Details

Nur Fantasie reicht niemals aus - Band 3


Nur Fantasie reicht niemals aus - Band 3

Kreativ Schreiben in 21 Lektionen für alle Genres und Textarten
1. Auflage

von: Mara Laue

8,99 €

Verlag: Autoren.tips
Format: EPUB, PDF
Veröffentl.: 07.09.2024
ISBN/EAN: 9783961274055
Sprache: deutsch
Anzahl Seiten: 510

Dieses eBook erhalten Sie ohne Kopierschutz.

Beschreibungen

„Nur Fantasie reicht niemals aus!“ – Diese Erkenntnis steht am Beginn des Lernprozesses, mit dem Schreibbegeisterte sich auf den Weg machen, das Handwerk des kreativen Schreibens zu erlernen, um erfolgreiche Romane oder Kurzgeschichten zu schreiben. Mara Laue, selbst erfolgreiche Autorin und Schreibcoach, hat in diesem 3-bändigen Ratgeber die 21 Lektionen aus ihren Schreibkursen zusammengefasst, die alle Bereiche und Genres der Literatur abdecken, und ein komplettes Lehrwerk zum Selbststudium geschaffen, zugeschnitten auf den deutschen Buchmarkt.

In diesem Band:
Erotik schreiben, Recherche, Überarbeitung, Exposés und Klappentexte schreiben, Manuskriptformalitäten, Genrebesonderheiten, Schreiben von Sachbüchern, Biografien und Lyrik, Verlagskontakte und Veröffentlichung, Schreiben als Beruf, Polizeiarbeit in der Realität und nützliche Tipps
14. Erotik (be)schreiben:
ein Kapitel für sich


HINWEIS:
Falls Sie nicht planen, jemals einen erotischen Text zu schreiben, lesen Sie diese Lektion bitte trotzdem durch. Sie enthält zusätzliche Tipps für Dialoge (Lektion 9) und ergänzt Lektion4 (Zeigen, nicht erzählen).

***

Die beiden wichtigsten Dinge für das Schreiben von erotischen Texten vorweg:
1. Sie dürfen in Ihren Texten, wo es passt, ruhig zur Sache kommen und sexuelle Handlungen beim Namen nennen.
2. Verwechseln Sie Erotik bitte nicht mit der ausschließlichen detaillierten Schilderung von Sexszenen. Je nach der Situation in Ihrem Text oder dem Genre, zu dem er gehört, können diese dazu passen und vielleicht sogar erforderlich sein, aber sie sind nicht zwingend notwendig, um eine erotische Stimmung oder Handlung zu beschreiben.

