurs Wüstensurvival« absolviert. Den Kurs »Interkulturelle Sensibilität« hatte ich mit Auszeichnung bestanden, allerdings versäumt, mich für den obligatorischen Sprachkurs einzuschreiben, vorzugsweise für die Sprache einer Region mit hoher Konfliktintensität. Von den PTBS-Sitzungen mit dem Therapeuten der Staffel hatte ich keine einzige verpasst. Als wir auf meine Ziele für das kommende Jahr zu sprechen kamen, nuschelte ich etwas von einem Platz an der Führungsakademie. »Zu wenig Punkte, um das zu packen«, sagte der Colonel. »Drohnenpiloten sind jetzt die Stars. Jetties sind out. Wir sind nur Museumsstücke, die man um der guten alten Zeiten willen behält.«

Na toll, dachte ich. Sie schicken mich in den Ruhestand

Colonel Slatter schlug höflich vor, ich solle mein Profil aufpolieren, bevor es so weit komme.

Profil? Und ich dachte, Sein zähle bei uns mehr als Schein.

Meine Karriere sei recht geradlinig verlaufen, sagte er, unterm Strich zwar viel Kompetenz, aber keine außergewöhnlichen Tapferkeitsverdienste, keine Erwähnungen von der Sorte »bewies Mut im Gefecht«.

»Aber«, so der Colonel, »wir haben ja Krieg, und ein Krieg ist immer auch eine Gelegenheit, eine Chance, diese fehlenden Extrapunkte nachzuholen.« Unter der glänzenden Glatze des Colonels blitzten seine eisblauen Augen auf, erfüllt von einer Gewissheit, wie man sie nur durch achtzehn Jahre Kriegsführung in fernen Ländern gewinnt.

 

Ich frage mich, ob es eine Medaille speziell für Piloten gibt, die auf einer Mission plötzlich allein in der Wüste umherirren. Von Verirrten in der Wüste hört man eigentlich nur in der Sonntagsschule und in Air-Force-Sagen. Ich meine, heutzutage pflanzt man Haustieren und Zugvögeln GPS-Chips ein, wer zum Teufel geht denn da noch verloren? Erst recht, wenn man in einer 65-Millionen-Dollar-Maschine herumfliegt?

Darf ich vorstellen: Major Ellie.

Den Horizont absuchend, drehe ich mich um und blicke auf das endlose Meer aus Sand, das mich umgibt. Ich tröpfele etwas Wasser auf meine ausgedörrte Zunge.

In der Ferne wird das Sonnenlicht wie in einem riesigen getrübten Spiegel reflektiert. Wenn ich lang genug hinschaue, sehe ich kleine Kräusel, die das Licht durchziehen, wie Wellen im süßen Wasser eines natürlichen Sees, ein Infinity-Pool nur für mich gebaut. Aber Sie können Ihre Hundemarke darauf

Regel Nummer eins für das Überleben in der Wüste: was Schönes gesehen? Gleich wieder vergessen. Ist nur eine Fata Morgana.

Dabei fällt mir Regel Nummer sieben für das Überleben in der Wüste ein, und ich pelle mich langsam aus meinem Fliegeranzug. Er ist olivgrün, mit dem Kopf eines kreischenden Vogels auf der Brust und wahrscheinlich meilenweit sichtbar. Ich wende ihn auf links und ziehe ihn wieder an. Jetzt bin ich an die Umgebung angepasst. Ich kann mich in den Sand legen und darauf warten, dass die Angels mich mit ihrem Hubschrauber holen. Ich kann herumlaufen, ohne entdeckt zu werden. Wahrscheinlich könnte ich sogar das Camp suchen, das ich für eine Sekunde im Fadenkreuz hatte, den Daumen schon auf dem Abwurfknopf. Hatte ich ihn gedrückt oder nicht? War die Welt nun ein kleines bisschen sicherer, oder hatte ich es versaut?

 

»Es gibt einen Hangar, und es gibt ein Camp.« Der Colonel hatte eine Karte hervorgezogen. Er hing an seinen gedruckten Karten und farbigen Reißzwecken, seinen Zeigestöcken und mit Fadenkreuz markierten Zielen. Bevor er uns losschickte, um ein Stück Erde auszuradieren, kam immer erst die Nummer mit dem Zeigestock. In einer Welt der Ungewissheit wird die Existenz des Feindes viel realer, wenn man ihn auf einer Karte aus Papier festnageln kann.

»Schalt das hier aus, und wir sind fertig. Ein letzter Soloeinsatz, dann kannst du nach Hause, Babys machen und dich für den Rest deines glücklichen Lebens um sie kümmern.« Ich wusste, dass sie für Langzeitverpflichtungen etwas mehr zahlten, weil sie dadurch Geld sparten. Neu dagegen war mir, dass sie auch Ratschläge parat hatten, wie man die Kohle ausgeben sollte. Die besten Piloten der besten Luftwaffe der Welt

Der Colonel hatte sich in der Truppe gegen viele Neuerungen gewehrt. Er hatte sich der Einführung von Geistlichen in den Kampfeinheiten widersetzt (die bumsen kleine Jungs), der Don’t-ask-don’t-tell-Regelung für den Umgang mit Homosexuellen (die ficken lieber einen Arsch als den Feind) und schließlich der Zulassung von Frauen zum Dienst an der Waffe (jetzt sind wir endgültig am Arsch).

