Maria Grzeschista

 

 

 

Dunkle Stunden

 

 

 

Twilight-Line Medien GbR

Redaktion „Dunkle Seiten“

Obertor 4

D – 98634 Wasungen

 

www.twilightline.com

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1. Auflage, Dezember 2017

ISBN 978-3-944315-51-5

 

© 2017 Twilight-Line Medien GbR

Alle Rechte vorbehalten.

 

Inhalt

 

Auf ewig vereint

Tim, der Bär

Familiensache

Bloody Mary

Von jetzt auf gleich

Manchmal

Kalte Liebe

Fleischsalat

Vogelkunde

Leichte Beute

Auf ewig vereint

 

 

Raja war ihr das Liebste. Nichts und niemand konnte einen Ersatz für diesen Hund bieten. Lisa Berber hatte den Husky zum Geburtstag geschenkt bekommen, nachdem sie ihrer Mutter damit über ein Jahr lang in den Ohren lag und eigentlich schon im Jahr davor zu Weihnachten den Welpen erwartete. Vom ersten Tag an hatten der Hund und Lisa einen guten Draht zueinander und schon bald war Lisa mindestens genauso emotional abhängig von Raja wie anders herum.

Schon immer hatte sie Tiere gemocht, doch konnte sie ihr Lieblingstier, die Katze, leider nicht als Haustier halten, da ihre Mutter panische Angst vor ihnen hatte. Keiner wusste warum, nicht einmal sie selbst. Fakt war, dass sich Lisa damit abzufinden hatte und so kam sie dazu sich einen Hund zu wünschen. Ihre Eltern gewöhnten sich an den Hund, doch hielt ihre Mutter auch nicht viel mehr von Hunden als von Katzen. Sie waren ihr gleichgültig. Ihr Vater ging manchmal mit ihr und der jungen Hündin spazieren, als diese schon einige Monate bei ihnen war. Er streichelte den Hund auch öfters und gab ihm ab und zu ein Leckerchen. Man konnte wohl sagen, dass sie ihm lieb war.

Hauptsächlich kümmerte sich Lisa um das Tier. Sie stand extra früher auf, um vor der Schule noch für eine ganze Stunde mit Raja spazieren zu gehen und sie laufen zu lassen, denn immerhin würde sie dann tagsüber allein sein, bis sie Schulschluss hatte. Sie hatte zwar im Garten Freilauf, doch das ersetzte keinen Spaziergang und Lisa wusste das nur zu gut.

Die älteren Leute im Dorf zerrissen sich das Maul über diese Verbindung und erzählten die merkwürdigsten Geschichten. Ein so großer Hund würde nicht zu einem Mädchen von 16 Jahren passen. Einige meinten, er würde zu wenig freilaufen dürfen, andere wiederum meinten, man könne diesen Hund überhaupt nicht ableinen, aus Verantwortungsgefühl. Dann gab es noch die Horrorgeschichte, der Hund sei in Wahrheit gar kein Hund, sondern ein Wolf und man würde ihn nur als Husky ausgeben, er sei gefährlich und hochgradig bissig, obwohl nie etwas vorgefallen war, was diesen Verdacht bestätigte. Das kam wohl daher, weil Raja vom Fell her tatsächlich wie ein Wolf gefärbt war, aber das war auch schon alles. Vom Wesen her war sie gutmütig, sanft und friedlich, wenn auch temperamentvoll und verspielt.

Es wohnten eben viele alte Menschen im Dorf und die Gegend war nicht gerade besonders freundlich. Hier herrschte noch viel alter Aberglaube und lächerliche Sagen machten die Runde. Dadurch, dass sie eben noch recht jung war und eben voller Energie, aufgeweckt und lebhaft, wirkte die Hündin wohl auf manche Leute beunruhigend, zumal ihre Größe und das wolfsähnliche Aussehen allein schon beeindruckten.

Lisa dachte sich, dass Leute, die dadurch beunruhigt wurden, wohl sowieso schon Vorurteile gegen Hunde haben mussten und ihr war völlig egal, was die Leute sagten oder dachten. Sie liebte den Hund abgöttisch und er liebte sie ebenso. Eine wunderbare und innige Freundschaft entstand, die leider nur von viel zu kurzer Dauer sein sollte...

 

Es war ein Freitagabend und Lisa war kurz zu einer Nachbarin hinübergegangen, um ihr von ihrer Mutter aus einen selbstgebackenen Kuchen zu bringen. Ihr Vater war bis 18 Uhr arbeiten gewesen und ihre Mutter, welche schon viel zu spät dran war, hatte sich gerade für eine Verabredung zum Abendessen mit ihm fertiggemacht und wollte nun los, weshalb auch Lisa den Kuchen brachte und nicht sie selber.

Ihre Eltern gingen öfter allein abends gemeinsam weg und für Lisa war das völlig in Ordnung, sie war alt genug und sie hatte gar keine Lust dabei zu sein, zumal sie sich denken konnte, dass Zweisamkeit für ihre Eltern nicht nur eine willkommene Abwechslung vom Alltag war, sondern darin auch das Geheimnis ihrer seit mittlerweile zwanzig Jahren gut funktionierenden Ehe lag.

Natürlich konnte ihre Mutter den Kuchen auch am nächsten Tag noch vorbeibringen, aber dann war er nicht mehr frisch, hatte sie gemeint und sie wusste, dass Clarissa Schöne, eine langjährige und gute Freundin der Familie, gern abends noch ein Stück Kuchen naschte und natürlich am liebsten, wenn dieser noch warm war. Da Clarissa auch die einzige Frau im Ort war, die zwar älter, aber dennoch kein Lästermaul war, mochte Lisa sie ebenso gern wie ihre Mutter sie mochte und so tat sie ihr den Gefallen.

Es dauerte vielleicht eine Minute, dann war sie bei Clarissas Haustür und klingelte. Sie sah, wie ihre Mutter den Garten verließ und zum Auto eilte: das Entriegeln des Wagens, das hektische Öffnen der Autotür, das hastige Einsteigen, ein Knall der Autotür, die geschlossen wurde, das Starten des Motors und schon fuhr sie davon. Lisa lächelte kopfschüttelnd. Ihre Mutter, das perfekte Chaos in Person.

Als Clarissa gerade die Tür öffnete, bog ein schwarzer Cadillac um die Ecke und raste mit viel zu hoher Geschwindigkeit über die Straße. Die Katze von Sylvia Schrauber, die genau gegenüber von Lisas Elternhaus wohnte, kam hinter einer Hecke hervor und bemerkte das Auto, starrte es ängstlich an und sträubte das Fell. Sie stand direkt auf dem Bürgersteig gegenüber des Hauses von Lisa und ihren Eltern.

Raja lag bis dahin ruhig im Garten vor dem Haus und als sie die Katze sah, stellte sie lediglich die Ohren auf. Eine herumstehende Katze, welche nicht wegrennt, löst keinerlei Jagdinstinkt in einem Hund aus, sondern schlicht und ergreifend Neugier. Raja kannte die Katze schon seit sie noch ein Welpe war und hatte sich gut an sie gewöhnt. Doch die Katze rannte diesmal los – nicht wegen dem Hund, sondern wegen dem Cadillac.

