Silvia Bovenschen
Älter werden
Notizen
Sachbuch
FISCHER E-Books
Silvia Bovenschen, geboren 1946, lebt als Literaturwissenschaftlerin und Essayistin in Berlin. 2000 wurde sie mit dem Roswitha-Preis der Stadt Bad Gandersheim und dem Johann-Heinrich-Merck-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ausgezeichnet, 2007 erhielt sie den Ernst-Robert-Curtius Preis für Essayistik. Zuletzt erschienen »Älter werden« (2006), »Schlimmer machen, schlimmer lachen« (1990) und »Über-Empfindlichkeit. Spielformen der Idiosynkrasie« (2000).
Covergestaltung: Hißmann & Heilmann, Hamburg
Coverabbildung: Sarah Schumann
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 2009
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-400007-7
Meinen Freunden
»Wir leben von nicht bewußt gewordenen Erinnerungen.«
(Ilse Aichinger)
»Die Menschen können nicht sagen,
wie sich eine Sache zugetragen,
sondern nur wie sie meinen,
daß sie sich zugetragen hätte.«
(Georg Christoph Lichtenberg)
»Er geht der Vergangenheit nach,
als wäre sie nicht zu verändern.«
(Elias Canetti)
Anfangen Aufhören
Wann habe ich angefangen, bei der Ansicht älterer Filme zu registrieren, welche der Schauspieler schon gestorben sind?
Wann habe ich angefangen, bewußt im Fernsehen alte deutsche Filme aus den fünfziger oder frühen sechziger Jahren anzusehen, Filme, die mich (ihr Inhalt nicht und ihre Ästhetik schon gar nicht) überhaupt nicht interessieren, nur in der Hoffnung, noch einmal den stillen Frieden kriegsverschonter Straßen in den sogenannten besseren Wohngegenden der Städte zu sehen: selten mal ein Auto, zuweilen ein Motorrad mit Beiwagen, baumgesäumte, stille Straßen in Schwarzweiß, holpriges Pflaster, freilaufende Hunde … Ich sehe die Stille eines Sommertages. War ich als Kind glücklich, als ich das sah, oder will ich mich jetzt darin als glückliches Kind sehen?
Wann habe ich angefangen, die Menschen auf der Straße einzuteilen in diese, die leben wollen, und in jene, die leben müssen?
Als Heiner Müller in einem Interview kundgab, daß der Zeitpunkt erreicht sei, da die Zahl der gegenwärtig Lebenden größer sei als die der Toten aller Vergangenheit, habe ich überlegt, wann der Zeitpunkt erreicht sein wird, da die Zahl der in mir präsenten Toten, die ich einmal mochte, gar liebte, größer sein wird als die der mir nahestehenden Lebenden.
Jahreszeiten
Einst, als Kind, nahm ich die Jahreszeiten, wie sie kamen – den Wechsel von Helligkeit und Dunkelheit, Wärme und Kälte, Schulzeit und Ferienzeit. Es lohnte nicht, über diese Ablösungen nachzudenken, das Jeweilige dauerte zu lang, unendlich lang. Im Winter konnte ich mir nicht einmal mehr sehnend vorstellen, daß es dereinst wieder Sommer werden würde.
Wann habe ich angefangen, die Jahreszeiten ernst zu nehmen? Im Herbst den Anfang eines Sterbens zu sehen? Mich vor dem Winter zu fürchten, wirklich zu fürchten?
Altern des Lachens
Wenn ich jetzt Filme sehe, die ich in meiner Jugend schon einmal sah, schäme ich mich nicht bei der Erinnerung, daß mich einst diese Schnulze (wann wurde dieses Wort aufgegeben?) zum Weinen brachte, wohl aber bei der, daß ich einmal bei jener Klamotte herzlich lachte.