Aber zu einem guten Krieg hatte der Colonel nie nein sagen können, schon gar nicht zu einem Krieg mit Luftkampfkomponente.

Er hatte Orden für seine Leistungen im Kampf erhalten, dazu einen Haufen Verweise, weil er zum falschen Zeitpunkt den Mund aufgemacht hatte; von anwesenden Generälen sprach er gerne schon mal als »Buchhaltern in Uniform«. Nachdem man ihn bei Beförderungen immer wieder übergangen hatte, erinnerten seine Einsatzbesprechungen mittlerweile ein wenig an Straßentheater.

»Also, dieses Camp da, am Ende der Welt, da verstecken sich ein paar Jungs von der übelsten Sorte, Abschaum, eindeutig identifiziert. Es heißt, die Seals sollen reingeschickt werden, so eine Kommandoaktion in der Nacht, mit Kameras, um sich anschließend einen drauf runterzuholen. Ich sage, wir machen es vor ihnen platt und behaupten, es war ein unbedauerliches Versehen.«

Ein Ziel am Ende der Welt? Aus Versehen? Ist das überhaupt erlaubt? Soll ich jetzt offensichtlich rechtswidrige Befehle ausführen? Der Colonel interpretiert mein Schweigen als Meuterei.

»Was glaubst du, wo wir hier sind? Bei der Heilsarmee? Ich führe eine Kampfeinheit. Wir sind Piloten, keine beschissenen Mönche. Du fliegst hin, machst das Lager platt, kassierst ein Purple Heart und schaffst deinen Arsch nach Hause, bevor

Gut, Sir. Ist gut. Aber …

»Erledige die Ziegenficker, aber pass auf unsere eigenen Leute auf. Wir sind hier.« Er stach mit dem Zeigestock auf eine willkürliche Stelle der Karte. »Die Koordinaten kriegst du. Ziemlich simpel. Auf der einen Seite ist unser Hangar. Eine Betankungsanlage. Genau genommen etwas mehr als das, ein Erholungszentrum. Fronturlaub für die, die ihn nicht verdienen. Du kannst die Anlage nicht verfehlen. Sie ist riesig, mit Tower, Landebahn und allem Pipapo. Backbord liegt das Zielobjekt. War ein Flüchtlingslager, ist aber runtergestuft worden. Kurz, ein böser Ort mit bösen, bösen Leuten. Man kann das Böse von oben riechen. Niemand wird diese Typen vermissen. Das kannst du mir glauben.«

»Was ist so verkehrt an Bodentruppen, Sir?«

»Willst du, dass ich dich wegen Gehorsamsverweigerung vors Kriegsgericht bringe?«

»Ich versuche nur zu verstehen, Sir.«

»Der Hangar war meine Bodentruppe. Bis die Einheimischen an unseren Systemen rumgemurkst haben, dann haben sie ihn dichtgemacht. Seitdem geht da nur noch Blindflug. Ist das zu fassen? Mein Hangar ist dicht, aber das Flüchtlingscamp, das an dem ganzen Mist schuld ist, gibt es immer noch. Aber ich soll es nicht persönlich nehmen. Reine Routine. Restrukturierung. Ich meine, wir sollten uns um dieses Fleckchen Erde da mal kümmern.«

Und während ich noch darüber nachdachte, ob ich ihn dem Central Command melden sollte oder nicht, machte sich der Colonel selbst zu seiner wahnwitzigen Mission auf. Jetzt spukt er nur noch in unseren Köpfen herum.

Ich hätte daraus lernen sollen. Oh ja, das hätte ich.

 

Zu Beginn meiner Dienstzeit stritt man sich darüber, ob das Central Command dem Land dienen solle, oder das Land dem Central Command. Der Streit hörte auf, als das Central Command behauptete, es habe mit der eigentlichen Kriegsführung nichts zu tun und sei nur für so was wie den spirituellen Unterbau des Krieges zuständig. Jetzt wird im Besprechungsraum nicht mehr diskutiert; man erhält seinen Einsatzbefehl, man prüft sein Überlebenspaket in der Hoffnung, es nicht zu brauchen. Und wenn es mal wieder eine Mission der üblen Sorte ist, wirft man seine Pille ein, trinkt einen kräftigen Schluck Kaffee und hofft das Beste.

Es hieß, die im Central Command hätten zu viele Sufi-Texte gelesen. Dass sie ganze Passagen der SOPs aus ausländischen Bibliotheken kopierten, die zuvor in die Staaten transportiert und dort von ordentlichen Professoren für obskure Sprachen akribisch übersetzt worden seien. Die Übersetzungen würden in die Notfallmaßnahmen und die Survivalhandbücher eingefügt. Wahrscheinlich haben die da oben längst das Nirwana erreicht, während wir hier unten Blasen und Dünnschiss bekommen. Und wer zu weit vom Pfad des Einsseins abweicht, wird vom Dienst suspendiert. Aber was ist ein Pilot, der nicht

Scheiß aufs Einssein, ich muss noch was trinken.

