Cover

Christoph Butterwegge |
Gudrun Hentges | Bettina Lösch (Hrsg.)

Auf dem Weg in
eine andere Republik?

Neoliberalismus,
Standortnationalismus
und Rechtspopulismus

Inhalt

Einleitung

Sozialstaat, Demografie und Armut

Umsonst gibt es gar nichts: Umverteilen tut not

Dethematisierung sozialer Fragen in Ungleichheitsdebatten und demografisierten Sachzwang-Diskursen

Die Demografiekeule – ein neoliberaler Mythos

Die soziale Spaltung und der Erfolg des Rechtspopulismus

Rechtsextremismus und -populismus

Alternativen zu rechtspopulistischen Antworten auf die „Flüchtlingskrise“

Demokratische Klassenpolitik – eine Antwort auf den Rechtspopulismus

Die Identitären – eine Bewegung von rechts als Wegbereiterin einer anderen Republik?

Der Neoliberalismus entlässt seine Kinder: Krise(n) und Rechtspopulismus

Gegen „Gender-Wahn“ und Feminismus: Geschlechterkampf von rechts

Politische Bildung in der Einwanderungsgesellschaft

Wie viel Autoritarismus verträgt die Demokratie? Voraussetzungen und Möglichkeiten einer emanzipatorischen gesellschaftlichen Transformation

Die Zukunft der politischen Bildung in einer repolitisierten Gesellschaft

Stammtischparolen: Rechtspopulismus im AlltagEine Herausforderung für demokratische Kultur und politische Bildung

Nie wieder JudenhassAntisemitismus in der Einwanderungsgesellschaft als Herausforderung in der Lehrer(innen)bildung

Autorinnen und Autoren

Einleitung

Im siebten Jahrzehnt ihrer Geschichte steht die Bundesrepublik vor grundlegenden Herausforderungen und wichtigen politischen Weichenstellungen. Als Folge der neoliberalen (Regierungs-)Politik fast aller Parteien zeigen sich gesellschaftliche Spaltungen und ein Vertrauensverlust in den demokratischen Staat. Die fortschreitende Prekarisierung der Arbeitswelt sowie die sich vertiefende Kluft zwischen Arm und Reich schufen einen günstigen Nährboden für rechtspopulistische und rechtskonservative Akteure, die simple Losungen und unsoziale Lösungen zur Bewältigung der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise seit 2007 anbieten.

Eine weitreichende Umwälzung des Parteiensystems manifestiert sich darin, dass im 19. Deutschen Bundestag neben den bisherigen Fraktionen CDU/CSU, SPD, DIE LINKE und Bündnis 90/Die Grünen auch FDP und AfD vertreten sind. Noch nie zuvor ist einer Partei, die – je nach Perspektive – als rechtspopulistisch oder gar rechtsextrem etikettiert wird, weil sie einen rückwärtsgewandten Nationalismus vertritt sowie Protagonisten eines biologistischen Rassismus und eines offenen Antisemitismus beherbergt, der Einzug in das Parlament gelungen. Außerdem ist mit den „Patriotischen Europäern gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (Pegida) eine „Bürgerbewegung“ von rechts entstanden, die sich zunehmend radikalisiert hat. Die beiden „Volksparteien“ CDU/CSU und SPD verzeichneten hingegen erdrutschartige Verluste, wobei zumindest bezüglich der SPD, die nur wenig mehr als ein Fünftel aller Zweitstimmen erhielt, zweifelhaft erscheint, ob sie überhaupt noch als Volkspartei bezeichnet werden kann.

Eng verknüpft mit dem Wandel des politischen Systems ist ein Wandel der Gesellschaft. Während die Bundesrepublik Deutschland aufgrund ihrer Anwerbeverträge mit südeuropäischen und nordafrikanischen Staaten sowie mit der Türkei und der anschließenden Familienzusammenführung bereits im Laufe der 1970er-Jahre zu einem Einwanderungsland wurde, hat die sog. Flüchtlingskrise der Jahre 2015 ff. die bundesdeutsche Gesellschaft vor weitere Probleme gestellt. Es gab unterschiedliche, ja gegensätzliche Reaktionen auf die vermehrte Fluchtmigration: Einerseits war die Bereitschaft der Bürger/innen zur ehrenamtlichen Unterstützung von Geflüchteten überwältigend groß, andererseits nahmen die Anschläge auf Flüchtlinge und ihre Unterkünfte drastisch zu.

Kritische Zeitgenoss(inn)en fragen aufgrund der skizzierten Entwicklung besorgt, wohin sich die Bundesrepublik entwickelt bzw. was und wer sie immer mehr dorthin treibt. Die etablierten Parteien reagieren bislang nicht mit einer sozialpolitischen Kurskorrektur, vielmehr mit Anpassung und Abgrenzungsrhetorik auf die Herausforderungen unserer Zeit. Zugleich revidieren sie ihre Programmatik, indem sie rückwärtsgewandte Forderungen wie die nach Abschottung und Abschiebung (statt Solidarität), Autoritarismus (statt Demokratie) sowie einer polizeilich und militärisch flankierten Inneren Sicherheit (statt sozialer Sicherheit) propagieren.

Umso notwendiger ist eine Diskussion über demokratische, soziale und humane Alternativen zur Politik der etablierten Parteien: Wie könnte eine Politik beendet werden, die wenige privilegiert, diese Gruppe materiell in Übermaßen begünstigt und mit Macht ausstattet? Und wie müsste eine gesellschaftliche Transformation aussehen, die emanzipatorische Errungenschaften der Vergangenheit bewahrt und weiter vertieft? Antworten darauf gab ein Abschiedssymposium für Christoph Butterwegge, das die Universität zu Köln am 28. Oktober 2016 veranstaltet und das seinen Niederschlag in diesem Sammelband gefunden hat. Unter der Leitfrage „Auf dem Weg in eine andere Republik?“ kristallisierten sich mehrere Debattenstränge heraus, denen die Gliederung des Buches folgt:

Das erste Kapitel behandelt den Sozialstaat, die Demografie und die Armut. Hier ist zu erörtern, wie auf die soziale Spaltung anders reagiert werden kann als durch nationalistische, rassistische oder kulturalisierende Abgrenzungen.