*
Dicke Pferde
Sie verschwanden so langsam, so schleichend aus dem Straßenbild, daß mir ihr Verschwinden erst viel später auffiel, als es sie lange schon nicht mehr gab: die Gezeichneten, die Versehrten, die Krüppel, wie man damals noch sagte. Männer an Krücken, ein leeres Hosenbein hochgebunden, ein inhaltsloser Jackenärmel schlaff herunterhängend, die starre hölzerne Hand im schwarzen Handschuh, schlecht geflickte Gesichter. Das waren die Kriegsverletzten. Blinde, Kaputtgeschossene, von Bränden Gezeichnete.
Aber auch jene Entstellungen durch das, was humorvolle Leute gerne als »Laune der Natur« bezeichnen, sah man zur Zeit meiner Kindheit in großer Zahl: allenthalben schielende Augen, Klumpfüße, Buckel, Kröpfe, Menschen mit wulstigen Diphterienarben, mit großen Geschwülsten – und dann gab es noch die Armen, die den Arzt nicht zahlen konnten, Menschen mit offenen Wunden und zahnlosen Mündern.
Sie alle verschwanden mit der Zeit, mit zunehmender Prosperität und ärztlicher Kunstfertigkeit, so wie die dicken Pferde, die die Wagen, hochbeladen mit Blockeis, Bier oder Kohlen, durch die holprigen Straßen zogen. Sie hießen meistens Liese oder Lotte, und nette Kutscher setzten ihnen im Sommer, um sie vor der Sonne zu schützen, Strohhüte auf, in die Löcher für die Ohren geschnitten worden waren. Ich hatte mein Gehör gut trainiert und erkannte das Geklapper der Hufe auf dem Kopfsteinpflaster schon, wenn die Gefährte in unsere Straße einbogen. Dann rannte ich zur Speisekammer und entnahm einem Gefäß, das meine Mutter für diesen Zweck bereitstellte, kleingeschnittene Möhren und hielt sie den Gäulen auf straff ausgestreckter Hand vor die Mäuler. Manchmal hatte ich den Mut, den Kutschern zu sagen, daß sie ihnen die Schweife nicht kupieren sollten, weil dies die Waffe der Pferde gegen die Fliegen sei. Bestenfalls, wenn sie nicht über die altkluge Göre fluchten, lachten sie mich aus.
Das war mir schmerzhaft aufgefallen, daß die Pferdewagen allmählich den zunächst meist dreirädrigen motorisierten Lieferautos weichen mußten.
Das Verschwinden der Versehrten – das Ausmaß der seit meiner Kindheit möglich gewordenen Reparatureingriffe – trat mir erst kürzlich deutlich ins Bewußtsein, als eine Schriftstellerin – auch nicht mehr die Jüngste –, sich in die Gentechnologiedebatte einmischend, behauptete, daß es doch die schadhaften Unvollkommenheiten seien, die Defekte, die das Humanum auszeichneten. Erst im Leid komme der Mensch zu sich. Ja, was denkt sie sich denn da, in ihrer Sorge um das Genügen des Leids? Für den Schmerz war seit Hiob noch immer gesorgt. Geht Pest, kommt Aids. Was immer auf den biotechnologischen Baustellen der Menschheitsumgestaltung zu unserem Schaden oder unserem Nutzen erdacht und gemacht werden kann, fürs Leid wird es immer genügend Schlupflöcher geben.
Zu den wenigen Überzeugungen, die mir im Lauf der Zeit nicht verlorengingen, gehört, daß es, bei allen Anstrengungen zur Verbesserung von allem, zur Vermehrung des Guten, immer nur um die Verminderung des Leids gehen kann. Die Zeichen weisen in eine andere Richtung.
Was die zahnlosen Münder betrifft: Man sieht sie schon wieder in den ärmeren Stadtvierteln Berlins. Die Gesundheitsreform (ein denkwürdiges Wort) hat dafür gesorgt.
Und sie wird für mehr sorgen.
*
Amerika, Amerika
»Repräsentative Altbauwohnung in zentraler Lage. Großzügig saniert. Flügeltüren, Parkett, Stuckdecken … « – Das wird teuer. Wer dieses Inserat liest in einer westdeutschen Großstadt und noch keine Wohnung hat, wer hier einen Anruf in Erwägung zieht, der hat Geld fürs Schöne Wohnen.