Erotik wird definiert als „im weitesten Sinn alle Erscheinungsformen der Liebe, wie sie im zwischenmenschlichen Bereich zum Ausdruck kommen; in einem Sinn meist die geistig-seelische Entfaltung der Geschlechtlichkeit und das Spiel mit deren Reizen, ebenso die Auswirkung in Geselligkeit, Mode, Kunst, Werbung und Publizistik. Die Erotik als elementare Ausdrucksform der menschlichen Kommunikation überschreitet damit die Grenzen der Sexualität. (...)“ (Meyers großes Taschenlexikon in 26 Bänden, Band 6, Seite 1865; Mannheim 2003)
Sie sehen, dass nach dieser Definition die Sexualität zwar ein Teil der Erotik ist, sie aber nicht ausschließlich aus Sex besteht. Dagegen wird erotische Literatur wie folgt definiert: „Sammelbezeichnung für literarische Werke aller Gattungen, in denen die sexuelle Komponente von Geschlechtsbeziehungen jeder Art besonders betont wird. Die Abgrenzung einerseits zur Liebesdichtung mit der stärkeren Betonung der geistig-seelischen Gefühlswelt und andererseits zur pornografischen Literatur, der zur körperlichen Erregung der Leser verfassten Literatur, ist nicht immer eindeutig möglich.“ (Schülerduden Literatur, Seite 110, Mannheim 2005)
Dennoch gibt es drei gravierende Unterschiede zwischen erotischer und pornografischer Literatur. In der erotischen Literatur ergibt sich die erotische und sexuelle Handlung zwingend aus der vorangehenden Situation, und zwar ganz gleich, ob es sich „nur“ um einen Kuss oder die Schilderung einer Sexorgie mit mehreren Beteiligten handelt. Sie darf sich niemals zusammenhanglos aus heiterem Himmel ereignen.
Das gehört in die pornografische Literatur, der es nur darauf ankommt, die Lesenden in Erregung zu versetzen. Deshalb bestehen die meisten pornografischen Romane aus aneinandergereihten Sexszenen, bei denen die oftmals dürftige Rahmenhandlung nur dazu dient, halbwegs (aber nicht immer) logisch nachvollziehbar zur nächsten Sexszene überzuleiten.
Wenn zwei Liebende im Mondlicht spazieren gehen, sich dabei körperlich näherkommen, einander in die Arme nehmen und so weiter, ist ein sich aus dieser Situation ergebender Kuss folgerichtig und passt zum Geschehen. Wenn sie durch diesen Kuss und weitere Küsse so sehr erregt werden, dass sie miteinander schlafen wollen und das auch tun, ist auch das eine sich aus der Situation ergebende stimmige Handlung.
Sitzen ein Kollege und eine Kollegin bei einer Dienstbesprechung zu zweit zusammen und fallen sie plötzlich übereinander her, ohne dass dafür durch die vorangegangene Handlung (zum Beispiel das Gespräch, das sie führen) ein erkennbarer oder sogar schon „zwingender“ Grund genannt wird, passt die Handlung nicht zur Situation. Was für pornografische Literatur aber meistens unerheblich ist und, wenn überhaupt, mit „plötzlich aufwallender Lust“ erklärt wird, die sich nicht mehr beherrschen ließ. Aber auch plötzlich aufwallende Lust braucht in der Regel einen Auslöser. Fehlt dieser, macht das die Handlung unglaubwürdig.
Der zweite wichtige Unterschied ist, dass in der erotischen Literatur die am Sex beteiligen Menschen einander respektieren und gleichberechtigte Partner bleiben, aufeinander eingehen und die Bedürfnisse des jeweils anderen berücksichtigen. Sexuelle Unterdrückung oder gar Gewalt bleibt ausschließlich Kriminalromanen und Thrillern vorbehalten; ebenso Sex als Mittel zum Zweck der Informationsgewinnung und Ähnliches. Ausnahmen gibt es für die Nischenliteratur der BDSM-Szene1, in der gewaltsame, teilweise sogar sadistische Praktiken sowie solche, die hart an der Grenze des Erträglichen sind, als typisch gelten. In der pornografischen Literatur kommt dagegen häufig die Konstellation vor, dass ein Partner (meistens, aber nicht immer der Mann) den anderen ausschließlich zur Befriedigung der eigenen Bedürfnisse benutzt wie eine austauschbare Massenware.
Bei erotischen Szenen in einem Roman, auch wenn er kein ausdrücklich erotischer Roman ist, sondern zu einem anderen Genre gehört, sollte grundsätzlich gegenseitige Sympathie mit im Spiel sein oder Liebe.
Der dritte Unterschied ist, dass in der erotischen Literatur nicht jede vor Erotik knisternde Szene auch zum Sex führt. Je nach der Situation, in der die Erotik entsteht, kann sie mit einem Kuss oder sogar mit der Sehnsucht oder der Hoffnung auf einen Kuss enden. Lassen Sie die Lesenden ebenso „hungrig“ nach der nächsten Begegnung des Paares lechzen wie die beiden selbst. Das erhöht die Spannung.

Bevor Sie damit beginnen, eine wirkungsvolle erotische Szene zu schreiben, sollten Sie zunächst bedenken, zu welchem Genre Ihr Werk gehört und für welche Zielgruppe Sie schreiben. Davon hängt nicht nur sehr stark ab, welchen Sprachstil Sie verwenden, sondern auch der Inhalt und das Maß der Erotik in Ihren einschlägigen Szenen.
Eine deftige, allzu klare Sprache à la „Komm, fick mich!“ ist für einen romantischen Liebesroman ebenso unangebracht wie für Figuren in fortgeschrittenem Alter, die noch mit etlichen sexuellen Tabus aufgewachsen sind, und passt auch nicht zu einem schüchternen Menschen. Eine erotische Szene in einem Fantasyroman erfordert andere Beschreibungen und Ausdrucksweisen als die Begegnung einer Prostituierten mit ihrem Kunden in einem Krimi oder einem Erotik-Thriller. In dem einen Genre können Sie deutlicher und detaillierter beschreiben, in einem anderen sollten Sie mit Blick auf Ihre Zielgruppe zurückhaltender sein und die Handlung „weichzeichnen“.
Doch in diesen Punkten wird Ihnen notfalls der Verlag beratend zur Seite stehen, der Ihr Werk unter Vertrag nimmt.