Das zweite Kapitel beleuchtet das Phänomen des Rechtsextremismus und -populismus. Es umfasst eine Analyse der unterschiedlichen Ursachen und Erscheinungsformen von rechten Politiken und Akteur(inn)en, thematisiert aber auch Gegenstrategien und Möglichkeiten der Prävention.

Das dritte Kapitel widmet sich einer kritischen politischen Bildung, die den Rahmenbedingungen der Einwanderungsgesellschaft gerecht wird. Selbstverständlich kann die politische Bildung nicht nach Art einer Feuerwehr auf die gesellschaftlichen Probleme reagieren; sie befähigt jedoch Bürgerinnen und Bürger sowie Kinder und Jugendliche, in einem demokratischen Sinne reflektiert mit den genannten Herausforderungen umzugehen.

Köln, im Winter 2017/18

Christoph Butterwegge, Gudrun Hentges und Bettina Lösch

Sozialstaat, Demografie und Armut

Umsonst gibt es gar nichts: Umverteilen tut not

Ulrich Schneider

In der Ungleichheitsdebatte gibt es einige Fakten, die sich schlecht wegdiskutieren lassen, auch wenn von interessierter Seite viel Mühe darauf verwendet wird. Dazu gehört die Tatsache, dass die quasi-amtliche Armutsquote des Statistischen Bundesamtes trotz bester wirtschaftlicher Rahmenbedingungen in den letzten Jahren eine steigende Tendenz aufweist und aktuell mit 15,7 Prozent einen Höchststand seit der Vereinigung erreicht hat. Das entspricht etwa 12,9 Millionen Einwohner(inne)n. Auch alternative Datenquellen wie das Sozio-oekonomische Panel des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) oder die Europäische Gemeinschaftserhebung EU-SILC (European Union Statistics on Income and Living Conditions – Europäische Gemeinschaftsstatistik über Einkommen und Lebensbedingungen) kommen zu demselben Ergebnis. „Alle drei Datenquellen zeigen für die vergangenen Jahre den gleichen leicht steigenden Trend an“, konstatieren denn auch Markus M. Grabka und Jan Goebel (2017, S. 78) vom DIW.

„Aber da werden doch auch Studierende und Auszubildende mitgezählt oder Menschen, die nur kurzzeitig in Armut sind“, machen sich in der Regel einschlägig bekannte Schlaumeier wie Guido Böhsem (2015) und Georg Cremer (2015 und 2016, S. 47 ff.) über die Statistik her, kaum dass man sie ins Feld führt. Fachkundig ist dieser Einwand nicht. Sinn und Ziel des Einwandes liegen wohl auch eher darin, mit plakativen Einwürfen eine Statistik zu diskreditieren, die in der Tat – wie alle sozialwissenschaftlichen Statistiken – Unschärfen hat, nur halt nicht so platt und einseitig ist, wie es die Kritiker suggerieren möchten (vgl. Becker 2017). Dass nämlich auf der anderen Seite Hunderttausende Wohnungslose überhaupt nicht in diese Statistik eingehen, genauso wenig wie Pflegebedürftige oder Behinderte in Heimen und Flüchtlinge in Gemeinschaftsunterkünften, erwähnen die Kritiker wohlweislich nicht, geht es ihnen doch ganz offensichtlich vor allem darum, der Bevölkerung Sand in die Augen zu streuen. Und überhaupt: Eigentlich werde ja gar keine Armut gemessen, sondern nur etwas Ungleichheit (zur Kritik am Konzept der relativen Armut vgl. Butterwegge 2015; Schneider 2015; Sell 2015).

Wenn es bei solch bizarren Einwänden lediglich um akademische Besserwisserei ginge, wären sie einfach nur albern und nicht weiter beachtenswert. Gefährlich werden sie jedoch, wenn sie dazu benutzt werden, Armut in Deutschland kleinzureden und in ihrer Dimension zu verharmlosen (vgl. Butterwegge 2016a). Gefährlich werden sie, wenn der unzweifelhafte Skandal der Armut in diesem reichen Land entdramatisiert werden soll, um den politischen Handlungsdruck zu senken. Gefährlich ist dies deshalb, weil unsere Gesellschaft gerade auf dem besten Weg ist, sich selber zu zerlegen – mit allen sozialen und politischen Folgen, die wir derzeit nicht nur in den USA besichtigen können, wo das Phänomen wachsender Ungleichheit und Ausgrenzung von weiten Teilen der Politik sträflich entskandalisiert oder verharmlost wurde (vgl. Schneider 2017). Rhetorische Beschwichtigung, welche die Politik letztlich aus jeglicher Verantwortung entlässt, mag zwar den politisch Verantwortlichen gefallen, ist aber in der derzeitigen Situation das genaue Gegenteil von verantwortungsvollem armutspolitischem Handeln (vgl. Butterwegge 2018a).

Um bei den leidigen Fakten zu bleiben: Wir haben in Deutschland, dem es nach Ansicht von Bundeskanzlerin Angela Merkel sowie ihrer Gefolgsleute in und außerhalb der Union noch nie so gut ging wie heute, ca. 860.000 wohnungslose Menschen. Fachleute schätzen, dass diese Zahl bis 2018 auf etwa 1,2 Millionen ansteigen wird (vgl. BAG Wohnungslosenhilfe 2017). Wir haben seit Jahren etwa eine Million Langzeitarbeitslose. Wir haben weiterhin rund 6 Millionen Menschen in Hartz IV, darunter ca. 2 Millionen Kinder und Jugendliche – keinesfalls nur kurzzeitig, sondern meist über viele Jahre. Insgesamt lebt fast jeder Zehnte von Sozialleistungen wie Hartz IV oder Altersgrundsicherung, die Armut wegen ihrer geringen Höhe nicht verringern oder verhindern, sondern festschreiben (vgl. Butterwegge 2018b). Niemand, der auch nur halbwegs im Leben steht, wird ernsthaft behaupten, dass man beispielsweise mit 291 Euro (Höhe des Regelbedarfs beim Sozialgeld) ein Schulkind über den Monat bekommt.