Ob der junge erfolgreiche Bankangestellte, verheiratet mit einer jungen erfolgreichen Börsenmaklerin, wenn er seinen Mies-van-der-Rohe-Sessel auf dem zu glänzend versiegelten Parkett placiert, ahnt, wie diese Häuser nach dem Krieg ausgesehen haben?
Dunkel waren sie. Braunverfärbte Tapeten, graues, verrußtes Gemäuer, Hinweisschilder auf den Luftschutzkeller, rumpelnde, unzuverlässige Boiler. Gesprungenes Porzellan, Klos und Waschbecken mit alten verdächtigen Rändern. Viel schadhafte weiße Emaille. Es roch ein wenig nach Kohle, zuweilen nach Urin und Kohl. Durchgetretene Dielen, kaputtes Parkett, selbst in einst hochherrschaftlichen Häusern des Frankfurter Westends. Da gab es nichts zu romantisieren. Da war Sanierung angebracht.
Fünfzig Jahre Wohlstand haben diese Spuren beseitigt. Allerdings nicht immer nur zum Wohle der Häuser, in denen später auch der Billigmarmor und die Rauhfasertapete Einzug hielten.
Ich überlege, wie schnell im Falle eines voranschreitenden wirtschaftlichen und (damit einhergehend) zivilisatorischen Niedergangs ein ähnlicher oder noch schlimmerer Zustand wieder eintreten könnte. Sehr viel schneller, als man denkt, denke ich. Schnellverslumung. Die Zivilisationskruste ist dünn. Die Materialien sind nicht unbedingt besser geworden.
Als junge Frau las ich einen Roman von Joseph Roth, in dem eine Figur vorkam, die immer, wenn sie etwas richtig gut fand, ausrief: »Amerika, Amerika.« Ich erinnere mich, daß ich lachen mußte, weil ich mich erinnerte, daß mich im Alter von zehn Jahren und einige Jahre anhaltend eine ähnliche proamerikanische Emphase ergriffen hatte. Ich kann das deshalb so genau datieren, weil dies der Zeitpunkt war, zu dem wir nach Frankfurt am Main zogen, zu meiner Freude in eine große helle Neubauwohnung (der Altbau-Kult kam erst später über das Land), neben dem IG-Farben-Hochhaus, dem Hauptsitz der amerikanischen Militärverwaltung. Am Rande der damals noch uneingezäunten Grünflächen vor dem Gebäude parkten die Amerikaner ihre Autos: große, blitzende Gefährte, manche gar zweifarbig, mit viel Chrom, ausladenden Heckflügeln und imposanten Kühlerornamenten. Das gefiel mir. Ich fuhr die Reihen mit meinem Fahrrad ab und konnte bald die Fabrikate auseinanderhalten. »Warum fährst du keinen Thunderbird in Weiß-Türkis«, fragte ich meinen Vater, der diese Markenbezeichnung wahrscheinlich erstmalig hörte und für den jede Lackierung jenseits von dunkelgrau oder dunkelblau indiskutabel war. Er verdrehte die Augen zum Himmel.
Im Gegensatz zu ihm war ich ein wenig vorbereitet auf diese kulturelle Fermentierung aus der Neuen Welt. Hatte mir doch jemand schon Jahre zuvor ein amerikanisches Mickey-Mouse-Heft in die Hand gedrückt, das ich zwar nicht lesen konnte, dessen bunte Bildwelt mich aber sofort hochgradig faszinierte. Dort lebten alle vergleichsweise lustig und sorgenfrei in frischgestrichenen sauberen weißen Häusern mit roten Dächern und einem quietschgrünen Rasen im Vorgarten. Einer badete sogar im Geld. Überdies war immer schönes Wetter. Amerika, Amerika.
War ich das alles wirklich?
