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Clemens Hellsberg

Philharmonische Begegnungen

Die Welt der Wiener Philharmoniker als Mosaik

Band II

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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1. Auflage 2016

Lektorat: Dr. Maria Seifert

ISBN E-Book: 978-3-99100-189-8

Für Sissy, Dominik, Eva, Maria,
Benedikt, Lisa, Augustin, Klara und Paulina

Inhalt

VORWORT

HOMMAGE AN JOSEPH HAYDN

DAS „GOLDENE ZEITALTER“ UND SEIN PATRIARCH: HANS RICHTER

BEGEGNUNG MIT DEN „GIGANTEN DES MUSIKTHEATERS“: WAGNER & VERDI

IM BANNE DES „KÖNIGS DER VIRTUOSEN“: FRANZ LISZT

„MONDGESTEIN“: ANTON BRUCKNER

EIN PHILHARMONISCHER „FREUND UND VEREHRER“: JOHANNES BRAHMS

GRÖSSE UND TRAGIK EINER HASSLIEBE: GUSTAV MAHLER

„DER ROSENKAVALIER“ IM LEBEN EINES WIENER PHILHARMONIKERS

„GALEERENJAHRE“ AN DER „ALLERERSTEN STELLE DER MUSIKWELT“: FRANZ SCHMIDT

PFITZNER VERSUS PALESTRINA

EINE „ERSTAUNLICH VIELFÄLTIG ZUSAMMENGESETZTE BRUDERSCHAFT“

HEIMKEHR: DIE STRADIVARI „EX VIOTTI, EX ARNOLD ROSÉ“

LIEBESERKLÄRUNG AN CHRISTA LUDWIG

„ICH LIEBE DICH – ABER NICHT ZU SEHR“: GEORGES PRÊTRE

„ES IST DES LERNENS KEIN ENDE“: RUDOLF BUCHBINDER ZUM 70. GEBURTSTAG

„DIE ZEIT, DIE IST EIN SONDERBAR DING“

ALPHA UND OMEGA: ZUBIN MEHTA

„WIEN IST EIN ORT GANZ NACH MEINEM GESCHMACK“: JEAN SIBELIUS

HOMMAGE AN FRANZ SCHUBERT

QUELLENVERZEICHNIS

VORWORT

Am 27. November 1842 veranstalteten die Orchestermusiker des Wiener Hofoperntheaters gemeinsam mit Otto Nicolai „das zweite philharmonische Concert“. Die Bezeichnung war richtig – und doch auch paradox: Denn „offiziell“ hatte es nie ein „erstes philharmonisches Concert“ gegeben. Keine Frage: Selbstverständlich bleibt der 28. März 1842 der Gründungstag der Wiener Philharmoniker (worauf ich schon allein deswegen größten Wert lege, weil der 28. März mein Geburtstag ist – auf den ich daher sehr stolz bin, obwohl ich nichts dazu beigetragen habe); aber im Vorfeld des ersten Konzerts hatte offenbar Unsicherheit darüber geherrscht, ob das Wagnis einer Eigenveranstaltung glücken würde. Und so hatten die Musiker die zunächst geplante (und in der Vorankündigung noch verwendete) Bezeichnung „Philharmonische Academie“ verworfen und die Matinée schlicht „ein großes Concert“ genannt, welches „das sämmtliche Orchester-Personal des k. k. Hof=Operntheaters im k. k. großen Redouten=Saale“ gab.

Beim vorliegenden Buch handelt es sich um den zweiten Band der „Philharmonischen Begegnungen“ – obwohl es nie einen „offiziellen“ ersten gab: Denn ursprünglich war keine Fortsetzung der Vorjahrsedition geplant. Die vom Braumüller Verlag und dessen Leiter Bernhard Borovansky großzügig zugestandene Erweiterung des Umfangs von 280 auf letztlich 420 Seiten sowie 39 Kapitel war mir zunächst ausreichend erschienen, die „Welt der Wiener Philharmoniker als Mosaik“ darzustellen. Aber schon bald nach Beginn der Arbeit hatte sich herausgestellt, dass es trotz der Themenvielfalt nicht möglich war, dem Reichtum der Geschichte dieses Orchesters auch nur annähernd gerecht zu werden. Und als ich Bernhard Borovansky mein Leid klagte, dass beispielsweise die großen Komponisten des 19. Jahrhunderts, denen die Philharmoniker begegnet waren, ebenso fehlten wie viele der überragenden Künstlerinnen und Künstler, die ich erlebte, meinte er spontan: „Das klingt nach einem zweiten Band!“

