Thomas Mann
Joseph und seine Brüder
Vier Romane in einem Band
Roman
FISCHER E-Books
Mit Daten zu Leben und Werk
Thomas Mann, geboren am 6. Juni 1875 in Lübeck, entstammte einer Kaufmannsfamilie. Seit 1893 wohnte er in München und war seit 1894 freier Schriftsteller. 1929 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. 1933 verließ er Deutschland und lebte zuerst in der Schweiz am Zürichsee, dann in den Vereinigten Staaten, wo er 1939 eine Professur in Princeton annahm. Später hatte er seinen Wohnsitz in Kalifornien, danach wieder in der Schweiz. Er starb in Kilchberg bei Zürich am 12. August 1955.
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© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 2007
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ISBN 978-3-10-400059-6
Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?
Dies nämlich dann sogar und vielleicht eben dann, wenn nur und allein das Menschenwesen es ist, dessen Vergangenheit in Rede und Frage steht: dies Rätselwesen, das unser eigenes natürlich-lusthaftes und übernatürlichelendes Dasein in sich schließt und dessen Geheimnis sehr begreiflicherweise das A und das O all unseres Redens und Fragens bildet, allem Reden Bedrängtheit und Feuer, allem Fragen seine Inständigkeit verleiht. Da denn nun gerade geschieht es, daß, je tiefer man schürft, je weiter hinab in die Unterwelt des Vergangenen man dringt und tastet, die Anfangsgründe des Menschlichen, seiner Geschichte, seiner Gesittung, sich als gänzlich unerlotbar erweisen und vor unserem Senkblei, zu welcher abenteuerlichen Zeitenlänge wir seine Schnur auch abspulen, immer wieder und weiter ins Bodenlose zurückweichen. Zutreffend aber heißt es hier »wieder und weiter«; denn mit unserer Forscherangelegentlichkeit treibt das Unerforschliche eine Art von foppendem Spiel: es bietet ihr Scheinhalte und Wegesziele, hinter denen, wenn sie erreicht sind, neue Vergangenheitsstrecken sich auftun, wie es dem Küstengänger ergeht, der des Wanderns kein Ende findet, weil hinter jeder lehmigen Dünenkulisse, die er erstrebte, neue Weiten zu neuen Vorgebirgen vorwärtslocken.
So gibt es Anfänge bedingter Art, welche den Ur-Beginn der besonderen Überlieferung einer bestimmten Gemeinschaft, Volkheit oder Glaubensfamilie praktisch-tatsächlich bilden, so daß die Erinnerung, wenn auch wohl belehrt darüber, daß die Brunnenteufe damit keineswegs ernstlich als ausgepeilt gelten kann, sich bei solchem Ur denn auch national beruhigen und zum persönlich-geschichtlichen Stillstande kommen mag.
Der junge Joseph zum Beispiel, Jaakobs Sohn und der lieblichen, zu früh gen Westen gegangenen Rahel, Joseph zu seiner Zeit, als Kurigalzu, der Kossäer, zu Babel saß, Herr der vier Gegenden, König von Schumir und Akkad, höchst wohltuend dem Herzen Bel-Marudugs, ein zugleich strenger und üppiger Gebieter, dessen Bartlöckchen so künstlich gereiht erschienen, daß sie einer Abteilung gut ausgerichteter Schildträger glichen; – zu Theben aber, in dem Unterlande, das Joseph »Mizraim« oder auch »Keme, das Schwarze«, zu nennen gewohnt war, seine Heiligkeit der gute Gott, genannt »Amun ist zufrieden« und dieses Namens der dritte, der Sonne leiblicher Sohn, zum geblendeten Entzücken der Staubgeborenen im Horizont seines Palastes strahlte; als Assur zunahm durch die Kraft seiner Götter und auf der großen Straße am Meere, von Gaza hinauf zu den Pässen des Zederngebirges, königliche Karawanen Höflichkeitskontributionen in Lapislazuli und gestempeltem Golde zwischen den Höfen des Landes der Ströme und dem Pharaos hin und her führten; als man in den Städten der Amoriter zu Beth-San, Ajalon, Ta’anek, Urusalim der Aschtarti diente, zu Sichem und Beth-Lahama das siebentägige Klagen um den Wahrhaften Sohn, den Zerrissenen, erscholl und zu Gebal, der Buchstadt, El angebetet ward, der keines Tempels und Kultus bedurfte: Joseph also, wohnhaft im Distrikte Kenana des Landes, das ägyptisch das Obere Retenu hieß, in seines Vaters von Terebinthen und immergrünen Steineichen beschattetem Familienlager bei Hebron, ein berühmt angenehmer Jüngling, angenehm namentlich in erblicher Nachfolge seiner Mutter, die hübsch und schön gewesen war, wie der Mond, wenn er voll ist, und wie Ischtars Stern, wenn er milde im Reinen schwimmt, außerdem aber, vom Vater her, ausgestattet mit Geistesgaben, durch welche er diesen wohl gar in gewissem Sinne noch übertraf, – Joseph denn schließlich (zum fünften- und sechstenmal nennen wir seinen Namen und mit Befriedigung; denn um den Namen steht es geheimnisvoll, und uns ist, als gäbe sein Besitz uns Beschwörerkraft über des Knaben zeitversunkene, doch einst so gesprächig-lebensvolle Person) – Joseph für sein Teil erblickte in einer südbabylonischen Stadt namens Uru, die er in seiner Mundart »Ur Kaschdim«, »Ur der Chaldäer« zu nennen pflegte, den Anfang aller, das heißt: seiner persönlichen Dinge.