Als Raja das sah, sprang sie auf und rannte auf das Gartentor zu, welches stets geschlossen war. Immerhin galt es, den Hund vor der Umgebung zu sichern und ebenso die Umgebung vor dem Hund. Sie bellte und Lisa drehte sich um, sah den Cadillac und die davonlaufende Katze, dachte sich sofort, wieso ihr Hund Laut gab, meinte aber zu wissen, dass das Tor geschlossen war und sorgte sich daher noch nicht weiter. Doch so sehr ihre Mutter auch in Eile gewesen sein mochte, es gab keinerlei Entschuldigung für ein offen gelassenes Gartentor, wenn ein Hund in diesem Garten frei herumlief.

Alles ging blitzschnell: Raja stieß das angelehnte Gartentor mit der Schnauze auf, völlig mühelos, als sei es Routine. Mit einem Satz sprang sie über den Bordstein hinweg direkt auf die Straße. Genau in diesem Moment war der rasende Cadillac direkt vor dem Grundstück der Berbers. Die Reifen quietschten, der Hund jaulte auf. Lisa ließ den Kuchen fallen. Die Katze war spurlos verschwunden. Das Auto stand schief auf der Straße. Der junge Mann, der am Steuer saß, starrte fassungslos auf sein Lenkrad. Er hatte eine Vollbremsung gemacht, aber es war bereits zu spät gewesen. Kein Mensch hätte dem Hund ausweichen können. Er sprang direkt vor das Auto, genau vor die Motorhaube, beinahe noch in das Auto hinein.

Lisa begann zu schreien wie am Spieß und rannte dabei zu ihrer Hündin, welche auf den Rasen von Frau Schrauber geschleudert wurde. Reglos lag sie dort. Lisa kniete sich neben den Hund.

„Raja! Oh nein! Raja, mein Schatz! Ich bring dich sofort zum Arzt, keine Angst! Alles wird gut! Ich lass dich wieder gesundmachen! Raja? Reg dich doch! Oh, bitte! Raja! Mein Liebling! Raja!“

Sie weinte, ohne es zu merken. Die Tränen rannen in kleinen Bächen ihre erblassten Wangen hinab. Sie wusste, dass es zu spät für den Tierarzt war. Das hieß aber noch lange nicht, dass sie bereit dazu gewesen wäre, es einfach so hinzunehmen und es akzeptieren zu können. Mit starren Augen stierte sie auf den leblosen Körper ihres Haustiers, doch kein Atemzug war zu erkennen. Sie versuchte sich vorzustellen, was der Aufprall des Autos im Körper des Hundes ausgelöst hatte, wollte es und wollte es doch wiederum nicht wissen. Wie sich ihre Rippen verschieben, verbiegen... und sich in das Herz oder in die Lunge bohren... Das Knacken von Knochen, wenn diese brechen...

Der Mann stieg aus. „Ich konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen“, erklärte er schuldbewusst und ging auf sie zu.

„Du Idiot! Das sehe ich auch! Spinnst du eigentlich? Was fällt dir bloß ein? Wer rast bitte so durch einen kleinen Ort? Du Schwein, du mieses Schwein! Du hast mein Baby getötet! Sie ist tot!“ Sie erhob sich, schwankte und taumelte dann eilig auf ihn zu. Noch nie zuvor war ihr derart schwindlig gewesen. „Du Mörder!“ Sie schlug nach ihm, schlug verzweifelt auf ihn ein.

„Hör doch auf! Es tut mir leid! Ich wollte das doch nicht!“ Er versuchte, ihre Handgelenke festzuhalten.

Clarissa kam hinzu. „Lisa, komm her, Süße“, sagte sie beschwichtigend. Sie legte ihre Arme um die völlig hysterische, am ganzen Körper zitternde und hemmungslos weinende Blondine.

„Mein Baby“, wimmerte Lisa und brach zusammen.

„Um Himmels willen!“, rief Clarissa erschrocken aus.

„Es tut mir so leid“, beteuerte der Mann, doch Clarissa hob die Hand und sah ihn streng an.

„Bitte gehen Sie jetzt sofort, sie machen es nur noch schlimmer. Das Kind hat einen Schock und braucht Ruhe. Sie sind der Letzte, den sie sehen oder hören will, vermute ich. Ich kümmere mich schon um sie.“

Lisa kroch auf allen Vieren auf ihren toten Hund zu. „Ich kann sie hier nicht einfach so liegen lassen“, wisperte sie. „Ich muss sie beerdigen. Ich muss...“ Dann verließen ihre Kräfte sie. Es war einfach zu viel. Völlig erschöpft verlor sie ihr Bewusstsein.

 

Sie erwachte auf Clarissas Sofa. Ihr war ganz schwummrig. „Hey Kleines“, sagte Clarissa liebevoll. „Fühlst du dich besser? Du musst dich erstmal ausruhen, Schätzchen. Bleib schön liegen.“ Sie machte eine kurze Pause und überlegte, bevor sie sagte: „Es tut mir ja so leid wegen Raja.

Lisa seufzte schwer, als sie die ganze Szene noch einmal geistig vor sich sah: ihre Raja, ihre beste Freundin, ihr treuer Hund, ihr Liebstes auf Erden, springt wegen der davonlaufenden Nachbarskatze auf die Straße, direkt vor den Cadillac. Dann wird sie brutal durch die Luft geschleudert. Sie jault auf – in Jaulen, welches ihr durch Mark und Bein ging und welches sie nie mehr aus ihrem Kopf herauskriegen würde. Mehr konnte sie momentan nicht ertragen von dieser schrecklichen Erinnerung. Ihre Mundwinkel begannen zu zittern und bittere Tränen schossen in ihre blauen Augen.

„Liebes“, sagte Clarissa besorgt. „Schon gut. Ist schon gut.“ Sie nahm ihre Hand und drückte diese sanft.

„Wo ist sie?“, fragte Lisa mit schwacher Stimme.

„In der Garage. Ich habe sie dorthin gebracht, nachdem ich dich auf das Sofa verfrachtet hatte. Natürlich konnte ich sie dort auf dem Rasen nicht einfach liegen lassen und ich wusste ja, dass du das auch nicht gewollt hast. Du brauchst dir also im Moment keinen Kopf zu machen. Wir können sie später beerdigen.“

Lisa seufzte nochmals schwer und drehte sich ein wenig von Clarissa weg.

„Ich habe deine Eltern schon angerufen, sie werden gleich hier sein. Möchtest du einen Kakao?“ Keine Antwort. Clarissa beschloss, Lisa in Ruhe zu lassen. Nicht mal eine Minute später läutete es an der Haustür. Linda Berber, Lisas Mutter, und ihr Mann Daniel waren selten so blass wie an diesem Tag und selten so aufgelöst gewesen, schon gar nicht in Clarissas Gegenwart. Auch wenn Linda dem Hund nie etwas abgewinnen konnte, so wusste sie sehr genau, wie wichtig er ihrer Tochter war und wie viel ihr daran lag.

„Meine kleine Maus“, sagte sie voller Sorge und eilte zu ihrer Tochter. Diese nahm sie gar nicht richtig wahr, sondern starrte ausdruckslos ins Leere, eingekuschelt in eine Wolldecke. Tränen rannen aus ihren Augen, als ob all der Schmerz sich darin bündelte und sich einen Weg suchte, um aus ihr herauszufließen, weil sie es anders nicht aushielt. „Oh, Daniel, sie...“ Doch Linda brachte den Satz nicht zu Ende. Auch ihr kamen die Tränen. Sie schlug die Hand vor den Mund.

