Roger Zelazny

Die Chroniken von Amber

1

DIE NEUN PRINZEN VON AMBER

Aus dem Englischen
von Thomas Schlück

Klett-Cotta

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Übersetzung wurde für diese Neuausgabe vollständig überarbeitet.

Hobbit Presse

www.hobbitpresse.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
»Nine Princes in Amber« im Verlag Gollancz, London

© 1970 by The Amber Corporation

Für die deutsche Ausgabe

© 2017 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Birgit Gitschner, Augsburg

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98127-8

E-Book: ISBN 978-3-608-10981-8

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1.

Nach einer Zeit, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, zeichnete sich das Ende ab.

Ich versuchte, die Zehen zu bewegen, erfolgreich. Ich lag in einem Krankenhausbett, und meine Beine waren von Gipsverbänden umschlossen, doch sie gehörten immer noch mir.

Ich kniff dreimal die Augen zusammen und öffnete sie wieder.

Das Zimmer hörte auf zu schwanken.

Wo zum Teufel war ich?

Dann verzog sich der Nebel allmählich, und etwas von dem, was Gedächtnis genannt wird, kehrte zurück. Ich erinnerte mich an Nächte, Nachtschwestern und Nadeln. Jedes Mal, wenn ich ein bisschen klarer im Kopf wurde, kam jemand herein und stach mich. So war es bisher gewesen. Doch nun fühlte ich mich wieder einigermaßen. Sie würden jetzt damit aufhören.

Oder etwa nicht?

Blitzartig kam mir der Gedanke: Vielleicht nicht.

Mich beschlich eine natürliche Skepsis hinsichtlich der Reinheit menschlicher Motive und legte sich mir schwer auf die Brust. Plötzlich wurde mir klar, dass ich Überdosen von Beruhigungsmitteln erhalten hatte. So wie ich mich fühlte, war das ohne guten Grund geschehen, und es gab auch keinen Grund, jetzt damit aufzuhören, falls sie dafür bezahlt worden waren. Also ruhig bleiben und sich schlafend stellen, sagte eine Stimme, die mein schlimmstes, aber auch schlaueres Ich vertrat.

Danach handelte ich.

Etwa zehn Minuten später steckte eine Schwester den Kopf durch den Türspalt, während ich – natürlich – laut schnarchte. Sie verschwand wieder.

Inzwischen hatte ich einige Bruchstücke der Ereignisse rekonstruiert.

Ich erinnerte mich vage, in einen Unfall verwickelt gewesen zu sein. Was danach geschehen war, konnte ich noch nicht recht erfassen, und die Ereignisse davor waren mir völlig entfallen. Aber ich war zuerst in einem Krankenhaus gewesen und dann an diesen Ort gebracht worden. Warum? Ich wusste es nicht.

Meine Beine fühlten sich jedenfalls ganz brauchbar an. Ich konnte notfalls darauf stehen, wenn ich auch nicht wusste, wie alt die Brüche waren – und ich war sicher, dass sie gebrochen gewesen waren.

Ich richtete mich also auf. Da meine Muskeln erschlafft waren, kostete mich das große Anstrengung. Draußen war es dunkel, und eine Handvoll Sterne schien klar vor meinem Fenster. Ich erwiderte ihr Blinzeln und schob die Beine über die Bettkante.

Zuerst wurde mir schwindlig, doch nach einer Weile beruhigte ich mich und stand auf, wobei ich mich am Kopfende des Bettes festhielt. Dann machte ich meine ersten Schritte.

Gut. Ich stand wieder.

Theoretisch war ich also in der Verfassung, diesen Ort zu verlassen.

Ich tastete mich zum Bett zurück, legte mich hin und dachte nach, schwitzend und zitternd. Mit Visionen von kandierten Pflaumen.

Etwas war faul im Staate Dänemark … Es musste ein Autounfall gewesen sein, fiel mir wieder ein. Ein ziemlich schwerer …

Im nächsten Augenblick öffnete sich die Tür, Licht schien herein. Durch die gesenkten Wimpern sah ich eine Schwester mit einer Injektionsspritze in der Hand.

Sie näherte sich dem Bett, ein gutgebautes Mädchen mit dunklem Haar und kräftigen Armen.

Als sie bei mir war, richtete ich mich auf.

»Guten Abend«, sagte ich.

»Oh – guten Abend«, erwiderte sie.

»Wann komme ich hier raus?«, wollte ich wissen.

»Das muss ich den Arzt fragen.«

»Tun Sie das.«

»Bitte rollen Sie den Ärmel hoch.«

»Nein, danke.«

»Ich muss Ihnen eine Injektion geben.«

»Nein. Brauche ich nicht.«

»Ich fürchte, das muss der Arzt entscheiden.«

»Dann schicken Sie ihn her, damit er’s entscheiden kann. Aber bis dahin werde ich es nicht zulassen.«

»Ich habe leider meine Anweisungen.«

»Die hatte Eichmann auch – und Sie wissen ja, was mit dem passiert ist.« Ich schüttelte langsam den Kopf.

»Also gut«, sagte sie. »Ich muss das natürlich melden …«

»Bitte tun Sie das«, erwiderte ich, »und sagen Sie ihm auch gleich, dass ich beschlossen habe, Sie morgen früh zu verlassen.«

»Unmöglich! Sie können ja nicht mal gehen – und Sie haben innere Verletzungen …«

»Das werden wir sehen. Gute Nacht.«

Sie verschwand wortlos.

