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BORA ĆOSIĆ

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Reisen in Italien und Österreich

Aus dem Serbischen von Katharina Wolf-Grießhaber

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Inhalt

Italienreise

Donaubaedeker

ITALIENREISE

Unlängst habe ich entdeckt, was alles auf dem Bild von Carlo Carrà, der Musa metafisica, drauf ist. In einem Raum, der auch von de Chirico sein könnte, steht eine Puppe ohne Gesicht mit Tennisschläger und -ball in den Händen. Im Hintergrund sind ein geometrisches Objekt und die Vedute einer Stadt zu sehen und ganz vorne, man weiß nicht warum – eine Karte meines Landes Istrien! Durch einen besonderen Kreis ist darauf das Städtchen gekennzeichnet, in dem ich mein halbes Leben verbracht habe, Rovinj. Ich weiß nicht, was diesen Meister des Futurismus dazu getrieben hat, den Ort wie eine Zielscheibe zu markieren, in die man einen Pfeil hineinstoßen kann wie in das wichtigste Ziel. Es sieht mir ganz danach aus, dass es so passiert ist, wie wenn jemand einen Globus dreht und dann aufs Geratewohl an irgendeiner Stelle mit dem Finger darauf stößt.

Rovinj, eine alte Siedlung, ehemalige Insel, die später durch einen Damm in eine Halbinsel verwandelt wurde, dieses gotische Städtchen mit den grauen Mauern und der Himmelsbläue darüber war unter anderem die Ausgangsstation vieler meiner Wallfahrten in das Land Italien. Rovigno war früher ebenfalls ein italienisches Städtchen gewesen, Wohnort armer Fischer und einiger weniger bürgerlicher Herrschaften Anfang des letzten Jahrhunderts, wovon Fotos zeugen, manche vergilbt, andere in Sepia. Weil auch hier neben Seemannshemden und Kapitänsmänteln weiße Mädchenkleider flatterten und mancher herrschaftliche Sakko aus Lüster glänzte. Dieses Städtchen, wo die Deutschen ein Ozeanographisches Institut gründeten, ein funkelndes Aquarium errichteten, voller ungewöhnlicher Meeresgeschöpfe, und eine Wiener Firma schon Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts eine kurze, malerische Straßenbahnlinie einführte. Diese Umgebung habe ich vor über vierzig Jahren geerbt, als ich auf jenen Steilhügel oben zog, gleich unter dem großen Glockenturm, dem der Euphemia-Kirche.

Dort unter dem Dach habe ich von all den Italienreisen geträumt, und das tue ich auch heute noch. Weil ich in nur zwei Schritten schon in einer Stadt voller Metaphysik bin, unter den nervösen und melancholischen Triestinern, wo Professor Claudio Magris seine Gemeinde lehrt, dass es auch andere Welten gibt, im Norden, und dass die riesige Donau, jeder Geografie zum Trotz, ebenfalls in dieser Stadt entsprungen zu sein scheint. Während unsere jugoslawischen Mitbürger jahrzehntelang zwischen den Triester Läden hin- und hergerannt sind, um dort Makkaroni und Slips zu kaufen, habe ich seit fernen Tagen dem alten Café Tergesteo nachgespürt, in der Hoffnung, dort die bereits verstorbenen Triestiner Schriftsteller zu treffen. Aber ich schaue auch hinauf, Richtung Opicina, wo Svevo früher gewohnt hat. In dieser windigen Stadt, die Saba besungen und wo Joyce seine dichte Prosa geschmiedet hat, haben Italiener, Slowenen, Kroaten und Deutsche verrückte futuristische Kunstwerke konstruiert und jene Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit errichtet, die auch so heißt: Frontiere d’avanguardia. Černigoj, Miletti, Jablowski, Sanzin, Crali und Eduard Stepančić, der in meiner Jugend, um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, unsere ersten Bücher beim Belgrader Verlag Nolit ausgestattet hat. Es ist schon ein Jahrhundert her, seit die wahnsinnige Revolution des Futurismus entbrannt ist und schäumend vor Wut eine neue Auffassung von Kunst und Leben propagiert hat. Das geschah von Julisch Venetien bis nach Gorizia, an der Schwelle zu diesem wundersamen Haus des Italienertums. Anton Giulio Bragaglia hat mit seiner Kamera das Leben dieser Künstlergruppe von Moment zu Moment verfolgt, vielleicht hat er so auch etwas aufgenommen, was überhaupt nicht passiert ist. Der Segelflieger kroatisch-serbischer Herkunft Drago Bjelovučić soll über Triest lebensgefährliche Loopings gedreht und Flugblätter für seine Zunft abgeworfen haben, die berühmte Tänzerin Giannina Censi tanzte den Salat im Ballett Wir essen Salat, und Marinetti drohte telegrafisch aus Rom, er werde sie wegen derartiger Dummheiten alle aus der Bewegung werfen. Etwas davon sieht man vielleicht auf den Aufnahmen von Bragaglia, aber vielleicht waren es auch nur reine Hirngespinste. Der Maler Prampolini schrieb Libretti für Ballette und er malte auch etwas. Zu dieser Zeit schnitzte dort weiter im Süden Balla seine Holzblumen und Fortunato Depero Spielzeug für futuristische Kinder. Alle standen unaufhörlich miteinander im Briefwechsel, voller Zärtlichkeiten, Beleidigungen und Flüche. Manche von ihnen kleideten sich wie Botschafter, andere wie Lumpen und Penner. Es gab viele Schirmmützen neben Halbzylindern, viele Gamaschen neben derben Soldatenstiefeln bei den anderen. Manche von ihnen waren leichenkalt, wenn sie an ihren absonderlichen Gemälden arbeiteten, andere waren von Sinnen und brüllten ständig herum. Im Stil dieses Lärms entstand die Musik des Durcheinanders, der Bruitismus. Der kroatische Komponist Malec behauptet, die Notenschrift von Russolo sei der reinste Graus.

