Über Alfred Kerr

Alfred Kerr, der einflußreichste deutsche Kritiker und Essayist, wurde 1867 in Breslau als Sohn einer wohlhabenden jüdischen Familie geboren. Er studierte in Breslau und Berlin, wo er seit 1887 lebte und für große Zeitungen und prominente Zeitschriften seine maßstabsetzenden Theaterkritiken schrieb: für das »Magazin für Literatur«, den »Tag« und das »Berliner Tagblatt« wie für die »Neue Deutsche Rundschau«. Seine Bücher wurden 1933 von den Nazis verbrannt und er floh über die Schweiz und Paris nach London. Kerr starb 1948 in Hamburg. Von seinen Werken seien genannt: Die Welt im Drama (1917); Die Welt im Licht (1920); Es sei wie es wolle,/Es war doch so schön (1927); Die Diktatur des Hausknechts (1931).Günther Rühle, Herausgeber von Kerrs Berliner Briefen, wurde 1924 in Gießen geboren. Er arbeitet 25 Jahre als Kulturredakteur der FAZ, bevor er 1974 deren Feuilleton übernahm. 1985–1990 war er Intendant am Schauspiel Frankfurt und anschließend Feuilletonchef des Berliner »Tagesspiegels«. Seit 1995 lebt er in Bad Soden. Günther Rühle ist Autor umfangreicher Publikationen zum deutschen Theater und Herausgeber der Gesammelten Werke von Marieluise Fleißer und Alfred Kerr.

Günther Rühle, geboren 1924, war 25 Jahre Redakteur und Theaterkritiker im Feuilleton der FAZ, zehn Jahre davon dessen Leiter. Danach war er Intendant am Schauspiel Frankfurt und Feuilletonchef des Tagesspiegels. Er ist Herausgeber der Gesammelten Werke von Alfred Kerr.

Deborah Vietor-Engländer, geboren und aufgewachsen in London. Studium an der Universität London, Promotion bei Walter Jens in Tübingen. Langjährige Lehr- und Forschungstätigkeit an der Universität des Saarlandes und an der TU Darmstadt. Lebt im Rhein-Main-Gebiet. Autorin von »Faust in der DDR« (1987). Herausgeberin von zwei Bänden der Werkausgabe Alfred Kerrs im S. Fischer Verlag und einer Werkausgabe Hermann Sinsheimers, zahlreiche Publikationen zur Exilthematik, 2016 erschien ihre Alfred-Kerr-Biographie. Zurzeit mit der Edition der Berliner Plauderbriefe Alfred Kerrs 1897–1922 beschäftigt. Seit 2017 Präsidentin der Alfred-Kerr-Stiftung.

Informationen zum Buch

Eine moderne Liebeserklärung an den Menschen

Zwischen 1895 und 1900 schreibt Alfred Kerr, der angehende prominente Kritiker, seine »Berliner Briefe« für die Breslauer Zeitung. Er berichtet darin vom Kaiser und dem Hofstaat, aber auch von den Bürgern neuen Typs, den Unternehmern, die viel von Zukunft in die Stadt bringen, und jenen, die mit dem Leben nicht fertigwerden: den Gestrauchelten, Bankrotteuren, Hochstaplern und Namenlosen. Denn er weiß: Eine Stadt, das sind die Menschen, die ihre pulsierende Welt prägen und genauso von ihr bestimmt werden.

Kaum einer hat das menschliche Zusammenleben so einfühlsam schildern können wie Alfred Kerr. Sein Menschenpanorama hat bis heute nichts von seiner Aktualität eingebüßt – es öffnet dem Leser die Augen für den Lauf der Dinge, für das Wesentliche und für das, was bleibt.

»Niemals beginnt man einen Berliner Brief in besserer Stimmung, als wenn man keinen Schimmer hat, was drinstehen wird.« Alfred Kerr

»Nicht alle Deutschen waren begeistert, als mit der Gründung des Deutschen Reiches 1871 die preußische Hauptstadt Berlin zur Reichshauptstadt und damit zum Zentrum des neuen Gemeinwesens erhoben wurde … Hier war aktive Zeit, Entwicklung, hier konnte man etwas werden. Als der junge Alfred Kerr 1886 in Breslau sein Abitur machte, zog es ihn nach Berlin. Gegen Berlin war Breslau eine kleine Stadt; sie hatte damals 300 000 Einwohner … Berlin aber schon 1 300 000 und wuchs und wuchs. Wer von Breslau nach Berlin ging, und das waren nicht wenige, fragte sich: Wie lebt man dort, wo die gewohnten familiären Bezüge und Sitten sich auflösen, die Arbeitsverhältnisse sich ändern, man den Nachbarn kaum noch kennt, der Einzelne sich in der Masse verliert? Die bange Frage »Was ist der Mensch in Berlin?« hat sicher manchen bedrängt, als er seinen Koffer packte, um ein Berliner zu werden. Die Berichte, die der junge Alfred Kerr aus Berlin für seine Breslauer Zeitung schrieb, erzählen von diesem Leben in der großen Stadt, von Selbstbehauptung, Aufstieg, Untergang.« Günther Rühle in seinem Nachwort

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Alfred Kerr, 1898

Alfred Kerr

Was ist der Mensch in Berlin?

Briefe eines europäischen Flaneurs

Herausgegeben von Deborah Vietor-Engländer

Mit einem Nachwort von Günther Rühle

Inhaltsübersicht

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1900

Anhang

Alfred Kerrs Briefe aus Berlin Von Günther Rühle

Zu dieser Ausgabe

Anmerkungen

Personenregister

Bildnachweis

Impressum

1895

1. Januar 1895

Der Berliner Westen – diese elegante Kleinstadt, in welcher alle Leute wohnen, die etwas können, etwas sind und etwas haben und sich dreimal soviel einbilden, als sie können, sind und haben – hat in dieser Woche zwei Jubelgreise gefeiert. Ludwig Pietsch und Theodor Fontane. Pietsch ist siebzig, Fontane fünfundsiebzig Jahre geworden. Aber es gibt zwischen ihnen mehr Unterschiede als diese fünf Jahre. Der eine ist ein Temperamentsmensch, der andere ist ein nachdenklich-skeptischer Betrachter. Der eine ist ein lauter, aufgeknöpfter Amüseur, der andere ein stiller, zurückgezogener Mann. Der eine betrachtet die Erscheinungen, und es kommt ihm darauf an, äußere Eindrücke zu beschreiben; der andere betrachtet gleichfalls das äußere Leben, aber es kommt ihm darauf an, dabei seelische Zusammenhänge zu schildern. Der eine ist, kurz, ein Journalist, der andere ist ein Dichter. Nun hat der Journalist den Professortitel bekommen; der Dichter durfte nur, versehen mit den Tröstungen des Dr. phil. honoris causa, ins sechsundsiebzigste Lebensjahr schreiten.