Ich lag in meinem Bett und überlegte. Offenbar befand ich mich in einer Art Privatklinik – es musste also jemanden geben, der für die Pflege aufkam. Wen kannte ich? Ich konnte mich an keine Verwandten erinnern. Auch nicht an Freunde. Was blieb dann noch? Feinde?

Ich dachte eine Zeitlang nach.

Nichts.

Niemand, der mir so wohlgesonnen war.

Plötzlich fiel mir ein, dass ich mit dem Wagen über einen Steilhang in einen See gerast war. Aber an mehr erinnerte ich mich nicht.

Ich war …

Ich strengte mich an und begann von neuem zu schwitzen.

Ich wusste nicht, wer ich war.

Um mich zu beschäftigen, richtete ich mich auf und wickelte alle Bandagen ab. Darunter schien alles in Ordnung zu sein; offenbar tat ich das Richtige. Den Gips an meinem rechten Bein zerbrach ich mit einer Metallstange, die ich vom Kopfteil des Bettes löste. Ich hatte auf einmal das Gefühl, dass ich mich beeilen musste, dass es etwas zu erledigen gab.

Ich bewegte mein rechtes Bein. Alles in Ordnung.

Ich zerschlug auch den Gipsverband am anderen Bein, stand auf und ging zum Schrank.

Keine Kleidung drin.

Dann hörte ich die Schritte. Ich kehrte zum Bett zurück und deckte die zerbrochenen Gipsstücke und abgelegten Bandagen zu.

Wieder schwang die Tür auf.

Im nächsten Augenblick war ich in Licht gebadet, und ein stämmiger Bursche in einer weißen Jacke stand vor mir, die Hand am Schalter.

»Was höre ich da, Sie machen der Schwester das Leben schwer?«, fragte er und ich wusste, dass es sinnlos war, mich weiter schlafend zu stellen.

»Keine Ahnung«, sagte ich. »Was haben Sie denn gehört?«

Das beschäftigte ihn für einen Moment, wie sein Stirnrunzeln andeutete. Dann: »Es ist Zeit für Ihre Spritze.«

»Sind Sie Arzt?«, fragte ich.

»Nein, aber ich bin befugt, Ihnen eine Spritze zu geben.«

»Und ich lehne das ab, wie es mir dem Gesetz nach zusteht. Was nun?«

»Sie bekommen Ihre Spritze«, sagte er und ging zur linken Seite des Bettes hinüber. In der Hand hielt er eine Spritze, die er bislang hinter sich versteckt hatte.

Es war ein gemeiner Tritt, vier Zoll unter der Gürtellinie, würde ich schätzen. Er ging sofort in die Knie.

»…!«, sagte er nach einer Weile.

»Wenn Sie mir noch einmal zu nahe kommen«, erwiderte ich, »können Sie sich auf was gefasst machen.«

»Wir wissen, wie man mit Patienten wie Ihnen umgeht«, keuchte er.

Ich wusste also, dass ich handeln musste.

»Wo sind meine Kleider?«, fragte ich.

»…!«, wiederholte er.

»Dann muss ich wohl Ihre Sachen nehmen. Ziehen Sie sich aus.«

Da es beim dritten Mal schon etwas langweilig wurde, warf ich ihm einfach das Bettzeug über den Kopf und schlug ihn mit der Metallstange bewusstlos.

Nach etwa zwei Minuten war ich von Kopf bis Fuß in Weiß gekleidet, eine Mischung aus Moby Dick und Vanilleeis. Hässlich.

Ich schob den Burschen in den Schrank und blickte durch das vergitterte Fenster. Vollmond über einer Pappelreihe. Das Gras funkelte silbrig. Die Nacht kämpfte ein Rückzugsgefecht gegen die Sonne. Es gab keinen Hinweis darauf, wo die Klinik lag. Ich schien mich allerdings im zweiten Stock des Gebäudes zu befinden. Weiter unten zu meiner Linken leuchtete ein helles Viereck im Erdgeschoss, wo offensichtlich noch jemand wach war.

Ich verließ also das Zimmer und schaute mir den Flur an. Links endete der Gang an einer Wand mit einem Gitterfenster, davor waren vier weitere Türen zu sehen, zwei auf jeder Seite. Wahrscheinlich weitere Zimmer wie meins. Ich ging nach links, blickte aus dem Fenster und sah noch mehr Grasflächen und Bäume, noch mehr Nacht – nichts Neues. Schließlich machte ich kehrt und lief in die andere Richtung.

Zahlreiche Türen und kein Licht darunter zu sehen, das einzige Geräusch kam von meinen zu großen geborgten Schuhen.

Die Armbanduhr des lustigen Burschen verriet mir, dass es Viertel vor sechs war. Die Metallstange, die ich unter der weißen Jacke in den Gürtel gesteckt hatte, scheuerte mir beim Gehen am Hüftknochen. Etwa alle zwanzig Fuß leuchtete eine schwache Deckenlampe.

Ich erreichte eine Treppe, die zur Rechten nach unten führte. Ich ging hinab. Die Stufen waren mit Teppichboden ausgelegt.

Die erste Etage sah aus wie meine – reihenweise Zimmer, also ging ich weiter.

Als ich das Erdgeschoss erreichte, wandte ich mich nach rechts und suchte nach der Tür mit dem Lichtstreifen.

Ich fand sie fast am Ende des Korridors und machte mir nicht die Mühe anzuklopfen.