 

Ich gehe und gehe; vorbei an tanzenden Monstern aus Sand, an einer zerstörten Straße, breit wie eine Landebahn und mit leuchtend gelber Mittellinie, vorbei an einem großen Krater, der das Resultat einer 500-Kilo-Bombe oder ein ausgetrocknetes Gewässer sein könnte. Ich stoße auf eine Lehmhütte, die vielleicht mal eine Militärbaracke war oder ein Kamelrastplatz von Nomaden. In einer Ecke liegt ein Aschehaufen. Ich durchwühle ihn nach etwas Essbarem. Nichts. Ich will schon umkehren, beschließe dann aber, doch noch etwas weiterzugehen, wobei ich gedankenverloren mit den Nieten in meiner Tasche spiele wie mit Gebetsperlen.

Als ich über einen kleinen Sandhügel klettere, sehe ich plötzlich das Flugzeug. Es steckt vor mir im Sand. »Da ist das Scheißding ja!«, rufe ich und renne darauf zu.

Dumme Idee. Auf etwas Glänzendes in der Wüste sollte man nicht zurennen; in den meisten Fällen ist es etwas Nutzloses wie eine Fata Morgana oder die Fata Morgana von etwas Nutzlosem, beispielsweise einem zertrümmerten Flugzeug. Während ich laufe und an »Wüstensurvival Level 6B« denke, wird mir bewusst, dass meine Mission hier die Rettung des Flugzeugs ist. Beherzigt man wiederum die Logik der Liebe, des Friedens und Einsseins und die ganze andere Grütze, die uns das Central Command als neue Philosophie des Krieges und der Überlebenskunst verkaufen will, liegt dieses Flugzeug seinerseits da, um mich zu retten. Wie gesagt, die im Central Command fahren voll ab aufs Einssein, das sieht man am Lehrplan: morgens »Moralisches Dilemma, moderner Krieg«, nachmittags »Wie man erst sich und dann den Feind bezwingt«.

In Survivallehrgängen geht es darum, Offensichtliches möglichst oft zu wiederholen: Bei welcher Temperatur verliert man

Wer nicht wagt, der nicht gewinnt, sage ich mir und stelle mich der Aufgabe, wozu ich mich allerdings hinhocke. Die Nase des Flugzeugs und der obere Teil der Cockpithaube ragen aus dem Sand, beides glänzt verheißungsvoll. Ich schaufele den Sand mit den Händen weg, stelle aber schnell fest, dass es sinnlos ist. Je mehr ich schaufele, desto mehr Sand rutscht nach; vom Rest des Flugzeugs ist immer noch nichts zu sehen. Der Sand ist so heiß, dass er mir die Hände versengt. Aber mit meiner Fliegerjacke als Schaufel geht es. Ich konzentriere mich auf eine kleine Fläche und nehme die Hände wieder dazu. Weiter unten ist der Sand nicht so heiß. Er ist kalt und feucht; vielleicht hat er sogar Kalorien.

Nach vier bis fünf Stunden, in denen ich noch einen Energieriegel esse und dreimal an meinem Maracuja-Smoothie nippe, ist es geschafft. Vor mir liegt nicht einmal die Hälfte der Scheißkiste. Die Maschine ist direkt hinter dem Cockpit sauber abgebrochen, ein Teil des Backbordflügels ist abgerissen, die hintere Hälfte des Rumpfes fehlt, die Bruchstelle ist eine offene Bauchwunde, ein Gewirr aus bunten Kabeln und zerfetzten blanken Rohren. Das also habe ich: die vordere Hälfte einer F-15 Strike Eagle mit zwei lasergelenkten 250-Kilo-Bomben, die eine in grauer Schablonenschrift markiert mit YES, die andere mit OH YESS. Wo ist die andere Hälfte?

Behutsam wische ich den Sand von der Haube. Das Cockpit darunter wirkt vertraut. Es ist, als hätte man sich aus dem

Momo

Hier wimmelt es von Dieben. Ich weiß, was Sie sagen wollen. Sie wollen sagen: Was gibt es da schon zu stehlen? Und ich sage Ihnen: Schauen Sie genau hin, es gibt nichts zu stehlen, weil schon alles gestohlen wurde. Bestimmt können Sie sich ein Camp ohne Wasserhähne vorstellen oder auch ein Camp mit Kraftfahrzeugsteuer, ein Camp ohne Straße, ein Camp mit Strommasten oder ein Camp ohne Strom – aber ein Camp ohne Mauer drumherum? Wo also ist diese Mauer, fragen Sie. Gestohlen.

Wie kann man eine ganze Mauer stehlen, wenden Sie ein. Ich sage Ihnen: Sie kennen diese Leute nicht, meine Leute.

Wenn es ums Stehlen geht, sind sie wahre Künstler.