Die innerhalb eines Jahres fertiggestellten „Philharmonischen Begegnungen II“ sind wie der „erste“ Band eine Aneinanderreihung „selbstständiger“ Kapitel, die wiederum Adaptierungen diverser Artikel, Vorträge und Laudationes sind, die ich im Laufe der Jahrzehnte verfasst habe: „Das vorliegende Buch ist ein Mosaik, dessen einzelne ‚Steine‘ in direkter oder zumindest indirekter Beziehung zu den Wiener Philharmonikern stehen. Diese sind es auch, die den inneren Zusammenhang einer nur ansatzweise strukturierten Kapitelfolge bilden.“ Die im Vorwort zum „ersten“ Band vorgestellte Richtlinie gilt auch für den zweiten, und wie damals gibt es einige Redundanzen, die auf der „Unabhängigkeit“ der einzelnen Artikel zueinander beruhen: Das Bemühen um die Geschlossenheit jedes einzelnen Kapitels war mir nicht zuletzt aufgrund der Rückmeldungen vieler Leserinnen und Leser, die sich erfreut darüber zeigten, das Buch „durcheinander“ lesen zu können, ein Anliegen.

Trotzdem gibt es eine Gliederung. Zwei fiktive Begegnungen mit Komponisten, die vor der Gründung der Philharmoniker lebten, bilden den Rahmen – Joseph Haydn und Franz Schubert, meiner Ansicht nach die noch immer am meisten verkannten Genies der Musikgeschichte: Die Klischees vom „Papa Haydn“ und vom „Schubert Franzl“ inklusive „Dreimäderlhaus“ wurden zwar aufgrund der Bemühungen großer Interpretinnen und Interpreten sowie der Musikwissenschaft zunehmend als solche in das Bewusstsein eines Teils des Publikums gerückt, sind aber noch immer reichlich verbreitet.

Die erste „reale“ Begegnung erfolgt im zweiten Kapitel, das gleichzeitig einen Schlüssel zu den Darstellungen der Philharmonischen Beziehungen zu Richard Wagner und Giuseppe Verdi, Franz Liszt, Anton Bruckner, Johannes Brahms, Gustav Mahler, Richard Strauss und sogar noch zu Franz Schmidt bildet. Es ist Hans Richter gewidmet, einem der bedeutendsten Dirigenten aller Zeiten, der am 5. Dezember 1916 in Bayreuth starb. Seine unerreichten Verdienste um das Wiener Musikleben schlossen vier Institutionen (Philharmoniker, Hofoper, Gesellschaft der Musikfreunde, Hofmusikkapelle) ein, und das zentrale Kapitel, das ihm in diesem Buch gewidmet ist, gilt nicht „nur“ seinen musikhistorisch relevanten Leistungen (man denke an die von ihm geleiteten Uraufführungen zahlreicher Werke der Weltliteratur!), sondern ist auch Ausdruck meiner Dankbarkeit – er war mir während meiner Tätigkeit als Philharmoniker-Vorstand immer ein Vorbild: in seinen Stärken ohnehin, aber auch in seinen Schwächen, die fast ausschließlich in der Verletzlichkeit bestanden, welche jede Liebe, in diesem Fall jene zu den Wiener Philharmonikern, begleitet …

Ein „exterritorialer“, also nicht im Zusammenhang mit Richter stehender Komponist ist Hans Pfitzner. Die Beziehung zu unserem Orchester kulminierte am Ende seines Lebens in der Widmung der Partitur seiner Musikalischen Legende „Palestrina“. Jede Befassung mit ihm ist aber auch untrennbar mit seinen Verstrickungen in einen der finstersten Abschnitte der Menschheitsgeschichte verbunden – seine unfassbaren Ansichten zum Nationalsozialismus auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg und im Wissen um den Holocaust kann „kein vernünftiger Mensch akzeptieren“ (Jens Malte Fischer). Sie stehen zudem in krassestem Widerspruch zu beinahe seinem gesamten Werk, ausgenommen „Zwei deutsche Gesänge“ (Großadmiral Alfred von Tirpitz gewidmet) und die „Krakauer Begrüßung“, eine Hommage an Generalgouverneur Hans Frank, den „Schlächter von Polen“. Selbst Bruno Walter, Dirigent der Münchener Uraufführung des „Palestrina“ und zeitloser „Leuchtturm“ des Humanismus, resignierte angesichts dieser Schauder erregenden Diskrepanz: „Haben wir nicht in seinem Wesen die seltsamste Mischung von wahrer Grösse und Intoleranz, die vielleicht je das Leben eines Musikers von solcher Bedeutung problematisch gemacht hat?“