Ein alter, großgewachsener Herr ist Theodor Fontane, mit schmalem Seitenbärtchen und grauem Schnurrbart. Ein großes Tuch um den Hals gelegt, das über dem dicken Mantel sitzt, schreitet er die Potsdamer Straße entlang. Er geht gewöhnlich dicht an den Häusern, weil es ihm keinen Spaß machen würde, von den hundert Bekannten, die dort jeder Bewohner des Westens täglich trifft, angehalten zu werden. Nicht als ob er unfreundlich wäre. Aber es lohnt wahrhaftig nicht, ein paar Banalitäten auszutauschen und sich dafür zu erkälten. Vor dem Erkälten hat er nämlich große Angst; und darum hält er das berühmte graugrüne Tuch stets vorn mit der Hand zusammen. Unter dem Hut blicken die guten und klugen und großen grauen Augen in die Ferne, und mit raschen Schritten geht er, etwas nach vorn geneigt, unaufhaltsam seines Weges. Wenn es windig ist, schreitet er rascher, und er hält das Tuch fester und höher, bis über den Mund weg. Die grauen Locken bewegen sich dann leise, die dem alten Herrn über dem Nacken schweben. Es sind keine Künstlerlocken! Er sieht nicht aus wie ein greiser Barde, von dem zu befürchten ist, daß er eine Leier aus der Manteltasche zieht. Er hat etwas Altfränkisch-Militärisches. Er hat das Gesicht eines friedlichen pensionierten Offiziers aus den dreißiger Jahren. Über dem ganzen Mann schwebt im Äußeren, auch in der Kleidung, bis auf Halsbinde und Kragen ein Hauch der guten alten Zeit.

Und das Staunenswerte ist: diese unmoderne Persönlichkeit hat unglaublich moderne Ansichten. Der älteste unter den deutschen Literaten ist zugleich der entschlossenste Parteigänger der jüngsten. Er wird von ihnen geliebt wie kein zweiter. Nicht minder von demjenigen Kreis der übrigen literarisch Interessierten, welcher nicht in rohen Bumbum-Effekten und verlogenen Sentimentalitäten den Gipfel der Kunst erblickt, sondern sich zu ehrlicher Lebensabschilderung und feinerer Seelenkunde hingezogen fühlt. Sie alle bestaunen ein Phänomen in dem Manne, der sich, im zarten Alter von sechzig Jahren, entschloß, ein naturalistischer Dichter zu werden; der sich hinsetzte und in »Irrungen und Wirrungen« flugs den besten Berliner Roman schrieb; der heut mit fünfundsiebzig Jahren noch ein wundervolles, lebenstiefes Abendstück von reifer und inniger Kunst zustande bringt.

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Der neue Reichstag, eingeweiht am 5. Dezember 1894, als Kerr seine Berliner Briefe zu schreiben begann

Der Alte hat ein lebendiges Interesse an allem, was auf literarischem Felde vorgeht. Und was er für bedeutsam und tüchtig hält, dem spendet er unaufgefordert, in jugendlicher Herzlichkeit, sein Lob. Er braucht einen Menschen nicht zu kennen und tritt ihm plötzlich – ich hab es mit tiefer Freude an mir erfahren – durch einen Brief näher, weil ihm irgend etwas auffiel und gefallen hat. Und er ist ein Kritiker. Er hat in den langen Jahren, in denen er die zeitgenössische Dramatik, berufsmäßig richtend, verfolgte, unendlich fördernde, herbfrische, knappe Kritiken geschrieben, zugleich knorrig und fein, zugleich scharf scheidend und schmiegsam nachfühlend.

Er schrieb sie für die Vossische. Und für die Vossische schrieb auch sein Leben lang der andere: Pietsch. Das ist wieder eine ganz andere Nummer! Ein großer, kräftiger, jünglinghafter Greis, mit geröteten Wangen, die Silberhaare künstlerisch drapiert, in den feurigen, grauen Augen ein rheinweinfeuchter Schimmer, die Manieren elegant, sicher, verbindlich, dabei in allem Tun und Lassen ein leiser Rest von Bohème und Sichgehenlassen, was die ungewöhnliche Liebenswürdigkeit, die von dem Mann ausgeht, wirkungsvoll steigert. Er ist ein Draufgänger, mit seinen siebzig Jahren, aus allen Gliedern zuckt ihm die joie de vivre, er lebt aus dem vollen, er hat schwerlich die Hoffnung aufgegeben, Frauen noch gefährlich zu werden, er ist bei jedem notablen Festessen, bei jeder Première, in jeder Ausstellung, bei jeder Einweihung. Er geht mit dem Kaiser nach England und beschreibt Flottenmanöver, er geht zum Zarenbegräbnis nach Moskau und ist am Abend nach der Rückkehr im Opernhaus, um am nächsten Vormittag ein Champagnerfrühstück mitzumachen, um dann bei Schulte gesehen zu werden, einen Spaziergang durch den Tiergarten zu machen, eine Redaktionskonferenz abzuhalten, rasch einen Artikel zu schreiben, abends Gäste bei sich in der Landgrafenstraße zu empfangen und schließlich mit ihnen ins Café zu gehen. Er ist mit allen einflußreichen Künstlern intim, duzt sich mit Ministerialdirektoren und kommandierenden Generälen, drückt im Vorübergehen einem Kommerzienrat die Hand, küßt einer Schauspielerin den Ellbogen und kneipt mit Eugen Zabel von der »Nationalzeitung«, dem Maler Warthmüller und einer Handvoll Premierlieutenants an dem berühmten runden Tisch bei Hausmann. Bei allen Frauen hat er einen Stein im Brett; denn wenn er sie schon durch seine Persönlichkeit bezaubert, wissen sie doch, daß er ihre Kostüme beschreiben kann … Ein Subskriptionsball kann ja ohne Pietsch gar nicht abgehalten werden! Er schildert die Lichter, den Glanz, die Pracht, die Farben, die Mull- und Tüllkleider und was sie nicht bedecken, er schildert die Parfums, die Musik, die Rosen und Heliotropen, die Fräcke, die Orden, die Gesichter, er schildert die jungen Mädchen – die Komtessen und die portemonnaie-aristokratischen –, er schildert die schönen Witwen und die glücklichen Gattinnen, die tapferen Krieger und die alten Exzellenzen, er schildert alles – bloß die Gedanken nicht, die seine Objekte im Herzen tragen. Hier macht er halt, und hier liegen auch die Grenzen seines Könnens. Er malt die Oberflächen, und er grämt sich nicht, daß er nicht mehr malen kann. Er ist mit sich zufrieden. Er schafft leicht, er verdient zwar keine Millionen, aber bei seinem Beruf führt er ohne Millionen ein Glanzleben. Er findet die Welt schön und will keinem Nebenmenschen Ursache geben, sie häßlich zu finden. Er verletzt niemanden, auch in seinen Kritiken nicht – höchstens die jüngeren Freilichtmaler bekommen ’mal ein paar Hiebe –, er ist der denkbar liebenswürdigste Kollege, auch gegen jugendliche Berufsgenossen von beschämender Kameradschaftlichkeit, seine Intimität mit den Granden steigt ihm nie zu Kopfe, und er scheint seinen versammelten Zeitgenossen in jeder Minute die Parole zuzuzwinkern: »Kindlein, liebet euch!« oder »Freut euch des Lebens« oder »Mensch, ärgere dich nicht« oder »O Gott, wie ist die Welt so schön, wenn man gesunde Glieder hat« …