Ich weiß nicht, woher das Bild in meinen Kopf kam. Es war plötzlich da, detailgenau. Und ich – lassen wir mich elf oder zwölf Jahre alt sein – war darauf.
In diesen Pubertätsjahren besuchte leider nur vorübergehend – wir hatten uns ein wenig angefreundet – eine farbige Amerikanerin unsere Klasse. Sie schenkte mir, meine begehrlichen Blicke bemerkend, ein Button-down-Hemd. Dieses Hemd war für lange Zeit mein ganzer Stolz. Ich – zu dieser Zeit ansonsten völlig ignorant in kleiderästhetischen Fragen – war sicher, daß ich das erste und einzige Mädchen in Deutschland, vielleicht sogar in Europa war, das so ein Hemd besaß. Dieser Besitz war die erste gesicherte Zutat zu dem Bild, auf dem ich selbst die prominente Rolle spielen wollte. Im Mittelpunkt des Bildes aber stand ein Chevrolet, der dem Vater (ein Bonvivant in biederer Zeit) einer anderen Freundin gehörte. Dort hineinzukommen war kein Problem, denn ich wurde oft zur Mitfahrt eingeladen. Ich wartete auf den Sommer. Zuvor mußte ich noch ein Beschaffungsproblem lösen. Zu diesem Zweck ging ich in das IG-Farben-Hochhaus, das zu meinen bevorzugten Spielstätten gehörte. Man konnte sich dort durch nicht ganz erlaubtes, riskantes Auf- und Abfahren im hauseigenen Paternoster amüsieren. Ein dicker – wie man damals noch sagte – Negeroffizier hatte mich gelegentlich dabei beobachtet und mir verschwörerisch zugezwinkert. Ihm lauerte ich auf, streckte ihm meine Börse mit dem Ersparten entgegen und bat ihn, mir eine »Pilotensonnenbrille« aus dem PX mitzubringen. (Ich habe keine Erinnerung daran, wie ich die Sache sprachlich bewältigte.) Es funktionierte. Ich konnte jetzt mein Bild realisieren. An einem Sonnentag wurde ich wieder eingeladen, mit den Eltern meiner Freundin aufs Land zu deren Wochenendhaus zu fahren. Mir wurde zugesichert, daß ich auf dem Beifahrersitz Platz nehmen dürfe. Ich hatte mein Button-down-Hemd angezogen und die etwas zu große Pilotensonnenbrille aufgesetzt. Und dann kam die große Desillusionierung. Zur Erfüllung des Bildes gehörte nämlich unabdingbar, daß ich meinen Arm lässig aus dem heruntergekurbelten Fenster lehnen sollte. Dafür war ich aber zu klein. Ich sah mich selbst in dem Wagen sitzen, und ich sah: der Arm ragte in einem lächerlichen spitzen Winkel über die gummigefaßte Kante der Beifahrertür. Aus!
Ich war zu klein für das Bild, oder das Bild war zu groß für mich.
Vielleicht hatte ich Jean Harlow oder Ava Gardner in einem Film oder auf einem Plakat in dieser Pose gesehen.
Nur zu exakt diesem Zeitpunkt hatte das Bild für mich eine Bedeutung. Ich wuchs nicht hinein. Die Zeit, das Bild und ich kamen nicht zusammen.
Damals war das eine Niederlage. Heute aber liebe ich kleine Schieflagen und Vergeblichkeitssignale in gekonnten Stilisierungen.
*
»Ja, mach nur einen Plan … «
Jetzt, Anfang 2003: Einen Essay will ich schreiben. Über das Älterwerden. Ich bin guten Mutes. Schon einmal hatte ich einen kurzen Text über das Alter geschrieben, hatte eine Affinität zwischen der Essayistik als Form und dieser Thematik behauptet.