Ein Mann saß in einem schreiend bunten Morgenmantel an einem großen polierten Tisch und blätterte eine Art Register durch. Dies war kein Stationszimmer. Er sah mich an, seine Lippen öffneten sich zu einem Schrei, der nicht kam, was wohl an meinem entschlossenen Gesichtsausdruck lag. Hastig stand er auf.

Ich schloss die Tür hinter mir und trat vor.

»Guten Morgen«, sagte ich. »Machen Sie sich auf Schwierigkeiten gefasst.«

Wenn es um Schwierigkeiten geht, sind die Leute immer neugierig; nach den drei Sekunden, die ich benötigte, um das Zimmer zu durchqueren, wollte er wissen: »Was meinen Sie?«

»Ich meine«, fuhr ich fort, »dass Sie einen Prozess an den Hals bekommen, weil Sie mich meiner Freiheit beraubt haben, einen zweiten Prozess wegen unsachgemäßer Führung der Klinik, insbesondere wegen des Mißbrauchs von Betäubungsmitteln. Ich habe bereits Entzugserscheinungen und wäre durchaus fähig, gewalttätig zu werden …«

Er stand auf. »Verschwinden Sie!«

Ich entdeckte eine Packung Zigaretten auf seinem Tisch und griff zu. »Setzen Sie sich und seien Sie still. Wir haben einiges zu besprechen.«

Er setzte sich, war aber immer noch nicht still.

»Sie übertreten gerade mehrere Vorschriften«, sagte er.

»Dann sollten wir das Gericht entscheiden lassen, wer dafür zu belangen ist«, erwiderte ich. »Ich möchte meine Kleidung und meine persönlichen Wertsachen zurückhaben. Ich verlasse die Klinik.«

»Ihr Zustand erlaubt es nicht –«

»Niemand hat Sie um Ihre Meinung gebeten. Tun Sie, was ich Ihnen sage – oder verantworten Sie sich vor dem Gesetz!«

Er versuchte, einen Knopf auf dem Tisch zu drücken, doch ich schlug seine Hand zur Seite.

»Also wirklich!«, sagte ich. »Den hätten Sie drücken sollen, als ich hereinkam. Jetzt ist es zu spät.«

»Mr. Corey, Sie sind höchst widerspenstig …

Corey?

»Ich habe mich hier nicht eingeliefert«, bemerkte ich, »aber ich habe verdammt nochmal das Recht, mich zu entlassen. Und jetzt ist der richtige Moment dafür. Also los!«

»Ihr Zustand erlaubt es nicht, diese Klinik zu verlassen«, sagte er. »Ich kann das nicht gestatten. Ich werde jetzt jemanden rufen, der Sie auf Ihr Zimmer zurückbegleitet und ins Bett bringt.«

»Versuchen Sie das lieber nicht, sonst bekommen Sie gleich zu spüren, in welchem Zustand ich bin! Doch bevor ich gehe, habe ich noch ein paar Fragen: Wer hat mich hier eingeliefert, und wer zahlt für mich?«

»Also gut«, seufzte er, und sein winziger, sandfarbener Schnurrbart senkte sich bedrückt herab.

Er öffnete eine Schublade und steckte die Hand hinein, doch ich war auf der Hut.

Ich schlug seinen Arm zur Seite, bevor er die Waffe entsichert hatte – eine .32 Automatik, sehr hübsch, ein Colt. Ich nahm ihn in die Hand, legte die Sicherung um, zielte auf seine Nasenspitze und sagte: »Beantworten Sie gefälligst meine Fragen. Offensichtlich halten Sie mich für gefährlich. Da könnten Sie durchaus recht haben.«

Er lächelte schwach und zündete sich ebenfalls eine Zigarette an, was ein Fehler war, wenn er damit Gelassenheit demonstrieren wollte. Seine Hände zitterten.

»Also gut, Mr. Corey, wenn Sie dann zufrieden sind«, sagte er. »Sie wurden von Ihrer Schwester hier angemeldet.«

In meinem Kopf bildete sich ein großes Fragezeichen.

»Welche Schwester?«

»Evelyn.«

Bei mir klingelte nichts. »Das ist lächerlich. Ich habe Evelyn seit Jahren nicht mehr gesehen. Sie wusste nicht einmal, dass ich in der Gegend war.«

Er zuckte mit den Schultern. »Nichtsdestotrotz …«

»Wo ist sie jetzt? Ich will sie anrufen«, forderte ich.

»Ich habe ihre Anschrift nicht griffbereit.«

»Holen Sie sie.«

Er stand auf, ging zu einem Aktenschrank, öffnete ihn, blätterte und zog eine Karte heraus.

Ich sah mir die Eintragung an. Mrs. Evelyn Flaumel … Die New Yorker Adresse sagte mir ebenfalls nichts, doch ich merkte sie mir. Aus der Karte ging noch hervor, dass mein Vorname Carl lautete. Gut. Weitere Informationen.

Ich sicherte die Waffe und steckte sie neben die Stange in meinen Gürtel.