Daß dieser alte Jüngling an seinem siebzigsten Geburtstag ungewöhnlich zahlreiche Huldigungen empfing, ist begreiflich. Er verlebte das Jubiläum in etwas eigenartiger Weise. Es fiel auf den 25. Dezember; sein Wiegenfest begann also offiziell am 24. Dezember nachts zwölf Uhr. Da begann er denn auch mit der Feier. Er feierte in einer Tour von Weihnachten durch bis zum Anbruch des 26. Dezember. Er ging nicht schlafen, sondern – empfing. Die ganze Nacht durch waren Gäste da, sie kamen und gingen. Gegen Morgen entfernte sich der Jubeljüngling, nur auf fünfzehn Minuten, um eine kalte Douche zu nehmen. Er wollte dieser Gewohnheit nämlich nicht entsagen, da er ihr seit grade siebzig Jahren treu geblieben war. Die Gäste kamen und gingen. Er drückte unzählige Hände, ließ sich umarmen, teilte Küsse aus, tat gerührt, machte Honneurs, nahm ungezählte Telegramme und einen Professortitel entgegen, rauchte, trank Wein, stieß an und war glücklich. Man konnte kaum zur Tür hinein, so dicht gedrängt standen, saßen, schoben und pufften die Gratulanten; jeder, der zehn Minuten in dem von Kuchendünsten, Büffetdüften und Blumengerüchen angenehm geschwängerten Raum sich aufgehalten hatte, wurde abgespannt, nur einer nicht: der höllische Festgreis. Am 27. Dezember sah ich ihn bereits im Deutschen Theater, nachher waren wir bei Ronacher zusammen. Nachts um eins wandelte er behaglich nach Hause.

Das Leben in Berlin muß doch nicht so aufreibend sein, wenn man sich so gut konservieren kann. Und doch – in dieser gefährlichen Gesellschaftsjahreszeit fühle ich mich kaputt und matt. Ich werde nächstens eine Schlafkur durchmachen – oder die deutsche Literatur wird den Verlust eines hoffnungsvollen jungen Mannes, so sagt man ja wohl, zu beklagen haben. Alle Tage kommt jetzt der Briefträger und bringt zwei bis drei Couverts von angenehmem Äußeren. Es stecken Einladungen darin »Th. N. und Frau geben sich die Ehre, Herrn … zum … am … den …ten … um … Uhr ergebenst einzuladen. Tiergartenstraße 8b. U. A. w. g.« Gewöhnlich erkennt man (nicht ohne leisen angenehmen Schauer) die Handschrift der Hausfrau: Denn ER, der im Hause angeblich Herr ist, kümmert sich um solche Scherze nicht. In Berlin wird das Gesellschaftsleben ganz von der Frau besorgt. Zwei Einladungen schreibt man ab, die dritte nimmt man an; man geht hin, tanzt sich kaputt, unterhält sich kaputt, verliebt sich kaputt und macht sich kaputt. … Bisher war alles lau und flau in diesem Winter. Jetzt mit einem Male, um die Sylvesterdrehe, geht es los, und gleich gründlich. Man lebt und webt in Frack und Lack und Claque; oder mit dem bekannten Börsenmann zu sprechen: »Man kommt aus dem reinen Oberhemd gar nicht mehr ’raus.« Aber unbedeutend bleibt dieser Winter doch, gegen diese Tatsache von namenloser kulturhistorischer Wichtigkeit ist nichts zu machen. Die quantitativen Häufungen tun’s nicht. Es fehlt etwas, das in den letzten drei Jahren immer da war: eine Verrücktheit; ein Schibboleth der Mode; ein Losungswort, ein Mittelpunkt, um den sich alles dreht; irgend etwas besonders Albernes, das Stimmung macht; ein aparter Blödsinn, an dem mit heiligem Eifer festgehalten wird. Vor einigen Jahren war es der liebliche »Sir Roger«, der schwindsuchtsförderlichste aller Galopptourentänze, welchen die spleenige Laune eines Albioniten in unseliger Stunde ersonnen hatte. Kein Tiergartenhaus, das sich achtete, ließ diesen Tanz weniger als drei Mal tanzen. Man raste, geriet in Gefahr, mehrere Beine zu brechen, verlor den Atem, riß im Vorbeitanzen einige Kelchgläser herunter und trat, wenn man Glück hatte, bei dem gefährlichen Mittelstück, der großen Steeplechase, der Hausfrau fröhlich auf die Füße. Deshalb wurde dieser Tanz auch immer traumhaft schön gefunden. Im nächsten Jahre gab es die Menuett als Spezialität. Jeder wurde verachtet, der nicht die drei Schritte rechts, die drei Schritte links und das grand compliment als die Quintessenz alles Hinreißenden erklärte. Man tanzte also zwei Menuetten in jeder Gesellschaft, in der Rauchstraße, der Stülerstraße, der Hitzigstraße und wie die Gegenden heißen, in denen sich die Kommerzienräte Gutenacht sagen. Dann, im vorigen Winter, kamen Bandour und Gavotte auf. Das war der Gipfel alles Stilvollen, Entzückenden, »Süßen«! Mit einem nahezu religiösen Eifer wurden diese Tänze gepflegt, und es tat der Begeisterung keinen Abbruch, daß die Gavotte ausschließlich in rein-arischen Gesellschaften getanzt ward, während der Bandour mehr in gemischt-konfessionellen Kreisen Bewunderung weckte. In diesem Winter nichts von alledem. Welch ein Verlust für meinen Staat! Müdigkeit und nichts als Müdigkeit wird heuer geboten, es wird wieder gewöhnlicher Wald-, Sumpf- und Wiesenwalzer getanzt – aber wie! Bis zur Bewußtlosigkeit, länger nicht. Es gilt nicht für fein, andere Rundtänze als Walzer auf die Tanzkarte zu setzen. Denn auch bei Hofbällen wird ja nur Walzer außer den Tourentänzen getanzt. Die Jünglinge halten das aber auf die Dauer nicht aus, da sie behaupten, daß Walzer am meisten angreift. Und deshalb sind sie alle so müde. Und deshalb will ich auch nächstens eine Schlafkur gebrauchen. Man ist doch schließlich kein Ludwig Pietsch …

23. April 1895

Wenn man jetzt abends um neun Uhr die Potsdamer Straße entlanggeht, wundert man sich über eine gewisse Veränderung. Sonst rennt und huscht hier alles in geschäftsmäßiger Eile aneinander vorüber. Jetzt geht alles langsamer.

