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Heinz-Jürgen Schönhals

Julia

oder die wahre Liebe





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Julia

oder die wahre Liebe

 

Eine Erzählung

 

Autor: Heinz-Jürgen Schönhals

 

Fassung November 2019

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Inhalt

Reinhard Dellinger, in seiner Ehe nicht besonders glücklich, weilt zu Besuch bei seinem Cousin. Dessen Ehefrau Klara bittet Reinhard am nächsten Tag, ihrer Mutter in Waldeck, Frau Falk, etwas Wichtiges zu überbringen. Auch seine frühere Verlobte Julia, verheiratete Esser, weile zur gleichen Zeit in Waldeck, sagt ihm Klara, die Schwester Julias; sie wolle ihre Mutter besuchen. Ein erneutes Zusammentreffen mit der immer noch attraktiven Julia fürchtet Reinhard und sehnt es gleichzeitig herbei. In Waldeck trifft er sich zunächst mit einem alten Schulfreund. Der, ein Lehrer für bildende Kunst, führt Reinhard einige Bilder in seinem Bilderkabinett vor. Ein Gemälde von Edvard Munch beeindruckt Reinhard derart, dass er nachts von einer Person des Bildes träumt. Am nächsten Tag besucht Reinhard Frau Falk. Da Julia noch nicht da ist, verbringen sie die Zeit mit Erzählungen. Frau Falk macht wie schon Klara seltsame Bemerkungen über Julia und ihren Mann, die beide in ihrer Ehe gar nicht glücklich seien. Überrascht ist Reinhard, dass er den gleichen Bilddruck, den ihm sein Schulfreund so ausgiebig beschrieben hat, wiedersieht; er hängt über einem Schreibsekretär im Wohnzimmer von Frau Falk. Ob Julia nun, wie erwartet, bei ihrer Mutter eintrifft und welche Konsequenzen das für Reinhard hat, wird am Schluss der Erzählung geklärt.

 

Inhaltsverzeichnis

1. Reinhard Dellingers tristes Alltagsleben

 

2. Dellingers Urlaubsfahrt zu Verwandten

 

3. Gespräch mit Freunden über ‘die wahre Liebe‘

 

4. Der Aufenthalt bei Cousin Klaus Eggebrecht

 

5. Reinhards Fahrt nach Waldeck

 

6. Das Elternhaus und der Garten:

 

7. Besuch bei einem Schulfreund, einem Kunstlehrer

 

8. Der Alptraum von der ‘dark lady‘

 

9. Der Besuch bei Frau Falk

 

10. Rückfahrt

Erstes Kapitel: Reinhard Dellingers tristes Alltagsleben

 (Mancher Traum führt ihm auch ein Leben an der Seite seiner einstigen Verlobten Julia Falk vors träumende Auge, die er irgendwann - im Traum - geheiratet hat und mit der er in einer prachtvollen Villa samt ebenfalls prachtvollem Garten lebt, zusammen mit ihren Kindern, und sie genießen das Leben, sozusagen an einem paradiesischen Ort, in vollen Zügen.)

Der Krankenpfleger Reinhard Dellinger, ein Mann um die Fünfzig, hat nachts oft seltsame Träume, und er ist darüber nicht wenig beunruhigt. Immer wieder träumt er, er forsche nach der Adresse von Julia Falk, mit der er früher einmal verlobt war. Dabei weiß er genau, wo Julia heute wohnt: in Weiden, einer Stadt in Bayern, und sie ist dort verheiratet mit Jost Esser, einem Bankangestellten. Manchmal auch begegnet ihm Julia im Traum, und er bittet sie dann, ihm ihre Adresse mitzuteilen. Doch als sie ihm sagt, sie wohne bei Hamburg, in einer idyllischen Kleinstadt, merkt er, dass er gar nicht mit Julia redet, sondern mit einer völlig anderen Frau. In ihr erkennt er schließlich eine flüchtige Bekannte aus früherer Zeit, die gelegentlich am Rande seines jugendlichen Freundeskreises aufgetaucht war. Ihr Name ist ihm allerdings entfallen.