»Also gut. Wo sind meine Kleider, und was werden Sie mir zahlen?«

»Ihre Kleidung wurde bei dem Unfall zerstört, und ich muss Ihnen außerdem sagen, dass beide Beine gebrochen waren – das linke sogar doppelt. Offen gesagt ist mir schleierhaft, wie Sie überhaupt stehen können. Sie sind erst vor zwei Wochen –«

»Meine Wunden heilen eben schnell. Aber jetzt zum Geld …«

»Was für Geld?«

»Die außergerichtliche Erledigung der Klage wegen Behandlungsfehlern und das andere.«

»Sie sind wohl verrückt!«

»Wer ist hier verrückt? Ich bin mit tausend in bar zufrieden, zahlbar sofort.«

»Vergessen Sie’s.«

»Nun, ich rate Ihnen, sich die Sache lieber noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen – überlegen Sie nur, was das für den Ruf Ihrer Klinik bedeutet, wenn ich vor dem Prozess genug Presse bekomme. Ich werde mich an die Amerikanische Ärztevereinigung wenden, an die Zeitungen, die –«

»Das ist Erpressung. Darauf lasse ich mich nicht ein.«

»Zahlen Sie jetzt oder später, auf Gerichtsbeschluss. Mir ist das egal. Aber so ist es billiger.«

Wenn er jetzt mitmachte, waren meine Vermutungen nicht ganz aus der Luft gegriffen und hier war tatsächlich etwas faul.

Er starrte mich finster an.

»Tausend habe ich nicht hier«, sagte er schließlich.

»Schlagen Sie einen Kompromiss vor.«

»Das ist Diebstahl«, sagte er nach einer weiteren Pause.

»Nicht, wenn ich’s selbst abhole, Idiot. Also her damit.«

»Kann sein, dass ich fünfhundert im Safe habe.«

»Holen Sie’s.«

Nachdem er den Inhalt eines kleinen Wandsafes inspiziert hatte, verkündete er, er habe vierhundertdreißig Dollar. Da ich keine Fingerabdrücke auf dem Safe hinterlassen wollte, akzeptierte ich den Betrag und stopfte mir die Scheine in die Jackentasche.

»Wie heißt die Taxigesellschaft hier?«

Er nannte einen Namen, und ich suchte im Telefonbuch danach. Anscheinend befanden wir uns im Norden des Staates New York.

Ich ließ ihn das Taxi rufen, denn ich hatte keine Ahnung, wie die Klinik hieß, und wollte ihm nicht zeigen, wie wenig ich wusste. Schließlich hatte ich eine Bandage um den Kopf gehabt.

Als er den Wagen bestellte, nannte er den Namen der Klinik: Greenwood Private Hospital.

Ich drückte meine Zigarette aus, nahm eine zweite und entlastete meine Füße von gut neunzig Kilo, indem ich mich in einen braunen Sessel neben seinem Bücherregal sinken ließ.

»Wir warten hier. Sie bringen mich dann zur Tür«, sagte ich.

Er redete kein Wort mehr mit mir.

2.

Es war ungefähr acht Uhr, als mich das Taxi an irgendeiner Straßenecke der nächstgelegenen Stadt absetzte. Ich bezahlte den Fahrer und wanderte zwanzig Minuten lang ziellos umher. Dann machte ich in einem Schnellrestaurant Halt, bestellte Saft, Eier, Toast, Speck und drei Tassen Kaffee. Der Speck war zu fett.

Nachdem ich meine Frühstückspause auf über eine Stunde ausgedehnt hatte, machte ich mich wieder auf den Weg, fand ein Kleidergeschäft und wartete, bis es um halb zehn Uhr öffnete.

Ich kaufte ein paar Hosen, drei Sporthemden, einen Gürtel, etwas Unterwäsche und ein Paar passende Schuhe. Außerdem suchte ich mir ein Stofftaschentuch, eine Brieftasche und einen Taschenkamm aus.

Anschließend ging ich zur Greyhound-Station und stieg in einen Bus nach New York City. Niemand versuchte mich aufzuhalten. Niemand schien nach mir zu suchen.

Während ich die vorbeirauschende Landschaft betrachtete, die in bunten Herbstfarben leuchtete und unter einem hellen, kalten Himmel von frischen Windböen durchweht wurde, ließ ich mir all die Dinge, die ich über mich und meine Lage wusste, durch den Kopf gehen.

Ich war von meiner Schwester Evelyn Flaumel als Carl Corey in Greenwood eingeliefert worden. Dies war als Folge eines Autounfalls geschehen, der etwa zwei Wochen zurücklag und bei dem ich mir angeblich Knochenbrüche zugezogen hatte, die mir aber keine Schwierigkeiten mehr machten. Ich hatte keinerlei Erinnerung an eine Schwester namens Evelyn. Die Leute in Greenwood waren angewiesen worden, mich ruhig zu halten, fürchteten aber rechtliche Konsequenzen, als ich mich befreien konnte und ihnen damit drohte. Also gut. Irgendjemand hatte Angst vor mir – aus irgendeinem Grund. An diesem Punkt wollte ich einhaken.

Ich zwang mich, an den Unfall zu denken, konzentrierte mich darauf, bis ich Kopfschmerzen bekam. Es war kein Unfall gewesen. Diesen Eindruck hatte ich, obwohl ich den Grund nicht kannte. Aber ich würde es herausfinden, und jemand würde dafür büßen. Gewaltig büßen! Ein ungeheurer Zorn flammte in mir auf. Jeder, der mir Schaden zufügen wollte, der mich für seine Zwecke einspannen wollte, handelte auf eigene Gefahr und würde seine gerechte Strafe erhalten, wer auch immer dahinterstecken mochte. Ich fühlte ein starkes Verlangen zu töten, die Verantwortlichen zu vernichten, und ich wusste, dass ich diese Gefühle nicht zum ersten Mal hatte, dass ich diesem Impuls in der Vergangenheit schon nachgegeben hatte. Mehr als einmal.