Von dort nämlich war vor längeren Zeiten – Joseph war sich nicht immer ganz im klaren darüber, wie weit es zurücklag – ein sinnender und innerlich beunruhigter Mann nebst seinem Weibe, die er aus Zärtlichkeit wohl gern seine »Schwester« nannte, und anderen Zugehörigen ausgezogen, um es dem Monde, der Gottheit von Ur, gleichzutun und zu wandern, weil er das als das Richtigste und seinem unzufriedenen, zweifelvollen, ja gequälten Zustande Angemessenste empfunden hatte. Sein Auszug, dem eine Sinnbetonung von Widerspruch und Auflehnung nicht abzusprechen gewesen war, hatte zusammengehangen mit gewissen Bauwerken, die ihm auf beleidigende Weise eindrucksvoll gewesen und die der dortzulande eben herrschende Nimrod und Erdengewaltige wenn nicht errichtet, so doch erneuert und übermächtig erhöht hatte: weniger, nach des Ur-Mannes geheimer Überzeugung, den göttlichen Lichtern zu Ehren, denen sie geweiht waren, denn als Hemmriegel der Zerstreuung und himmelaufragende Male von des Nimrods-Königs gesammelter Macht, – welcher der Mann von Ur sich nun gerade entzogen hatte, indem er sich dennoch zerstreute und mit seinem Anhange auf unbestimmte Wanderschaft begab. Josephs Überlieferungen waren nicht ganz einsinnig darin, ob es die große Mondburg von Ur gewesen war, die den Unzufriedenen namentlich geärgert, der getürmte Tempel des Sin-Gottes, nach welchem das ganze Land Sinear also benannt war und dessen Name auch in so manchem mitklang, was Heimatlicheres bezeichnete, wie etwa in dem des Berges Sinai; oder etwa jenes hochragende Sonnenhaus, der Mardug-Tempel Esagila zu Babel selbst, dessen Spitze der Nimrod ebenfalls gleich dem Himmel erhöht hatte und von dem Joseph genaue mündliche Beschreibung besaß. Auch war da offenbar noch mehreres andere gewesen, woran der sinnende Mann sich gestoßen hatte: angefangen von der Nimrod-Gewaltigkeit überhaupt bis zu den und den Sitten und Bräuchen, die den anderen als heilig hergebracht und unveräußerlich erschienen waren, ihm aber die Seele je mehr und mehr mit Zweifeln erfüllt hatten; und da mit zweifelnder Seele nicht gut stillsitzen ist, so hatte er sich eben in Bewegung gesetzt.
Er war nach Charran gelangt, der Mondstadt des Nordens, der Stadt des Weges, im Lande Naharain, wo er mehrere Jahre verblieben war und Seelen gesammelt, sie in die enge Verwandtschaft der Seinen aufgenommen hatte. Das war aber eine Verwandtschaft, die Unruhe bedeutete und fast nichts weiter, – Unruhe der Seele, sich äußernd in einer Unrast des Leibes, die mit dem Leichtsinn gewöhnlicher Wanderlust und abenteuernder Freizügigkeit wenig zu schaffen hatte, vielmehr die Getriebenheit und Heimsuchung eines Einzelnen war, in dessen Blut sich Schicksalsentwicklungen dunkelanfänglich vorbereiteten, zu deren erdrückender Tragweite die Qual seiner Friedlosigkeit in heimlich genauem Verhältnis mochte gestanden haben. Darum auch hatte sich Charran, noch in dem Machtbereiche des Nimrod gelegen, in Wahrheit nur als »Stadt des Weges« erwiesen, nämlich als eine Station, aus welcher der Mondmann über ein kleines sich wieder gelöst hatte, nebst Sarai, seiner Eheschwester, und allen seinen Verwandten und seiner und ihrer Habe, um als ihr Führer und Mahdi seine Higra mit unbestimmtem Ziele fortzusetzen.
So war er nach dem Westlande gekommen, zu den Amurru, die Kenana bewohnten, wo damals Männer von Chatti die Herren waren, hatte in Etappen das Land durchzogen und war tief in den Süden vorgestoßen, unter andere Sonne, in das Land des Schlammes, wo das Wasser verkehrt geht, ungleich dem Wasser von Naharina, und man stromab nach Norden fährt; wo ein altersstarres Volk seine Toten anbetete und für den Ur-Mann und seine Not nichts zu suchen und auszurichten gewesen war. Er war ins Westland zurückgekehrt, dem Mittellande eben, das zwischen dem des Schlammes und Nimrods Gebieten gelegen war, und hatte in dessen Süden, der Wüste nicht fern, in bergiger Gegend, wo es wenig Ackerbau, aber reichliche Weide gab für sein Kleinvieh und wo er sich mit den Einwohnern rechtlich vertrug, eine Art von oberflächlicher Seßhaftigkeit gefunden.