Sie haben die Mauer Stein für Stein geklaut. Das Fundament wurde ausgegraben, jeder Krümel Beton und Mörtel mitgenommen, Stahldraht mit bloßen Händen herausgerissen. Manche werfen mir vor, den ersten Stein herausgestemmt zu haben, aber das musste ich, um das Treiben der Entwicklungshelfertypen im Auge zu behalten, wohlriechenden Weltverbesserern, die die größten Diebe von allen waren. Aber ihren Papierkram haben sie erledigt. Sehen Sie den Krater dort? Das sollte ein Wasserreservoir werden. Und den Haufen glänzender Stahlmasten, festgezurrt mit Ketten und Schlössern? Das sollte

Ja, richtig geraten, das wurde auch gestohlen, samt Stift.

Es gab hier einen Wasserfall, ja, genau, so einen richtigen Wasserfall, einen Meter breit und so hoch wie ein Basketballkorb. Bro Ali und ich haben darunter gebadet, als ich klein war. Was noch nicht sehr lange her ist. Einige werden fragen, wie ich das wissen kann, wenn ich damals noch ein Kind war. Und überhaupt, wie es denn mitten in der Wüste einen Wasserfall geben kann. Ich sage Ihnen: Sie wissen nichts über diesen Ort, meinen Ort.

Ein kleiner Spaziergang genügt, und Sie kommen an den Hauptattraktionen unseres Camps vorbei: Allahs Dieners Frischemarkt für Geflügel und Gemüse – der Mann ist ein Schmuggler, Hamsterer und Schwarzhändler. Wenn Sie dem Fliegenschwarm vor diesem Schlachthaus entronnen sind, kommen Sie zu ein paar wilden Haufen Altmetall, dem Königlichen Eisenwarendepot, betrieben von zwei jugendlichen Dieben, die sich früher im Hangar bedient haben und heute die Wüste nach Schrott durchwühlen, den sie auf dem freien Markt verkaufen. Im Laden an der Ecke finden Sie Doctor und seinen Stuhl, den er aus einem Krankenwagen gerettet hat. Ja, es gab Zeiten, da hatte das Camp einen eigenen Krankenwagen. Er fuhr mit kreischender, da defekter Sirene die Straßen rauf und runter und verkündete neue Todesfälle oder machte Hoffnung, dass man vielleicht nicht sterben müsse, sondern nur ein Bein oder einen Arm verlieren würde. Was aus ihm geworden ist? Ein Haufen beim Schrotthändler, zum Kilopreis verkauft. Kein Wunder, dass Doctor die medizinische Notfallversorgung

Alle Häuser des Camps sind mit blauen Plastikplatten gedeckt, die sich berühren. Wenn Mutt gut drauf ist, schafft er es in drei Minuten über die Dächer von einer Ecke des Camps zur anderen und wieder zurück. Manchmal jagen ihn die Kinder, manchmal jagt er sie. Mittlerweile sind die Kinder aber ziemlich gelangweilt von ihm.

An diesem Ort bleibt man nicht lange Kind. Mal ist die Hitze schuld, dann wieder die Büffelmilch oder das Essen im Camp, wie auch immer, es wird erwartet, dass man schnell erwachsen wird. Mein großer Bruder Ali war zwei Jahre älter als ich, als er verkauft wurde. Jetzt nennen die Leute mich den Boss, und ich habe mir den Respekt hart verdient, aber ich weiß, dass der echte Boss Bro Ali war. Er musste nicht mal viel dafür tun. In der Schule war er der Einzige, der alle Bücher schon am ersten Schultag durchgelesen hat. Seine Hefte waren voll mit goldenen Sternchen.

 

Eines Morgens wachte ich auf und sah, wie er statt seiner Schuluniform einen schwarzen Overall mit einem goldenen Flügel auf der Brust anzog. Am Abend war er noch als normaler großer Bruder ins Bett gegangen – einer, der dem größeren Jungen auf der Straße eine klebt, weil er mit dem Finger auf dich zeigt, und der dir zu Hause dann auch eine verpasst, weil du an dem Mist selbst schuld bist –, und jetzt hatte er Flügel. Als ob die Nacht ihn in einen Engel verwandelt hätte. Unter dem Overall trug er sein Boss-T-Shirt. Es war der Tag, an dem Bro Ali verkauft wurde. Aber das wusste er natürlich nicht. Er dachte, im

Father Dear behauptet immer noch, dass er seinem Sohn einen Job im Hangar besorgt hat.

Mit Tränen in den Augen versuchte Mother Dear, das Feuer in Gang zu bringen, als Bro Ali das Motorrad von Father Dear bestieg und sie davonfuhren. Sie sind so mächtig, weil sie immer pünktlich sind. Sie arbeiten wie ein Uhrwerk. Ich lief ihnen nach, um Bro Ali das zusammengerollte Omelett zu geben, das Mother Dear gebacken hatte. Aber sie waren schon nur noch eine kleine Staubwolke in der Ferne. Er drehte sich um und winkte, als wollte er mir sagen, dass er zurück wäre, ehe ich bis drei zählen könnte. Ich biss von dem Omelett ab. Es wurde in meinem Mund zu Sand. Ich warf es Mutt hin, der mir ganz aufgeregt gefolgt war. Sehr lange schnüffelte er daran herum, bevor er es hinunterschlang. Wahrscheinlich habe ich Mutt deshalb so gern, weil er weiß, wie man Gier beherrscht.