Ich starrte aus dem Fenster und sah zu, wie die toten Blätter von den Bäumen fielen.

Als ich New York erreichte, suchte ich als erstes den nächsten Frisiersalon auf und ließ mich rasieren und mir die Haare schneiden; anschließend wechselte ich auf der Toilette Hemd und Unterhemd, denn ich mag es nicht, Haarreste auf dem Rücken zu haben. Die .32 Automatik, die dem namenlosen Individuum in Greenwood gehörte, ruhte in meiner rechten Jackentasche. Wenn Greenwood oder meine Schwester mich wieder schnappen wollten, würde ihnen eine Übertretung des Waffengesetzes gerade recht kommen. Dennoch beschloss ich, die Waffe zu behalten. Sie müssten mich zuerst einmal finden, und ich wollte gewappnet sein. Ich aß kurz zu Mittag, fuhr eine Stunde lang mit Subway und Bussen herum, und nahm schließlich ein Taxi, das mich zu der Adresse in Westchester brachte, zu Evelyn, meiner angeblichen Schwester, die hoffentlich mein Gedächtnis etwas auftauen würde.

Schon vor meiner Ankunft hatte ich mir eine Taktik zurechtgelegt.

Als die Tür des großen Hauses dreißig Sekunden nach meinem Klopfen aufschwang, wusste ich also, was ich sagen wollte. Ich hatte darüber nachgedacht, während ich die gewundene weiße Kiesauffahrt hinaufging, zwischen dunklen Eichen und hellschimmernden Ahornbäumen, während unter meinen Füßen das Laub raschelte und mir der Wind kühl um den frischgeschorenen Hals im hochgeschlagenen Jackenkragen strich. Der Duft meines Haarwassers vermischte sich dabei mit dem dumpfen Geruch der Efeuranken, die sich an den Mauern des alten Gebäudes hochzogen. Nichts kam mir vertraut vor. Ich hatte den Eindruck, noch nie hier gewesen zu sein.

Als ich klopfte, hatte es ein Echo gegeben.

Dann hatte ich die Hände in die Taschen gesteckt und gewartet.

Als die Tür aufging, lächelte ich und nickte dem Hausmädchen entgegen; sie hatte zahlreiche Leberflecken, dunkle Haut und einen puertoricanischen Akzent.

»Ja?«, fragte sie.

»Ich möchte bitte Mrs. Evelyn Flaumel sprechen.«

»Wen darf ich anmelden?«

»Ihren Bruder Carl.«

»Oh, kommen Sie doch bitte herein«, forderte sie mich auf.

Ich betrat den Flur. Der Boden war ein Mosaik aus winzigen lachs- und türkisfarbenen Kacheln, die Wände waren mahagoniverkleidet, in einem Raumteiler zu meiner Linken stand eine Wanne voll großblättriger Gewächse. Von oben spendete ein Würfel aus Glas und Emaille ein gelbliches Licht.

Das Mädchen verschwand, und ich suchte die Umgebung nach vertrauten Dingen ab.

Nichts.

Also wartete ich.

Schließlich kehrte das Hausmädchen zurück, nickte freundlich und sagte: »Bitte folgen Sie mir. Sie wird Sie in der Bibliothek empfangen.«

Ich folgte ihr drei Stufen hinauf und an zwei geschlossenen Türen vorbei durch einen Korridor. Die dritte Tür zur Linken war offen, und das Mädchen bedeutete mir einzutreten. Ich blieb auf der Schwelle stehen.

Wie alle Bibliotheken war der Raum voller Bücher. Drei Gemälde hingen an den Wänden, zwei ruhige Landschaften und ein friedlicher Meerblick. Der Boden war mit dickem grünem Teppich ausgelegt. Neben dem großen Schreibtisch stand ein riesiger alter Globus, Afrika war mir zugewendet; dahinter erstreckte sich ein zimmerbreites Fenster, in kleine Glasfelder unterteilt. Doch nicht deswegen hielt ich auf der Schwelle an.

Die Frau hinter dem Schreibtisch trug ein blaugrünes Kleid mit breitem Kragen und V-Ausschnitt, hatte langes Haar und einen ins Gesicht hängenden Pony in einer Farbe zwischen Sonnenuntergangswolken und der Außenseite einer Kerzenflamme in einem abgedunkelten Raum; es war ihre natürliche Haarfarbe, wie ich instinktiv wusste. Die Augen hinter ihrer Brille, die sie meinem Gefühl nach nicht brauchte, waren so blau wie der Lake Erie um drei Uhr an einem wolkenlosen Sommernachmittag, und die Tönung ihres gezwungenen Lächelns passte zu ihrem Haar. Doch nicht deswegen hielt ich auf der Schwelle an.

Ich kannte sie von irgendwoher, auch wenn ich nicht wusste, woher.

Lächelnd trat ich vor.

»Hallo«, sagte ich.

»Setz dich, bitte«, sagte sie und deutete auf einen Sessel mit hoher Lehne und breiten Armstützen, weich und orangefarben gepolstert und genau in dem Winkel zurückgeklappt, den ich bevorzugte, um es mir bequem zu machen.

Ich kam der Aufforderung nach, und sie musterte mich.

»Freut mich, dass du wieder auf den Beinen bist.«

»Mich auch. Wie ist es dir ergangen?«

»Gut, danke der Nachfrage. Ich muss zugeben, dass ich nicht erwartet habe, dich hier zu sehen.«

»Ich weiß«, flunkerte ich. »Aber hier bin ich, um dir für deine schwesterliche Fürsorge zu danken.« Ich legte einen leicht ironischen Ton in meine Worte, weil mich ihre Reaktion interessierte.