Die Überlieferung will wissen, daß ihm sein Gott, der Gott, an dessen Wesensbild sein Geist arbeitete, der Höchste unter den anderen, dem ganz allein zu dienen er aus Stolz und Liebe entschlossen war, der Gott der Äonen, dem er Namen suchte und hinlängliche nicht fand, weshalb er ihm die Mehrzahl verlieh und ihn Elohim, die Gottheit, versuchsweise nannte: daß also Elohim ihm ebenso weitreichende wie fest umschriebene Verheißungen gemacht hatte, des Sinnes nicht nur, er, der Mann aus Ur, solle zu einem Volke werden, zahlreich wie Sand und Sterne, und allen Völkern ein Segen sein, sondern auch dahingehend, das Land, in dem er nun als Fremder wohne und wohin Elohim ihn aus Chaldäa geführt hätte, solle ihm und seinem Samen zu ewiger Besitzung gegeben werden in allen seinen Teilen, – wobei der Gott der Götter ausdrücklich die Völkerschaften und gegenwärtigen Inhaber des Landes aufgeführt hätte, deren »Tore« der Same des Ur-Mannes besitzen solle, das heißt: denen der Gott im Interesse des Ur-Mannes und seines Samens Unterwerfung und Knechtschaft bündig zugedacht habe. Das ist mit Vorsicht aufzunehmen oder jedenfalls recht zu verstehen. Es handelt sich um späte und zweckvolle Eintragungen, die der Absicht dienen, politische Machtverhältnisse, die sich auf kriegerischem Wege hergestellt, in frühesten Gottesabsichten rechtlich zu befestigen. In Wirklichkeit war das Gemüt des Mondwanderers auf keine Weise geschaffen, politische Verheißungen zu empfangen oder hervorzubringen. Nichts beweist, daß er das Amurruland auch nur von vornherein als zukünftiges Gebiet seines Wirkens ins Auge gefaßt habe, als er die Heimat verließ; ja, der Umstand, daß er versuchsweise auch das Land der Gräber und der stutznäsigen Löwenjungfrau erwanderte, scheint das Gegenteil zu beweisen. Wenn er aber des Nimrods großmächtiges Staatswesen im Rücken ließ und auch das hochangesehene Reich des Oasenkönigs mit der Doppelkrone sogleich wieder mied, um ins Westland zurückzukehren, das heißt in ein Land, dessen zersplittertes Staatsleben es zu politischer Ohnmacht und Abhängigkeit hoffnungslos bestimmte, so zeugt dies für nichts weniger als für seinen Geschmack an imperialer Größe und seine Anlage zur politischen Vision. Was ihn in Bewegung gesetzt hatte, war geistliche Unruhe, war Gottesnot gewesen, und wenn ihm Verkündigungen zuteil wurden, woran gar kein Zweifel statthaft ist, so bezogen sich diese auf die Ausstrahlungen seines neuartig-persönlichen Gotteserlebnisses, dem Teilnahme und Anhängerschaft zu werben er ja von Anbeginn bemüht gewesen war. Er litt, und indem er das Maß seiner inneren Unbequemlichkeit mit dem der großen Mehrzahl verglich, schloß er daraus auf seines Leidens Zukunftsträchtigkeit. Nicht umsonst, so vernahm er von dem neuerschauten Gott, soll deine Qual und Unrast gewesen sein: Sie wird viele Seelen befruchten, wird Proselyten zeugen, zahlreich wie der Sand am Meer, und den Anstoß geben zu Lebensweitläufigkeiten, die keimweise in ihr beschlossen sind, – mit einem Worte, du sollst ein Segen sein. Ein Segen? Es ist unwahrscheinlich, daß mit diesem Wort der Sinn desjenigen richtig wiedergegeben ist, das zu ihm im Gesicht geschah und das seiner Lebensstimmung, der Empfindung seiner selbst entsprach. In dem Worte »Segen« liegt eine Wertung, die man fernhalten sollte von Bezeichnungen des Wesens und der Wirkung von Männern seiner Art: von Männern also der inneren Unbequemlichkeit und der Wanderung, deren neuartige Gotteserfahrung die Zukunft zu prägen bestimmt ist. Einen reinen und unzweifelhaften »Segen« bedeutet das Leben solcher Männer selten oder nie, mit denen eine Geschichte beginnt, und nicht dies ist es, was ihr Selbstgefühl ihnen zuflüstert. »Und sollst ein Schicksal sein« – das ist die reinere und richtigere Übersetzung des Verheißungswortes, in welcher Sprache es immer möge gesprochen worden sein; und ob dies Schicksal einen Segen bedeuten möge oder nicht, ist eine Frage, deren Zweitrangigkeit aus der Tatsache erhellt, daß sie immer und ohne Ausnahme verschieden wird beantwortet werden können, obgleich sie natürlich mit Ja beantwortet wurde von der auf physischem und geistigem Wege wachsenden Gemeinschaft derer, die in dem Gotte, welcher den Mann von Ur aus Chaldäa geführt, den wahren Baal und Addu des Kreislaufs erkannten und auf deren Zusammenhang Joseph sein eigenes geistiges und körperliches Dasein zurückführte.
Zuweilen hielt er den Mondwanderer wohl gar für seinen Urgroßvater, was aber mit voller Strenge aus dem Gebiete des Möglichen zu verweisen ist. Er selbst wußte ganz genau, aus mancherlei Unterweisung, daß es sich weitläufiger verhielt. Nicht so weitläufig freilich, daß jener Erdengewaltige, dessen mit Tierkreisbildern bedeckte Grenzsteine der Ur-Mann hinter sich gelassen, wirklich Nimrod gewesen wäre, der erste König auf Erden, der den Bel von Sinear gezeugt hatte. Vielmehr war es nach den Tafeln Chammuragasch, der Gesetzgeber, gewesen, Erneuerer jener Mond- und Sonnenburgen, und wenn der junge Joseph ihn dem vorfrühen Nimrod gleichsetzte, so war das ein Gedankenspiel, das seinen Geist recht anmutig kleidete, dem unsrigen aber als unschicklich verwehrt ist. Ebenso lag es mit seiner gelegentlichen Verwechselung des Ur-Mannes mit seines Vaters Ältervater, der ähnlich oder ebenso geheißen hatte wie jener. Zwischen dem Knaben Joseph und der Wanderschaft des geistig-leiblichen Vorfahren lagen, zeitrechnerischer Ordnung zufolge, an der es seiner Epoche und Gesittungssphäre keineswegs fehlte, gut und gern zwanzig Geschlechter, rund sechshundert babylonische Umlaufsjahre, eine Spanne, so weit wie von uns zurück ins gotische Mittelalter, – so weit und auch wieder nicht.