Oben die Bäume zeigen nämlich die ersten Knospen. Die Luft ist lind und weich. Trotz des Pferdebahngeklingels und des Wagenrasens liegt ein gewisser Friede über den baumbestandenen Straßen. Die Leute gehen gemächlich, halb matt von der milden Luft, bleiben stehn und sehen hinauf – nach den Knospen. Die kleinen Verkäuferinnen aus den Handschuhgeschäften; die blonden Mädchen, welche bis um neun Hüte garniert haben; die andern, die frische Blumen zu Bouquets und Blutbuchenblätter zu Grabkränzen winden und an denen nur die Hände oft etwas rot sind; die schlanken Geschöpfe, die den Tag über Probiersklavinnen für die Gewänder eleganter Damen sind und die sich dafür abends an eleganten Herren rächen; die kleinen schalkhaften Schneiderinnen mit dunklen Hütchen und einem schwarzen Sammetstreifen unten am Rock; die kleinen Käfer, die bis jetzt in den Komptoirs Adressen geschrieben und Couverts beleckt haben – sie alle wandeln langsam, langsam, zu zweien und dreien, Arm in Arm gefaßt, mit schlenderndem Schritt und wiegenden, schweren Gliedern in seliger Trägheit dahin, sie saugen die weiche Abendluft ein, sehen nach den Knospen empor und nach irgendeinem Schnurrbart rechts oder links; eine oder die andere summt das sentimentale Berliner Lieblingslied vor sich: »Es war ein Sonntag, hell und klar« … Das reizt immer den Gipfel der Gefühle an.

Der Berliner Frühling ist ein Großstadt-Frühling. Er ist eine seltsame Mischung von Naturelementen und von Zivilisationselementen. Der Himmel, die Luft, die Bäume und der besondere Geruch des Asphalts, die Toiletten und die ins Freie gestellten Tische der Restaurants und Cafés im Potsdamer Viertel machen ihn. Bei Frederich ist die Veranda hergerichtet; die Gäste trinken ihren Rheinwein dort und nicken gelegentlich einem Passanten der Potsdamer Straße zu. Bei Josty weiter unten ist zwischen fünf und sechs kein Stuhl zu haben; dicht gedrängt sitzt alles an den kleinen Marmortischen im Freien. Vorwiegend die eleganten und zahlungsfähigen Beherrscher des Westens, die selbst in ihren Zylindern und schwarzen Kammgarnanzügen verblassen vor den leichten, strahlenden Toiletten ihrer Frauen, die, schwarz oder blond, laut plaudernd oder phlegmatisch aus einem Strohhalm ihren Eiskaffee saugen. Es lohnt, sie zu sehen, wie sie da sitzen und reden und lachen und knabbern – oder auch vor sich hin starren und falsche Gedanken nähren und von Zeit zu Zeit nach dem Potsdamer Platz schielen, wo elegante Spaziergänger einsam vorbeiflanieren und in die aristokratische, frühlingsgrüne Bellevuestraße einbiegen. Und auch die dunklen Gänge des Tiergartens sind abends belebter als sonst. Die kleinen Geschäftsmädchen gehen dort mit liebenswürdigen Jünglingen spazieren. Durch die großen Queralleen und über die schmäleren Reitwege gehen sie, aber die ganz schmalen und einsamen Stege am Neuen See und an der Schleuse werden bevorzugt – da, wo das Wasser melancholisch rauscht und von Zeit zu Zeit ein verlorener Schrei aus dem Zoologischen Garten herübertönt. Wer um diese Zeit durch die schweigenden, dunklen Gänge schreitet, sieht mitten im Wege Menschenpaare stehen, eng umschlungen, die sich küssen, und von den Bänken an der Seite sind flüsternde Stimmen vernehmbar. Der Frühling, der alles sprießen läßt, der selbst in der Pankestadt eine Art Vegetation zustande bringt, weckt jene leise erregte, verliebte Stimmung, die in mäßigen Novellen so oft vorkommt. Die verliebten Paare küssen sich allmählich bis zum Charlottenburger Hauptweg durch und kehren im »Charlottenhof« oder im »Café Gärtner« ein. Dort trinken sie ein Glas Helles. Und der Frühling, der alles sprießen läßt, läßt auch auf dem Gesicht des Jünglings in der zweiten Aprilhälfte die Frühlingsblätterchen sprießen, für die man in Berlin den holden Namen Pickel hat. Die kleine Blonde sieht sie, als sie am Tisch im elektrischen Lichtschein beim Glase Bier sitzt, und lächelnd sagt sie: »Max, – du bist der reine Pickolomini.«

Zu Ostern führten sie alle zum ersten Mal ihre neuen Kleider spazieren, die hellen »Fähnchen«, wie Paul Heyse so gern sagt. Scharenweise strömte alles zum Bock, welcher in Berlin doch das größte Frühlingsvergnügen darstellt. Die kräftiger organisierten Naturen der deutschen Reichshauptstadt bevorzugen dieses Lokal unverkennbar. Vater, Mutter und die Kinderschar zogen hinaus, Bräute und Bräutigams und unsolidere »Verhältnisse«; sie tranken Bier und freuten sich des Lebens in der herkömmlichen, sinnig-zarten Art, die dort gedeiht. Vor handgreiflichen Liebenswürdigkeiten in Gestalt von kunstvoll geschleuderten Eiern und Früchten ist man jetzt sicher. Denn das Auge des Gesetzes wacht. Ältere Berliner, die ebenfalls zu den kraftvoll organisierten Naturen gehören, behaupten darum wehmütig, der Bock sei gar nicht mehr der Bock. Aber es scheint noch frei und fromm und bieder zugegangen zu sein, und der große unbekannte Lokaldichter, der von den Litfaßsäulen zu seinem Volke spricht, hat den Hergang ergreifend besungen. »In drangvoll fürchterlicher Enge – war ich auf dem Berliner Bock; es gab Humor, es gab auch Senge, und ganz zerrissen ward mein Rock. Zwei Dandy’s haben mich gestichelt, weil meine Laura schräge ging; sie hatte vierzehn Glas gepichelt, – und was verträgt so ’n junges Ding!« … Aber viele gingen auch weiter nach Westen zum Stadtbahnhof Zoologischer Garten, wo »Italien in Berlin« von neuem eröffnet worden ist. Die Eröffnung war sogar sehr feierlich, und die Presse war eigens eingeladen. Geändert hat sich nicht vieles, und so träumte man wieder den alten Traum, den Traum von Venedig. Nämlich diejenigen träumten ihn, die niemals in Venedig waren. Die anderen – –!