 

Wie soll man seine Integrität an einem Ort bewahren, an dem Diebstahl nicht nur akzeptiert, sondern erwartet wird? Wer kein kleiner Dieb ist, wer also keine Ziegel, Papier oder Zucker stiehlt, der ist mit Sicherheit ein umso größerer Dieb, der wahrscheinlich ganze Wagenladungen Zucker stiehlt und sämtliche Ziegel und Kupferkabel aufkauft, die die kleinen Diebe geklaut haben. Was willst du machen, wenn du in einem Sumpf aus moralischer Verkommenheit feststeckst?

Bildung, hieß es, Bildung ist die Lösung all unserer Probleme. Wir hatten Kunstunterricht. Der Kunstlehrer sagte, malt einen Krug mit Wasser und eine Krähe, die daraus trinkt. Wir hatten Physikunterricht. Newton, sagte der Physiklehrer, saß unter einem Apfelbaum. Ich malte Krüge, dachte über Newton nach. Aber die richtige Bildung holte ich mir im Fernsehen. Der

Ich konzentrierte mich aufs Business und wurde Unternehmer. Nein, das heißt nicht, dass man sich mit denen verbündet, die man nicht schlagen kann, weil das würden die gar nicht zulassen. Und schon gar nicht legt man sich mit ihnen an, sonst kann man gleich einpacken.

Ich bin Geschäftsmann. Ich kaufe und verkaufe. Ich biete Dienstleistungen an und stelle sie in Rechnung. Ich mache Deals und kassiere Provision. Während andere über die Probleme des Erwachsenwerdens reden, finde ich Lösungen für die Probleme der Erwachsenen.

Für manche bin ich ein mieser Geschäftemacher, ein Nachkriegsprofiteur, ein kleiner Schwarzhändler, aber ich sage Ihnen, da spricht der pure Neid. Nur kleine Diebe können so kleinlich sein. Zeigen Sie mir einen anderen fünfzehnjährigen Geschäftsmann in diesem oder meinetwegen auch einem anderen Camp, der einen Jeep Cherokee 3600 CC besitzt. Echt Vintage. Himmelblau. Wenn wir zu einem Deal fahren, fliegt er über den Sand wie auf Engelsflügeln. Ich plane, einen Land Cruiser Vogue anzuschaffen, der für das Klima hier besser geeignet ist, aber selbst wenn ich meinen Vogue habe, werde ich meinen Cherokee nicht aufgeben. Das erste Auto ist wie die erste Liebe, man vergisst es nie. Bei Liebe weiß ich noch nicht so recht (die kommt, wenn sie kommt, wobei ich nicht vorhabe, mich zu verlieben, ehe ich die erste Million verdient habe), aber

Wie alle erfolgreichen Geschäftsleute habe ich noch andere Vermögenswerte, einige materiell, andere nicht, beide sind wichtig. Denn was ist Business? Ein Prozess, durch den Ideen zu Cash werden, man zeichnet Futures und wartet ab, welche Teile der Vergangenheit auf den Märkten gut laufen.

Manchmal ist die Vergangenheit eine sehr wertvolle Ware.

Ich muss zugeben, als Bro Ali weggegangen ist, war das ein harter Schlag für uns, von dem wir uns immer noch nicht erholt haben. Jetzt habe ich die Verantwortung und führe den Haushalt: Mother Dears Tränen trocknen, Father Dears Hosen bügeln. Zur Schule gehe ich nicht mehr. Und wenn ich nicht zur Schule gehe, kann sie auch gleich dichtbleiben. Die Büffel brauchten eh ihren Stall zurück, jetzt haben sie ihn.

Ich will auch so einen Overall. Angeblich treten kleine Brüder ja immer in die Fußstapfen ihrer älteren Geschwister. Aber das stimmt nicht. Ich will besser sein als Bro Ali. Und überhaupt, in welche Fußstapfen soll ich treten, wenn es keine Spuren im Sand gibt? Wir haben ihn ewig gesucht, keine Spur, nirgends. Nicht einmal ein Gerücht, dass er in mondbeschienenen Nächten am Rand der Wüste gesehen worden wäre. Manchmal stehen dort Familien, rufen nach ihren Söhnen und schwören, dass sie sie sehen können, sie winken, singen Wiegenlieder und rufen bescheuerte Kosenamen: Mond, Blume, Abdul … Und dann rennen sie los und stellen fest, dass da nur Schatten auf dem Sand sind. Ich habe auch mal mit ihnen da gestanden, wobei ich mir ehrlich gesagt ziemlich blöd vorgekommen bin. Ich habe weder Bro Ali noch einen der anderen Jungen gesehen. Wenn man irgendwas tut, weil alle anderen es tun, und sich dabei blöd vorkommt, ist man wahrscheinlich auch blöd. Leider stimmt es, dass wir stagnieren. Jetzt, da der Hangar geschlossen ist und keine Flugzeuge mehr ankommen oder

Es lässt mir keine Ruhe. Ich kann hier doch nicht einfach leben und es mir im Camp gut gehen lassen, wenn Bro Ali vermisst wird und vielleicht in irgendeinem Höllenloch steckt, wo sie Gott weiß was mit ihm anstellen. Es sind auch früher schon Jungen verschwunden, aber sie waren nicht Bro Ali. Wenn du mit dem Rücken zur Wand stehst, bleibt dir nur der Weg in den Krieg, weil alle anderen Wege versperrt sind.