Umverteilen tut not

Und so sind denn auch alle scheinbar guten Willens: Keiner, der öffentlich in Abrede stellen würde, dass wir mehr für arme Kinder tun müssen, dass sie erheblich mehr Unterstützung benötigen auf ihrem Bildungsweg, keiner, der öffentlich widersprechen würde, dass Wohnen ein Grundbedürfnis und ein moralisches Menschenrecht ist und dass wir viel mehr sozialen Wohnungsbau brauchen. Niemand, der öffentlich abstreiten würde, dass wir viel mehr tun müssen, um auch Menschen mit Behinderungen in allen Bereichen des Lebens selbstverständlich mittun zu lassen, dass wir mehr Personal in unseren Pflegeheimen benötigen und die Pflegekräfte vor Ort einfach mehr Zeit. Keiner der in Abrede stellen würde, dass es nicht nur eine Frage der Moral, sondern ebenso der Vernunft ist, die Armut in unserem Land energisch zu bekämpfen.

Doch entlarven sich derlei Bekenntnisse nur allzu oft als bloße Sonntagsreden, kommt man auf die Kostenseite einer solch moralisch gebotenen und vernünftigen Politik zu sprechen. Der Investitionsstau bei den Kommen liegt derzeit laut Kommunalpanel der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) bei über 130 Milliarden Euro: Hinter den ausstehenden Straßen- und Verkehrsinvestitionen von 36 Milliarden Euro bildet der Bereich Bildung – vom Kindergarten bis zur Volkshochschule – mit 34 Milliarden Euro gleich den zweitgrößten Block (vgl. KfW-Bankengruppe 2016). Und da sind noch keine zusätzliche Erzieherin und kein Lehrer mehr mitgerechnet. Armutsvermeidende Regelsätze bei Hartz IV und der Altersgrundsicherung würden mit rund 8 Milliarden Euro zu Buche schlagen. Für einen bedarfsgerechten sozialen Wohnungsbau werden in den nächsten Jahren nach Berechnungen des renommierten Pestel-Instituts (2015) 6,4 Milliarden Euro pro Jahr benötigt. Zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit mittels eines öffentlich geförderten Beschäftigungssektors sollte man noch einmal rund vier Milliarden Euro dazurechnen. Deutschland hat vieles schleifen lassen. Die Lücken zu schließen kostet zusätzliche Milliardenbeträge.

„Nun sag, wie hast du’s mit dem Teilen?“, lautet daher die Gretchenfrage der Armutspolitik. Wer ihr ausweicht, macht sich unglaubwürdig, wenn er zugleich sozialstaatliche Interventionen fordert, denn rein gar nichts gibt es zum Nulltarif. Ganz im Gegenteil. Es sind zweistellige Milliardenbeträge, die jedes Jahr aufgebracht werden müssen, um der Armut den Kampf anzusagen. Die Beantwortung der Verteilungsfrage ist daher die Nagelprobe, ist der Glaubwürdigkeitstest für jeden, der behauptet, Armut und Ausgrenzung wirkungsvoll bekämpfen zu wollen.

Umverteilen ist in der viertstärksten Volkswirtschaft auf dieser Erde nicht nur nötig, sondern auch ohne Verwerfungen möglich. Vermögen und Einkommen sind in Deutschland derart ungleich verteilt, dass man die breite Bevölkerung durchaus verschonen und stattdessen steuerpolitisch sehr gezielt bei Spitzenverdienern und Superreichen ansetzen kann, also bei denjenigen, die es nicht nur gut verkraften können, sondern bei denen man davon ausgehen kann, dass es ihren Alltag überhaupt nicht tangiert, wenn sie gezwungen sind, etwas mehr abzugeben. Es gibt nichts, auf das sie wirklich verzichten müssten. Theoretisch verfügt jeder Haushalt in Deutschland über Vermögen im Wert von etwa 160.000 Euro. Nur hat diese Durchschnittszahl keinerlei praktische Relevanz. Tatsächlich verhält es sich so, dass die reichsten 10 Prozent im Schnitt rund 1,2 Millionen Euro haben (vgl. Fratzscher 2016, S. 44). Sie teilen fast zwei Drittel des gesamten Privatvermögens in Deutschland unter sich auf (63 Prozent) – mindestens. Christian Westermeier und Markus Grabka (2015) vom DIW kommen in einer bemerkenswerten Studie, in der sie die sogenannten Forbes-Listen auswerten, zu dem Schluss, dass es tatsächlich sogar eher 74 Prozent sind.

Notwendig ist es allerdings, mit einigen Schauergeschichten aufzuräumen, mit denen Umverteilungsgegner so gern Angst erzeugen. Da ist zum Beispiel die Mär, eine höhere Besteuerung von Vermögen führe zu einem Exodus der Wohlhabenden, die alles tun würden, um ihr Eigentum in Sicherheit zu bringen. Wenn sie das wirklich tun wollten, müssten sie schon genau aufpassen, wohin sie gehen. Als die OECD 2013 einen Vergleich vorlegte, in welchem Land Vermögen wie stark besteuert wird, rieb sich so mancher doch verwundert die Augen (vgl. Bundesministerium der Finanzen 2013). In keinem großen Industriestaat ist die Besteuerung des Vermögens, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, so gering wie in Deutschland. Berücksichtigt wurden bei diesem Vergleich neben Vermögensteuern auch Erbschaft- und Grundsteuern. Von allen 34 OECD-Mitgliedstaaten lag Deutschland mit 0,6 Prozent am BIP gerade mal auf Platz 25. 1,3 Prozent des BIP waren es im Durchschnitt aller OECD-Staaten. Am kräftigsten langten ausgerechnet so „erzkapitalistische“ Länder wie Großbritannien (3,6 Prozent), Kanada (3,3 Prozent) und die USA (3,2 Prozent) hin. Die US-Regierung verlangte ihren Vermögenden damit fünfmal so viel ab wie die deutsche, die britische Regierung sogar sechsmal so viel. Selbst die Schweiz, die gern als möglicher Zufluchtsort für „unsere Reichen“ ins Spiel gebracht wird, belastete ihre Vermögenden mehr als doppelt so stark wie Deutschland. Würden die Vermögen in Deutschland besteuert wie im OECD-Durchschnitt, wären jährlich 21 Milliarden Euro zusätzlich in den öffentlichen Kassen.