Denn haben wir die mathematische Sternenzeit auch unverändert von dort und damals übernommen, das heißt aus Tagen weit vor dem Wandel des Mannes aus Ur, und werden wir sie ebenso auch noch den spätesten Enkeln vererben, so ist doch Bedeutung, Schwergewicht und Erfülltheit der Erdenzeit nicht immer und überall ein und dieselbe; die Zeit hat ungleiches Maß, trotz aller chaldäischen Sachlichkeit ihrer Bemessung; sechshundert Jahre wollten dazumal und unter jenem Himmel nicht das besagen, was sie in unserer abendlichen Geschichte sind; sie waren ein stilleres, stummeres, gleicheres Zeitgebreite; die Zeit war minder tätig, die ändernde Wirksamkeit ihrer steten Arbeit an Dingen und Welt geringer und milder, – wiewohl sie natürlich in diesen zwanzig Menschenaltern Veränderungen und Umwälzungen beträchtlicher Art betätigt hatte, natürliche Umwälzungen sogar, Veränderungen der Erdoberfläche in Josephs engerem Kreise, wie wir wissen, und wie er wußte. Denn wo waren zu seiner Zeit Gomorra und Lots aus Charran, des in des Ur-Mannes enge Verwandtschaft Aufgenommenen, Wohnsitz: Sodom, die wollüstigen Städte? Der bleierne Laugensee lag dort, wo ihre Unzucht geblüht hatte, kraft einer Umkehrung der Gegend in pechig-schweflichter Feuerflut, so fürchterlich und scheinbar alles vertilgend, daß Lots beizeiten mit ihm entwichene Töchter, dieselben, die er anstatt gewisser ernster Besucher der Begierde der Sodomiten hatte anbieten wollen, – daß sie, in dem Wahne, es sei außer ihnen kein Mensch mehr auf Erden, sich in weiblicher Sorge um das Fortbestehen des Menschengeschlechts mit ihrem Vater vermischt hatten.
So sichtbare Umgestaltungen also hatten die Läufte immerhin hinterlassen. Es hatte Segenszeiten gegeben und Fluchzeiten, Fülle und Dürre, Kriegszüge, wechselnde Herrschaft und neue Götter. Und doch war im ganzen die Zeit erhaltenderen Sinnes gewesen als unsere; Josephs Lebensform, Denkungsart und Gewohnheiten unterschieden sich von denen des Ahnen weit weniger als die unsrigen von denen der Kreuzfahrer; die Erinnerung, auf mündlicher Überlieferung von Geschlecht zu Geschlecht beruhend, war unmittelbarer und zutraulich-ungehinderter, die Zeit einheitlicher und darum von kürzerem Durchblick; kurzum, es war dem jungen Joseph nicht zu verargen, wenn er sie träumerisch zusammenzog und, manchmal wenigstens, bei minder genauer Geistesverfassung, des Nachts etwa, bei Mondlicht, den Ur-Mann für seines Vaters Großvater hielt – bei welcher Ungenauigkeit es nicht einmal sein Bewenden hatte. Denn wahrscheinlich, wie wir nun hinzufügen wollen, war der Ur-Mann gar nicht der eigentliche und wirkliche Mann aus Ur. Wahrscheinlich (auch dem jungen Joseph war es in genauen Stunden, am Tage, wahrscheinlich) hatte dieser die Mondburg von Uru niemals gesehen, sondern sein Vater schon war es gewesen, der von dort ausgewandert war, gen Norden, nach Charran im Lande Naharin, und aus Charran also erst war der fälschlich so genannte Ur-Mann, auf Weisung des Herrn der Götter, nach Amoriterland aufgebrochen, zusammen mit jenem später zu Sodom ansässigen Lot, den die Gemeinschaftsüberlieferung träumerischerweise für des Ur-Mannes Brudersohn erklärte, und zwar insofern er »der Sohn Charrans« gewesen sei. Gewiß, Lot von Sodom war ein Sohn Charrans, da er von dort stammte, so gut wie der Ur-Mann. Aber aus Charran, der Stadt des Weges, einen Bruder des Ur-Mannes und also aus dem Proselyten Lot einen Neffen von ihm zu machen, war eitel Träumerei und Gedankenspiel, bei Tage nicht haltbar, doch recht danach angetan, zu erklären, wie es dem jungen Joseph so leicht fiel, seine kleinen Verwechselungen zu vollziehn.