Immer, wenn mir nichts mehr einfällt, gehe ich mit meinem Mutt jagen. Mal fängt er ein paar Eidechsen, mal muss ich ihm lebende Skorpione aus dem Maul ziehen. Mutt ist nicht lebensmüde, nur saudumm. Ab und zu schnappt er ein und rennt in die Wüste, wo er so tut, als würde er gleich sterben. Er läuft immer zur selben Stelle, dorthin, wo wir unsere Rennskorpione züchten wollten. Er will dann, dass ich ihn suche und überrede, nicht zu sterben.

 

Als Bro Ali eine ganze Woche nach Beginn seiner Anstellung noch nicht zurück war, mussten wir einsehen, dass »Festanstellung« ein Code für »Entführung« war. Etwa zur selben Zeit wurde Mutts Hirn gegrillt, und er fing an, Dinge zu sehen. Das Geschäft muss seitdem warten. Ich mache ein Sabbatical, wenn man so will. Manchmal geht Familie eben vor.

Habe ich Ihnen schon vom Familiengeschäft erzählt? Father Dear hat im Hangar gearbeitet, Hilfsgüter und Logistik, dazu hat er immer mal wieder Workshops für Jugendliche gegeben, meistens Sexualaufklärung. Wegen seiner Arbeit und weil er seine Arbeitgeber so liebt, haben wir die ganzen Probleme.

Das werde ich ändern. Wir werden eigenes Vermögen aufbauen. Mein Geschäftsmodell sieht vor, Leben zu retten und so Geld zu verdienen. Rettung und Reha. Hohes Risiko, hoher Gewinn. Sie können ja nicht überall Soldaten haben. Man darf nur nicht sentimental werden. Haben Sie schon mal ei

Diese Leute – meine Leute – sind nichts als Diebe mit Tränen in den Augen. Doctor heult sich bei uns über den sterbenden Planeten und die Sonne und den Mond aus. Die Schrottplatz-Brüder weinen, weil sie zu wenig überschüssiges Militärgerät finden und weil die Schrottpreise fallen. Andere kommen zu Father Dear und bitten darum, dass er ihnen hilft, ihre Söhne zurückzuholen. Wie unhöflich und schamlos sind diese Leute, dass sie jemanden um Hilfe bitten, der nicht einmal seinen eigenen Jungen zurückholen kann.

In meiner Branche sind Emotionen fehl am Platz. Man ermittelt seine Passiva und Aktiva. Man investiert in kleine sichere Unternehmen wie mein Projekt Falken für die ethische Jagd. Man wettet auf Langzeitentwicklungen, wie ich es mit Sands Global getan habe.

Eine Rettungsmission ist allerdings ein anderes Business. Da braucht es Motivation. Und Mother Dears Seufzer und Wehklagen reichen aus, um mich zu motivieren, das können Sie mir glauben. Eigentlich müsste Father Dear die Logistik übernehmen. Er sollte uns zumindest irgendwie in den Hangar schleusen, wenn er schon keinen Wagen, keine Waffe und keine Karte besorgen will. Ich kann Benzin beschaffen und mir selbst eine Waffe besorgen, aber kann er uns nicht wenigstens die Muni und eine Karte organisieren? Auf jeden Fall eine Karte. Drei Jahre lang hat er die Logistik und den kompletten lokalen Einkauf für den Hangar gemanagt, und jetzt behauptet er, das Ding steht leer. Das Personal ist angeblich auf eine

Jeder unfähige Dieb sagt von sich, dass er ein ehrlicher Arbeiter ist.

So ist mein Vater halt. Ich erzähle Ihnen mal die Geschichte von dem Typen, der sich in den Finger geschnitten hat, dann verstehen Sie Father Dear besser. Also dieser Typ schneidet sich versehentlich in den Finger und bittet seinen Freund, auf die Wunde zu pinkeln, damit der Finger schneller heilt oder wenigstens nicht eitert. Der Freund guckt auf den verletzten Finger, dann auf seinen Hosenstall, und sagt, ich kann das nicht, das ist entwürdigend. Der Mann mit dem verletzten Finger bittet und bettelt, ich weiß, dass du mich und unsere Freundschaft achtest, aber was sind schon ein paar Tropfen Pisse unter Freunden? Aber der Freund sagt nur, da unten ist alles ausgetrocknet.