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Treffpunkt Café Josty zwischen Potsdamer Straße und Bellevuestraße

Es ist noch immer derselbe sinnige Canale grande von fünfzig Zentimeter Tiefe, auf dessen Oberfläche Berliner Stullenpapiere und Zigarrenstummel schwimmen. Es sind noch immer die auf Pappe und Leinwand gemalten Palazzi-Fassaden, die viel schöner und bunter und leuchtender sind als die echten Palazzi in Venedig. Auch sind die Gondeln viel schöner als die venezianischen. Und erst die Gondolieri: sie haben helle prächtige Anzüge und bunte Schärpen und Mützen – wie frisch angestrichen sehn sie aus. Auch die sauberen hölzernen Brücken erfreuen sich dieses Vorzugs. Und über allem liegt der weißgraue märkische Himmel mit seinem unangenehm grellen Licht, und dicke, schwere sonntägliche Spießbürger mit geröteten Weißbiergesichtern und aufgedonnerten schweren Gattinnen stapfen über die Brücken und durch den reichlichen Sand, und holde Stimmen rufen: »Aujust, sieh dir vor!«

Ich schloß einen Moment lang die Augen und dachte an drei unvergeßliche Wochen, die ich im letzten Herbst in Venedig gelebt. Die Farben schienen mir dort matt und gedämpft zu sein, die Palazzi leuchteten nicht, sondern ragten in graubrauner, zerbröckelnder Trauer aus trüber, dunkler Wasserflut empor, verlassen und sehnsuchtsvoll, die Gondeln waren schwarz, und die Venezianer, die sie unhörbar über die dunkelgraue Fläche gleiten ließen und immer dieselbe eintönige Bewegung mit vorgebeugtem Oberleib machten, trugen eine unscheinbare Tracht. Die Brücken waren nicht hell, sondern grau und von der Zeit angefressen, aber sie waren aus Marmor und Trachyt. Und das Gesindel, das sich auf ihnen im Schatten der Länge lang räkelte und in der Abendkühle auf dem Markusplatz saß, war manierlich und graziös wie mein einstiger Breslauer Tanzstundenlehrer. Und wer in der Dämmerung von einer der Inseln heimfuhr, die nach dem grünen Meere hin in der roten Abendflut der großen, stillen Lagune in tiefer Versunkenheit liegen, und dann sah, wie in der verfallenen Wasserstadt allmählich Lichter angezündet wurden, während man durch die melancholischen Straßen ruderte: auf den sank wie ein Nebelschleier unendliche Schwermut herab. Das ist das Kennzeichen für das wirkliche Venedig: Schwermut … Verlassenheit … Sehnsucht. Das Berlinische Venedig ist womöglich noch greller, fideler, lauter, bunter, jahrmarktsmäßiger, frischlackierter als im vorigen Jahr geworden. Noch immer der lächerliche, schreiende Theaterflitter. Noch immer der alberne, rohe Riesenradau, ohne den es in der ersten Stadt unseres Vaterlandes nicht abgeht. Noch immer die läppische Talmiinszenierung mit falschem »Gondelkorso«, bei welchem die Gondelinsassen den Schunkelwalzer grölen, mit falschem »venetianischem Variété«, mit falschem Puppentheater, mit falschem Serenaden-Orchester und natürlich mit »Monstre-Concert«. Dudelsäcke und Mandolinen und Geigen erklingen in so törichter Häufung allerorten, daß man nach fünf Minuten nicht weiß, wo man die Ohren hat. Es klingt wie die fortwährend wiederholten zwei Anfangstakte eines deutschen Volkslieds, die ein Betrunkener mit wütendem Eigensinn immer von vorn anfängt. Falsch und furchtbar gellend hallen verschiedene Töne durcheinander. Weiß gepuderte Musiker in schäbigen Rococoanzügen fidelen auf einer Art Estrade aus Leibeskräften, und einer in ihrer Mitte haut auf ein Klavier. Mandolinensänger lassen in der Nähe ihre Lieder los. Truppweise, zu vier und sechs Personen, meist Frauenzimmer, singen sie kleine Volkslieder und Gassenhauer neueren Stils. Zwanzig Schritte weiter hebt eine andere Schar unter Gitarrenbegleitung einen furchtbaren Gesang an; sie tanzen dabei, und als sie das berühmte Lied von der »Margherita« erklingen lassen, das so populär geworden ist wie die Barrison-Weisen, fällt das Publikum johlend ein. Eine dichte Menge drängt sich um die Sänger, die kaum mehr Platz finden, einen Fuß zu rühren, und doch ihren vorschriftsmäßigen sprungartigen Tanz aufführen müssen; man ruft ihnen zu: »Effifa L’Italija!« im berlinischen Italienisch, ein Patriot schreit andrerseits »Effifa la Scharmania!«, dazwischen ruft jemand: »Justav, halt’ dir feste!« oder »Nich kitzeln!«, und ein großer, gedunsener Mann mit schiefem Zylinderhut hält in der Pause rasch eine Art italienischer Ansprache: »Bravissimo fortissimo italiano maccaroni tutto perdutto futschicato bravo!«, und mit unendlichem, grölendem Gelächter nimmt die Hörerschar diesen Witz auf, sie wälzt sich weiter, zum großen Orchester des Maestro Gialdini hin, alles tritt sich auf die Füße, drängt sich, schiebt sich, und wieder vernimmt man dazwischen den lieblichen Ruf: »Nich kitzeln!«

So kann die Schwermut nicht gedeihen … Zweiundvierzigtausend Personen haben übrigens an den beiden Eröffnungstagen das absonderliche Unternehmen besucht, und die Berliner Theaterdirektoren wären froh, wenn sie gerade den zweiundvierzigsten Teil davon noch einmal in ihren Häusern sähen. Aber damit ist es vorbei. Der Frühling, der die Kunst durch Lenzgedichte zuweilen fördern soll (?), ist der darstellenden Kunst feindlich. Es gibt jetzt mehr heraufgeklappte Sitze als heruntergeklappte. Und das ist begreiflich, wenn man die Stücke ins Auge faßt, die uns neu beschert wurden.