TIPP:
Das Wichtigste für jede Art von erotischer Beschreibung: Schreiben Sie immer und ausschließlich in der personalen (wechselnden und/oder schwebenden) Perspektive. Das heißt, Sie beschreiben die erotische Szene nur aus der persönlichen Sicht einer einzigen Figur. Auf die auktoriale Perspektive (siehe Lektion8) sollten Sie in jedem Fall verzichten, da sie diese intimste aller Situationen zu unpersönlich macht. Sie können die Perspektive durchaus wechseln und die Situation abwechselnd, aber immer chronologisch fortlaufend, aus der Sicht beider Beteiligten schildern. Jedoch erfordert es Erfahrung und ein gewisses erzählerisches Geschick, den richtigen Zeitpunkt zum Umblenden abzupassen. Deshalb sollten Sie bei Ihren ersten Versuchen, erotische Szenen zu schreiben, bei der Perspektive einer einzigen Person bleiben.

Sie können natürlich auch in der Ich-Perspektive schreiben. Aber davon rate ich bei erotischen Texten ab. Durch die personale Perspektive haben die Lesenden immer noch eine gewisse Distanz zum Geschehen, bei der Ich-Perspektive werden sie als „Zuhörende“ mit den intimsten Erlebnissen einer Person „zugetextet“. Mal ehrlich: Möchten Sie von Ihrer besten Freundin, dem besten Freund so detailliert wie in einem erotischen Text erzählt bekommen, dass er/sie beim Sex neulich vor Lust geschrien, den Partner/die Partnerin gebissen, gekratzt, im Intimbereich geleckt hat und welche „schmutzigen“ Worte dabei ausgetauscht wurden? Bei der Ich-Perspektive wird das Geschriebene für die Lesenden „persönlich“. Diese intime Nähe ist aber für viele des Guten zu viel.
Und noch etwas spricht gegen die Ich-Perspektive in der erotischen Literatur: Allzu viele Lesende glauben grundsätzlich bei dieser Perspektive, die geschilderten Handlungen seien reale, wenn vielleicht auch etwas verfremdete oder ausgeschmückte Erlebnisse der Schreibenden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie bei Ihrem Lesepublikum in den Verdacht geraten wollen, Ihre eigenen erotischen Abenteuer aufgeschrieben zu haben.
Es gab sogar schon Fälle (zum Glück nur wenige), in denen ein Leser eine Ich-schreibende Erotikautorin überfallen hat, weil er aufgrund ihrer Schilderungen im Roman glaubte, sie bevorzuge solche Überfälle als erotischen Kick, da sie etwas Ähnliches ihrer Romanheldin im Ich-Modus auf den Leib geschrieben hatte. Auch hier hat die Ich-Perspektive ihre Tücken; aber wenn sie Ihnen gefällt, verwenden Sie sie.