Ich begebe mich auf vertraute Pfade. Mache einen Plan, sammele Material, nehme zur Kenntnis, was Bedeutende schon gesagt haben. Wie man das eben so macht. Dann aber irritiert mich der zähe Widerstand, den das Thema meiner frischen Bemühung entgegensetzt. Mit hohen Zielen bin ich angetreten, will gedanklich neue Räume schaffen, will eigene Fragen und Antworten exponieren und auf der Grundlage dessen originelle Ausblicke gewähren. (Ausblicke?) Ich erobere kein neues Terrain.
Für diese unerwartete Unzugänglichkeit suche ich eine Erklärung und glaube sie darin zu finden, daß ich mich – ganz im Gegensatz zu meiner kühnen These von einst – im essayistischen Spiel, wie ich es verstehe, eingeengt fühle durch die ehernen Eckdaten, die diese Thematik auszeichnen: der festgelegte Ausgang des Alterns, (das, worin fortschreitendes Leben endlich mündet, im bislang unausweichlichen Tod) und die unumkehrbare Richtung des Älterwerdens, dessen Zwangsläufigkeit. (Ein gutes Wort: der Zwang des Laufs.) – Diese Pointen stehen immer schon fest.
Das Eigene, zu diesem Schluß komme ich, könnte ich allenfalls in der Besonderheit meiner individuellen Wahrnehmung dieses Zwangsgangs finden.
Ich ändere den Plan: gebe den Anspruch allgemeiner Gültigkeit, der dem Essay doch nicht ganz zu nehmen ist, auf.
Das erzwingt eine andere riskantere Form. Ich muß den Schutz der Begriffsnetze verlassen, muß »ich« sagen. Auch gut. Was soll mir in meinem Alter noch passieren? (Vielleicht ist das gar nicht wahr, Ausrede nur, vielleicht habe ich schlicht keine Lust mehr an den geschlossenen Formen.)
Eignungsanmaßung
Jetzt, Anfang 2006: Warum glaube ich an meine besondere Zuständigkeit für dieses Thema? Weil ich alt bin. 60! »Sechzig! Das ist eine böse Zahl. Da ist nichts mehr zu machen. Mit sechzig ist man alt. Noch immer. Frauen sind mit sechzig älter als Männer mit sechzig. Noch immer«, sagt meine Freundin S. Sch., die diese Altersschwelle schon überschritten hat.
Und ich beanspruche für mich eine zusätzliche Qualifikation. Wegen meiner gesundheitlichen Einschränkungen machte ich zeitversetzt früh schon Erfahrungen, die meistenfalls erst das Alter prägen.
»Wenn ich aufgestanden bin, mich geduscht, mich angezogen habe, dann bin ich so fertig und müde, daß ich gleich wieder ins Bett gehen könnte«, sagt meine achtundachtzigjährige Freundin F. G. am Telephon. »Das kenne ich«, sage ich. »Wenn ich kleine Arbeitsgänge im Haushalt erledigt habe, die ich früher so nebenbei hinter mich gebracht hätte, muß ich mich gleich wieder hinlegen«, sagt sie. »Das kenne ich«, sage ich. »Für alles, wirklich für alles, was ich tue, brauche ich jetzt die doppelte, wenn nicht dreifache Zeit«, sagt sie. »Das kenne ich«, sage ich. »Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an den Tod denke«, sagt sie. »Das kenne ich«, sage ich. Dann erzählt sie mir übergangslos eine witzige Alltagsbeobachtung, die mir sagt, daß sie noch gerne lebt. Dieses Nebeneinander kenne ich auch.
So gesehen, nach Maßgabe solcher Erfahrungen, hätte ich das Buch schon vor zwanzig Jahren schreiben können.
Verkaufsüberlegungen
Einst sollte dieses Buch den Titel »Einst« erhalten. Ich mag dieses diffuse Wort. In seiner Unbestimmtheit entspricht es dem Zustand meines Gedächtnisses. Diese Analogie überdeckte ein leichtes Unbehagen im Hintergrund. Bis meine Freundin S. Sch. sagte: »Nicht schlecht, aber für einen Titel doch etwas betulich.« Genau! »Älter werden« fand Gnade bei ihr.