Er tat es mit demselben guten Gewissen, mit welchem etwa die Sternendiener und -deuter von Sinear bei ihren Wahrsagungen nach dem Grundsatz der Gestirnvertretung handelten und einen Himmelskörper für den anderen setzten, zum Beispiel die Sonne, wenn sie untergegangen war, mit dem Staats- und Kriegsplaneten Ninurtu, oder den Planeten Mardug mit dem Skorpionbilde vertauschten, indem sie dieses dann schlankerhand »Mardug« und den Ninurtu »Sonne« nannten; er tat es im Sinne praktischen Notbehelfs, denn sein Wunsch, dem Geschehen, dem er angehörte, einen Anfang zu setzen, begegnete derselben Schwierigkeit, auf welche ein solches Bemühen immer stößt: der Schwierigkeit eben, daß jeder einen Vater hat und daß kein Ding zuerst und von selber ist, Ursache seiner selbst, sondern ein jedes gezeugt ist und rückwärts weist, tiefer hinab in die Anfangsgründe, die Gründe und Abgründe des Brunnens der Vergangenheit. Joseph wußte natürlich, daß auch des Ur-Mannes Vater, der wahre Mann von Uru also, einen Vater gehabt haben mußte, mit welchem also eigentlich seine persönliche Geschichte begonnen hätte, und so immer fort, bis etwa zu Jabel, dem Sohne Ada’s, dem Urahnen derer, die in Zelten wohnen und Viehzucht treiben. Aber der Auszug aus Sinear bedeutete ihm ja auch eben nur einen bedingten und besonderen Urbeginn, und er war wohlunterrichtet darüber, durch Lied und Lehre, wie es dahinter ins Allgemeine weiter und weiter ging, über viele Geschichten, bis zurück zu Adapa oder Adama, dem ersten Menschen, welcher nach einer babylonischen Vers- und Lügenkunde, die Joseph teilweise sogar auswendig wußte, der Sohn Ea’s, Gottes der Weisheit und der Wassertiefe, gewesen sein und den Göttern als Bäcker und Mundschenk gedient haben sollte, von dem aber Joseph Heiligeres und Genaueres wußte; zurück zu dem Garten im Osten, worin die beiden Bäume, das Lebensholz und der unkeusche Baum des Todes, gestanden hatten; zurück zum Anfang, zur Entstehung der Welt, der Himmel und des irdischen Alls aus Tohu und Bohu durch das Wort, das frei über der Urflut schwebte und Gott war. Aber war nicht auch dies nur ein bedingter, besonderer Anfang der Dinge? Wesen hatten damals dem Schöpfer bewundernd und auch verwundert zugeschaut: Söhne Gottes, Gestirnengel, von denen Joseph manche merkwürdige und selbst lustige Geschichte kannte, und widrige Dämonen. Sie mußten aus einem vergangenen Welt-Äon stammen, das einst zu Tohu- und Bohu-Rohstoff geworden war bei seinem Altersuntergange – und war nun dieses das Allererste gewesen?
Hier schwindelte es den jungen Joseph, genau wie uns, indem wir uns über den Brunnenrand neigen, und trotz kleiner uns unzukömmlicher Ungenauigkeiten, die sein hübscher und schöner Kopf sich erlaubte, fühlen wir uns ihm nahe und zeitgenössisch in Hinsicht auf die Unterweltschlünde von Vergangenheit, in die auch er, der Ferne, schon blickte. Ein Mensch wie wir war er, so kommt uns vor, und trotz seiner Frühe von den Anfangsgründen des Menschlichen (um vom Anfange der Dinge überhaupt nun wieder ganz zu schweigen) mathematisch genommen ebensoweit entfernt wie wir, da diese tatsächlich im Abgründig-Dunklen des Brunnenschlundes liegen und wir bei unserem Forschen uns entweder an bedingte Scheinanfänge zu halten haben, die wir mit dem wirklichen Anfange auf dieselbe Art verwechseln, wie Joseph den Wanderer aus Ur einerseits mit dessen Vater und andererseits mit seinem eigenen Urgroßvater verwechselte, oder von einer Küstenkulisse zur anderen rückwärts und aber rückwärts ins Unermeßliche gelockt werden.
Wir erwähnten zum Beispiel, daß Joseph schöne babylonische Verse auswendig wußte, die aus einem großen und schriftlich vorliegenden Zusammenhange voll lügenhafter Weisheit stammten. Er hatte sie von Reisenden gelernt, die Hebron berührten und mit denen er in seiner umgänglichen Art Zwiesprache hielt, und von seinem Hauslehrer, dem alten Eliezer, einem Freigelassenen seines Vaters, – nicht zu verwechseln (wie es dem Joseph zuweilen geschah und wie es auch der Alte selbst sich wohl gern einmal geschehen ließ) mit Eliezer, des Ur-Wanderers ältestem Knechte, der einst die Tochter Bethuels am Brunnen für Isaak gefreit hatte. Nun denn, wir kennen diese Verse und Mären; wir besitzen Tafeltexte davon, die im Palaste Assurbanipals, Königes der Gesamtheit, Sohnes des Assarhaddon, Sohnes des Sinacherib, zu Niniveh gefunden worden und von denen einige die Ur-Kunde der großen Flut, mit welcher der Herr die erste Menschheit um ihrer Verderbtheit willen vertilgt und die auch in Josephs persönlicher Überlieferung eine so bedeutende Rolle spielte, in zierlicher Keilschrift auf graugelbem Tone darbieten. Offen gestanden ist aber das Wort »Urkunde«, wenigstens seinem ersten und eindrucksvollsten Bestandteile nach, nicht ganz genau am Platze; denn jene schadhaften Täfelchen stellen Abschriften dar, die Assurbanipal, ein der Schrift und dem befestigten Gedanken sehr holder Herr, ein »Erzgescheiter«, wie die babylonische Redensart lautete, und eifriger Sammler von Gütern der Gescheitheit, nur einige sechshundert Jahre vor unserer Zeitrechnung von gelehrten Sklaven herstellen ließ, und zwar nach einem Original, das reichlich eintausend Jahre älter war, also aus den Tagen des Gesetzgebers und des Mondwanderers stammte, für Assurbanipals Tafelschreiber ungefähr so leicht oder schwer zu lesen und zu verstehen wie für uns Heutige ein Manuskript aus Caroli Magni Zeiten. In einem ganz überholten und unentwickelten Duktus ausgefertigt, ein hieratisches Schriftstück, muß es schon damals schwer zu entziffern gewesen sein, und ob seine Bedeutungen bei der Abschrift so ganz zu ihrem Rechte gekommen sind, bleibt zweifelhaft.