Im »Neuen Theater« führte der genial-willkürliche Mitterwurzer ein paar neue italienische Dramen vor. Aber der genial-willkürliche Mann – das ist sein stehendes Epitheton bei der Kritik – erschien weit mehr willkürlich als genial. Er war so willkürlich, seine Rollen nicht ganz im Wortlaut zu können; und die Genialität zeigte sich, indem er zum Souffleur ungezwungen »Pst!« machte, sich vor den Kasten dieses hilfreichen Mannes hinpflanzte, tragische Stellen mit leichter Betonung hinwarf, gleichgiltige mit grimassenhaft emporgezogenen Augenbrauen und rollenden Pupillen aufsagte und zeitweise den Hofschauspieler Adolf Sonnenthal mit einer so täuschenden Echtheit kopierte und doch wieder verzerrte, daß man sich fragte, ob man im Parodietheater sei, und aus dem Lächeln nicht herauskam. […]

2. Juni 1895

»Gott – was ist der Mensch!« Hirsch-Hyazinth in den Bädern von Lucca läßt einmal diesen Ausruf aus dem tief gepreßten Busen streichen … Was ist der Mensch in Berlin, wenn der Monat Mai zu Ende geht? Ein geplagter Wurm, der Sand atmet und sich vor schlechter Luft und Hitze krümmt. Es langweilt die Leser, von solchen Dingen zu hören, ich weiß, ich weiß. Aber ich muß sie sagen; warum sollte ich diese Unlust allein in mich hineinfressen. In der Bellevuestraße, am Großen Stern, auf den öffentlichen Plätzen ist schon alles graugrün, nichts mehr grün; alles trocken, nichts mehr frisch; den Namen der Geliebten braucht man nicht in alle Rinden einzuschneiden, man kann ihn mit geringerer Kraftanstrengung auf die Blätter malen, die mit Staub dick bedeckt sind, mit märkischem Staub, der immer war und immer wiederkehrt. »Staub soll er fressen« – es scheint, daß Faust in Berlin ansässig gewesen ist, der stets verneinende Geist hätte hier wenigstens darin leichtes Spiel mit ihm gehabt. Ja, wir alle fressen Staub jetzt, Tag für Tag, er dringt in alle Poren, und wer noch gezwungen ist, aus irgendeinem Grunde einige Zeit hier zu weilen, in dem mahnt und summt es täglich stärker und stärker, wie einst ein deutscher Dichter eine schöne Frau mahnte: Verlaß Berlin mit seinem dicken Sande und dünnen Tee und überwitz’gen Leuten, die Gott und Welt und was sie selbst bedeuten, begriffen längst mit Hegelschem Verstande … Verlaß Berlin … Verlaß Berlin …

Vorläufig verläßt man es vorübergehend. Die Ereignisse, die man verpflichtet ist in einem »Berliner Brief« zu schildern, spielen sich außerhalb dieser wunderschönen Stadt ab. Irgendwo an der Nordbahn oder an der Potsdamer Bahn, wohin man eine Jagdeinladung bekommen hat. Die menschliche Eitelkeit, die so viele gute Werke zustande bringt, ist auch hier segensreich. Wer pachtet eine Jagd? In Berlin derjenige, der renommieren will. Ist man ein Rechtsanwalt, der über besonders erkleckliche Einnahmen verfügt; ist man ein Arzt, der einen ergiebigen Spezialzweig ausfindig gemacht hat, welcher seinen Mann mehr als redlich ernährt; ist man an der Börse und hat durch »umsichtige Ausnutzung der Konjunktur« mit einem Schlage größere Summen verdient (die weniger intelligenten Ökonomen sollen sich oft der umfangreichsten Erdäpfel erfreuen) –: das erste, was man in Berlin tut, um seine gesellschaftliche Stellung ein starkes Stück emporzuschrauben, ist, daß man eine Jagd pachtet. Irgendwo bei Fürstenwalde oder Bernau oder Strausberg. Das kostet unter Umständen nur viertausend Mark für ein ländliches Terrain; und man hat die Genugtuung, lithographierte Kartonformulare an die verschiedensten Leute senden zu können – auch wenn man sie nur verzweifelt flüchtig kennengelernt –, in denen zu bestimmter Stunde an bestimmtem Ort zur Ausübung des edlen Waidwerks eingeladen wird. Es läßt sich nicht verkennen, daß in diesen Berliner Jagdveranstaltungen eine gewisse – wie soll man sagen? –, eine gewisse durch Komfort und großstädtische Affektiertheit temperierte Poesie herrscht. Nachmittags besteigt man den Zug, ist in einer Stunde an Ort und Stelle, verbringt den Abend in vorzüglicher Stimmung bei einem gemeinsamen Mahle am Rande irgendeines Sees – und diese märkischen Seen mit ihrem dunkelgrünen Wasser und den dunklen schweigenden Kiefern am Ufer haben unendlich viel Stimmungsvolles, und wenn der Jäger literarische Privatneigungen hat, erinnert er sich im Anblick so spröder Trauerschönheit gleich an Heinrich Kleist –, und dann, wenn der Mond so sachte heraufgezogen kommt, bricht man auf, marschiert eine halbe Stunde und faßt an irgendeiner Lisière Posto, wo vorher ein »Wechsel« des Wildes ausgekundschaftet worden ist.

Man legt sich ins Gras, das Gewehr schußfertig am Arm, ein paar Herren steigen auf die »Kanzel«, die oben im Gerüst eines Baums errichtet ist. Man liegt und lauscht in starker nervöser Anspannung aller Muskeln, man raucht seine Zigarre, aber man wagt keine zweite anzuzünden, aus Furcht, durch das Reiben des Streichholzes herankommendes Wild zu verscheuchen. Im Mondlicht sieht man die Wiesen und die Felder bis zum gegenüberliegenden Wald vor sich, im Rücken hat man mit Vorliebe einen Graben mit Erlenbüschen, deren dunkler Schatten die eigne Gestalt nicht sehen läßt – und man wartet und wartet, bis die ursprüngliche Spannung von einer süßen Schlaffheit allmählich abgelöst wird und die seltsame nächtliche Natur sich intensiver und zauberhafter ins Bewußtsein drängt. Man träumt. Und dann, plötzlich – eine stampfende, ferne, leise Erschütterung der Erde, es kommt heran, ein ganzer Trupp, man hält den Atem an, es kommt im Galopp näher, immer näher, die Großstadtnervosität überkommt einen, man muß gewaltsam an sich halten … Da – ein Ruck, alles steht, ein hüstelndes Bellen, das Warnungssignal des vordersten Tiers, ertönt, es hat uns gerochen … und jetzt, rasch, ehe sich alles in wilder Flucht unsrem Bereich ganz entzogen hat, knallt und donnert es durch die Nacht, die Herren alle, die in Zwischenräumen von zwanzig Schritt aufgestellt sind, haben »geknipst« (was sie noch einmal tun müssen), und wirklich sehen wir ein Tier zusammenbrechen. Neben mir aber – und zugleich über mir – fährt ein Herr auf der »Kanzel« empor, ich sehe sein erschrecktes Gesicht im Mondlicht, und er stammelt unartikulierte schläfrige Laute. Das Abendessen war gut und reichlich gewesen – und, Gott, was ist der Mensch! Um drei gehen wir schlafen und stehen um neun auf. Dann wird gefrühstückt von halb zehn bis … zwei. Vier Herren bleiben mit dem Gastgeber da. Wir übrigen fahren nach Berlin. Um halb sechs spazieren wir, umgekleidet und seelenfroh, langsam über den Potsdamer Platz … Das sind Berliner Jagden.