Lisas Vater sagte keinen Ton. Er sah seine Tochter nur ganz genau an. Mehr brauchte er nicht zu tun, um zu wissen, wie es in ihr aussah. Wortlos nahm er sie samt der Decke auf seine Arme und trug sie nach Hause. Beim Verlassen des Wohnzimmers nickte er Clarissa einmal kurz zu und senkte dann den Blick. Linda folgte ihm stumm und blickte betrübt zu Boden. Daniel brachte Lisa in ihr Zimmer, legte sie in ihr Bett und ersetzte die Wolldecke durch ihre eigene Bettdecke. Sie reagierte gar nicht auf ihn, sondern starrte nur teilnahmslos vor sich hin. Er streichelte sie eine kurze Weile über den Rücken, dann ging er mit der Decke von Clarissa nach unten zu Linda.

„Meine Güte, unsere arme Kleine“, sagte Linda und ließ sich erschöpft in einem Sessel nieder. Daniel schwieg immer noch und blickte nachdenklich den gläsernen Couchtisch an. „Was sollen wir jetzt bloß tun?“, fragte Linda leicht fordernd und sah ihren Mann forschend an.

„Also, da ich es nicht gewesen bin – wer von euch hat das Gartentor offengelassen?“ Linda wusste genauso gut wie er, dass dies keine wirklich ernst gemeinte Frage war, sondern viel mehr ein Hinweis für Linda selbst. Lisa hätte niemals etwas getan, was dem Hund zum Verhängnis hätte werden können. Da konnte sie noch so spät dran gewesen sein, noch so aufgeregt oder sonstiges. Nein, sie hätte dieses verdammte Tor genau aus diesem verdammten Grund, weswegen der Hund nun tot war, niemals im Leben offengelassen!

„Oh, Daniel... Mein Gott...“ Sie fand keine Worte.

„Ich mache dir keinen Vorwurf, Linda. Ich nicht. Doch früher oder später wird Lisa selber darauf kommen. Wie sie darauf reagiert kann ich dir beim besten Willen nicht sagen.“ Er legte die Decke zusammen und ließ sie seufzend über das Polster der Couch fallen. „Komm, lass uns jetzt zu Bett gehen“, sagte er und streckte seine Hand nach ihr aus. Linda erhob sich, ging auf ihn zu, nahm seine Hand und ging betrübt mit ihm gemeinsam nach oben.

 

Es war ein Mittwoch, irgendetwas zwischen drei und vier Uhr morgens. Raja war bereits beerdigt und doch wieder zurückgekehrt. Linda wusste weder ein, noch aus. Was war geschehen? Sie schlief nicht mehr, sie aß nicht mehr – genau wie der Hund. Der tote Hund ihrer Tochter Lisa, welcher sich im Moment im Garten befand, falls er denn dortbleiben würde. So wie er sich momentan verhielt, war sich Linda dessen nicht mehr sicher. Die Leute hatten sich immer zugetuschelt, Raja wäre ein als Hund getarnter Wolf. Jetzt glich sie wahrhaftig mehr einem Wolf als einem Haushund.

Sie hatten sie am Samstag mit einer völlig verstörten, traumatisierten und trauernden Lisa gemeinsam im Wald beerdigt; genau an dem Platz, wo sie so oft zusammen gewesen waren. Sie, Raja und ihr Vater, manchmal gemeinsam, oder eben nur Lisa und der Hund, oder ihr Vater allein mit der Hündin. Doch am Sonntagmorgen stand der Hund in ihrem Garten. Zweifellos derselbe Hund, jedoch völlig verändert. Lisa war überglücklich, riss sie sofort an sich und knuddelte sie eine halbe Ewigkeit. Sie redete auf die Hündin ein, wie froh sie war, sie wieder zu haben, faselte etwas von einem Wunder, einem Geschenk Gottes und einer zweiten Chance. Dann fragte sie ihre Mutter, ob das nicht wundervoll war. Nun, war es das? Oder war es das ganz und gar nicht? Was genau war es denn überhaupt?

Linda hatte keine Antwort darauf, aber die Frage schwirrte ihr stets im Kopf herum. Sie stand auf, ging hinunter in die Küche und kochte Kaffee. Schlaf fand sie ohnehin nicht mehr, wozu noch herumliegen und mit dem Kaffee trinken warten? Die Zeit bis Lisa aufstand kam ihr vor wie eine ganze komplette Nacht. Allerdings war sie nicht die Einzige, die keinen Schlaf fand. Auch Lisa lag wach und dachte über die Geschehnisse der letzten Tage nach.

Sie hatten Raja am Samstag begraben. Sie selbst, ihre Mutter und ihr Vater, alle gemeinsam. Lisa hatte bitterlich geweint, hatte lange gebraucht um von dort wegzukommen und war auch noch eine ganze Weile bei dem Grab geblieben, als ihre Eltern bereits nach Hause liefen. Sie hatte das Gefühl gehabt, ihren Liebling nicht allein lassen zu können. Sie einfach zurückzulassen war furchtbar für sie. Ihr Vater hatte gemeint, es wäre nicht gut, den Hund im Garten zu begraben, denn Lisa wollte eine Art Grabstein setzen und er wusste, wenn sie das jeden Tag sehen würde, dann würde es die Sache nur noch schwerer machen, für Lisa selbst und für alle Beteiligten. Also hatte er sie dazu überredet, die Stelle im Wald auszuwählen, wo sie so oft mit Raja gewesen waren.

Den restlichen Samstag verbrachte Lisa weitestgehend allein in ihrem Zimmer, ließ niemanden an sich heran und brachte keinen Bissen hinunter. Sie machte auch abends kein Auge zu. Um etwa drei Uhr nachts hielt sie es nicht mehr aus und verließ nicht nur ihr Zimmer, sondern das Haus. Sie ging ein Stück die Straße entlang. Der Ort war sehr ruhig und sie hatte keine Bedenken, dass ihr etwas zustoßen könnte. Ungefähr zehn Minuten lief sie gedankenverloren über die Landstraße, welche in die nächste Stadt, jedoch vorerst an einigen Feldern vorbei und durch einen Wald führte. Sie war gerade beim Wald angekommen, als sie eine Gestalt bemerkte. Diese befand sich still und starr neben einem der Bäume und Lisa hielt es im ersten Moment für schiere Einbildung, erklärbar durch Schlafmangel und überreizte Nerven. Doch sie sah lange und sehr genau hin. Kein Zweifel: da stand jemand und beobachtete sie!

„Hey“, sagte sie zögernd. Bereits im nächsten Augenblick fragte sie sich, wieso sie überhaupt etwas gesagt hatte. Wer sprach schon mitten in der Nacht draußen wildfremde Leute an? Aber zu ihrer Überraschung kam die Gestalt langsam etwas näher und nun erkannte sie, dass es sich um eine Frau handelte.

„Ein junges Mädchen wie du sollte nicht nachts allein draußen herumstreunen“, sagte die Frau ruhig.

„Naja“, erwiderte Lisa, „ich denke, dass ich das wohl am besten selber entscheiden muss. Außerdem befinde ich mich in einer Ausnahmesituation.“

Die Frau legte den Kopf leicht schief. „Du glaubst, dass das einen wahnsinnigen Serienmörder oder einen brutalen Vergewaltiger interessieren könnte?“, fragte sie gespielt überrascht.