Im Roman, der Ihren Figuren die Zeit dazu lässt, können Sie die erotische Spannung, die sich zwischen den beiden Beteiligten entwickeln soll, schon vor der eigentlichen erotischen Handlung aufbauen. Und zwar langsam, um für die Lesenden die Vorfreude auf die Szene zu erhöhen, in der das Paar endlich die Erotik oder den Sex auslebt. Zwar kommt auch in der Realität vor, dass jemand einen Raum betritt und darin jemanden sieht, der seine Sinne so sehr anspricht, dass er auf der Stelle mit ihr oder ihm ins Bett oder in die nächstbeste Besenkammer verschwinden will. Die Regel ist das aber nicht. Deshalb sollten wir den Lesenden schildern, wie sich die Beziehung entwickelt.
Das hängt wiederum vom Plot Ihrer Geschichte und Ihren Figuren ab. Unabhängig vom Genre, zu der sie gehört, müssen Sie sich überlegen, wie die Beziehung der beiden (oder auch mehrerer) Beteiligten enden soll. Ist es ein One-Night-Stand oder sogar eine bezahlte Stunde? Sollen sie am Ende als Paar zusammenbleiben? Eine Affäre haben und sich später wieder trennen? Stirbt einer und der überlebende Partner leidet an einem gebrochenen Herzen?
Als Nächstes ist wichtig festzulegen, wie der Anfang gestaltet werden soll, die erste Begegnung. Zufällig oder als Blind Date? Sind sie schon länger miteinander bekannt, arbeiten zum Beispiel in derselben Firma oder wohnen Tür an Tür und erkennen nach Jahren, dass sie inzwischen mehr miteinander verbindet als Beruf oder Nachbarschaft? Diese Dinge können Sie im Roman von Anfang an subtil vorbereiten.
Beschreiben Sie die Einsamkeit des Architekten, unter der er seit Jahren leidet, und seine Sehnsucht nach einer Partnerin, als seine Kollegin ihre Verlobung bekannt gibt. Wenige Sätze genügen, um den Lesenden später glaubhaft zu machen, dass er, als er einer Frau begegnet, die seine Sinne und seine erotische Fantasie anregt, mit ihr die Nacht verbringt. Vorausgesetzt natürlich, das passt zu seinem Charakter.
Ein zweiter wichtiger Punkt, der die erotische Szene einleitet und sie entwickelt, ist der Dialog, begleitet von ihn unterstützenden Handlungen und Gesten Ihrer Figuren. Ein Gespräch darüber, wie stressig der Tag im Büro war oder ein Lamento über die steigenden Benzinpreise ist für den Beginn einer erotischen Szene ungeeignet, weil bei so einem Thema alles Mögliche in den Beteiligten aufkommt, aber garantiert keine erotische Stimmung. Das Gespräch sollte schon ein Thema behandeln, das „den Boden vorbereitet“.
An dieser Stelle ein Hinweis für die Gestaltung der ersten Begegnung. Wenn Sie Ihren männlichen Helden die Frau seines Interesses mit eindeutigen Absichten ansprechen lassen, so wählen Sie für ihn eine originelle und vor allem intelligente Ouvertüre. „Sagen Sie, schöne Frau, kennen wir uns nicht?“, ist eine Anmache, die in der Realität nicht funktioniert und im Roman erst recht nicht, wenn Romeo zum Ziel kommen will. Eine Frau aus heiterem Himmel zu fragen, ob er ihr einen Kaffee oder einen Drink spendieren darf, provoziert ebenfalls eine Abfuhr; zumindest bei den meisten Frauen.
Hat er ihr aber beim Reifenwechsel geholfen und will ihr, weil sie währenddessen in der Kälte stehen musste, etwas Gutes tun, indem er sie zu einem heißen Kaffee ins Restaurant an der nächsten Ecke einlädt, ist das durchaus stimmig. Oder sie lädt ihn zum Dank für seine Hilfe dorthin ein. Danach bestimmt der Dialog und was die beiden Beteiligten nebenbei tun, wie die Sache weitergeht. Im umgekehrten Fall sollte selbstverständlich auch die Frau intelligent und vor allem klischeefrei vorgehen.

HINWEIS:
Wir leben im Zeitalter der Gleichberechtigung. Auch eine Frau „darf“ einen Mann ansprechen, einladen, ihm Avancen machen oder anderweitig den ersten Schritt für das kommende erotische Geschehen tun. Wenn Sie gerade hierbei eine Frau die Initiative ergreifen lassen, haben Sie etwas Originelles in Ihren Text gebracht, sofern diese Initiative zu ihrem Charakter passt.
Nebenbei: Gänzlich out ist die Darstellung oder sogar Abqualifizierung einer Frau, die Spaß am Sex hat und den mit wechselnden Partnern auslebt, als „Hure“, „nymphoman“ oder „krank“, weshalb sie (selbstverständlich vom Helden) „geheilt/gerettet“ werden muss. Solange sie keinen festen Partner hat, den sie dadurch betrügt, hat sie dasselbe Recht auf ein erfülltes Sexleben wie jeder Mann.