Jetzt: »Vielleicht solltest du dir doch noch einen anderen Titel überlegen«, sagt mein Lektor, der ein Freund ist, am Telephon. Er ist zwanzig Jahre jünger als ich. »Warum?« frage ich. »Es könnte sein, daß sich von dem Titel ›Älter werden‹ nur Ältere angesprochen fühlen«, sagt er. »Warum?« frage ich tückisch weiter. »Älter wird man doch vom ersten Tag des Lebens an.« Er lacht etwas genervt.
Er hat natürlich recht. Ab der Mitte des Lebens steht das Altern anders im Bewußtsein als in den vorangegangenen Jahren. Das Buch »Älter werden« hätte ich mir ohne Empfehlung im Alter von dreißig Jahren wahrscheinlich nicht gekauft. Ich ändere den Titel trotzdem nicht.
»Würdest du ein Buch mit dem Titel ›Älter werden‹ kaufen?« frage ich am gleichen Tag meinen Freund Th. J., der auch zwanzig Jahre jünger ist. »Auf keinen Fall«, sagt er. »Warum?« – »Es klingt wie ein Ratgeber-Buch.«
Ich überlege, ob ich den Titel nicht doch ändern sollte.
Wenige Stunden später ruft mich mein Freund A. G. D. an – auch er ist erheblich jünger. Ich frage ihn, was er von dem Titel hält: »Guter Titel«, sagt er, »lakonisch und einfach.« Ich bin froh, er war mir immer ein guter Ratgeber und Anreger für meine Texte. Wie angenehm sind doch Ratschläge, die den eigenen Neigungen entgegenkommen.
Seenot
MS. Ich wußte früh, daß dies die Abkürzung für Motorschiff ist. Wenn ich die Abkürzung oder das Wort Motorschiff hörte, assoziierte ich eine Zeitlang ein kleines Boot, das ich als Kind besaß. Es war etwas zu groß für die Badewanne. Aber wenn wir im Sommer an einen See fuhren, kam es zum Einsatz. Es war weiß, hatte einen großen Schornstein, einen Kajütenaufbau, war bunt bewimpelt, und am Bug stand MS Esperanza.
Aber dann, noch in satter Jugend, mußte ich erfahren, daSS MS auch die Abkürzung für eine tückische Krankheit ist, die mich befallen hatte. Rasend schnell drehte sich der Assoziationswind. Plötzlich befand sich das fröhlich beflaggte Schiffchen, das einst einen sommerlichen Ausflugsspaß verhieß, in schwerer See.
*
Unzeitgemäß
»Die Wahrheit ist (…), daß man vernünftigerweise nicht gegen die Zeit stehen kann, ihr nicht nachjagen darf, aber auch nicht den Ausweg hat, sich aus dem Zeitlauf herauszunehmen.« (Jean Améry)
Zu meiner Zeit
»Zu meiner Zeit« – höre ich mich doch tatsächlich sagen: Zu meiner Zeit? Wie kam diese alberne Formulierung in meinen Sinn?
Du liebe Zeit, wann ist oder vielmehr war das denn: meine Zeit? Bin ich schon aus einer allgemeinen Zeit herausgefallen? Lebe ich bereits im Takt einer eigenen Zeit, die ins Verflossene changiert? Ist das Bezugsnetz meiner Assoziationen veraltet? Vielleicht. Es kommt jetzt häufig vor, daß von jemandem gesagt wird, er oder sie sei ein Star oder zumindest sehr bekannt, und ich habe keinen blassen Schimmer, wer das sein könnte, und – was schlimmer ist – will ihn auch nicht haben.