„Nein, natürlich nicht“, gab Lisa zu. „Aber sich wegen diesen Schweinen verstecken zu müssen ist wirklich bescheuert, viel eher sollten die sich wegsperren lassen! Immerhin laufe ich lediglich eine Straße entlang. Diese Leute sind es doch, die eine Gefahr darstellen und nicht ich. Über sowas könnte ich mich schon wieder aufregen...“ Sie seufzte schwer.

„Wie kann ich dir helfen?“ fragte die Fremde.

Lisa stutzte. „Bitte, was?“, fragte sie irritiert.

„Gibt es nichts, was du dir wünschst? Jeder Mensch wünscht sich doch etwas. Von Zeit zu Zeit haben wir sogar sehr starke Wünsche, welche nicht nur Träumereien sind, sondern genau das, wonach wir uns am meisten sehnen.“

Lisa wusste nicht, was sie davon halten sollte. „Ich denke nicht, dass Sie mir helfen können“, meinte sie entschlossen.

„Das denkst du nur, aber lass mich dir das Gegenteil beweisen, Liebes.“ Sie trat näher an Lisa heran. Dabei blickte sie das Mädchen mit ihren grünen Augen ruhig an.

„Niemand kann mir helfen, okay?“ Es klang plötzlich völlig verzweifelt und wieder konnte Lisa nicht verhindern, dass ihr die Tränen in die Augen schossen.

„Aber, aber“, ermahnte die Fremde sie. „Wer wird denn da so pessimistisch sein, Herzblatt? Sag mir, was du willst und ich sage dir, dass du es bekommen kannst. Nur muss ein entsprechender Preis gezahlt werden. Das ist alles. Ich hoffe, dir ist klar, dass ich nicht von Geld spreche.“ Sie reichte der verzweifelten und weinenden Lisa ein Tempotaschentuch.

„Mir ist egal, was es für ein Preis ist! Ich will nur meinen Hund zurück! Meine süße Raja war mehr als nur ein Haustier für mich. Sie war meine Freundin, meine treue Begleiterin, mein Hobby...“ Sie stockte, schluckte heftig und nahm das Taschentuch an sich.

„Dein Hund ist also gestorben und du möchtest ihn zurück“, stellte die Frau fest. „Das ist völlig verständlich. So etwas ist schrecklich. Ich mag Hunde, weißt du? Ich denke, ich kann dir wirklich helfen. Allerdings, Lisa, bedenke bitte, dass das nicht einfach so geschieht und dann alles Friede, Freude, Eierkuchen sein kann! Es kann nicht mehr so sein wie früher, verstehst du? Niemals wieder! Wenn es so wäre, so müssten wir alle unsere Haustiere nicht irgendwann entbehren, sondern könnten sie zurückholen, wenn sie einmal sterben. Wenn das Tier nicht alt und krank war und nicht einfach der Zahn der Zeit genagt und schließlich den Tod verlangt hat, so kann ich sie dir wiedergeben. Jedoch musst du dir im Klaren darüber sein, dass du das wirklich willst und du allein dann für alles, was geschieht, die Verantwortung trägst!“

Lisa putzte sich die Nase und sah dann die Frau stirnrunzelnd an. „Woher kennen Sie meinen Namen und wie können Sie wissen, dass Raja noch nicht sehr alt war?“ Einige Sekunden war es ganz still, keiner sagte was. Dann heulte eine Eule im Wald auf und Lisa zuckte zusammen.

„Schon gut, sag mir einfach nur, ob ich sie zurückholen soll oder nicht“, flüsterte die Frau.

„Natürlich will ich sie wieder haben“, sagte Lisa sofort, aber es kam ihr wie ein schlechter Scherz vor.

„Gut,“ meinte die Fremde rasch. „Alles, was danach passiert, wird nicht meine Schuld sein. Nur um das mal klarzustellen, ich übernehme keinerlei Verantwortung. Ich tu lediglich, was du verlangst. Ob das jetzt nett ist oder das genaue Gegenteil davon, das vermag ich nicht zu sagen, Lisa. Entscheide du es, wenn du dich bereit dafür fühlst.“ Mit diesen Worten kreuzte sie ihre Unterarme vor der Brust, die Handflächen zeigten zu ihr, die Finger waren ausgestreckt. Sie öffnete den Mund und gab einen schrillen Laut von sich, dann verschwand sie. Einfach so, von jetzt auf gleich, vor Lisas Augen. Sie war urplötzlich weg.

Lisa stand noch für einen Moment fassungslos da, ohne sich zu regen. Dann sprintete sie, so schnell sie konnte, nach Hause. Sie fand keinen Schlaf mehr, nahm zur Beruhigung ein langes Bad und trank in den frühen Morgenstunden jede Menge Tee. Als sie und ihre Eltern dann mit dem Frühstück fertig waren, bei dem sie sonderbar schweigsam war, was ihre Eltern aber zweifellos dem Tod von Raja zuschrieben, ging ihre Mutter hinaus in den Garten, um nach der Post zu sehen. Dort stand sie dann, als wäre sie nie weg gewesen: Raja, der Husky mit dem wolfsfarbenen Fell und den polarblauen Augen.

Linda schrie sofort nach ihrer Tochter. Diese kam auch sogleich und als sie das Tier dort stehen sah, ihre Hündin, ihr geliebtes Haustier, ihre Raja, ihr ganzer Stolz, da war sie weder ruhig, noch betrübt, noch traurig, sondern einfach nur überglücklich. Zuerst war es schön für Linda, ihre Tochter wieder so fröhlich zu sehen. Jedoch blieben selbstredend die Zweifel: was war geschehen? Der Hund verhielt sich vorerst normal. Alles war wie immer und Lisa fragte sich, wer die fremde und sonderbare Frau war, die auf seltsame Weise einfach verschwand und ob dieses Wunder wirklich ihr zu verdanken war. Wenn es so sein sollte, so musste sie sich unbedingt bei ihr bedanken. Aber was hatte sie bloß gemeint, als sie sagte, es könnte nicht so sein wie früher? Es war doch alles in bester Ordnung!

Zumindest am Sonntag war es so. Lisa ging sofort über eine Stunde mit Raja spazieren, tollte mit ihr am Nachmittag im Garten herum und knuddelte sie gefühlte tausend Mal. Die Hündin wedelte freudig mit dem Schwanz, wenn Lisa sie knuddelte oder sie freundlich ansprach. Ja, am Sonntag war alles wie vorher. Doch bereits am Montag waren Veränderungen festzustellen.

 

Die weiße Katze mit den schwarzen Flecken, welche Raja veranlasst hatte auf die Straße zu springen, lag nun selbst tot im Vorgarten ihrer Besitzerin. Irgendein Raubtier hatte sie im Genick gepackt und so lange geschüttelt, bis es brach und sie sich nicht mehr rührte. Die Spuren der Reißzähne waren deutlich zu erkennen. Ihr Hals war blutverschmiert, die gelben Augen quollen über die Ränder, der Mund stand offen, die Zunge hing schlaff heraus.