Am besten machen Sie sich schlau, welche Signale Frauen und Männer, teilweise auch unbewusst, aussenden, um Zustimmung oder Einleitung zu einem Flirt zu signalisieren. Dazu gehört zum Beispiel das „Spiegeln“ von Gesten. Er greift zu seiner Kaffeetasse, sie greift im selben Moment nach ihrer, imitiert ihn also, „spiegelt“ ihn. Sie beugt sich vor, er tut das ebenfalls. Oder lehnt sich als „Antwort“ zurück, wenn er nicht interessiert ist.
Sie legt den Kopf schräg, sodass sie auf diese Weise ihren Hals entblößt als Signal: „Du darfst (später) meinen Hals küssen (und noch viel mehr).“ Zufällige oder absichtliche kurze Berührungen gehören ebenso zu diesem Repertoire wie die Zunge, mit der sie sich über die Lippen leckt, nachdem sie einen Schluck getrunken hat. Ein guter, psychologisch fundierter Flirtratgeber gibt Ihnen eine Menge Rüstzeug für den Einstieg in eine erotische Szene.
Beschreiben Sie in jedem Fall, je nachdem aus wessen Sicht Sie die Szene schildern, was den Mann oder die Frau an der Person, die er/sie aufs Korn nimmt, anziehend findet. Dass die beiden Minuten nach ihrer ersten Begegnung im erstbesten Abstellraum verschwinden und einander triebgesteuert für einen heißen Quickie die Kleidung vom Leib reißen, ist außerhalb eines pornografischen Romans wenig glaubhaft. (Nicht vergessen: Wir sprechen hier von einer ersten Begegnung, nicht von einem Paar, das sich schon länger kennt.) Deshalb sollten Sie den Lesenden immer zeigen, was die Person, durch deren Augen Sie die Szene schildern, dazu veranlasst, die Person zu begehren, die sie ansieht.