Bei der allgemeinen Steuer- und Abgabenquote sieht es nicht wesentlich anders aus: Die Steuerquote (Anteil des Steueraufkommens am BIP) liegt in Deutschland seit Jahren um die 22 Prozent und damit im internationalen Vergleich ziemlich weit unten (vgl. Bundesministerium der Finanzen 2016, S. 10). Es gibt kaum ein europäisches Land, das diesen Satz unterbietet. Und selbst wenn man die Sozialabgaben mitrechnet, nimmt Deutschland noch immer einen guten Mittelplatz ein. Mit 36,6 Prozent ist die Abgabenquote (Summe aus Steuern und Abgaben) deutlich niedriger als in den skandinavischen Ländern, aber auch noch niedriger als in Frankreich (45,2 Prozent), Belgien (44,7 Prozent), Italien (43,6 Prozent) oder Österreich (43,0 Prozent).

Umverteilung geht also. Ich will mich hier auf die derzeit am heftigsten umstrittenen Vorschläge beschränken, nämlich die spürbare Besteuerung großer Erbschaften und Vermögen, für die, wie wir sahen, auch im internationalen Vergleich durchaus Luft besteht.

Nach Berechnungen des Forschungsinstituts empirica werden in den nächsten zehn Jahren in Deutschland gigantische Vermögen von 3,1 Billionen Euro vererbt, jedes Jahr also im Schnitt 310 Milliarden Euro (vgl. Braun 2015). Anita Tiefensee und Markus M. Grabka (2017), die nicht nur die vorhandenen Vermögensbestände zugrunde legen, sondern auch deren zu erwartende Wertsteigerungen, kommen sogar auf knapp 400 Milliarden Euro jährlich. Das Erbschaftsteueraufkommen lag 2015 jedoch bei lediglich 6,3 Milliarden Euro. Das sind lächerliche 2 Prozent des Erbschaftsvolumens. Praktisch ist das der Verzicht auf eine Erbschaftsteuer.

Die jüngste Reform der Erbschaftsteuer hat daran nichts geändert. Christoph Butterwegge (2016b, S. 27) spricht mit Blick darauf von einer „Schonung des privaten Reichtums trotz öffentlicher Armut“ und verweist in diesem Zusammenhang auf den enormen Einfluss der Unternehmerfamilien, die durch ihre Verbands- und Lobbyarbeit für eine Verwässerung des ursprünglichen Gesetzesvorhabens gesorgt haben. Glaubt man den offiziellen Stellungnahmen, sollten die beschlossenen Steuerprivilegien den Betriebsübergang von Mittelständlern sichern und Arbeitsplätze in Deutschland erhalten. In Wirklichkeit ging es bei der Reform jedoch um die Schonung reicher Erben. Um problemlose Betriebsübergänge zu gewährleisten und keine Arbeitsplätze zu gefährden, hätte man auch andere Lösungen finden können. So gab es die Möglichkeit, anfallende Steuerforderungen zu stunden. Man hätte sie auch an den wirtschaftlichen Erfolg des ererbten Unternehmens knüpfen können.

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hatte schon früher darauf hingewiesen, dass bei „millionenschweren Unternehmensvermögen jenseits von Kleinunternehmen oder kleineren mittelständischen Unternehmen“ weitgehende Steuervergünstigungen für die Erben gar nicht erforderlich seien, um die Arbeitsplätze bei der Unternehmensweitergabe zu sichern (vgl. Bach 2015). Das DIW schlug daher vor, Steuerbefreiungen auf kleine und mittlere Betriebe sowie auf betriebsnotwendiges Vermögen zu begrenzen. Doch fanden diese Empfehlungen – wen wundert es – kein Gehör.

Stefan Bach und Andreas Thiemann (2016a) errechneten, dass ein Drittel des gesamten vererbten Vermögens in Deutschland auf nur 1,5 Prozent der Erben entfällt, und zwar auf jene, die 500.000 Euro und mehr erben. Es ist eine Sache des Gerechtigkeitsempfindens und der Vernunft, baldmöglichst ein Erbschaftsteuerrecht zu schaffen, das dieser zunehmenden Vermögenskonzentration etwas entgegensetzt. Die allermeisten Menschen wären von einer solchen Steuerreform überhaupt nicht berührt. Denn es geht dabei nur um große Vermögen. Gleichwohl wäre eine Besteuerung, die am Ende auf Einnahmen von lediglich 10 bis 15 Prozent des Erbvolumens hinausliefe, bereits mit Mehreinnahmen von 24 bis 39 Milliarden Euro pro Jahr verknüpft – Geld, das wir dringend benötigen.

Ähnlich verhält es sich mit den Vermögen. In Deutschland sind diese derart extrem auf relativ wenige Reiche konzentriert, dass eine Vermögensteuer so gestaltet werden kann, dass sie am Ende auch wirklich nur die trifft, die es sich ohne eine spürbare Senkung ihre Lebensstandards leisten können. Die Vermögensteuer wurde in Deutschland von 1952 bis 1996 erhoben. Der Steuersatz war mit 1 Prozent für natürliche Personen und 0,6 Prozent für Körperschaften sehr moderat. Das Bundesverfassungsgericht monierte 1995, dass Immobilien in der Erfassung des zu versteuernden Vermögens günstiger bewertet wurden als andere Vermögensarten, und verlangte eine entsprechende Korrektur. Keinesfalls hielten die Karlsruher Richter die Vermögensteuer als Ganzes für verfassungswidrig, wie heute gern kolportiert wird. In Artikel 106 des Grundgesetzes wird sie bis heute sogar ausdrücklich erwähnt. Die schwarz-gelbe Bundesregierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl nahm das Monitum aus Karlsruhe vielmehr zum willkommenen Anlass, diese Steuerart ganz auszusetzen. Zuletzt hatte sie umgerechnet rund 4,6 Milliarden Euro an Einnahmen gebracht. Das war allerdings vor über 20 Jahren.