Sylvia Schrauber entdeckte ihre tote Katze als Erste und schrie wie wild herum. Zuerst war sie einfach nur bestürzt über den unerwarteten Tod ihres Schätzchens, doch schon bald sah sie zu dem Haus samt Garten gegenüber. Dort lag Raja, wie die Ruhe selbst, die Ohren aufgestellt, den Blick neugierig auf das Geschehen gerichtet. Sie kam nicht zum Zaun gelaufen und bellte, sie schlich nicht am Zaun auf und ab und wedelte mit dem Schwanz so wie sonst, wenn etwas Unerwartetes geschah. Augenblicklich stand für Sylvia fest, wer ihre süße kleine Minka getötet hatte. Sie eilte voller Wut zum Gartentor, hinter dem etwa zwei Meter entfernt der Husky lag, und klingelte Sturm. Linda eilte nach wenigen Sekunden hinaus. „Was ist denn los?“, fragte sie verwirrt.

„Was los ist?! Ihre Bestie von Wolf hat meine Katze umgebracht!“ Sylvia schrie ihr die Worte ins Gesicht.

„Hey, ganz langsam und vorsichtig, ja? Das ist ein Hund und kein Wolf und außerdem war sie hier im Garten, wie soll sie hinauskönnen?“

Sylvia hob beide Hände in die Höhe. „Woher zum Henker soll ich das bitte wissen, es ist euer Vieh! Es stellt eine allgemeine Gefahr dar, für all die Haustiere auf dieser Straße und in der näheren Umgebung! Ich bin mir sicher, dass es auch für die Menschen hier gefährlich ist! Es muss weg!“

Von all dem Geschrei angelockt kamen auch Daniel und Lisa nach draußen. Lisa ging sofort zu Raja und streichelte ihr wolfsgraues Fell. „Was ist denn los?“, fragte sie dann und sah ihre Mutter an. Bevor Linda Sylvia sagen konnte, was sie davon hielt - nämlich gar nichts – oder ihrer Tochter eine Erklärung liefern konnte, drehte Sylvia sich wütend um und stapfte davon. Sie nahm ihre tote Katze und brachte sie ins Haus.

„Was ist denn mit Minka los?“, fragte Lisa bestürzt. Sie hatte die Katze gemocht und hatte sie stets bei jeder Gelegenheit gestreichelt. Ihr war klar, dass dieses Tier zwar den Unfall zweifellos verursacht hatte, aber es nicht die Schuld der Katze, sondern die des Autofahrers war.

„Komm mit ins Haus, Schatz, ich erzähl dir alles drinnen“, sagte ihre Mutter und ging hinein. Als sie dabei dicht an Raja vorbeilief, knurrte diese unbehaglich und legte die Ohren an. Linda wich erschrocken zurück und sah das Tier verdutzt an.

„Pfui, Raja!“, schimpfte Lisa sofort streng. Da nahm die Hündin eine unterwürfige Position ein und winselte. „So ist es fein,“ lobte Lisa den Hund und strich über das glänzende Fell.

„Was ist denn das gewesen?“, fragte Daniel.

„Keine Ahnung“, entgegnete Lisa und zuckte die Achseln.

„Das hat sie vorher noch nie getan“, meinte Linda in einem anklagenden Tonfall.

„Ja, ich weiß, Mama. Mir ist auch schleierhaft, wieso sie dich anknurrt. Sie kennt dich doch und sie weiß, dass du zur Familie gehörst. Ich weiß wirklich nicht, was in sie gefahren ist. Entschuldige.“ Auf dem Weg ins Haus berichtete Linda ihrer Tochter von dem, was Sylvia Schrauber gesagt hatte.

„So etwas Lächerliches,“ meinte Lisa, als ihre Mutter geendigt hatte. „Raja ist ein Hund und kein Wolf und sie ist niemals allein außerhalb des Gartens gewesen, außer ...“ Sie verstummte, als sie an den Unfall zurückdachte.

„Ja, ich habe ihr auch gesagt, dass das kein Wolf ist und ich achte seither immer sorgfältig auf das Gartentor, Süße, das kannst du mir glauben“, meinte Linda nach einer kurzen Weile des Schweigens.

„Ja, das weiß ich“, sagte Lisa rasch. „Es war ja auch ein Versehen, du würdest Raja nie absichtlich schaden. Außerdem ist jetzt sowieso wieder alles gut.“

Daniel räusperte sich. „Alles gut nennst du das? Nun, deine Hündin war tot, wir haben sie beerdigt und jetzt ist sie einfach wieder da. Ich kann nicht mit Gewissheit sagen, dass das gut ist, Lisa. Sie hat deine Mutter gerade angeknurrt und wenn ihr mich fragt, wirkt sie generell verändert. Sie ist nicht mehr dieselbe.“

Lisas Gesicht nahm einen trotzigen Ausdruck an. „Sie wurde überfahren, Dad! Kein Wunder, dass sie anders ist! Das wird schon wieder, gib ihr etwas Zeit, okay? Sie wird wieder wie früher, bestimmt.“

Ihr Vater beließ es vorerst dabei.

„Wenn Raja beißt, muss sie weg“, sagte Linda bestimmt.

Tief in ihrem Inneren wusste Lisa schon zu diesem Zeitpunkt, dass Raja sich nicht bessern würde. Ihr war klar, es würde nicht besser, sondern schlimmer mit ihr werden. Aber das konnte sie unmöglich zugeben – weder vor ihren Eltern, noch vor sich selber. Nein, sie konnte nicht anders als sich an diese Hoffnung zu klammern, dass über die Sache Gras wachsen würde und sich alles von selbst regelte. Schon um die Mittagszeit bestätigte sich allerdings, dass der Hund besser tot und begraben geblieben wäre.

 

Es war ein Wolf, eine reißende Bestie voller Blutgier, an der sie zerrte, und kein liebenswerter Hund mehr. Verzweifelt versuchte Lisa die knurrende und ihre spitzen Eckzähne in den Arm von Clarissa schlagende Raja unter Kontrolle zu bringen. Sie wollte lediglich mit ihr einen Spaziergang unternehmen und dabei traf sie die vertraute Nachbarin, welche lächelnd auf Lisa zuging.

Sie wusste als einzige Person aus der Nachbarschaft, dass Raja ganz sicher tot gewesen ist. Immerhin hatte sie selbst das frisch verstorbene Tier in ihre Garage getragen und da hatte die Hündin ganz sicher nicht mehr geatmet. Linda und Clarissa hatten sich lange darüber unterhalten und Clarissa hatte gemeint, dass es sich möglicherweise um einen Scheintod gehandelt hatte, auch wenn sie nicht mal selbst daran glauben konnte.

Alle waren froh, dass es Lisa durch die wundersame Auferstehung des Hundes wieder gut ging und auch Clarissa hatte die Hündin gerngehabt. Sie freute sich also, die gute Raja wohlauf wiederzusehen und beabsichtigte sie zu streicheln, während sie kurz mit Lisa einige Worte wechseln wollte. Kaum war sie in erreichbarer Nähe für die Hündin, schlug diese ohne Vorwarnung zu und stürzte sich auf die Frau, welche ihr eigentlich gut bekannt war. Clarissa schrie wie am Spieß, als sie die Zähne des Raubtiers zu spüren bekam.