Bin ich schon in Teilen meiner Existenz unzeitgemäß? Das Unzeitgemäße hat mich früh schon interessiert. Als junge Frau glaubte ich an den »veralteten« Frisuren älterer Frauen erkennen zu können, wann sie ihrerseits glaubten, ihre beste Zeit gehabt zu haben. Hatten sie die Frisuren einfach aus Gewohnheit beibehalten, oder sollte die Haarformation aus besseren und jüngeren Tagen einen alten Glanz konservieren? Lag den geschmacklosen, weil altersunangemessenen modischen Empfehlungen, die ich meinen lebenszeitlich vorangeschrittenen Eltern für ihre Bekleidungen und Frisuren gab, der Wunsch zugrunde, sie in der für mich aktuellen zukunftsgerichteten Zeit zu halten? Aber wie vertrug sich dieser liebevolle Wunsch mit den Bosheiten auf gleichem Felde: »Hinten Lyzeum, vorne Museum«, sagten wir über eine keineswegs alte Lehrerin, die sich eine kleine Samtschleife an den Hinterkopf gesteckt hatte.
Mit zwei gleichfalls älteren Freundinnen erörtere ich den Umstand, daß sie übereinstimmend behaupten, sich die Gesichter heutiger Stars nicht mehr merken zu können. Sie führen das auf einen Mangel an physiognomischer Prägnanz der zeitgenössischen Idole zurück. »Die sehen doch alle irgendwie gleich aus.« Hatten das nicht unsere Eltern über unsere Idole auch gesagt? Ich kann mich nicht erinnern. Oder ist mit den wachsenden Möglichkeiten der chirurgischen und kosmetischen Schönheitsherstellung doch so etwas wie eine Verähnlichung eingetreten? Ich weiß es nicht. Wenn es nur noch schöne Mädchen gibt, gibt es keine schönen Mädchen mehr.
Ich habe allerdings den Verdacht, daß wir diese Gesichter, diese Figuren, diese Erscheinungsbilder vorsichtshalber nicht mehr so genau betrachten und sie uns infolgedessen nicht einprägen, weil wir verfallsbedingt jedweder Vergleichbarkeit enthoben sind. Wir müssen uns an ihnen (erotisch) nicht mehr messen, und wir können es auch nicht mehr. Das, was einst notwendig zu deprimierenden Resultaten führte, ist jetzt hinfällig schon in der Absicht. Ein Abgleich wäre nurmehr lächerlich vor uns selbst. So verlieren wir schließlich auch noch die Chancen gesicherter Vergleichsniederlagen.
Aber auch die Stars selbst, die »unserer Zeit«, sind nicht mehr vergleichbar mit ihren aktuellen Kolleginnen. Rita Hayworth, einst als »schönste Frau der Welt« gerühmt, würde heute ihrer Körpermaße wegen von keiner Modelagentur aufgenommen. Das hochversicherte Bein der Marlene Dietrich und auch das ideale Plastikbein, das eine Strumpffirma einst normgebend in den Schaufenstern aller Kurzwarenläden (die es kaum noch gibt), untergebracht hatte, könnten heute keine Geltung mehr beanspruchen. Das Bein, das zu einer Körpergröße von einem Meter neunzig gehört, muß eine andere Proportion, eine andere Linie, einen anderen Schwung aufweisen.
Wenn ich die zeitgemäßen Mannequins (wann und warum wurde dieses Wort aufgegeben?) betrachte, kommen sie mir vor wie von einem anderen Planeten, eine andere Sorte als ich und meinesgleichen. Allerdings, wenn ich sie reden höre, wird ihre Zugehörigkeit zur menschlichen Spezies doch wieder allzu offenbar.
Finde ich sie schöner als die einstigen? Nein. Finde ich sie häßlicher als die einstigen? Nein. Nur anders.
Zeitgeiz
Zu den Symptomen des Alterns gehört neben der Verlangsamung und dem Rückzug auf gesicherte Gebiete auch ein ökonomisches Verhältnis zur Zeit. Ich bemerke das zuweilen an mir selbst: »Es bleibt nicht mehr so viel Zeit im Leben, als daß man sich für Leute interessieren wollte, die nichts anderes können, als sich irgendwie im Licht der Öffentlichkeit zu halten«, sage ich trotzig, wenn ich wieder mal nicht weiß, wer jemand ist.