Beispiel einer ersten Begegnung:
Nick bestellte sich einen Single Malt ohne Eis und trank die Hälfte auf einen Zug. Wieder ein Abend, den er allein verbrachte. Wenn er sich in dem Spiegel über der Bar betrachtete, wusste er auch warum. Sein Gesicht wirkte unscheinbar und veranlasste in Verbindung mit seinem ergrauenden Haar keine Frau, sich nach ihm umzudrehen. Von allem anderen ganz zu schweigen. Trotzdem kam er regelmäßig und fast jeden Abend ins ‚Black Rose’, nur um nicht allein in seiner Wohnung zu hocken und die Wände anzustarren. Und ja, ein bisschen Hoffnung spielte auch eine Rolle, dass sich ein nettes Gespräch ergeben könnte, wenn schon nicht mehr drin war. Aber heute hielten sich nur Paare und andere einsame Männer im Barraum auf.
Die Tür wurde geöffnet und ließ den kalten Wind herein, der einen Geruch nach Regen mitbrachte – und eine junge Frau, die einen Schritt zur Seite machte, neben der Tür stehen blieb und sich aufmerksam im ganzen Raum umsah, ehe sie zum Ende der Theke ging. Als sie an Nick vorbeikam, nahm er den blumigen, mit Vanille und einem Hauch von Sandelholz vermischten Duft eines Parfüms wahr, der ihn an jenen Abend in Indien erinnerte, als er im Garten des Hotels spazieren gegangen war. Die Luft hatte ähnlich geduftet. Nick erinnerte sich noch gut daran, wie wohl er sich in jenem Moment gefühlt hatte.
Er drehte den Kopf in Richtung der jungen Frau und gab vor, das Sortiment in den Regalen hinter dem Tresen zu betrachten. Dabei beobachtete er sie aus den Augenwinkeln. Die Art, wie sie sich bewegte, hatte etwas Tänzerisches. Dazu passte auch ihre Figur, die durch die hautengen Jeans und das nicht minder enge Top betont wurde: schlank, sichtbar trainiert und an den richtigen Stellen fraulich ausgeprägt. Sie setzte sich halb schräg auf einen Hocker, sodass sie die Tür im Blick behalten konnte und bestellte einen Single Malt; ebenfalls ohne Eis. Diese überraschende Gemeinsamkeit veranlasste Nick, sie direkt anzusehen.
Er stellte fest, dass ihr Haar denselben Ton hatte wie der Whisky in ihrem Glas, in das sie eine Weile starrte, ehe sie einen Schluck trank. Die Art, wie sie sich anschließend mit der Zungenspitze über die Lippen leckte, wirkte genießerisch. Mit dem Finger wischte sie einen Tropfen ab, der außen am Glas herablief, und leckte ihn ab, indem sie die Fingerkuppe in den Mund steckte und daran saugte. Als sie den Finger herauszog, gab es ein leises Geräusch, das Nick an einen Kuss erinnerte.
Sie hob den Kopf und merkte, dass er sie ansah. Er fühlte seine Wangen heiß werden. Um nicht wie ein bei etwas Verbotenem ertappter Schuljunge zu wirken, lächelte er ihr zu und hob sein Glas in ihre Richtung. Sie zog die Augenbrauen hoch und blickte zur Seite.
War ja klar. Eine Frau wie sie – jung, attraktiv und selbstbewusst genug, allein in einer Bar Whisky zu trinken – legte garantiert keinen Wert auf die Aufmerksamkeit eines Mannes, der so durchschnittlich und nichtssagend wirkte wie ein Parkplatzwächter. Schade. Aber was hatte er erwartet?
Sie wandte sich ihm zu und lächelte. Er lächelte zurück und machte eine Kopfbewegung, die ihr hoffentlich signalisierte, dass er sie nicht hatte belästigen wollen. Ihr Lächeln wurde breiter. Sie hob ihr Glas in seine Richtung, prostete ihm stumm zu und trank.
Nick fasste sich ein Herz und ging zu ihr. „Ich hoffe, ich habe Ihre Geste richtig interpretiert, dass Sie einem Small Talk nicht abgeneigt wären. Falls doch, werde ich mich auf der Stelle verziehen und Sie in Ruhe lassen.“
Sie nickte. „Das haben Sie schon richtig verstanden.“ Sie deutete auf den Hocker neben sich.
Nick setzte sich und lauschte ihrer Stimme nach. Sie klang dunkel und weich, wie ein Streicheln. „Sie sind nicht von hier?“
Sie schüttelte den Kopf. „Auf der Durchreise.“
Er nickte zum Fenster hin, das in diesem Moment von einem grellen Blitz erleuchtet wurde. „Kein gutes Wetter zum Reisen.“
„Deswegen mache ich eine Pause.“
Sie hob ihr Glas, lächelte und sah ihm auf eine Weise in die Augen, die sein Herz schneller schlagen ließ. Er stieß mit ihr an und fand, dass der Whisky seit dem letzten Schluck deutlich an Geschmack gewonnen hatte.
In dieser Szene wird deutlich, warum Nick die fremde Frau anziehend findet. Sie trägt ein Parfüm, dessen Duft er mit einer angenehmen Erinnerung an eine Situation verbindet, in der er sich wohlgefühlt hat. Außerdem ist sie attraktiv. Ihre „an den richtigen Stellen fraulich ausgeprägte“ Figur (womit Brüste, Po und Hüften gemeint sind) spricht seinen Ur-Instinkt (Fortpflanzungstrieb) an, und ihre Gesten wirken auf ihn sinnlich. Wir brauchen keine allzu große Fantasie, um zu ahnen, welches Bild Nick vor Augen steht, als die Frau an ihrem Finger saugt und das wie ein Kuss klingt. Da die Ausgangssituation ist, dass er sich einsam fühlt, können wir uns nach dieser Einleitung unschwer denken, dass er nicht nur mit ihr small talken und flirten will.
Stattdessen stellt sich die Frage, warum die Frau sich auf ihn einlässt. Nick hält sich selbst für unattraktiv, durchschnittlich und nicht bemerkenswert. Sie könnte anderer Meinung sein. Oder aber sie hat andere Motive. Sie ist auf der Durchreise. Vielleicht braucht sie eine kostengünstige Übernachtungsmöglichkeit und kalkuliert, dass sie bei Nick umsonst schlafen kann, wenn es ihr gelingt, ihn genügend einzuwickeln.
Möglicherweise ist sie vor jemandem auf der Flucht. Die Art, wie sie sich beim Betreten der Bar erst einmal umgesehen hat, bevor sie sich so an den Tresen stellt, dass sie die Tür im Auge behalten kann, könnte darauf hindeuten.
Der erste Kontakt ist hergestellt. Nick und die Frau haben sich auf Small Talk geeinigt. Da Sie Ihrem Publikum natürlich niemals einen Small Talk mit nichtssagendem Blabla servieren, ganz besonders nicht in einer erotischen Szene oder als Einleitung dazu, sehen wir uns an, was der Dialog und die ihn begleitenden Dinge dazu tun können, dass die beiden sich näherkommen.