Lisa sah zuerst geschockt auf ihren Husky, welcher sich verhielt, als wäre die gut bekannte Nachbarin irgendein Beutetier. Dann zerrte sie zuerst an der Leine, aber es war vergeblich. Schließlich umklammerte sie die Brust des Hundes und versuchte, ihn wegzuziehen, doch Raja hatte Kraft. Sie hatte diese zwar früher nie gegen Menschen eingesetzt, doch jetzt, wo sie es tat, bemerkte Lisa, wie machtlos sie gegen Raja war, wenn diese es darauf anlegte und sie war sich sicher, dass auch der Husky das inzwischen ganz genau wusste und ausnutzte, wann immer sich die Gelegenheit bot. „Nein, Raja!“, schrie sie den Hund an, so laut sie nur konnte.

Raja dachte gar nicht daran, aufzuhören. Irgendwann schaffte Clarissa es, ihren zerbissenen Arm für einen kurzen Moment zu lösen. Raja wollte sofort wieder zuschnappen, doch Lisa nutzte die Chance und zerrte sie mit aller Kraft ruckartig von Clarissa weg. „Hör auf, lass das! Böser Hund!“ Sie drückte den Hund zu Boden, weil sie sich nicht anders zu helfen wusste. Wie hätte sie das Kraftpaket anders zurückhalten können?

Clarissa nutzte die Zeit und eilte in ihr Haus, um sich in Sicherheit zu bringen und ihren Arm zu verarzten.

„Raja, verdammt!“, schrie Lisa ihren Hund verzweifelt an. Dieser knurrte zwar, verletzte sie jedoch nicht. Nein, Lisa wurde nicht gebissen. Aber wie lange noch? „Der Spaziergang ist vorbei“, sagte sie hart und richtete sich auf. „Du kannst von Glück sagen, wenn du nicht eingeschläfert wirst!“ Sie zerrte den Hund an der Leine hinter sich her. Raja wollte noch nicht nach Hause zurück und sträubte sich. „Komm schon, sei nicht so ein Miststück!“, fauchte Lisa. Doch die Huskydame dachte gar nicht daran, nun schon wieder heimzukehren. Sie wollte viel lieber hinaus in den Wald! Also riss sie sich mit einem entschiedenen Ruck los und rannte davon. Dies kam so unvermittelt und plötzlich, dass Lisa noch mit dem Überraschungseffekt kämpfte, als Raja bereits außer Sichtweite war.

Sylvia stand an ihrem Gartenzaun und gaffte auf die Straße. „Ich habe ja gleich gesagt, dass dieses Tier gefährlich ist“, keifte sie und ging dann in ihr Haus zurück. Angelockt von dem Geschrei kamen auch andere Nachbarn aus ihren Häusern und wollten sehen, was los war.

Lisa ging zurück ins Haus. „So etwas hat sie vorher noch nie getan“, beklagte sie sich bei ihrer Mutter. „Weder hat sie Leute angefallen, noch hat sie sich losgerissen und ist davongelaufen. Mama, ich will sie nicht verlieren! Ich würde es einfach nicht ertragen! Das wird bestimmt wieder, sie kommt wieder in ihre alte Rolle zurück. Man muss ihr nur Zeit geben. Dann ist wieder alles normal. Man darf sie nicht einschläfern lassen oder mir wegnehmen!“ Wieder konnte sie die Tränen nicht zurückhalten. Sie weinte viel in letzter Zeit.

„Lisa, Liebes“, begann Linda und legte einen Arm um ihre Tochter. „Sie hat Clarissa schwer verletzt und mich bereits angeknurrt. Wer weiß, was als nächstes passieren wird. Wer weiß, was sie jetzt im Moment tut. Möglicherweise hat sie die Katze von Sylvia tatsächlich...“ Aber sie brach den Satz so schnell wieder ab, wie er ihr herausrutschen wollte.

„Das kannst du nicht ernst meinen“, empörte sich Lisa.

„Ich bitte dich“, gab ihre Mutter zurück. „Mich anknurren, nennst du das vielleicht typisch für Raja? Eine Frau anfallen, die sie gut kennt – ist das die Norm, von der du sprichst? Was, wenn sie sogar dir am Ende etwas antun wird? Ich weiß, wie viel sie dir bedeutet, aber bitte, wach auf und zwar jetzt!“

Sekundenlang starrte sie ihre Mutter reglos an. Sie merkte, dass es ihr ernst war. Ohne ein weiteres Wort verließ sie die Küche, eilte in ihr Zimmer und blieb die nächsten Stunden dort, bis Raja wieder auftauchte. Linda besuchte inzwischen Clarissa.

 

Raja saß vor dem Gartentor. Keiner hatte gesehen, wie sie angelaufen kam. Auf einmal war sie wieder da, die Schnauze blutverschmiert, der Blick ungewöhnlich leer. Das Fell wirkte zerzaust und deutlich dunkler als vorher, auch hatte es an Glanz verloren, genau wie die Augen. Sie knurrte leise vor sich hin. Lisa wusste, dass sie da war. Sie spürte es irgendwie, ging zum Fenster, um sich davon zu überzeugen, sah einige Sekunden fassungslos auf ihren einstig harmlosen Liebling und eilte dann nach draußen.

„Raja“, sagte sie streng und lief entschlossen auf den Husky zu. Da der Hund ihr bisher nie etwas getan hatte, auch nicht in dem neuen Zustand, in dem er sich befand, erwartete Lisa keine Aggression, doch diese war da und zwar sehr deutlich. Raja sprang aus der sitzenden Position auf, duckte sich, legte die Ohren an, sträubte das Fell und fletschte die Zähne. Lisa blieb stehen und merkte, wie bitter es sie verletzte. Es stach in ihrem Herzen, weil sie diese Hündin einmal sehr geliebt hatte und die Zeit mit ihr so wundervoll war, aber nun ging sie beinahe auf sie los. Sie wusste, würde sie noch näher herangehen, würde Raja zubeißen. Gestern um diese Uhrzeit hätte sie das nie im Leben geglaubt und hätte ihr jemand genau jene Situation prophezeit, sie hätte ihn für verrückt erklärt. Plötzlich wusste sie, dass es zu spät war. Es war zu spät für Raja. Sie war gestorben und so hätte es bleiben sollen. Doch Lisa konnte das einfach nicht einsehen, nicht hinnehmen. Daher war sie jetzt wieder da, zurückgekehrt und auferstanden von den Toten.

Aber diese Frau, ja, natürlich! Jene Frau, welche Lisas Meinung nach dafür verantwortlich war, dass die Hündin überhaupt zurück war, hatte von einem Preis gesprochen, der zu zahlen sei. Ein Preis, der nicht mit Geld zu tilgen war. Es kann nicht mehr so sein wie vorher, nie mehr so sein wie früher. Das waren ihre Worte und dennoch gab sie ihr den Hund zurück, den sie so gernhatte. Sie hatte auch davon gesprochen, dass Lisa selbst entscheiden sollte, ob das nett oder eben gerade nicht nett von ihr war. Bis vor wenigen Stunden war sie fest davon überzeugt gewesen, es sei das netteste Geschenk der Welt gewesen. Nun verstand sie endlich.

Raja, Huskydame mit polarblauen Augen, einst verschmust, verspielt und sanftmütig, war jetzt eher Wolf als Hund und völlig verhaltensgestört. Nicht, dass Wölfe an sich gefährlich waren. Lisa sie mochte sie. Aber es waren eben wilde Tiere mit Jagdinstinkten, welche nicht so einfach zu zähmen waren und Raja war nicht mehr von ihnen zu unterscheiden. Die Tatsache, das Wölfe nicht für Menschen gefährlich waren, war vor allem damit zu begründen, dass diese wie die meisten Wildtiere Angst vor Menschen hatten und sich diesen nicht näherten. Aber Raja jedenfalls hatte keine Angst vor Menschen.