So bin ich, diese fröhliche Geschichte überspringend, in das Land Italien geschritten, geradewegs an den Kai der Hafenstadt Triest, wo Leonor Fini gemalt, Ettore Schmitz geschrieben und im nahen Schloss Rilke voller Wehmut sein liebliches Soliloquium gedichtet hat. Schon jahrelang begleite ich das Volk von Triest, das jeden Tag ausstirbt, pünktlich um dreizehn Uhr dreißig, sich hinter seinen Vorhängen begräbt, und dann gegen halb vier nachmittags ist da plötzlich eine neue Generation dieses Populus, der, schön angezogen, seine Geschäfte öffnet, Kaffee trinkt und wieder lebendig ist. So habe ich dieses Land mit der hohlen Hand an mich genommen, wie man klares Wasser an der Quelle schöpft. Im Norden, im Aostatal, habe ich auf verwunschene mittelalterliche Burgen gestarrt, auf lila Gipfel, schneebedeckt, und dann in einem kleinen Dorf bis tief in die Nacht zugesehen, wie der kostbare Käse Fontina hergestellt wird. Auf einem Berg oberhalb von Bozen habe ich in einem Lokal, das Gäste nur nach Anmeldung empfängt, das süße Gericht gekostet, das man auf althergebrachte Art nur gemeinsam isst, aus derselben Eisenpfanne. Das Land Italien habe ich sachte gezähmt, wie ein Haustier, und umgekehrt hat es auch mich langsam angenommen. Ich weiß, dass ich in meiner frühen Jugend, als man mir in einer Triestiner Osteria die erste Pasta mit Venusmuscheln vorsetzte, äußerst skeptisch war; es kam mir so vor, als schaute mich aus dem Teller eine Unmenge von Kinderaugen an. In einem romanischen Kirchlein in der Nähe, dort in Südtirol, sah ich auf einem schon blassen Fresko aus dem siebten Jahrhundert einen vergnügten Heiligen, der ewig auf seiner Schaukel durch die Jahrhunderte schaukelt. Kaum jemand hat ein derart verspieltes Aussehen wie dieser heilige Prokulus und geht so ungezwungen einem kindlichen Vergnügen nach. Als wäre die alte Epoche schon dadurch lustig gewesen, dass die heutigen schweren Zeiten nur eine unabsehbare Perspektive waren. Fröhlich sind auch die Kinder mit dem Ball und die Jungfrauen auf dem unübersichtlichen Mosaik, dem römischen, in Piazza Armerina. Die zu Beginn des ersten Millenniums ihr Ritual in ganz modernen Bikinis ausüben, wie am Strand der Copacabana. In einem Winter habe ich am Misurinasee den schönsten Schmuck gesehen, den der Januar aus Eis herstellt, violett und resedagrün. Die großen Baumeister der Gotik und Renaissance haben nicht nur ihre grandiosen Türme und Kirchenkuppeln (manchmal der päpstlichen Tiara ähnlich) errichtet, sondern gleichzeitig, in einem kindlichen Traum, Miniaturalternativen zu diesen konstruiert, sakrale Puppenhäuser, Modelle davon. Einmal habe ich mir im Palazzo Grassi alles angesehen, nicht nur was Michelangelo gemacht hat, sondern auch Giacomo della Porta, Buonarroti zu Ehren. Wonach sie ihr Kinderspielzeug den Förderern und Finanziers künftiger Bauunternehmungen, Königen und Päpsten vorführten. Deshalb schien mir Italien schon von Anfang an wie ein Kinderparadies, viele kleine Vorrichtungen gingen aus den Händen Leonardos hervor, wie in der noch nicht so weit zurückliegenden Zeit die Futuristen Balla oder Fortunato Depero etwas Derartiges schnitzten. Weil die italienischen Eltern fleißig Puppen für ihre Kinder anfertigten, es ist die Heimat Collodis und seines berühmten Nachkommen Pinocchio. In dem kleinen Städtchen Montone oben auf einem Hügel befindet sich eine Siedlung, die alles hat, einen Platz, eine Kirche und ein paar verstreute Straßen ringsum, nur wie in Miniatur; als hätte die Kartografie des Lebens der dortigen Bewohner plötzlich die Ausmaße verändert, ich bin auf diesem verkleinerten Raum umhergegangen wie in einem Spielwarengeschäft. Dort, am Ende des Marktes von Padua, im Palazzo della Ragione habe ich Gemälde angestarrt, ähnlich wie Kataloge, auf denen nach der Art des Periodensystems von Mendelejew Werke und Tage des