Manchmal soll so die Treue auf die Probe gestellt werden. Verstehen Sie mich nicht falsch, Father Dears Sinn für Moral ist allumfassend: Er würde nicht einmal auf seinen eigenen Finger pinkeln. Er wird mir nicht helfen, Bro Ali zurückzuholen. Irgendwas verbirgt er. Wie kann es sein, dass jemand einen Arbeitsvertrag unterschreibt und dann einfach so verschwindet? Ich frage mich, was eine Frau tun würde, wenn sie sich in

Außerdem ist Father Dear chronisch depressiv. Gerade hat er wieder so eine Phase, er leidet unter der verschmähten Liebe zu seinen amerikanischen Arbeitgebern. Genau das ist unser Problem. Wir sind nicht nur Diebe, wir sind auch chronische Liebende. Diebe können aufhören. Liebende nicht.

Auch Mutt leidet an chronischer Liebe. Er ist dumm, aber zuverlässig. Er braucht Bestätigung wie wir alle. Manchmal braucht er Bestätigung, auch wenn es nichts zu bestätigen gibt. In letzter Zeit sieht er Dinge auf den Dächern. Er hebt dann die Schnauze und knurrt, als hätte er ein Gespenst gesehen. Ich sehe es ihm nach; ich gucke rauf zum Dach und versichere ihm, dass ich es auch sehe. Außerdem brauche ich ihn noch. Mutt ist für die Mission unverzichtbar.

Wenn man jemanden liebt, versucht man immer auch, ihn zu erziehen.

Im ersten Schritt gewöhnt man ihn an die Bedingungen. Ich habe mit Mutt lange Spaziergänge gemacht und ihn in der Wüste zurückgelassen, damit er allein den Weg nach Hause findet. Er ist jetzt ein richtiger Kommandohund. Er kann drei Tage ohne Wasser in der Wüste überleben und wird mir immer treu bleiben. Mag sein, dass er ein gegrilltes Hirn hat, aber sein Herz ist aus Gold.

Sicherheitshalber stelle ich ihn weiter auf die Probe und härte ihn ab. Erst neulich habe ich wieder meinen Spezial-Freistoß an ihm geübt. Der Ball hat ihn voll erwischt, und es kann sein, dass dabei was in seinem fitten, aber verletzlichen Körper kaputtgegangen ist. Anschließend hat er geschmollt. Bestimmt sitzt er jetzt an der Skorpiongrube in der Wüste und wartet darauf, dass ich ihn hole.

Bro Ali müssen wir holen.

Mutt kommt von alleine zurück. Das tut er immer.

Mutt

Zwischen Beißern und Leckern gibt es einen großen Unterschied, doch neigt die menschliche Rasse nicht zum Subtilen, sodass die meisten ihn nicht zu erkennen vermögen. Sie sehen die gebleckten Zähne, doch nicht die baumelnde Zunge. Sie sehen den eingezogenen, zitternden Schwanz, aber nicht den regen Intellekt. Sie hören das Knurren, aber nicht das Winseln, das sagt, hab mich lieb, o bitte, hab mich nur ein bisschen lieb.

Mitunter ist es gut, einen schlechten Ruf zu haben. Es ist höchst befriedigend, ein Paar Füße herannahen zu sehen und zunächst nur kalte Gleichgültigkeit oder Bin-spät-dran-Gedanken zu wittern – und dann sehen sie dich plötzlich, und da ist er, der Geruch fauler Äpfel, der Geruch der Todesangst. Die Weitsichtigen stellen sich nicht nur vor, gebissen zu werden, sie stellen sich auch vor, dass sie Tollwut bekommen, in eisigem Wasser ertränkt und dann in nasser Erde begraben werden, wo ihnen Engel mit Hundeköpfen Fragen stellen. Abrupt drehen die Füße um, als hätten sie etwas vergessen, oder überqueren die Straße, als ob der Engel des Todes sie nicht auch auf der anderen Straßenseite mit einem schnellen Satz erwischen könnte. Ich beobachte es amüsiert, rühre mich nicht vom Fleck und gebe ein leises, langgezogenes Knurren von mir, damit dieser Minderbemittelte weiß, dass ich seinen Selbst

Ich beiße nicht. Manchmal lecke ich, wenn ich nicht sicher bin, ob Freund oder Feind, und manchmal schnappe ich auch aufs Geratewohl nach einem Schienbein, wenn ich mich nicht entscheiden kann, aber ganz ehrlich, Pfote aufs Herz, ich beiße nicht. Natürlich weiß ich, wie das geht, und wenn die Pflicht rief, habe ich es auch schon mal getan, aber in der Regel erreiche ich mein Ziel, ohne jemandem die Zähne ins Fleisch zu schlagen.

Meistens schnuppere ich. Der Ruf eines Weisen gründet auf der Schärfe seines olfaktorischen Sinns, nicht der Schärfe seiner Backenzähne.

Ich kann immer genau sagen, wonach etwas riecht. Heute zum Beispiel riecht mein Leben nach schwachköpfiger, ungeliebter Katze. Nicht, dass ich mich beschweren wollte. Auch wenn ich Grund dazu hätte. Nichts zu beschnuppern hier außer meinem eigenen gebrochenen und blutverschmierten Bein. In diesen Teil der Wüste kommt niemand zum Picknicken. Hierher kommt man, um vor Scham zu sterben.