„Raja“, stieß Lisa flehend hervor. Aber es war zwecklos, dieser Hund war eine unerbittliche Bestie geworden. Unberechenbar, unzähmbar und hochgradig bissig. „Bitte, komm her“, sagte sie und öffnete das Gartentor. Das erwies sich als fataler Fehler. Es war eine völlig alltägliche Geste, für Raja war das nichts Neues – eigentlich. Doch der Hund tat diesmal so, als sei es eine Drohung gewesen und als könnte Lisa damit einen Angriff andeuten - als hätte Lisa je ihrem eigenen Hund etwas angetan... Das Tier fletschte die Zähne, setzte zum Sprung an und fiel sie dann an, als sei sie eine ernste Gefahr wie etwa eine Konkurrenz, die es zu beseitigen galt.

Lisa schrie auf. Zuerst schrie sie einfach nur wie am Spieß, dann brüllte sie wütend und angsterfüllt zugleich den Hund an. Sie verlangte unzählige Male, dass die Hündin sie losließ, doch es nützte nichts. Raja knurrte, verbiss sich wie besessen in den Arm ihrer Herrin und dachte nicht im Geringsten daran, loszulassen.

Linda und Daniel bekamen schnell mit, was los war und eilten ihrer Tochter zu Hilfe. Linda kam aus Clarissas Haus mit selbiger im Schlepptau gerannt, schrie wie von Sinnen den Hund an und zerrte an ihm, Daniel schlug ihr mit der Faust so fest er nur konnte auf die Schnauze – einmal, zweimal, dreimal. Erst beim vierten Mal ließ Raja von Lisa ab und trollte sich davon. Sie blieb etwa zwanzig Meter entfernt noch einmal auf der Straße stehen und spähte zu ihrer einstigen Familie hinüber. Die Augen funkelten im Dunkel der Abenddämmerung unheimlich und sie sah seltsam ruhig aus, kein bisschen aufgeregt. Der Blick wirkte, als wolle sie damit ausdrücken: ihr könnt mir gar nichts und ich kriege euch schon noch! Nur wieso sollte sie das wollen?

Lisa schluchzte heftig, Linda hielt sie fest in den Armen. Clarissa redete davon, dass das nicht mehr Raja sein konnte und eine Verwechslung vorliegen musste. Auch meinte sie, dass es vielleicht die Tollwut sein könnte, aber Raja war natürlich geimpft. Daniel sah nachdenklich die Hündin an. „Was hat sie bloß“, murmelte er leise. Langsam wandte sie sich ab und ging gemächlichen Schrittes davon. Eine Katze huschte nur wenige Sekunden später vor ihr über die Straße. Sie hatte keine Chance. Gerade war der Hund noch völlig ruhig gewesen, lief langsam in Richtung Wald. Kaum war die Katze auszumachen war alles vorbei. Raja machte zwei Sätze, dann war sie bei ihr. Ihre scharfen Zähne bohrten sich in ihren schlanken Hals, bevor sie fliehen konnte. Die Katze jaulte grauenvoll, aber nur kurz. Dann war es schon vorbei.

„Oh nein“, jammerte Lisa.

„Sieh nicht hin“, verlangte ihre Mutter und hielt ihr eine Hand über die verweinten Augen. Der Hund wandte sich mit der toten Katze im Maul noch einmal zu Clarissa, Lisa und ihren Eltern um und sah sie an. Dann trottete er in aller Ruhe davon.

 

„Wir lassen sie umgehend einschläfern“, verlangte Linda erbost, als sie ihrer Tochter den Arm verband.

Clarissa hatte bleiben wollen, aber Linda meinte, es wäre eine Familienangelegenheit und sie sollte es ihr nicht übelnehmen, aber sie wollten nun allein sein und sich beraten. Natürlich hatte sie Verständnis gehabt und war nach Hause gegangen. „Ich rufe morgen an“, hatte sie zum Abschied gesagt und Linda hatte zustimmend genickt.

Daniel lachte auf. Linda warf ihm umgehend einen verständnislosen und wütenden Blick zu. „Es gibt bezüglich dieser Sache nichts zu lachen“, fauchte sie gereizt.

„Liebes, der Hund ist weg, hast du das irgendwie nicht ganz mitbekommen? Sie lief davon und keiner weiß, wo sie jetzt steckt und was sie alles anstellt. Wir können von Glück sagen, wenn niemand verletzt wird und wir keine Anzeige bekommen. Man wird uns nachweisen können, dass das unser Hund ist und wenn sie nun ein Kind tot beißt...“ Gedankenverloren sah er zum Fenster hinaus, ohne den Satz zu beenden. Dann atmete er scharf ein und sah seine Frau an. „Was ich damit sagen will, ist: solange der Hund weg ist können wir sie nicht einschläfern lassen und selbst wenn sie hier ist - du hast es doch eben miterlebt! Wir haben sie nicht mehr unter Kontrolle, sie fällt uns an! Niemand hat noch einen vertrauten Umgang mit ihr, nicht mal Lisa. Wie sollen wir sie da zum Tierarzt bringen und nach einer Spritze verlangen? Nein, wir müssen uns etwas anderes einfallen lassen!“

Lisa seufzte schwer. „Schatz, wie fühlst du dich?“, fragte ihre Mutter besorgt und strich ihr zärtlich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

„Mehr als mies“, gab sie ehrlich zu. Dann presste sie die Lippen aufeinander und verkniff sich mühsam erneute Tränen.

„Ich werde gehen“, sagte Daniel entschlossen.

Seine Frau und seine Tochter sahen ihn überrascht an. „Aber wohin denn?“, wollte Linda wissen.

„Ich habe noch das Gewehr meines Vaters. Es ist in der Garage. Ich muss sie aufhalten, wir können nicht hier herumsitzen und nichts tun. Ihr wisst genauso gut wie ich, dass es jemand tun muss und sein wir doch mal ehrlich: Lisa wird es nicht übers. Herz bringen. Ich kenne sie, du kennst sie und sie kennt sich selbst auch. Der Hund war uns immer lieb und teuer, doch sie ist nicht mehr die gute alte Raja, die wir früher hatten! Wer weiß, was oder wen sie als nächstes angreift und vielleicht hat derjenige nicht so viel Glück. Ich würde es mir nicht verzeihen, nichts getan zu haben, wenn durch sie noch ein Mensch verletzt wird oder sogar sterben sollte. Du bleibst hier bei unserer Tochter, Linda. Ich bin zurück, sobald ich die Sache erledigt weiß.“

Lisa stand auf, das Gesicht wirkte viel zu blass und ein gewisser Schreck lag in seinem Ausdruck. Sie schwankte ein wenig.

„Ist dir schwindlig?“, fragte Linda und stand ebenfalls auf, ihre Hände griffen fast automatisch nach ihrem einzigen Kind, um es zu stützen.

„Vater“, sagte sie, doch brachte es nicht fertig, weiterzureden.