Stefan Bach und Andreas Thiemann (2016b) gehen heute von 10 bis 20 Milliarden Euro aus, die mit einer Vermögensteuer unter ähnlich moderaten Bedingungen wie in den 1990er-Jahren zu erzielen wären. Sie rechneten dazu verschiedene Steuermodelle mit unterschiedlichen Steuersätzen und Freibeträgen durch. Auf 15 Milliarden Euro Steuereinnahmen kommen sie bei einem Steuersatz von 1 Prozent, einem Freibetrag von 1 Million Euro pro Steuerpflichtigem – zusammen veranlagte Paare 2 Millionen – und von 5 Millionen Euro für kleine Unternehmen. Lässt man den Freibetrag auf Betriebsvermögen weg, erhöht sich das Steueraufkommen gleich auf 19 Milliarden Euro. Wegen der hohen Freibeträge wären von einer solchen Vermögensteuer lediglich 300.000 Steuerpflichtige betroffen. Über 90 Prozent der 15 Milliarden Euro würden allein von dem reichsten Prozent der Bevölkerung aufgebracht, und davon wiederum der ganz überwiegende Teil vom reichsten Promille (vgl. ebd., S. 84). Um Betriebe mit der Vermögensteuer nicht in ihrer Existenz zu gefährden, könnte man im Zweifelsfall wie auch bei der Erbschaftsteuer über Möglichkeiten der Stundung der Steuerschuld oder der Koppelung an die Ertragslage nachdenken.

Eine Vermögensteuer ist machbar. Sie ist angesichts der extremen Vermögensspreizung in Deutschland überfällig. Und sie ist notwendig, weil wir jeden Euro brauchen, um der sozialen Spaltung Deutschlands entgegenzuwirken.

Interessanterweise werden als wahres Totschlagargument gern die Erhebungskosten einer Vermögensteuer angeführt. Die Schätzungen der damit befassten Wissenschaftler reichen von 1,8 Prozent bis zu 50 Prozent des Steueraufkommens. Allerdings gehen in manche Schätzungen nicht nur die Verwaltungskosten der Steuerbehörden ein, sondern auch Kosten auf Seiten der Vermögenden, Ausgaben für Steuerberater und Ähnliches. Wie auch immer: Mir signalisieren solche Diskrepanzen erst einmal, dass irgendetwas nicht stimmen kann mit diesen Schätzungen; oder dass man es schlicht nicht weiß (vgl. Schneider 2017, S. 205 f.). Was ich aber an diesem „Argument“ vor allem noch nie verstanden habe: Selbst wenn die Erhebungskosten bei 30 Prozent lägen, blieben 70 Prozent reine Einnahmen übrig. Ich kenne viele, die schon für erheblich weniger Rendite arbeiten.

Umverteilen ist machbar, gerecht und notwendig.

Literatur

Bach, Stefan (2015): Erbschaftsteuer: Firmenprivilegien begrenzen, Steuerbelastungen strecken, in: DIW-Wochenbericht 7, S. 111–121

Bach, Stefan/Thiemann, Andreas (2016a): Hohe Erbschaftswelle, niedriges Erbschaftsteueraufkommen, in: DIW-Wochenbericht 3, S. 63–71

Bach, Stefan/Thiemann, Andreas (2016b): Hohes Aufkommenspotential bei Wiedereinführung der Vermögensteuer, in: DIW-Wochenbericht 4, S. 79–89

BAG (Bundesarbeitsgemeinschaft) Wohnungslosenhilfe (2017): Zahl der Wohnungslosen, http://www.bag-wohnungslosenhilfe.de/de/themen/zahl_der_wohnungslosen [30.10.2017]

Becker, Irene (2017): Kritik am Konzept relativer Armut – berechtigt oder irreführend?, in: WSI-Mitteilungen 2, S. 98–107

Böhsem, Guido (2015): Falsch berechnet, in: Süddeutsche Zeitung v. 21.2.

Braun, Reiner (2015): Erben in Deutschland 2015–2024. Volumen, Verteilung und Verwendung. Eine Studie der empirica AG im Auftrag des Deutschen Instituts für Altersvorsorge, Berlin

Bundesministerium der Finanzen (Hg.) (2013): Besteuerung von Vermögen – eine finanzwissenschaftliche Analyse. Monatsbericht, Dezember

Bundesministerium der Finanzen (Hg.) (2016): Die wichtigsten Steuern im internationalen Vergleich 2015, Berlin

Butterwegge, Christoph (2015): Armut – sozialpolitischer Kampfbegriff oder ideologisches Minenfeld?, Verdrängungsmechanismen, Beschönigungsversuche, Entsorgungstechniken, in: Ulrich Schneider (Hg.), Kampf um die Armut. Von echten Nöten und neoliberalen Mythen, Frankfurt am Main, S. 51–83

Butterwegge, Christoph (2016a): Armut in einem reichen Land. Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird, 4. Aufl. Frankfurt am Main/New York

Butterwegge, Christoph (2016b): Reichtumsförderung statt Armutsbekämpfung. Eine sozial- und steuerpolitische Halbzeitbilanz der Großen Koalition, Wiesbaden

Butterwegge, Christoph (2018a): Armut, 3. Aufl. Köln

Butterwegge, Christoph (2018b): Hartz IV und die Folgen. Auf dem Weg in eine andere Republik?, 3. Aufl. Weinheim/Basel

Cremer, Georg (2015): Die tief zerklüftete Republik, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 27.4.