Der Kontrast, den hierzu das nächste Kapitel bildet, reflektiert ebenfalls die Widersprüche der menschlichen Seele. Der Artikel über Freimaurer bei den Wiener Philharmonikern streift nicht nur kultur- und geisteswissenschaftlich überaus interessante Aspekte wie etwa Mozarts Umfeld, sondern beleuchtet auch das Schicksal jener von den Nationalsozialisten ermordeten, vertriebenen oder verfolgten Orchestermitglieder, die einer Loge angehörten. Die Suche nach Verwirklichung der fünf freimaurerischen Grundideale – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Toleranz und Humanität – bewirkte zweifellos angesichts der wachsenden Polarisierung, die ab den ausgehenden Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts auch innerhalb der Philharmoniker zu beobachten war, eine verstärkte Hinwendung vor allem der jüdischen Orchestermitglieder zu dieser „erstaunlich vielfältig zusammengesetzten Bruderschaft“.

„Liebesgeschichten“. Unter diesem Begriff könnten die folgenden vier Kapitel zusammengefasst werden, wobei meine „Begegnung“ mit einem außergewöhnlichen Instrument den Beginn macht – eine Violine von Antonio Stradivari, die einst dem großen Geiger Giovanni Battista Viotti und später dem Philharmonischen Konzertmeister Arnold Rosé gehörte, dank des Engagements der Oesterreichischen Nationalbank wieder „zurückkehrte“ (und auf dem Umschlagbild dieses Buches zu bewundern ist). Mit Kammersängerin Christa Ludwig, Georges Prêtre und Rudolf Buchbinder, der am 1. Dezember 2016, dem Ausgabetag der „Philharmonischen Begegnungen II“, seinen 70. Geburtstag feierte, verbinden unzählige Menschen unzählige künstlerische Erlebnisse; die Widmung der einschlägigen Kapitel ist Ausdruck meines Respekts vor ihrer lebenslangen Hingabe an die Musik, mit der sie uns die Seelenwelt der großen Komponisten nahebringen.

Der Schlussteil befasst sich unter verschiedenen Aspekten mit „Zeit“. Einer Betrachtung über die Bedeutung dieses Phänomens in der Musik, zu der ich durch die Einladung zu einem Vortrag bei der „Internationalen Pädagogischen Werktagung Salzburg“ angeregt worden war und die mich seither unablässig fasziniert, folgt eine Hommage an Zubin Mehta, unter dessen Leitung ich innerhalb von 42 Jahren sowohl mein erstes als auch mein letztes Konzert mit den Wiener Philharmonikern spielte (und dem daher als einziger Persönlichkeit in beiden Bänden der „Begegnungen“ ein Kapitel gewidmet ist). Der große Jean Sibelius studierte in den Jahren 1890 und 1891 in Wien, bewarb sich vergeblich um eine Anstellung als Geiger im Orchester der Hofoper – und bildet eine „Brücke“ zur Ära von Hans Richter, Anton Bruckner und Johannes Brahms, die er persönlich kannte.

Um nochmals auf das Vorwort des „ersten“ Bandes zurückzukommen: „Persönliche Begegnungen mit ‚Giganten‘ wie etwa Herbert von Karajan, Leonard Bernstein oder Claudio Abbado bzw. mit Rudolf Buchbinder […], Yefim Bronfman, Lang Lang, Leonidas Kavakos etc. blieben ebenso unberücksichtigt wie all die großen Künstler aus den eigenen Reihen, die ich bewunderte und bewundere, weil dies jeden Rahmen sprengen würde.“ Gut, Rudolf Buchbinder scheint in diesem Buch auf, aber wo bleiben nun Karajan, Böhm, Bernstein, Solti, Kleiber, Abbado etc.? Wiederum bot Bernhard Borovansky eine Lösung an, die mich sehr bewegte: Er wünschte einen Schwerpunkt auf den Begegnungen mit den großen Komponisten – unter gleichzeitiger Konzeption eines dritten (und letzten) Bandes der „Philharmonischen Begegnungen“, der 2017 erscheinen soll und neben den genannten Künstlern auch zahlreiche weitere „Mosaiksteine“ aus der Philharmonischen Geschichte enthalten wird.