Oder man fährt mit der Dampfstraßenbahn nach Halensee und geht von dort aus nach der Kolonie Grunewald. Das ist auch ein großer Genuß. Zwar Staub ist auch da viel zu schlucken, aber dafür gibt es dort ein Restaurant, das berühmte »Café Grunewald«, in welchem man das Recht hat, alle Speisen mit dem dreifachen Betrage des Berliner Preises zu bezahlen. Das ist viel wert, und darum ist das Café Grunewald rasch der fashionable Lieblingsort aller um Pfingsten noch in Berlin ansässigen westlichen Bürger geworden. Man gibt sich dort Rendezvous, ißt gemeinsam Mittagsbrot, spaziert dann in den höllisch gradlinigen, mathematischen Straßen dieser vermöglichen Villenkolonie ein weniges auf und ab, wobei man den herrlichsten Schatten genießt, wenn man einen Sonnenschirm mitgebracht hat – und wenn man zu Kunst und Literatur auch gesellschaftliche Beziehungen hat, sucht man wohl bei gutem Anlaß jenen stillen Straßenwinkel auf, wo die Bildhauer Klein und Fritz Mauthner ihre Villen haben. Dort ist es friedlich und unberlinisch, und im Garten der Bronzelöwe, den Kleins kraftvolle Meisterhand in Metall gebändigt hat, verbreitet etwas wie eine Schloß-Boncourt-Stimmung über diese abgeschiedene Ecke des sonst etwas parvenumäßigen Berliner Vororts …

Oder man geht zu einem Diner. Das ist unter Umständen jetzt auch eine Erholung. Es werden nämlich Diners gegeben; nicht »noch«, sondern »wieder«. Eine besondere Gattung: Gartendiners. Sie finden natürlich nur da statt, wo das Glück (poetisch ausgedrückt) seine Gaben in besonders reichem Maße verteilt hat. Mit andren Worten: bei Leuten, die Geld haben, und zwar viel. Denn es gehört zunächst ein großer Garten dazu, und Grund und Boden ist im Westen nicht billig. Gegen 7 Uhr wird an langer Tafel im Freien serviert, die Lohndiener und ständigen Hausgeister eilen ganz wie im Winter geschäftig herum, mit Schüsseln, Tabletten und Sektflaschen, und zur Ausgleichung der sozialen Gegensätze ist das Silberzeug den bohrenden Blicken der nachbarlichen Portiersleute und Mansardenbewohner schrankenlos freigegeben. Es werden kurze Toaste gehalten, wenn ein Brautpaar anwesend ist (sonst spricht man ja beileibe nicht mehr), man lacht und flirtet und lügt wie im Winter, und wenn die Dämmerung ganz herabgesunken ist, werden die Ballons, die auf Draht über der Tafel entlanggezogen sind, angezündet, links von der Veranda aus erschallt einige Geigenmusik, und wenn man sich »Mahlzeit« gesagt hat, wird bei offnen Balkontüren gegebenenfalls ein kleiner Contre gewagt, zur Verdauung; und zur Verdauung spaziert man nachher auch gruppenweise oder paarweise (aber bitte, doch mehr gruppenweise als paarweise!) in den grünen Gängen entlang und plaudert und guckt wohl gelegentlich nach der Gartenmauer, wo einige Neugierige aus der Nachbarschaft hinüberstarren, und hie und da stößt man dann auf einen Diener, der Kaffee serviert.

Gelegentlich, bei solchen Gartendiners, spricht man auch von Fritz Friedmann. Er steht ja diesen Kreisen so nah. Den einen hat er mal verteidigt, mit dem andern hat er eine Wechselangelegenheit geordnet, der dritte hat einen Roman von ihm gelesen, mit dem vierten hat er wieder eine Wechselangelegenheit geordnet, dem fünften hat er eine Zivilklage gewonnen, der sechste kennt ihn aus dem Foyer, der siebente und der achte und der neunte hat ihn ebenfalls – in irgendeiner Finanzsache kennengelernt. Er ist jetzt mit dreitausend Mark Geldbuße und einem Verweis bestraft worden, aber der staatsanwaltliche Antrag auf Ausschluß aus dem Anwaltstande ist abgelehnt worden. Und das muß mit Freuden begrüßt werden – von jedem, der einigen Sinn für Individualität sich bewahrt hat. Friedmann ist ein merkwürdiger Geist, bei dem man sich über zwei Dinge wundern muß: daß ein so scharfsinniger Kopf zugleich ein an menschlichen Schwächen so reicher Charakter ist; und daß ein menschlich-fleischlichen Schwächen so stark hingegebener Mann noch immer ein so scharfsinniger Kopf ist. Er ist nicht nur der meistgenannte Anwalt Deutschlands, er ist auch derjenige deutsche Jurist, der von allen vorhandenen, einschließlich des Justizministers, das größte Einkommen hat. Es soll sich auf hundertzwanzigtausend Mark jährlich belaufen, eine Summe, mit der man auskommen kann, wenn man nicht ein Genie ist. Ich glaube, daß Friedmann ein Genie ist. Er hat auch zahlreiche Passionen, vor allem das leidenschaftliche Bedürfnis, die durch geistige Arbeit ermatteten Nerven durch die Erregungen des Spiels zeitweilig zu kitzeln. Das hat den glänzend begabten Mann in eine Reihe von unbehaglichen Situationen gebracht. Im Tiergartenviertel weiß jeder holde Backfisch und jeder eben eingesegnete Jüngling seit längerer Zeit, daß der berühmte Anwalt zuweilen Kummer mit seinen Finanzen hat. Man sprach darüber in der üblichen Weise: zunächst mit einem gewissen Staunen über die geringe praktische Veranlagung eines so tüchtigen Kopfes, zugleich aber mit derjenigen Schadenfreude, die man hier jeder Ungelegenheit einer prominenten Persönlichkeit entgegenbringt. Friedmann begann vor einiger Zeit, sich neben den juristischen Einnahmequellen noch schriftstellerische zu eröffnen. Er ließ gleichzeitig im »Berliner Tageblatt« und im »Kleinen Journal« Romane erscheinen. Man wußte, weshalb. Übrigens waren sie nicht hervorragend. Sie arbeiteten vorwiegend mit Spannung (was bei einem Kriminalisten allenfalls begreiflich ist), und namentlich der eine hatte Partien, die hintertreppenmäßig waren. Man verschlang sie im Westen, aber man spaßte zugleich über sie. Jetzt haben auch diese letzten Kraftanstrengungen Friedmanns ihn vor einer Art von Zusammenbruch nicht bewahren können. Stärker noch als die Finanzangelegenheiten hat seine Vorliebe für das zarte Geschlecht hier mitgewirkt; sie hat ihm in einer Scheidungssache einen Streich gespielt – wie gerade das auch in anderen deutschen Städten zuweilen vorkommen soll. Der Staatsanwalt hat gegen das Urteil Berufung eingelegt, und ein zweites Mal wird Friedmann der Entscheidung über seine ganze Existenz ins Auge sehen müssen. Sollte sie gegen ihn ausfallen, so wird er nicht verloren sein; denn ein Dutzend Banken würde sich sofort um seine Mitarbeiterschaft reißen. Aber wer ihn einmal reden gehört hat, in seiner ganzen genialen Fechtergewandtheit, in seiner logischen, auch wohl sophistischen Grazie und Treffsicherheit, der würde es schon vom Standpunkte reiner Kunstbetrachtung aus unendlich bedauern, wenn dieser feine Künstler künftig gehindert würde, öffentlich zu plädieren.