In diesem Augenblick kam ein riesiger Hund ins Zimmer – ein irischer Wolfshund – und rollte sich vor dem Tisch zusammen. Ein zweiter folgte und kreiste zweimal um den Globus, ehe er sich ebenfalls hinlegte.

»Nun«, sagte sie genauso ironisch, »das war das Mindeste, was ich für dich tun konnte. Du musst eben vorsichtiger fahren.«

»In Zukunft werde ich vorsichtiger sein, versprochen.« Ich wusste nicht, welche Rolle ich hier eigentlich spielte, aber da sie nicht wusste, dass ich es nicht wusste, beschloss ich, sie gründlich auszuhorchen. »Ich hatte mir gedacht, es würde dich interessieren, wie es mir geht, und ich bin gekommen, damit du es mit deinen eigenen Augen sehen kannst.«

»Neugierig war ich tatsächlich – und bin es immer noch«, antwortete sie. »Hast du schon gegessen?«

»Eine Kleinigkeit vor mehreren Stunden.«

Sie klingelte nach dem Mädchen und bestellte etwas zu essen. Dann sagte sie: »Ich hatte mir schon gedacht, dass du Greenwood verlassen würdest, sobald du dazu in der Lage wärst. Allerdings hatte ich nicht angenommen, dass es so schnell gehen würde – geschweigen denn, dass du hierherkommen würdest!«

»Ich weiß«, erwiderte ich, »deshalb bin ich hier.«

Sie bot mir eine Zigarette an, ich nahm sie und gab uns beiden Feuer. »Du warst schon immer unberechenbar«, sagte sie schließlich. »Aber auch wenn dir das bisher oft geholfen hat, würde ich mich gerade lieber nicht mehr darauf verlassen.«

»Wie meinst du das?«, fragte ich.

»Für einen Bluff ist die Gefahr viel zu groß, und für genau das halte ich deinen Auftritt hier. Ich habe deinen Mut stets bewundert, Corwin, aber sei kein Dummkopf. Du weißt doch, was auf dem Spiel steht.«

Corwin? Speichern unter »Corey«.

»Vielleicht weiß ich das nicht. Vergiss nicht, dass ich eine Weile geschlafen habe.«

»Soll das heißen, du hast keinen Kontakt mehr gehabt?«

»Seit meinem Erwachen hatte ich keine Gelegenheit dazu.«

Sie legte den Kopf auf die Seite und kniff ihre schönen Augen zusammen.

»Unwahrscheinlich«, sagte sie, »aber möglich. Immerhin möglich. Vielleicht sagst du die Wahrheit. Bei dir wäre das denkbar. Ich will das einfach mal annehmen. Du hast möglicherweise sogar klug und vorsichtig gehandelt. Lass mich darüber nachdenken.«

Ich zog an meiner Zigarette und hoffte, dass sie noch mehr sagen würde. Aber da sie schwieg, wollte ich den möglichen Vorteil nutzen, den ich in diesem unverständlichen Spiel herausgeholt hatte – ein Spiel mit Spielern, die ich nicht kannte, und um Einsätze, von denen ich keine Ahnung hatte.

»Die Tatsache, dass ich hier bin, bedeutet etwas«, meinte ich.

»Ja«, erwiderte sie. »Ich weiß. Aber du bist schlau, also könnte dein Auftauchen viele Gründe haben. Warten wir’s ab, dann sehen wir klarer.«

Warten worauf? Um was zu sehen? Welche Gründe?

In diesem Augenblick wurden Steaks und ein großer Krug Bier gebracht. Dadurch war ich vorübergehend davon befreit, geheimnisvolle und allgemeingültige Äußerungen zu machen, die sie für raffiniert oder bedeutsam halten konnte. Mein Steak war sehr gut, innen rosa und sehr saftig. Ich zerriss mit den Zähnen hungrig das hartgeröstete Brot und schluckte durstig das Bier. Sie lachte, während sie kleine Bissen von ihrem Steak abschnitt.

»Mir gefällt es, wie du dein Leben genießt, Corwin. Das ist einer der Gründe, warum ich es schade fände, wenn du es verlieren würdest.«

»Ich auch«, murmelte ich.

Während des Essens dachte ich über sie nach. Ich sah sie in ihrem tief ausgeschnittenen Kleid, das so grün war wie das Grün des Meeres und sich unten schwungvoll weitete. Musik ertönte, es wurde getanzt, Stimmen murmelten hinter uns. Ich trug Schwarz und Silber, und … Die Vision verschwand. Aber es war ein wahres Stück aus meiner Erinnerung, davon war ich überzeugt; ich fluchte innerlich, dass mir das Gesamtbild fehlte. Was hatte sie mir damals nur gesagt, sie in ihrem Grün, ich in Schwarz und Silber, in jener Nacht, beim Klang der Musik und der Stimmen?

Ich schenkte Bier aus dem Krug nach und beschloss, die Vision auf die Probe zu stellen.

»Ich erinnere mich an einen Abend, als du von Kopf bis Fuß in Grün gekleidet warst, und ich trug meine Farben. Wie schön mir damals alles vorkam – und die Musik …«

Ihr Gesicht nahm einen sehnsüchtigen Ausdruck an, die Wangenmuskeln entspannten sich.