Cremer, Georg (2016): Armut in Deutschland. Wer ist arm? Was läuft schief? Wie können wir handeln?, München

Fratzscher, Marcel (2016): Verteilungskampf. Warum Deutschland immer ungleicher wird, München

Grabka, Markus M./Goebel, Jan (2017): Realeinkommen sind von 1991 bis 2014 im Durchschnitt gestiegen – erste Anzeichen für wieder zunehme Einkommensungleichheit, in: DIW-Wochenbericht 4, S. 71–82

KfW-Bankengruppe (Hg.) (2016): KfW-Research. KfW-Kommunalpanel 2016, Frankfurt am Main

Pestel-Institut (2015): Kurzstudie: Modellrechnung zu den langfristigen Kosten und Einsparungen eines Neustarts des sozialen Wohnungsbaus sowie Einschätzung des aktuellen und mittelfristigen Wohnungsbedarfs, Hannover, November

Schneider, Ulrich (2015): Armut kann man nicht skandalisieren, Armut ist der Skandal! – Vom Kampf um die Deutungshoheit über den Armutsbegriff, in: ders. (Hg.), Kampf um die Armut. Von echten Nöten und neoliberalen Mythen, Frankfurt am Main, S. 12–50

Schneider, Ulrich (2017): Kein Wohlstand für alle!? – Wie sich Deutschland selber zerlegt und was wir dagegen tun können, Frankfurt am Main

Sell, Stefan (2015): Das ist keine Armut, sondern „nur“ Ungleichheit? – Plädoyer für eine „erweiterte Armutsforschung“ durch eine explizit ökonomische Kritik der Ungleichheit, in: Ulrich Schneider (Hg.), Kampf um die Armut. Von echten Nöten und neoliberalen Mythen, Frankfurt am Main, S. 84–108

Tiefensee, Anita/Grabka, Markus M. (2017): Das Erbvolumen in Deutschland dürfte um gut ein Viertel größer sein als bisher angenommen, in: DIW-Wochenbericht 27, S. 565–570

Westermeier, Christian/Grabka, Markus M. (2015): Große statistische Unsicherheit beim Anteil der Top-Vermögenden in Deutschland, in: DIW-Wochenbericht 7, S. 123–133

Dethematisierung sozialer Fragen in Ungleichheitsdebatten und demografisierten Sachzwang-Diskursen

Michael Klundt

Den Verhältnissen extremer sozialer Ungleichheit kann man sich (kritisch) stellen, sie verdrängen oder diejenigen „ganz unten“ für ihre Situation oder gar für gesellschaftliche Probleme verantwortlich machen. Besonders die letzteren Umgangsweisen mit der Armut von Kindern und ihren Familien werden im Folgenden veranschaulicht. Dabei wird zunächst gezeigt, wie sozialrassistische Ideologien produziert werden, die in Form von Stereotypen und Vorurteilen auch im Alltag präsent sein können. Danach geht es darum, wie in Debatten über Ungleichheit und vor allem in demografiebezogenen Diskursen soziale Fragen zugunsten ethnisierter und/oder biologisierter Darstellungen dethematisiert werden.

Gesellschaftliche Ungleichheiten von Menschen sind, wie Margarete Tjaden-Steinhauer und Karl Hermann Tjaden (2001) betonen, ein „Ausdruck von Ungleichverteilungen gesellschaftlicher Macht“, die – „in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft begründet –, jeweils aus unterschiedlichen Verfügungsgewalten über Menschen, Vermögen und Güter besteht“ (S. 13). Macht und Verfügungsgewalten werden wiederum

„in der Regel durch Verfügungsrechte bekräftigt, durch die gewaltvermittelte Verhältnisse gefestigt, aber auch infrage gestellt werden können. Den Kern solcher Ungleichverteilungen in den drei Dimensionen reproduktiver Praxis, in der Ökonomie, in der patriarchalen Familie und im Staat, bildet jeweils eine spezifische Verfügungsmacht, nämlich die über die Produktionsbedingungen bzw. die Nachkommen bzw. das Gebiet der jeweiligen Gesellschaft.“ (Ebd., S. 14 f.)

Laut Tjaden-Steinhauer und Tjaden sind die entsprechenden

„Inhaber von Macht […] mit Machtmitteln ausgestattet, die unterschiedlichste Gestalt haben können und grundsätzlich materieller oder ideeller Art sind. Zu den letzteren gehören beispielsweise die heute oft genannte ,Definitionsmacht‘ und insbesondere die bereits erwähnten gesellschaftlich anerkannten Gewaltrechte, darunter das Eigentum, welche faktische Gewaltausübung über Menschen, Vermögen und Güter legitimieren sollen.“ (Ebd., S. 18)

Daraus kann geschlossen werden, dass sich Ungleichheitsbetrachtung und -forschung auch daran messen lassen, ob und inwiefern Macht- und Herrschaftsinteressen berücksichtigt werden, wenn (indirekt oder direkt) von sozialer Ungleichheit die Rede ist.

Wissenschaftliche, politische und publizistische Äußerungen über soziale Ungleichheit können auch verstanden werden als Reflexion sozialer Polarisierungsprozesse mit nicht zu unterschätzender Wirkung auf politische Strukturen, Akteure und Maßnahmen. Denn auch das Reden über Arme (Kinder und Familien) macht einen Teil der gesellschaftspolitischen Polarisierungs-Problematik aus. Dies gilt vor allem dann, wenn die Betrachtung von (Kinder-)Armut durch vielfache Formen der Ignoranz sowie der Schicksalsgläubigkeit gekennzeichnet ist. Am bedenklichsten haben sich jedoch diejenigen Diskurse entwickelt, in denen Kinder und Familien für selbst schuld an ihrer Armut sowie als „asozial“ erachtet werden und statt der Bekämpfung von Armut die Bekämpfung der Armen im Vordergrund steht.