Nun war aber dies Original nicht eigentlich ein Original, nicht das Original, wenn man es recht betrachtete. Es war selbst schon die Abschrift eines Dokumentes aus Gott weiß welcher Vorzeit, bei dem man denn also, ohne recht zu wissen, wo, als bei dem wahren Originale haltmachen könnte, wenn es nicht seinerseits bereits mit Glossen und Zusätzen von Schreiberhand versehen gewesen wäre, die dem besseren Verständnis eines wiederum urweit zurückliegenden Textes dienen sollten, wahrscheinlich aber im Gegenteil der modernen Verballhornung seiner Weisheit dienten – und so könnten wir fortfahren, wenn wir nicht hoffen dürften, daß unsere Zuhörer schon hier erfassen, was wir im Sinne haben, wenn wir von Küstenkulissen und Brunnenschlund reden.
Die Leute Ägyptenlandes hatten dafür ein Wort, das Joseph kannte und gelegentlich verwendete. Denn obgleich auf Jaakobs Hof keine Chamiten geduldet wurden, ihres Ahnen wegen, des Vaterschänders, der über und über schwarz geworden war, und weiterhin weil Jaakob die Sitten von Mizraim religiös mißbilligte, so verkehrte der Jüngling nach seiner neugierigen Art in den Städten, in Kirjath Arba sowohl wie in Sichem, doch öfters mit Ägyptern und fing auch dies und jenes von ihrer Sprache auf, in der er sich später so glänzend vervollkommnen sollte. Von einem Dinge also, das unbestimmten und sehr hohen, kurz: unvordenklichen Alters war, sagten sie: »Es stammt aus den Tagen des Set« – womit nämlich einer ihrer Götter gemeint war, der tückische Bruder ihres Mardug oder Tammuz, den sie Usiri, den Dulder, nannten: mit diesem Beinamen, weil Set ihn erstens in eine Sarglade gelockt und in den Fluß geworfen, dann ihn aber auch noch wie ein wildes Tier in Stücke gerissen und völlig gemordet hatte, so daß Usir, das Opfer, nun als Herr der Toten und König der Ewigkeit in der Unterwelt waltete ... »Aus den Tagen des Set« – die Leute von Mizraim hatten allerlei Verwendung für ihre Redensart, denn all ihrer Dinge Ursprung verlor sich auf unnachweisliche Art in jenem Dunkel.
Am Rande der Libyschen Wüste, nahe bei Memphis, lagerte, aus dem Felsen gehauen, der dreiundfünfzig Meter hohe Koloß-Zwitter aus Löwe und Jungfrau, mit Weibesbrüsten, Manneskinnbart und der sich bäumenden Königsschlange am Kopftuch, vor sich hingestreckt die riesigen Pranken seines Katzenleibes, die Nase kurz abgestumpft vom Zeitenfraße. Er hatte dort immer gelagert und immer schon mit von der Zeit gestumpfter Nase, und daß diese Nase jemals noch ungestumpft oder etwa gar der Sphinx selbst noch nicht vorhanden gewesen wäre, war unerinnerlich. Thutmose der Vierte, der Goldsperber und starke Stier, König von Ober- und Unterägypten, geliebt von der Göttin der Wahrheit, aus demselben achtzehnten Hause, dem auch jener Amun-ist-zufrieden entstammte, ließ ihn auf Grund einer Weisung, die er vor seiner Thronbesteigung im Traum empfangen, aus dem Wüstensande graben, von welchem die übergroße Skulptur schon weitgehend verweht und verschüttet gewesen war. Aber König Chufu bereits, anderthalb tausend Jahre vorher, aus dem vierten Hause, welcher nahebei sich die große Pyramide zum Grabmal erbaute und dem Sphinx Opfer darbrachte, hatte ihn als halbe Ruine vorgefunden, und von einer Zeit, die ihn nicht vorgefunden oder auch nur mit ganzer Nase vorgefunden hätte, wußte niemand.