»Ja, war das nicht eine großartige Zeit? … Du hattest wirklich keinen Kontakt?«

»Ehrenwort«, sagte ich, was auch immer mein Wort wert sein mochte.

»Die Dinge sind viel schlimmer geworden, und die Schatten enthalten mehr Grauen, als man sich hat träumen lassen …«

»Und …?«, fragte ich.

»Er hat noch immer seine Sorgen«, endete sie.

»Oh.«

»Ja«, fuhr sie fort, »und er wird natürlich wissen wollen, wo du stehst.«

»Genau hier.«

»Soll das heißen …?«

»Wenigstens im Augenblick«, sagte ich, vielleicht ein wenig zu hastig, denn sie riss ihre Augen weit auf. »Schließlich habe ich noch keinen rechten Überblick.« Was immer das bedeuten mochte.

»Oh.«

Und wir aßen unsere Steaks auf und leerten die Biergläser und warfen den Hunden die Knochen zu.

Hinterher tranken wir Kaffee, und ich hatte vage brüderliche Gefühle, die ich unterdrückte. »Was ist mit den anderen?«, fragte ich. Das konnte alles bedeuten, klang aber ungefährlich.

Kurz fürchtete ich, sie könnte mich fragen, was ich meinte. Stattdessen lehnte sie sich in ihrem Sessel zurück, blickte zur Decke und sagte: »Wie immer hat man von keinem Neuen gehört. Vielleicht war deine Entscheidung doch die klügste. Ich habe ja selbst Spaß daran. Aber wie könnte man je die Pracht vergessen?«

Ich senkte den Blick, weil ich nicht sicher war, was ich hätte hineinlegen sollen. »Das kann man nicht«, sagte ich. »Niemals.«

Es folgte ein langes unbehagliches Schweigen. »Hasst du mich?«, fragte sie schließlich.

»Natürlich nicht«, erwiderte ich. »Wie könnte ich – nach allem, was geschehen ist?«

Diese Antwort schien sie zu freuen, und sie ließ ihre weißen Zähne blitzen.

»Gut, und vielen Dank. Was auch immer sonst sein mag, du bist auf jeden Fall ein Gentleman.«

Ich grinste und verbeugte mich.

»Du verdrehst mir noch den Kopf.«

»Sicher nicht«, meinte sie, »nach allem, was geschehen ist.«

Mir wurde unbehaglich zumute.

Der Zorn brannte nach wie vor in mir, und ich fragte mich, ob sie wusste, gegen wen er sich richten müsste. Ich hatte das Gefühl, dass sie es wusste. Ich kämpfte mit dem Wunsch, sie geradeheraus danach zu fragen, unterdrückte ihn aber.

»Und was gedenkst du zu tun?«, fragte sie schließlich, und damit war ich an der Reihe zu antworten.

»Natürlich vertraust du mir nicht …«

»Wie könnten wir?«

Das wir musste ich mir merken.

»Nun denn. Zunächst bin ich bereit, mich unter deine Fürsorge zu begeben. Ich würde gern hierbleiben, wo du mich im Auge behalten kannst.«

»Und später?«

»Später? Wir werden sehen.«

»Clever, sehr clever. Damit bringst du mich in eine unangenehme Lage.« (Ich hatte das vorgeschlagen, weil ich nicht wusste, wo ich sonst unterkommen sollte und das erpresste Geld mich nicht lange über Wasser halten würde.) »Natürlich darfst du bleiben. Aber ich möchte dich warnen« – bei diesen Worten betastete sie etwas an ihrer Halskette, das ich für eine Art Schmuckstück gehalten hatte – »das hier ist eine Ultraschallpfeife. Blitz und Donner haben vier Brüder, die darauf abgerichtet sind, sich um Störenfriede zu kümmern, und sie reagieren auf meine Pfeife. Versuch also nicht, irgendwohin zu gehen, wo du nicht erwünscht bist. Ein kleiner Pfiff, und sogar du bist erledigt. Diese Hunderasse ist der Grund, warum es in Irland keine Wölfe mehr gibt.«

»Ich weiß«, sagte ich und erkannte dabei, dass ich es tatsächlich wusste.

»Ja«, fuhr sie fort. »Es wird Eric gefallen, dass du mein Gast bist. Diese Tatsache müsste ihn dazu bringen, dich in Ruhe zu lassen, und darum geht es dir doch, n’est-ce pas?«

»Oui«, antwortete ich.

Eric! Der Name sagte mir etwas! Ich hatte tatsächlich einen Eric gekannt, und dies war einmal sehr wichtig gewesen. Allerdings nicht in letzter Zeit. Aber der Eric, den ich kannte, war noch immer da, und das war wichtig.

Warum?

Ich hasste ihn, das war einer der Gründe. Hasste ihn so sehr, dass ich mit dem Gedanken gespielt hatte, ihn umzubringen. Vielleicht hatte ich es sogar schon versucht.

Es gab außerdem eine Bindung zwischen uns, das wusste ich.

Waren wir verwandt?

Ja, das war’s! Keinem von uns gefiel es, dass wir – Brüder waren … ich erinnerte mich, ich erinnerte mich …

Der große, starke Eric mit seinem gekräuselten Bart und seinen Augen – die denen von Evelyn ähnlich sahen!

Eine neue Woge der Erinnerung durchfuhr mich, während meine Schläfen zu schmerzen begannen und mein Nacken sich plötzlich heiß anfühlte.