„Bitte, Lisa!“, sagte er streng. „Es ist nicht mehr unsere Raja, sieh das doch endlich ein! Wir müssen sie aus dem Verkehr ziehen, bevor es Verletzte oder sogar Tote geben wird. Ich weiß, dir fällt es nicht leicht und ich verstehe das ja sogar, aber es nützt nichts.“

Lisa schüttelte entschieden den Kopf. „Nein, das ist es doch gar nicht, Vater! Ich muss dir noch etwas anderes sagen. Es ist wichtig, denke ich. Ihr kennt die ganze Wahrheit noch nicht.“

Ihre Eltern sahen einander fragend an und als sie bemerkten, dass der eine genauso wenig wusste wie der andere, galt der fragende Blick schließlich ihrer gemeinsamen Tochter, welche sichtlich mit sich kämpfte.

„Samstagnacht, nach Rajas Beerdigung,“ begann sie schließlich, „bin ich gegen drei Uhr nachts ein wenig nach draußen gegangen. Ich habe es hier drin einfach nicht mehr ausgehalten, musste irgendetwas tun, den Kopf frei kriegen. Die frische Luft sollte mir dabei helfen. Ich ging bis zum Wald und dort stand plötzlich eine Frau. Sie stand einfach nur so da. Mir kam es zwar seltsam vor, aber sie machte mir keine Angst. Sie hat mit mir geredet, zuerst nur darüber, wieso ich nachts allein draußen herumlief und dass das gefährlich sei. Irgendwann fragte sie mich, was ich mir am meisten wünschen würde.“

Sie verstummte betroffen, fühlte sich seltsam schuldig an der ganzen Sache. Immerhin war sie ja irgendwie in dieser Angelegenheit sehr gierig gewesen. Sie hatte ihren Hund zurückgewollt, wohl wissend, dass das normalerweise nicht möglich war. Dennoch wollte sie es unbedingt, wollte es nur für sich selbst. Sicher war das irgendwo verständlich, aber hätte sie sich nicht dagegen entscheiden können? Dann wäre nun keine unberechenbare Raja da draußen allein unterwegs. Sie hatte zu viel gewollt und alles nur noch schlimmer gemacht. Lisa war zu versessen darauf gewesen, ihre Hündin zurückzubekommen.

„Moment mal, was für eine Frau denn bitte?“, fragte Linda mit gerunzelter Stirn.

„Ich habe keine Ahnung, wer sie war. An dem Tag habe ich sie zum ersten und letzten Mal gesehen. Falls ihr sie finden wollt wüsste ich ehrlich nicht, wo wir mit der Suche anfangen sollten. Sicher ist sie die einzige Person auf der Welt, die uns mehr dazu sagen könnte. Außerdem meinte sie auch mehrfach, dass ein Preis zu zahlen sei für den erfüllten Wunsch und sie sprach nicht von Geld. Sie hat mich gewarnt, dass alle Konsequenzen, die daraus folgten, meine Angelegenheit allein wären und sie keinerlei Verantwortung übernimmt. Ich sagte ihr, ich will Raja zurückhaben und am nächsten Morgen war sie wieder da. Natürlich kam mir das mehr als seltsam vor, aber ich war so froh, so sagenhaft glücklich und so erleichtert, sie wiederzuhaben, dass ich euch nichts davon erzählt habe. Wozu auch? Ich dachte, damit hat sich die Sache und es wird alles wieder gut, aber so ist es nicht. Es tut mir so leid, Mama. Ich wollte euch weder anlügen, noch etwas verschweigen. Ich habe die Sache einfach völlig unterschätzt. Ihre warnenden Worte hatte ich zwar gehört, doch mich geweigert, sie zu registrieren, denn die Aussicht, meinen geliebten Husky wieder zu haben, war mir einfach wichtiger. Als der Hund dann zurück war habe ich zwar mehrfach darüber nachgedacht, was sie gemeint haben könnte, aber ich dachte mir, dass wir möglicherweise doch von irgendwelchen ernsten Konsequenzen verschont bleiben würden und nun fragt mich bitte nicht, wieso.“ Lisa begann bitterlich zu weinen.

„Oh mein Gott“, flüsterte Linda und schlug die Hände vor den Mund. Dann sah sie ihren Mann fragend an, als würde sie wissen wollen, ob es bei seinem Plan blieb.

„Das ist nicht mehr Raja“, sagte Daniel nur und verließ dann das Haus. Er würde den Hund zur Strecke bringen, der eigentlich ohnehin schon längst tot war.

 

Linda hatte vor einer halben Stunde den Fernseher angeschaltet, aber niemand sah hin. Sie selbst saß am Fenster und starrte nachdenklich hinaus, nervös an den Fingernägeln kauend.

„Mama, lass das sein“, sagte Lisa bittend. Sie hasste das. Ihre Mutter tat ihr den Gefallen. Lisa lief unruhig hin und her.

„Bitte setz dich hin“, verlangte ihre Mutter seufzend. „Du machst mich damit ganz nervös!“

„Ich kann nicht, Mutter. Ich finde, wir sollten Papa dort draußen nicht allein lassen!“ Sie fühlte, wie ihre Augen wieder nass wurden. Langsam, aber sicher, konnte sie das Gefühl nicht mehr ausstehen.

„Schatz, wir sollen hier warten“, entgegnete ihre Mutter.

„Ach ja? Tust du denn alles, was man dir sagt, ohne selber darüber nachzudenken, ob das überhaupt richtig ist? Ich sage, wir gehen und zwar jetzt! Wir können ihn doch unterstützen, wieso soll er das Problem alleine lösen? Es war sowieso meine Schuld. Ich habe den Hund gewollt, mehr als alles andere auf der Welt und als er starb, ließ ich ihn zurückholen – mit ungeahnten Konsequenzen! Nun soll mein Vater die Sache regeln und ich sitze mit dir hier herum und warte? Mama, bitte!“

Linda stand auf. „Also schön! Du willst gehen? Dann gehen wir eben! Mir hat das von Anfang an nicht gefallen, dass einer allein geht. Nimm dir bitte jetzt ein Messer aus der Küche.“

Sie sah ihre Mutter verblüfft an. „Was?“, fragte sie ungläubig. Sie war allein davon überrascht, dass ihre Mutter einmal auf sie hörte. Aber nie im Leben hätte sie gedacht, so einen Satz auch nur ein einziges Mal aus ihrem Mund zu hören.

„Was fragst du da noch, hol dir ein Messer! Aber ein größeres, bitte. Kein Buttermesser! Denkst du denn, ich lasse dich unbewaffnet da hinausgehen? Ich habe gesehen, wozu Raja inzwischen imstande ist.“ Sie selbst ging in die Küche und öffnete eine der Schubladen. Nach einem kurzen suchenden Blick griff sie entschieden mit beiden Händen hinein, nahm zwei der größten Messer heraus und schloss die Schublade wieder. „Hier, nimm schon“, sagte sie und kam auf sie zu, wobei sie ihr eines der Messer hinhielt.

Zögernd griff Lisa danach.

„Hey, nicht so unentschlossen“, ermahnte ihre Mutter sie. „Wenn es darauf ankommt, musst du es sehr entschieden einsetzen, klar? Ein falsches Zögern kann tödlich sein und zwar für dich!“ Der eindringliche Blick, den Linda jetzt aufgesetzt hatte, ließ Lisa merken, wie enorm ernst die Sache war.

„Okay“, sagte sie, schon etwas bestimmter und fasste das Messer richtig fest. „Ich werde Raja im Notfall beseitigen, Mama. Glaub mir.“