Hatte Set selbst das Wundertier, das Spätere für ein Bild des Sonnengottes erachteten und »Hor im Lichtberge« hießen, aus dem Steine gehauen? Das war wohl möglich, denn wahrscheinlich war Set, wie auch Usiri, das Opfer, nicht immer ein Gott gewesen, sondern einmal ein Mensch, und zwar ein König über Ägypterland. An der nicht selten vernommenen Belehrung, ein gewisser Menes oder Hor-Meni habe, ungefähr sechstausend Jahre vor unserer Zeitrechnung, die erste ägyptische Dynastie gegründet und vorher sei »vordynastische Zeit« gewesen –; er, Meni, habe zuerst die Lande, das untere und obere, den Papyrus und die Lilie, die rote und die weiße Krone vereinigt und als erster König über Ägypten geherrscht, dessen Geschichte mit seiner Regierung beginne –, an dieser Aussage ist wahrscheinlich jedes Wort falsch, und für den schärfer zudringenden Blick wird Urkönig Meni zu einer bloßen Zeitenkulisse. Dem Herodot erklärten ägyptische Priester, die geschriebene Geschichte ihres Landes reiche 11 340 Jahre vor seine Ära zurück, was ungefähr vierzehntausend Jahre für uns bedeutet und eine Angabe darstellt, die König Meni’s Gestalt ihres urhaften Charakters weitgehend zu entkleiden geeignet ist. Die Geschichte Ägyptens zerfällt in Perioden der Spaltung und Ohnmacht und solche der Macht und des Glanzes, in Epochen der Herrschaftslosigkeit und der Vielherrschaft und in solche der majestätischen Sammlung aller Kräfte, und immer deutlicher wird, daß diese Daseinsformen zu oft gewechselt haben, als daß König Meni der erste Vertreter der Einheit gewesen sein könnte. Der Zerrissenheit, die er heilte, war ältere Einheit vorausgegangen, und dieser ältere Zerrissenheit; wie oft es aber hier »älter«, »wieder« und »weiter« zu heißen hat, ist nicht zu sagen, sondern nur dies, daß erste Einheit unter Götterdynastien blühte, deren Söhne mutmaßlich jene Set und Usiri waren, und daß die Geschichte von Usirs, des Opfers, Ermordung und Zerstückelung auf Thronstreitigkeiten, welche damals mit List und Verbrechen ausgetragen wurden, sagenhaft anspielte. Es war das eine bis zur Vergeistigung und Geisterhaftigkeit tiefe, mythisch und theologisch gewordene Vergangenheit, welche zur Gegenwart und zum Gegenstand pietätvoller Verehrung wurde in Gestalt gewissen Getieres, einiger Falken und Schakale, die man in den alten Hauptstädten der Länder, Buto und Enchab, hegte und in denen die Seelen jener Vorzeit-Wesen sich geheimnisvoll bewahren sollten.
»Aus den Tagen des Set«, – die Wendung gefiel dem jungen Joseph, und wir teilen sein Vergnügen daran; denn auch wir, wie die Leute Ägyptenlandes, finden sie höchst verwendbar und schlechthin auf alles passend, – ja, wohin wir nur blicken im Bereiche des Menschlichen, legt sie sich uns nahe, und aller Dinge Ursprung verliert sich bei schärferem Hinsehen in den Tagen des Set.
Zu dem Zeitpunkt, da unsere Erzählung beginnt – ein ziemlich beliebiger Zeitpunkt, aber irgendwo müssen wir ansetzen und das andre zurücklassen, da wir sonst selbst »in den Tagen des Set« beginnen müßten –, war Joseph schon ein Hirte des Viehs mit seinen Brüdern, wenn auch in schonenden Grenzen zu dieser Leistung berufen: er hütete, wenn es ihm Freude machte, mit ihnen auf den Weiden von Hebron seines Vaters Schafe, Ziegen und Rinder. Wie sahen diese Tiere aus, und worin unterschieden sie sich von denen, die wir halten und hüten? In gar nichts. Es waren dieselben befreundeten und gefriedeten Geschöpfe, auf derselben Stufe ihrer Züchtung, wie wir sie kennen, und die ganze Zuchtgeschichte etwa des Rindes aus seinen wilden Büffel-Formen war in des jungen Joseph Tagen seit so langem zurückgelegt, daß »längst« ein schlechthin lächerlicher Ausdruck ist für diese Strecken: das Rind war nachweislich gezüchtet schon in der Frühe jener Gesittungsepoche der Steinwerkzeuge, die dem Eisen-, dem Bronzezeitalter voranging und von welcher der babylonisch-ägyptisch gebildete Amurru-Knabe Joseph fast ebenso weit abstand wie wir Heutigen, – der Unterschied ist verschwindend.
Erkundigen wir uns nach dem wilden Schafe, aus welchem das unsrige und Jaakobs Herdenschaf »einst« gezüchtet worden, so wird uns bedeutet, daß es ausgestorben ist. »Längst« kommt es nicht mehr vor. Seine Verhäuslichung muß sich in den Tagen des Set vollzogen haben, und die Züchtung des Pferdes, des Esels, der Ziege und die des Schweines aus dem wilden Eber, der Tammuz, den Schäfer, zerriß, ist desselben nebelhaften Datums. Unsere geschichtlichen Aufzeichnungen reichen ungefähr siebentausend Jahre zurück; während dieser Zeit ist jedenfalls kein wildes Tier mehr nutzbar und häuslich gemacht worden. Das liegt vor jeder Erinnerung.