Er reichte ihr die Hand. „Mein Name ist Nick.“
Sie drückte sie kräftiger als er erwartet hatte. „Sandy.“ Sie deutete auf sein Glas. „Wie ich sehe, sind wir beide Fans von Whisky ohne Eis.“
Er nickte. „Gibt es ein göttlicheres Getränk?“
Sie legte den Kopf schräg und schmunzelte. Ihre Augen – rauchblau, wie der Himmel draußen – funkelten. „Nur eins: der Nektar eines Kusses.“ Sie stieß mit ihm an und leerte ihr Glas.
Er lachte und trank ebenfalls aus. Dabei überlegte er, ob sie mit ihrer Bemerkung gemeint hatte, was er hoffte, oder ob das nur ihre Art von Small Talk war. Junge Leute plapperten manchmal drauflos, ohne sich allzu große Gedanken darüber zu machen, wie das, was sie sagten, von ihrem Gesprächspartner aufgefasst werden könnte.
„Dem stimme ich vorbehaltlos zu“, sagte er und deutete auf ihr leeres Glas. „Mögen Sie noch einen?“
Sie legte wieder den Kopf schräg. „Ist das eine Einladung?“
Er wiegte den Kopf und lächelte. „Wenn Sie möchten.“
Sie nickte. „Danke.“
Er bestellte zwei Single Malts ohne Eis. „Wohin geht Ihre Reise, wenn ich fragen darf?“
Sie deutete mit dem Daumen nach rechts. „Da lang.“
„Das hört sich nach einem sehr interessanten Ziel an.“
„In der Tat. Ich bin auf der Suche nach neuen Motiven. Ich bin Fotografin und Malerin. Beruflich, kein Hobby.“
„Landschaft?“
„Akt. Und ich hoffe, das schockiert Sie nicht allzu sehr.“
Diese Information in Zusammenhang mit ihrem Namen ließ ihn stutzen. Es gab nicht allzu viele Fotografinnen, die gleichzeitig auch Malerinnen waren und umgekehrt. Die meisten bildenden Künstlerinnen waren entweder das eine oder das andere. Wenn er dazu ihr Alter von ungefähr Mitte zwanzig berücksichtigte... „Sagen Sie nicht, Sie sind Sandy Duvalier.“
Sie nickte. „Doch.“
„Ich habe ein Buch von Ihnen: ‚Amors Ruf’. Es ist großartig.“
Und es wurde immer abgegriffener, seit er wieder allein lebte. Die Aktdarstellungen – Fotos wie Gemälde – wirkten so ungezwungen, als wären die abgebildeten Personen trotz ihrer Nacktheit oder Halbnacktheit ganz selbstvergessen mit alltäglichen Dingen beschäftigt und sich ihrer Blöße nicht bewusst. Details zeigten zum Beispiel, mit welchem Genuss Eva in den Apfel biss, während sie mit der anderen Hand den Kopf der Schlange streichelte, den diese auf ihren Bauch gelegt hatte, während ihre Schwanzspitze eindeutig auf Evas nacktes Geschlecht zeigte. Oder der verzückte Gesichtsausdruck der Nymphe, die Pan mit einer sehnsüchtig ausgestreckten Hand aufforderte, zu ihr zu kommen. Diese Dinge brachten Nick jedes Mal zum Träumen.
Er hatte sich schon oft gefragt, wie die Frau, die diese Kunstwerke erschaffen hatte, ihr eigenes Sexleben gestaltete. Ob sie persönliche Erfahrungen, vielleicht sogar Vorlieben in ihre Bilder einfließen ließ? Ein immer wieder aufregender Gedanke, der in diesem Moment eine neue Dimension bekam, da er direkt neben der Schöpferin saß.
„Vielen Dank für das Kompliment.“ Sandy griff im selben Moment zu ihrem Glas wie er zu seinem.
Da die Gläser dicht beieinander standen, berührten ihre Finger einander. Das Gleiten ihrer Finger über seine verursachte ihm eine höchst angenehme Gänsehaut und weckte seine Lust. Besonders weil Sandy, statt ihr Glas zu nehmen, in der Bewegung innehielt und keine Anstalten machte, die Berührung seiner Hand zu unterbrechen. Und die Art, wie sie ihm dabei in die Augen sah und lächelte...
Er strich mit einem Finger über ihre Hand, halb befürchtend, dass er ihre Signale falsch aufgefasst hatte und sie das als zudringlich empfinden könnte. Sie verhakte ihren Finger mit seinem, drehte seine Hand mit der Innenfläche nach oben und betrachtete sie wie eine Wahrsagerin.
„Du hast schöne Hände.“ Sie sah ihm wieder in die Augen. „Hast du was dagegen, dass ich sie male?“
In dieser Szene haben wir eine Menge Subtext: Andeutungen und eindeutige Handlungen, die das, was folgen wird – Sex – vorbereiten.

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