Ich ließ mir nichts anmerken und zwang mich, an meiner Zigarette zu ziehen und nach meinem Bier zu greifen. Dann wurde mir bewusst, dass Evelyn tatsächlich meine Schwester war! Nur hieß sie nicht Evelyn. Ihr richtiger Name wollte mir nicht einfallen, sie hieß jedenfalls nicht Evelyn. Ich beschloss, vorsichtig zu sein. Wenn ich sie anredete, würde ich lieber keinen Namen benutzen, bis mir der richtige einfiel.

Und was war mit mir? Was ging hier eigentlich vor?

Ich hatte plötzlich das Gefühl, dass Eric etwas mit meinem Unfall zu tun hatte. Er hätte tödlich sein sollen, doch ich war durchgekommen. Er war derjenige, den ich suchte, oder? Ja, sagte mein Gefühl. Es musste Eric sein. Und Evelyn arbeitete mit ihm zusammen, hatte Greenwood bezahlt, um mich im Koma zu halten. Besser als tot zu sein, aber …

Mir dämmerte, dass ich mich irgendwie in Erics Gewalt begeben hatte, indem ich zu Evelyn kam, und dass ich, wenn ich blieb, sein Gefangener sein würde, einem neuen Angriff schutzlos ausgeliefert.

Doch Evelyn hatte angedeutet, dass mein Aufenthalt hier Eric dazu bringen würde, mich in Ruhe zu lassen. War das möglich? Im Grunde durfte ich niemandem vertrauen. Ich musste ständig auf der Hut sein. Vielleicht wäre es besser, wenn ich einfach verschwände und meine Erinnerungen langsam zurückkehren ließe.

Allerdings hatte ich ein beunruhigendes Gefühl der Dringlichkeit. Ich musste schnellstmöglich die ganze Geschichte in Erfahrung bringen und dann sofort handeln. Dieser Gedanke beherrschte mich. Wenn ich meine Erinnerungen nur unter Gefahr auffrischen konnte, wenn ich die richtige Gelegenheit nur im Risiko finden konnte, dann sollte es so sein. Ich würde bleiben.

»Und ich erinnere mich«, sagte Evelyn, und mir wurde bewusst, dass sie schon eine Weile gesprochen hatte, ohne dass ich ihr gefolgt war, was vermutlich an der Nachdenklichkeit in ihrer Stimme lag, die keine Reaktion erforderte, und daran, dass ich ganz in meinen Gedanken gefangen gewesen war.

»Und ich erinnere mich an den Tag, als du Julian bei seinem Lieblingsspiel besiegt hast und er ein Glas Wein nach dir schleuderte und dich verwünschte. Du nahmst den Preis trotzdem entgegen. Und er hatte auf einmal Angst, zu weit gegangen zu sein. Aber du hast nur gelacht und ein Glas mit ihm getrunken. Ich glaube, ihm tat sein Wutausbruch hinterher leid, wo er doch sonst so beherrscht ist, und ich glaube, er war an jenem Tag neidisch auf dich. Weißt du noch? Ich glaube, er hat dir seither vieles nachgemacht. Aber ich hasse ihn noch immer und hoffe, dass es ihn bald erwischt. Ich habe so ein Gefühl, als ob das gar nicht mehr lange dauern wird …«

Julian, Julian, Julian. Ja und nein. Die vage Erinnerung an ein Spiel, an die Verärgerung eines Mannes, dessen geradezu legendäre Selbstbeherrschung ich zerstört hatte. Ja, das alles war mir irgendwie vertraut; und nein, ich vermochte nicht zu sagen, worum es dabei genau gegangen war.

»Und Caine, den hast du richtig reingelegt! Er hasst dich immer noch, weißt du …«

Ich erkannte, dass ich nicht besonders beliebt war. Irgendwie gefiel mir diese Vorstellung.

Und Caine hörte sich ebenfalls vertraut an. Sehr sogar.

Eric, Julian, Caine, Corwin. Die Namen wirbelten mir im Kopf herum, und all das war zu viel für mich, um an mich zu halten.

»Es ist so lange her …«, sagte ich fast widerwillig, was aber zu stimmen schien.

»Corwin, reden wir nicht um den heißen Brei herum. Du willst mehr als Sicherheit, das weiß ich. Und du bist immer noch stark genug, etwas herauszuholen, wenn du deine Trümpfe richtig ausspielst. Ich habe keine Ahnung, was du im Schilde führst, aber vielleicht können wir mit Eric zu einem Arrangement kommen.« Die Bedeutung des wir hatte sich offenbar verändert. Sie war zu einem Urteil über meinen Wert gelangt, worum auch immer es ging. Sie sah eine Chance, etwas für sich selbst herauszuholen, das spürte ich. Ich lächelte, aber nicht zu sehr. »Bist du deshalb hergekommen?«, fuhr sie fort. »Hast du einen Vorschlag für Eric, etwas, das einen Mittler erfordert?«

»Kann durchaus sein«, antwortete ich, »wenn ich noch ein bisschen gründlicher darüber nachgedacht habe. Ich bin erst seit so kurzer Zeit wieder auf den Beinen, dass ich mir erstmal einiges durch den Kopf gehen lassen muss. Dabei möchte ich an dem Ort sein, wo ich am schnellsten handeln könnte, wenn ich zu dem Schluss käme, dass mir auf Erics Seite am besten gedient wäre.«

»Sieh dich vor. Du weißt, dass ich ihm jedes Wort weitererzähle.«