So behaupten manche Wissenschaftler und Politiker, dass Armut und Bildungsungleichheit durch das Vermehrungsverhalten armer Menschen verursacht seien. Gunnar Heinsohn (2010) meint beispielsweise, dass „Frauen der Unterschicht ihre Schwangerschaften als Kapital ansehen“ und Kinder also nur des Geldes wegen produzieren würden. Und der FDP-Politiker Daniel Bahr (2005) befindet: „In Deutschland kriegen die Falschen die Kinder. Es ist falsch, dass in diesem Land nur die sozial Schwachen die Kinder kriegen.“ Diese Aussage ist rein zahlenmäßig nicht korrekt (vgl. Statistisches Bundesamt 2013, S. 57 ff.), aber selbst wenn sie zuträfe: Wären die Kinder von „falschen“ Eltern somit „falsche“ Kinder? Und besäßen „falsche“ Kinder weniger Rechte auf Bildung oder ein gutes Leben als „richtige“ Kinder? Wäre ihr Wohl demnach zu vernachlässigen gegenüber dem Wohl „richtiger“ Kinder von „richtigen“ Eltern? Wohl kaum. Damit aber „die Richtigen“ Kinder bekommen, soll ihnen laut Thilo Sarrazin das zuteilwerden, was „den Falschen“ als böses Motiv unterstellt wird: Geld – in diesem Fall eine Geburtsprämie von über 50.000 Euro für studierte Mütter. Diese Prämie „dürfte allerdings nur selektiv eingesetzt werden, nämlich für jene Gruppen, bei denen eine höhere Fruchtbarkeit zur Verbesserung der sozioökonomischen Qualität der Geburtenstruktur besonders erwünscht ist.“ (Sarrazin 2010, S. 389 f.) Hier wird – zuungunsten der „Armen“ – mit zweierlei Maß gemessen. Diese sozialeugenischen Einstellungen stehen in fundamentalem Widerspruch zu Geist und Gehalt des Grundgesetzes – mindestens zur Unantastbarkeit der Menschenwürde (Art. 1) und zum Sozial- und Rechtstaatsgebot der Bundesrepublik Deutschland (Art. 20).

1 Soziale Ungleichheit als angebliche Naturgegebenheit und das Aufkommen eines Klassenrassismus

Bei diesen Diskursen handelt es sich um eine moderne Form des „Klassenrassismus“ (Bourdieu 2001, S. 147), dessen Ideologie in Menschen (fast) jeglicher Religion oder Hautfarbe aus der Unterschicht eine Art Unterrasse von ewigen „Niedrigleistern“ erblickt und umgekehrt beruflich erfolgreiche Menschen (fast) jeglicher Hautfarbe und Religion als eine Art Oberrasse geborener „Leistungsträger“ begreift. Dazu passt Thilo Sarrazins an Pferderassen orientiertes Menschenbild, das er bei einer Veranstaltung zur Vorstellung seines Buches „Deutschland schafft sich ab“ im sächsischen Döbeln präsentierte:

„Stellen Sie sich vor, dies sei ein Gestüt mit Lipizzanerpferden. Und irgendwie wird in jeder Generation ein belgischer Ackergaul eingekreuzt. Völlig klar, die genetisch bedingte Fähigkeit zum Laufen sinkt. Gleichzeitig steigt die genetisch bedingte Fähigkeit, einen Karren durch den Lehm zu ziehen. So ist das auch mit Menschen.“ (Zit. nach: Akyol 2012)

Auch unter Menschen gibt es in dieser Ungleichheits-Ideologie demnach von Natur aus und genetisch bedingt die Lastträger – wahrscheinlich eine Unterklasse aus einfachen Arbeiter(inne)n, Muslim(inn)en und Hartz-IV-Bezieher(inne)n – und die elegant stolzierenden, genetisch bedingten Leistungsträger und Eliteangehörigen der Oberklasse (man könnte auch sagen „Herrenmenschen“), was selbstverständlich einem demokratischen Sozial- und Rechtsstaat zutiefst widerspricht.

Sarrazin reicht es aber offenbar nicht, soziale Ungleichheit als Naturgegebenheit zu verklären, hinzu kommt noch eine Verachtung derjenigen „da unten“: „Jemanden, der nichts tut, muss ich auch nicht anerkennen. Ich muss niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert. Das gilt für 70 Prozent der türkischen und 90 Prozent der arabischen Bevölkerung in Berlin.“ (Sarrazin 2009, S. 198) Inzwischen hat Sarrazin selbst zugegeben, dass er diese Zahlen (70 Prozent und 90 Prozent) frei erfunden hat. Er nennt dies stolz „geschöpfte Zahlen“ und macht einmal mehr deutlich, auf welchem wissenschaftlichen Niveau seine Thesen basieren (vgl. Foroutan u. a. 2010, S. 5). Wirksam sind sie trotzdem: Sie erniedrigen die angesprochenen Kinder und Erwachsenen und sprechen ihnen ihre Menschwürde (Art. 1 GG) ab.

Für manche Wissenschaftler wie Heiner Rindermann, Professor für Pädagogische und Entwicklungspsychologie an der Technischen Universität Chemnitz, und den Psychologie-Professor Detlef Rost von der Marburger Universität gibt es nichts an den Aussagen Sarrazins aus „Deutschland schafft sich ab“ zu bemängeln. „Sarrazins Thesen sind, was die psychologischen Aspekte betrifft, im Großen und Ganzen mit dem Kenntnisstand der modernen psychologischen Forschung vereinbar.“ (Rindermann/Rost 2010) Das erstaunt jedoch wenig, nimmt man etwa die bisherigen Forschungsergebnisse Rindermanns über die geringere Intelligenz und Körpergröße von Menschen im Sozialismus im Vergleich zu Personen im Kapitalismus zur Kenntnis. Denn für Rindermann sind „Menschen […] in sozialistischen Ländern […] nicht nur weniger intelligent und wissen weniger, sie sind auch durch den geringen Wohlstand deutlich kleiner. […] Sozialismus führt nicht nur zu intellektueller Selbstverzwergung, sondern auch zu physischem Kleinwuchs.“ (Rindermann 2009, S. 674) Ob z. B. kubanische Kinder und Jugendliche tatsächlich grundsätzlich kleiner und dümmer als US-amerikanische Schüler/innen sind, ist doch recht fraglich. Erwartungsgemäß befinden sich auch die wissenschaftlichen Anhänger von Sarrazins Thesen auf dem intellektuellen Niveau ihres Idols (vgl. Knebel/Marquardt 2012, S. 87 ff.; Knebel 2015, S. 56 ff.).