Ich bin – so nennt man es wohl – ein geborener Stoiker, trotzdem belle und heule ich bisweilen. Aber hören diese Leute auf mich? Dieser Ort gleicht einem Schlachtfeld, weil niemand mehr an Vorahnungen glaubt, weil niemand auf deutliche und wohlartikulierte Warnungen hört.

An dem Tag, als Momos älterer Bruder mit viel Tamtam verabschiedet wurde, habe ich mich heiser geheult. Ich habe gebettelt, gefleht, gejault und gebellt, als würde das Camp jeden Moment von einer Horde stinkender Katzen überrannt.

Sollten Sie Katzen bevorzugen, gratuliere ich Ihnen; dann können Sie das hier weglegen und stattdessen mit Ihrem Bürstenset spielen. Ich habe mich im Leben mit so einigen Exem

Fein gemacht, und jetzt verwauen Sie sich.

Gehen Sie, ich muss über meine elende Existenz nachdenken.

Als sie ihn weggebracht haben, habe ich nicht geweint. Weinen ist was für Weichlinge. Ich wollte keine Prinzessin mit gebrochenem Herzen sein. Ich habe mich geweigert, an der Verabschiedung von Momos Bruder teilzunehmen, als sie ihn in ein weißes Hemd und einen schwarzen Overall gesteckt haben, auf dass er zum Mann wird und eine Waschmaschine und eine Mikrowelle mit nach Hause bringt. Stattdessen bekamen sie nur Tränen. Jeder in seiner eigenen Ecke, mit seinen eigenen Tränen. Eine ganze UNO aus Tränenäugigen.

Man sollte meinen, Menschen, denen eine Tragödie widerfahren ist, werden milde. Aber nein. Sie bekommen feuchte Augen und werden grausam.

Es ist mir schwergefallen, fortzugehen, trotzdem habe ich beschlossen, dieses herzlose Haus zu verlassen, wo alle ständig von meiner Treue schwadronieren, auf meinen Verstand aber nichts geben. Was mache ich hier? Mitten in der Wüste, ohne ein Schatten spendendes Blatt, ohne Gesellschaft, weder von Mensch noch Hund, nur hier und da ein Skorpion, der vom eigenen Streben nach Unbesiegbarkeit verzehrt wird. Habe ich mich verirrt? Wollte ich ein bisschen allein sein? Hatte ich die Nase voll davon, der beste Freund von Leuten zu sein, die mich nicht nur Hund nennen, sondern mich jetzt auch noch wie einen behandeln? Warum nach einem bestimmten katalytischen Ereignis suchen, wenn, wie der Dichter sagt (ich achte die Dichtkunst, auch wenn sie nichts für mich ist und ich deshalb immer paraphrasiere), ein Unglück nicht erst in dem Augenblick geschieht, da es geschieht, weil Chronos ei

Es ist allgemein bekannt, dass Menschen, denen Gewalt widerfährt, ihre Wut an den eigenen Leuten auslassen. Jemand versetzt dem Opiumraucher auf dem Basar einen Tritt, woraufhin er, der sich nicht wehren kann, nach Hause geht und seine Kinder tritt. Große, reiche Nationen holen sich in fernen Ländern eine blutige Nase und streichen armen Babys daheim das Milchgeld. Man kann ein feindliches Flugzeug nicht mit einem Stein vom Himmel holen, aber dem Nachbarn kann man die Fenster einwerfen.

Erschüttert hat mich die Plötzlichkeit des Angriffs, seine schiere Bosheit. Ich habe im Leben so einige Schläge eingesteckt, ich lasse mir also nicht nachsagen, dass ich den Schwanz einziehe. Aber wenn mich jemand brutal in den Rücken stößt, dann sage ich – entschuldigen Sie die unflätige Ausdrucksweise, verzeihen Sie den schlechten Atem –, wau auf dieses Camp. Verflucht sei dieses schon verfluchte Haus. Da gehe ich lieber in die Wüste. Was kann mir schon Schlimmes passieren? Ich verhungere. Ich werde von der Sonne geröstet. Besser als für den Rest meines Lebens durch diese trostlosen Straßen zu hinken. Ob diese Straßen trostlos sind, fragen Sie? Sie haben keine Ahnung, wie trostlos. Wenn brave Bürger wie ich, Söhne dieser Erde, die Stätte ihrer Ahnen verlassen, sollte klar sein, dass alle Hoffnung verloren ist.

Gott hat diesen Ort schon vor langer Zeit verlassen. Ich hege keinerlei Illusionen über meine eigene Bedeutung auf dieser Erde, aber ich kann mir vorstellen, wie er sich gefühlt haben muss. Er hatte die Nase voll. Ich habe sie noch etwas voller.

Auf dem Weg aus dem Camp habe ich mir ein letztes Mal die Trostlosigkeit besehen. Mit seinen dicht gedrängten blauen Plastikdächern sieht der Ort aus wie ein großes Dixi-Klo, und