Vorläufig aber, bis die zweite Entscheidung gefällt wird, hat er, von den Aufregungen ermüdet, für eine kurze Frist dem Drängen der inneren Stimme nachgegeben, die auch in ihm summte und ihm leise zurief, was sie in so vielen anderen jetzt ruft: Verlaß Berlin mit seinem dicken Sande … Verlaß Berlin … Verlaß Berlin …

16. Juni 1895

Sie kommen und gehen – allerhand Gestalten, die plötzlich auftauchen, eine Zeitlang bleiben, Freunde erwerben, sich in irgendeiner Beziehung hervortun, das Leben des Westens mit uns leben, mit seiner ewigen Bewegung, seinem kleinen Rausch und seinen kleinen Qualen, und dann verschwinden. Sie sind weg – irgendwohin. Der Wind hat sie verweht, oder sie sind gestorben. Man spricht einen Vormittag lang davon. Man entsinnt sich, wie fidel sie noch beim letzten Presseball waren. Man denkt daran, daß man sie eine Zeitlang regelmäßig bei Stettenheims zur Teestunde traf und daß man ihnen bei Premieren, im Korridor oder am Büffet, immer rasch die Hand drückte und sie »Wie gehts?« fragte. Man entsinnt sich auch, wie man sich ein- oder zweimal innerlich nähergekommen ist, wenn man in einer Winternacht von irgendeiner Festlichkeit wohlverpackt den Heimweg gemeinsam machte und dann, in jener Laune des Philosophierens, die einen in solcher Stunde befällt, drei- oder viermal vor dem Hause vorüberging, die Straße auf und ab, eh man sich trennte. Sie hatten den oder jenen sympathischen Zug, sie hatten dies oder jenes seltsame Schicksal – aber noch ehe man den ganzen Menschen recht erfassen und im Interesse warm werden konnte, waren sie weg. Ein halbes Dutzend Leute kannte sie genau. Die Zeitungen bringen einen Nachruf, in welchem die bemerkenswertesten Punkte ihrer Tätigkeit zusammengefaßt werden; und meist ist nicht viel Bleibendes darunter. Sie kamen und gingen.

In diesen Wochen ist eine dieser Gestalten vom Tode geholt worden, um welche in eigentümlich matten Lichtern ein fast novellistischer Reiz schwebte. Das ist die Baronin v. Borch, die Übersetzerin. Es ist kaum zu sagen, worin dieser Reiz bestand; aber er bestand, und er wirkte unmittelbar. Sie war eine eigentümlich anziehende Erscheinung, eine hochgewachsene üppige Frau mit weißem Haar und einem jugendschönen Gesicht, in welchem zwei dunkel strahlende Augen eine Seele widerspiegelten. Ein bewegtes Temperament, das allmählich in Resignation übergegangen war, eine vornehme Gefaßtheit sprach aus diesen Zügen, über denen ein ganz indefinierbar verklärender Schimmer lag. Das Wort »edel« bekommt leicht einen trivialen Beigeschmack; aber es bezeichnet den Gesamteindruck, der von dieser jugendlichen Matrone ausging. Sie war mit irgendeinem Herrn von Borch verheiratet gewesen, der, ich weiß nicht wann, gestorben war, und hatte in München gelebt, bevor sie nach Berlin kam. Sie wohnte mit ihrer siebzehnjährigen Tochter im vierten Stock eines Hauses an der Potsdamer Brücke. Diese Tochter, Gisela, habe ich nie gesehen, aber auch über diesem jungen Mädchen lag ein geheimnisvoller Zauber des Schmerzes; sie sollte zart und schön und ewig siech sein, und als sie eben siebzehn Jahre war, starb sie an ihrer langsam zehrenden Krankheit. Für dieses Kind scheint die Mutter vor allem gelebt zu haben; sie sprach von ihr, wenn ein Fremder nach ihr fragte, in einem Tone unterdrückten Schmerzes und grenzenloser Liebe, so daß der Fragende betroffen rasch darüber hinwegzukommen suchte. Sie nährte sich und diese Tochter durch ihre Übersetzungen; sie übertrug Ibsen, Knut Hamsun, Jacobsen und andere nordische Autoren. Als ich sie einst nach Haus begleitete und ihr gute Nacht wünschte, lachte sie und sagte, ihre »gute Nacht« sei noch nicht gekommen; sie müsse erst noch die halbe Nacht übersetzen. Auch von Zerwürfnissen mit adligen Verwandten und der Überwindung von Standesvorurteilen erzählte sie. Jetzt ist sie, wenige Monate nach dem Tode der Tochter, im Krankenhaus gestorben. Eine schwierige Operation hatte sie schon glücklich überstanden; da nahm sie ein Herzschlag hinweg. Viele werden sich ihrer eine Zeitlang entsinnen, denn sie lebte eine Zeitlang mit uns. Dann wird sie vergessen sein. Sie kam und ging.

Kommen und gehen – das findet in dieser Millionenstadt rascher statt als in irgendeiner Stadt des Reichs; und in dieser parvenumäßig emporschießenden Stadt rascher als in irgendeiner anderen europäischen Hauptstadt. Man lebt schnell, die Eindrücke dieser noch im Werden begriffenen Metropole jagen einander, und die Bewohner, deren Gemüt noch etwas ungroßstädtisch Naives hat, reißen die Augen auf und lassen wie die Kinder ein Ding rasch stehen, um rasch ein neues zu betrachten. Während der Dauer der Betrachtung ist eine gewisse Intensität zu beobachten, aber gleich darauf keine Spur einer Nachwirkung. Wie leidenschaftlich hat man sich vor zwei Wochen noch allenthalben mit dem Fall Friedmann beschäftigt! Jetzt ist es, als sei er nie gewesen. Die Alexianerbrüder sind das neueste Gesprächsspielzeug, es wird noch einige Tage in der gleichen Intensität vorhalten, dann mit einem Schlage verschwunden sein. Vorläufig werden allerhand Witzchen gemacht, in denen der Ausruf: »Sie müssen nach Mariaberg!« und Vergleiche mit dem Bruder Heinrich eine gewisse Rolle spielen. Auch hat dieser Prozeß den Bewohnern des Westens Gelegenheit gegeben, allerhand Reiseerinnerungen auszukramen. In Breslau hat man den Katholizismus in unmittelbarster Nähe. Für Berlin ist er in seinen konkreten Lebensäußerungen fast ein Mythus. Man kennt ihn nur von seinen Reisen. Da ist man gern in diese bunte, glühende, stille Welt gelegentlich eingetaucht, die für den echten Mittelnorddeut