2 Feindbild Gleichheit

In seinem Buch „Der neue Tugendterror. Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland“ (Sarrazin 2014) ist das größte Feindbild das Egalitätspostulat des Christentums, der Aufklärung und des Marxismus. Für Sarrazin ist die Forderung nach Gleichheit die Ursache praktisch aller Menschheitsverbrechen von der Guillotine bis zur Genderforschung und von der Diktatur des Proletariats bis zum progressiven Steuersystem im sozialen Rechtsstaat. „Das war der Grundimpuls bei Jean-Jacques Rousseau. Das trieb den Tugendterror der Französischen Revolution. Das war der Kern der kommunistischen Ideologie. Das treibt heute […] progressive Steuersysteme, Genderforschung und Integrationspolitik. Diese Feststellung ist ganz wertfrei gemeint.“ (Ebd., S. 218) Hier stellt sich die Frage, ob Sarrazins größte Feinde eigentlich die Aufklärung und der Kommunismus sind oder das Grundgesetz und das Bundesverfassungsgericht sowie dessen Urteil zu Hartz IV aufgrund der Verletzung von Artikel 1 und 20 Grundgesetz (zur Menschenwürde und zum Sozialstaatsgebot).

Die „Gleichheitsapostel“ fordern laut Sarrazin „mehr Steuern auf Einkommen und Vermögen, Quoten für Frauen und Migranten, mehr Rampen für die Rollstuhlfahrer, mehr inklusiven Unterricht etc.“ (Ebd., S. 241) Der Vorwurf der Homophobie diente zwar bislang regelmäßig der Diskreditierung von Muslimen, doch Sarrazin bedient sich auch der in dieser Frage vorherrschenden Ressentiments. Denn er unterstellt, dass Schwule und Lesben gemeinsam mit Kommunisten Ehe und Familie zerstören würden, wobei angeblich „die Rolle der Homosexuellen in der Politik und in den Medien mittlerweile weitaus größer ist, als es ihrem Anteil […] an der Bevölkerung entspricht“ (ebd., S. 325). Solche Behauptungen brachten in der Weimarer Republik die antisemitischen Rechten regelmäßig gegenüber Jüdinnen und Juden vor.

Den seines Erachtens gefährlichen Irrlehren der „überzeugten Kommunisten, christlichen Missionare, radikalen Umweltschützer, verbohrten Feministinnen“ (ebd., S. 188), denen zufolge die Ungleichheit zwischen Reich und Arm beseitigt oder wenigstens stark reduziert werden müsse (vgl. ebd., S. 39), stellt Sarrazin seine „Wirklichkeit“ gegenüber: „Der größte Teil des persönlichen Wohlstands entsteht durch Unterschiede beim Sparverhalten.“ (Ebd., S. 249) Somit müssten die Armen einfach etwas sparsamer sein, um zu Vermögensmillionären zu werden. Außerdem melde, wer klug sei, viele Patente an und verdiene damit eine Menge Geld, wer nicht so klug sei, bleibe eben arm. Als Beweis präsentiert Sarrazin an dieser Stelle eine Liste von Patentanmeldungen, auf der die Schweiz und Deutschland ganz vorne stehen und Griechenland sowie die Türkei ganz hinten. Sarrazins Schlussfolgerung: „Wir sehen hier extreme Ungleichheit, für die man sich nur selbst verantwortlich machen kann.“ (Ebd., S. 288) Die Armut der Dritten Welt beruhe ebenfalls nicht etwa auf Kolonialgeschichte und postkolonialer Abhängigkeit, vielmehr sei „Bevölkerungswachstum […] die eigentliche Quelle wirtschaftlicher Not“ (ebd., S. 306). Die jahrhundertelange Vorherrschaft Europas „veränderte die Welt grundlegend, und zwar zum Besseren, auch wenn die Begleiterscheinungen zumeist nicht vornehm waren“ (ebd., S. 307; vgl. dazu kritisch: Schumann 2016, S. 10 ff.).

Da es Sarrazin nicht entgangen ist, dass die größten Menschheitsverbrechen wie die Sklaverei, die Kolonialkriege und die faschistischen Verbrechen gegen die Menschheit in Konzentrations- und Vernichtungslagern mit Extremformen der Ungleichheits-Ideologie legitimiert wurden, bemüht er sich, deren Ausmaß und Bedeutung, wo es nur geht, herunterzuspielen. Dem Gleichheitsideal Jean-Jacques Rousseaus und der Französischen Revolution, seinem schlimmsten Feindbild, stellt er völlig unkritisch Idole der Amerikanischen Revolution gegenüber, deren Ungleichheits-Modelle er glorifiziert, ohne auch nur den geringsten Hinweis auf Kolonialismus, Imperialismus oder Rassensegregation und Apartheid zur Kenntnis zu nehmen (vgl. Losurdo 2011, S. 51 ff.). Mit der für ihn üblichen Faktenresistenz behauptet Sarrazin, dass Rousseaus Gleichheit fordernde Philosophie der französischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts direkt zu Terror und Unterdrückung geführt habe, während ausgerechnet die beiden britischen Philosophen John Locke und David Hume, die sich für Ungleichheit und sogar für Sklaverei eingesetzt haben, laut Sarrazin nur demokratische Folgen hervorgerufen hätten: „Rousseaus Auffassung führte in Stalins Folterkeller, jene von John Locke und David Hume zur westlichen Demokratie.“ (Sarrazin 2014, S. 292)