Da er schon oft von derartigen Traumgesichten heimgesucht wurde und diese ihm allmählich auf die Nerven gehen, überlegt er, ob er nicht einen Psychologen zu Rate ziehen sollte. Vielleicht könnte der ihm die Ursache solcher nächtlicher Gaukelspiele erklären und ihn eventuell davon befreien. Doch rasch verwirft er den Plan wieder, er kommt ihm albern vor. Außerdem lässt er nur ungern jemanden in seiner Vergangenheit herumspähen. Denn darauf läuft es doch hinaus: der Therapeut wittert irgendein Trauma, welches er, Reinhard, nicht verarbeitet hat und das nun in aberwitzigen Träumen ständig wiederkehrend Gestalt annimmt. Schon würde er nach Details fragen, würde sich anschicken, das Allerintimste aus Reinhards Kindheit, seiner Jugend, seiner frühen Mannesjahren hervorzukramen, um es zu inspizieren. Nein, so etwas kommt für ihn nicht in Frage!

Stattdessen überlegt er, ob er nicht selbst die Sache in die Hand nehmen sollte. Vielleicht könnte er einmal versuchen, die Störquelle, welche für seine Alpträume verantwortlich ist, durch eigenes Nachforschen aufzuspüren und zu beseitigen. Heilen durch Erinnern - so könnte das Programm seiner Selbsttherapie lauten. Eventuell haben sich bei ihm Schuldgefühle zu einem Schuldkomplex aufgeladen oder zu viele unglückliche Erlebnisse zu einer Angststörung ausgewachsen, und beide drängen nun als Alpträume aus seinem Unterbewusstsein hervor und verhageln ihm den Nachtschlaf. Wäre es da nicht naheliegend, etwas in seiner Vergangenheit herumzustöbern, dabei den Blick akribisch auf außergewöhnliche Stresserfahrungen oder eine Serie von Unglücken oder gar Katastrophen zu lenken, welche einst sein Leben für einige Zeit verfinsterten? Er brauchte dann nur noch die Stress auslösenden Ereignisse mit gezielten Fragen anzugehen und durch eine gründliche Analyse zu zergliedern und zu zerlegen - schon müsste die Erregung in seinem Unterbewusstsein abflauen, schon wäre seinen fatalen Träumen die Energie entzogen; auch seine innere Stabilität könnte er durch ein solches „therapeutisches Erinnern“ wiederherstellen!

Jedoch gibt es da ein nahezu unüberwindliches Hindernis: Reinhard Dellinger blickt nicht gerne zurück. Allenfalls tut er es unfreiwillig, bei einem Treffen mit alten Freunden, wenn sentimentale Erzählungen und der Zauberer Alkohol seine Seele übertölpelten. Im nüchternen Zustand kommt ihm die Vergangenheit immer wie eine verstaubte Dachkammer vor, in die hineinzugehen er nicht die geringste Lust verspürt. Denn was erwartete ihn dort anderes als ein düsteres Reich der verrotteten Objekte, wo ihn fortwährend der kalte Hauch des Unabänderlichen und Unwiederbringlichen anweht, wo er sein einst pralles, buntes Leben nur noch in vergilbten Fotos, altfränkischen Gemälden oder verwaschenen Aufzeichnungen betrachten oder rückschauend in Selbstgesprächen erörtern kann? Und in diese ihn nur trübsinnig, nur grüblerisch stimmende Dachkammer sollte er also hineingehen, die Störquelle, die sich dort eingenistet, aufspüren und den Schalter an dem Störapparat entschlossen umlegen, auf dass mit diesem einen erlösenden Handgriff allen seinen entsetzlichen Traumgesichten - gewissermaßen mit einem Schlag - der Antrieb, der Strom abgedreht wäre? Und wenn er die Störquelle nicht findet? Wenn sie in der Masse der Ereignisse, die schattenhaft, konturlos in seiner Erinnerung an ihm vorbeiziehen, überhaupt niemals vorhanden war?

Nein! Lieber nimmt er seine fatalen Träume in Kauf, lieber wendet er weiter erhebliche Energie auf, um die Träume als unerheblich zu betrachten und beiseite zu schieben, statt sich seiner Vergangenheit zu stellen, das heißt mit großem Widerwillen in der besagten Dachkammer das Unsägliche in Angriff zu nehmen: den Marsch zurück ins Schattenreich des Gewesenen, um dort den ganzen, in dunkle Nischen, hinter verriegelte Türen weggeschobenen Ereignismüll - vielleicht vergeblich - hervorzukramen.