Menschen angeordnet sind, sein Können und seine Schmerzen, Mythen, Mentalität, Geschichte und Gebräuche, Jahreszeiten, Lebensphasen, Körperteile und die Konstellation der Sterne über seinem Kopf. Dann bemerkte ich den riesigen Drachenkopf Venedigs, die Fischinkarnation dieser Stadt, auf Pfähle slawischer Herkunft gebaut, damit sie sich durch die Jahrhunderte hindurch langsam setzt. Auch die Kirche am Anfang des Kanals, die der serbische Dichter Laza Kostić besungen hat, Santa Maria della Salute. Die ganze Stadt, Venedig, liegt meinem Rovinjer Haus gegenüber, ein Fenster wurde auf diese Seite durchgebrochen, ich fantasiere, man könnte von hier den Campanile von San Marco sehen. Dort gibt es ohnehin ziemlich viele Spuren von uns, nicht nur in den slawischen Namen angesehener Leute, auf den Messingtäfelchen an den Bänken der Kirche degli Schiavoni. In einem dunklen Garten habe ich eines Nachts unter mittelalterlichen Leuchten ausgestellte Gemälde der slowenischen Gruppe IRWIN angeschaut. In dieser Stadt auf den Pfählen lebt die weltbekannte Diva der Tapisserie, Jagoda Buić. Eine andere Kompatriotin, Kunsthistorikerin und Galeristin, wohnt in einem Haus von Vedova. Der Regisseur, Schriftsteller, Komponist und Seefahrer, mein Rovinjer Nachbar Arsenije Jovanović hat mich auf Chioggia aufmerksam gemacht, einen verwunschenen kleinen Fischerort bei Venedig, wo man den besten Fisch kaufen kann und wo sich die Handlung von Goldonis Komödie Viel Lärm in Chiozza abgespielt haben soll. Wer zu den schönen Villen an der Brenta, einem Fluss, der einer dunklen, glatten Schlange ähnelt, gelangen möchte, um die Bögen der Villa Pisani zu sehen, kann wie ich darauf hoffen, dort noch immer Leute aus dem Settecento zu finden. Unsere schiavonischen Landsleute füllen von Zeit zu Zeit die Pavillons der Biennale von Venedig, wie etwa Marina Abramović, die in einem Jahr mit ihrer Knochenreinigung auftrat, zur Sühnung all dessen, was unsere gemeinsamen Stammesgenossen im letzten Krieg begangen hatten. Weil der venezianische Boden von jeher auf etwas Symbolisches verweist, auf den summenden Bienenkorb der Assoziationen. Wunder über Wunder, venezianische! Wenn ich die blauen Gewänder auf dem Bild von Carpaccio wegnähme, bekäme ich, da bin ich mir sicher, ein Gemälde von Mirò. La Calunnia di Apelle von Botticelli hat, denke ich, jedem Meisterbrief in einer profanen Schusterwerkstatt Pate gestanden. Die Prozession auf dem Bild von Gentile Bellini gleicht eher Kaviar als Menschen. Vielleicht führe ich selbst schon von Anfang an meine Sicht in das Land Italien ein, die vieles verzerrt und deformiert. Dann auf den Schlachtenbildern, denen von Uccello, kommen mir die ganzen Lanzen wie verstreute Mikadostäbchen vor. Mariä Verkündigung, wie viele Bilder gibt es nur davon und so verschiedene, wo sie in der Bibel doch kaum erwähnt wird! Diese Erwählte Gottes ist bei Angelico demütig und verwirrt, bei Piero jedoch eine starke, fast schon reife, jenem Kurier aus dem Vatikan überlegene Frau. Auch die Boten sind verschieden, mancher zeigt unverhüllt seine erotischen Ambitionen, wie Puschkin entdeckt hat, andere gleichen eher einem Hochstapler vom Typ eines Chlestjakow, dem von Gogol. Dann habe auch ich ein Mädchen an der Hand gehalten, dort oberhalb von Amalfi, auf der Terrasse Riccardo Wagner. Wie viele wundervolle Mädchen und Frauen, italienische, tummelten sich überall dort, wo ich hinkam. Als ich noch in Belgrad lebte, wusste ich, dass manche serbische Jungs Sekt aus dem Schuh einer italienischen Filmdiva tranken, die dorthin geraten war. In den römischen Veduten rauchten manche Frauen nur und bliesen mir den Qualm ins Gesicht, alle hatten feurige Augen, die nur so sprühten, und sprachen schnell, wie wenn man etwas auf einer Maschine, einer Zwölf Uhr mittagsVatikanischen BibliothekL’Europa letterariaMensch ärgere dich nicht