Ebendort liegt die Veredelung wilder und tauber Gräser zum brottragenden Korne. Unsere Getreidearten, mit denen auch Joseph sich nährte, die Gerste, den Hafer, Roggen, Mais und Weizen, auf ihre wildwachsenden Originale zurückzuführen, erklärt unsere Pflanzenkunde sich mit dem größten Bedauern außerstande, und kein Volk kann sich rühmen, sie zuerst entwickelt und gebaut zu haben. Wir hören, daß es zur Steinzeit in Europa fünf verschiedene Arten des Weizens und drei Arten Gerste gab. Und was die Züchtung des wilden Weines aus der Rebe betrifft, eine Tat sondergleichen, als menschliche Leistung genommen, wie man auch sonst darüber denken möge, so schreibt die abgründig weit herhallende Überlieferung sie Noah, dem Gerechten, zu, dem Überlebenden der Flut, demselben, den die Babylonier Utnapischtim und dazu Atrachasis, den Hochgescheiten, nannten und der seinem späten Enkel, Gilgamesch, dem Helden jener Tafel-Mären, die anfänglichen Dinge berichtete. Dieser Gerechte also hatte, wie auch Joseph wußte, zuallererst Weinberge gepflanzt, – was Joseph nicht sehr gerecht fand. Denn konnte er nicht pflanzen, was von Nutzen wäre? Feigenbäume oder Ölbäume? Nein, sondern Wein stellte er erstmals her, ward trunken davon und in der Trunkenheit verhöhnt und verschnitten. Wenn aber Joseph meinte, das sei gar nicht so lange her, daß das Ungeheuere geschehen und die Edelrebe entwickelt worden, etwa ein Dutzend Geschlechter vor seinem »Urgroßvater«, so war das ein ganz träumerischer Irrtum und eine fromme Heranziehung unausdenklicher Urferne, – wobei nur mit blassem Staunen darauf hinzuweisen bleibt, daß diese Urferne ihrerseits schon so spät, in solchem Abstande von den Ursprüngen des Menschengeschlechtes gelegen war, daß sie eine Hochgescheitheit zeitigen konnte, die solcher Gesittungstat wie der Veredelung des wilden Weines fähig war.
Wo liegen die Anfangsgründe der menschlichen Gesittung? Wie alt ist diese? Wir fragen so in Hinsicht auf den fernen Joseph, dessen Entwicklungsstufe sich, abgesehen von kleinen träumerischen Ungenauigkeiten, über die wir freundschaftlich lächeln, von der unsrigen schon nicht mehr wesentlich unterschied. Diese Frage aber eben braucht nur gestellt zu werden, damit das Gebiet der Dünenkulissen sich äffend eröffne. Sprechen wir vom »Altertum«, so meinen wir meistens die griechisch-römische Lebenswelt und damit eine solche von vergleichsweise blitzblanker Neuzeitlichkeit. Zurückgehend auf die sogenannte griechische »Urbevölkerung«, die Pelasger, gewahren wir, daß, ehe sie die Inseln in Besitz nahmen, diese von der eigentlichen Urbevölkerung bewohnt waren, einem Menschenschlage, der den Phöniziern in der Beherrschung des Meeres voranging, somit diese in ihrer Eigenschaft als »erste Seeräuber« zu einer bloßen Kulisse macht. Damit nicht genug, neigt die Wissenschaft in zunehmendem Grade zu der Vermutung und Überzeugung, daß diese »Barbaren« Kolonisten von Atlantis waren, des versunkenen Erdteils jenseits der Säulen des Herkules, der vor Zeiten Europa und Amerika verband. Ob aber dieser die vom Menschen erstbesiedelte Gegend der Erde war, steht so sehr dahin, daß es sich der Unwahrscheinlichkeit nähert und vielmehr wahrscheinlich wird, daß die Frühgeschichte der Gesittung und auch diejenige Noahs, des Hochgescheiten, an weit ältere, schon viel früher dem Untergange verfallene Landgebiete anzuknüpfen ist.
Das sind nicht zu erwandernde Vorgebirge, auf welche nur mit jener ägyptischen Redensart unbestimmt hinzudeuten ist, und die Völker des Ostens handelten so klug wie fromm, wenn sie ihre erste Erziehung zum Kulturleben den Göttern zuschrieben. Die rötlichen Leute von Mizraim sahen in jenem Dulder Usiri den Wohltäter, der sie zuerst im Ackerbau unterrichtet und ihnen Gesetze gegeben hatte, worin er eben nur durch den tückischen Anschlag des Set unterbrochen worden war, der sich dann wie ein reißender Eber gegen ihn benahm. Und die Chinesen erblicken den Gründer ihres Reiches in einem kaiserlichen Halbgott namens Fu-hi, welcher das Rind bei ihnen eingeführt und sie die köstliche Schreibkunst gelehrt habe. Die Astronomie zu empfangen erachtete dieses Wesen sie damals, 2852 vor unserer Zeitrechnung, offenbar noch nicht für reif, denn ihren Annalen zufolge wurde sie ihnen erst ungefähr dreizehnhundert Jahre später durch den großen Fremdenkaiser Tai-Ko-Fokee vermittelt, während die Gestirnpriester von Sinear sich auf die Zeichen des Tierkreises bestimmt schon mehrere hundert Jahre früher verstanden und uns sogar berichtet wird, daß ein Mann, der Alexander, den Mazedonier, nach Babylon begleitete, dem Aristoteles astronomische Aufzeichnungen der Chaldäer übersandte, deren Angaben, in gebackenen Ton geritzt, heute 4160 Jahre alt wären. Das hat bequemste Möglichkeit; denn es ist wahrscheinlich, daß Himmelsbeobachtung und kalendarische Berechnungen schon im Lande Atlantis geübt wurden, dessen Untergang nach Solon neuntausend Jahre vor den Lebzeiten dieses Gelehrten datierte, und daß also gut elfeinhalbtausend Jahre vor unserer Zeitrechnung der Mensch bereits zur Pflege dieser hohen Künste gediehen war.