Ja, so denkt Reinhard nun einmal über seine Vergangenheit, so negativ, so verbittert, und es ist deshalb nur zu begreiflich, dass er zögert, überhaupt auf seine Vergangenheit zurückzublicken. -

Reinhard Dellinger übt schon seit Jahren seinen Beruf als Krankenpfleger am Ludwig-Aschoff-Krankenhaus in B*** aus. Die Arbeit dort ist aufreibend. Wochenenddienste sowie Früh-, Spät- und Nachtdienste gehören zu seinem Alltag. Hat er Frühdienst, klingelt schon um halb fünf der Wecker, der Spätdienst endet meist erst um 21 Uhr, zum Nachtdienst muss er zweimal die Woche antreten. Dann hat er als Krankenpfleger Dinge zu tun, vor denen sich manch einer ekelt. Zu den angenehmeren Tätigkeiten gehören noch die üblichen Versorgungsdienste: Blutdruck, Puls, Temperatur messen, Ärzten und Ärztinnen bei Punktionen oder Infusionen assistieren, Patienten auf Operationen vorbereiten. Unangenehmer wird es, wenn er pflegebedürftigen Patienten beim Waschen helfen oder gar stinkende Wunden behandeln oder sich um Menschen mit Harn- oder Kotabgangsstörungen kümmern muss. Auch mit renitenten, psychisch gestörten Patienten hat er nicht selten zu tun. Manchmal muss er am Morgen 10 oder 12 Problem-Patienten innerhalb kurzer Zeit versorgen. Die meisten können sich nicht selbst waschen, nicht selbst umdrehen, nicht alleine essen oder selbständig auf die Toilette gehen. Rasch schnappt sich Reinhard dann seine Ausrüstung - darunter Waschschüsseln, Hand- und Badetücher, Inkontinenzunterlagen und jede Menge Windeln - und macht sich an die Arbeit. ‘O Stress, lass nach!‘ - stöhnt er dabei oft, jedoch flüstert er das nur in sich hinein, denn zu den Patienten muss er freundlich sein, darf mit tröstenden oder aufmunternden Worten nicht geizen. Doch zuweilen überfällt ihn die Befürchtung, er könnte dem Stress und den ständig steigenden Anforderungen auf Dauer nicht standhalten. Neulich quittierte ein älterer Kollege den Dienst, wegen Burn-out-Syndroms. Reinhard Dellinger meinte daraufhin, dieses Syndrom könnte bald auch ihn treffen, das heißt Schwäche und Mattigkeit kämen unaufhaltsam auf ihn zu, bis am Ende – vielleicht schlagartig – alle seine Kräfte verkümmerten und erlahmten. Doch schnell reißt er sich wieder am Riemen, verscheucht solche negativen Gedanken und redet sich ein, er übe einen interessanten Beruf aus, zu dem er von jeher Neigung und Talent entwickelt habe.

Gelegentlich träumt er nachts von einem anderen Leben, das ihm wegen außergewöhnlich widriger Umstände, die ihn zur Aufgabe seines Medizinstudiums zwangen, entgangen ist. Er sieht sich dann meistens als Chefarzt eines Krankenhauses seinem gehobenen Beruf mit großer Leidenschaft nachgehen. Mancher Traum führt ihm auch ein Leben an der Seite seiner einstigen Verlobten Julia Falk vors träumende Auge, die er irgendwann - im Traum - geheiratet hat und mit der er in einer prachtvollen Villa samt ebenfalls prachtvollem Garten lebt, zusammen mit ihren Kindern, und sie genießen das Leben, sozusagen an einem paradiesischen Ort, in vollen Zügen. Wie gesagt: alles nur im Traum! Die Realität sieht anders aus: Statt zum Chefarzt oder überhaupt zum Arzt hat er es nur zum Krankenpfleger an einer Klinik gebracht, und er lebt in einem Vorort von B***, allerdings nicht zusammen mit Julia, sondern mit seiner Frau Gudrun und ihren beiden Kindern Elena und Ingeborg; auch wohnen sie nicht in einer Villa, sondern in einer Mietwohnung. Irgendwann vor Jahren, nachdem er die Uni. verlassen hat und dann mancherlei Umwege gehen musste, an die er sich nur ungern erinnert, ist er in einer Krankenpflegerschule gelandet, hat dort schließlich die Abschlussprüfung bestanden und durfte sich staatlich geprüfter Krankenpfleger nennen. Am Ludwig-Aschoff-Krankenhaus in B. ist er dann, als Krankenpfleger in der chirurgischen Abteilung, hängengeblieben.

Zweimal im Jahr nimmt Reinhard Dellinger für je zwei Wochen Urlaub. Dann fährt er mit seinem Wagen zu seiner alten Mutter ins Hessische, meistens alleine. Denn seine Frau, ein häuslicher Typ, bleibt lieber zu Hause bei Elena und Ingeborg. Vor allem lehnt sie es ab, ihre Schwiegermutter zu besuchen, die in W*** bei Groß-Gerau wohnt.