Neben dem gesamten Team des Braumüller Verlages, vor allem Anita Luttenberger, die mich in kritischen Situationen moralisch unterstützte, Martin Zechner und Manfred Poor, die mit Akribie und großem Engagement den Satz besorgten, bedanke ich mich einmal mehr bei meiner Lektorin Dr. Maria Seifert, die mich seit beinahe 30 Jahren „literarisch“ berät und sich wie stets so auch diesmal mit Herz und Sachverstand dem Buch widmete. Professor Dr. Otto Biba, Archivdirektor der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, war mir jederzeit in der gleichen liebenswürdigen Weise mit Auskünften und Quellenangaben behilflich wie Dr. Silvia Kargl, die das Historische Archiv der Wiener Philharmoniker auf das Beste betreut. Mein besonderer Dank gilt ferner Universitätsprofessor DDr. Oliver Rathkolb, der mir jederzeit und vor allem bei Fragen bezüglich der Kapitel über Franz Schmidt und Hans Pfitzner zur Verfügung stand.

Meine 40-jährige Laufbahn als Berufsmusiker, die am 1. Februar 2016 in der Oper und am 1. Mai 2016 bei den Wiener Philharmonikern endete, war von den Begegnungen mit den größten Künstlerpersönlichkeiten und mit den größten Meisterwerken geprägt. Mein weiterer Weg wird von der Dankbarkeit für diese Erlebnisse ebenso begleitet wie vom Wissen um die Bedeutung des Wortes von Robert Schumann: „Es ist des Lernens kein Ende.“

HOMMAGE AN JOSEPH HAYDN

Im Jahre 1841, fast 32 Jahre nach Joseph Haydns Tod, stellte Robert Schumann in einer Konzertkritik fest: „So mannigfaltiges das Programm enthielt, so mag doch Manchen der Abend ermüdet haben, und natürlich: denn Haydensche Musik ist hier immer viel gespielt worden; man kann nichts Neues mehr von ihm erfahren; er ist wie ein gewohnter Hausfreund, der immer gern und achtungsvoll empfangen wird: tieferes Interesse aber hat er für die Jetztzeit nicht mehr.“1

Es ist nicht nur die Tatsache interessant, dass Schumann, einer der schärfsten Denker der Musikgeschichte, die Größe und Bedeutung Joseph Haydns verkannte; beachtenswert ist auch der Zeitpunkt der Veröffentlichung dieser Kritik – 28. Jänner 1841, genau 14 Monate vor dem ersten Philharmonischen Konzert! Blickt man auf die Aufführungsstatistik der ersten fünf Jahre des Orchesters, also der Ära des Philharmonischen Gründers Otto Nicolai, dann wäre sogar der Begriff „Hausfreund“ eine Übertreibung: Haydn wurde gewiss „gern und achtungsvoll empfangen“, aber viel zu selten „eingeladen“ – in den elf von Nicolai geleiteten und von Beethoven dominierten Philharmonischen Konzerten stand er nur ein einziges Mal auf dem Programm.

Schumanns Feststellung entsprach durchaus dem Zeitgeist, dies bestätigt nicht zuletzt die Statistik der Ära Nicolai, wobei das mangelnde Verständnis gelegentlich sogar in Geringschätzung überging. In einer Rezension nach der Wiedergabe der Symphonie in D-Dur Hob. I:93 im Philharmonischen Abonnementkonzert vom 10. Februar 1861 wurde Haydn „Hypernaivetät“ attestiert und salopp festgestellt: „Zur Abwechslung einmal horcht man auf das naiv=joviale Geplauder des alten Papa’s recht gern, es gibt da eine Menge von Schnurren und Schnacken, die, wenn man sie nicht im Ernste nimmt – (und wer würde das thun!) einem viel Spaß bereiten. Freilich ist die Composition […] geradezu ungeschickt instrumentirt.“2

Nachwirkungen dieser Einschätzung lassen sich auch heute noch feststellen – vom „Hausfreund“ zum „Papa Haydn“ ist es eben nicht weit. Ein Grund für dieses Klischee liegt in der musikhistorischen Stellung des Meisters. Haydn überbrückt „zwei grundverschiedene Stilepochen“3, nämlich Barock und Klassik; wir müssen uns jedoch bewusst sein, dass er diese wahrhaft epochale, weil durchaus auch gesellschaftspolitisch relevante Stilwandlung nicht etwa nachvollzogen, sondern herbeigeführt hat. Und wenn er als „Vater der Symphonie“ bzw. als „Vater des Streichquartetts“ bezeichnet wurde und wird, dann sind zum Unterschied vom „Papa Haydn“ diese Epitheta durchaus berechtigt.

Selbstverständlich fanden einzelne Symphonien und Streichquartette und vor allem die Oratorien „Die Schöpfung“ und „Die Jahreszeiten“ stets gebührende Würdigung; aber obwohl die Musikwelt Haydn – von Ausnahmen wie der oben zitierten abgesehen – „achtungsvoll“ gegenüberstand, musste man sich immer wieder quasi bewusst seine Größe vor Augen führen. So war etwa im Jahre 1900 (!) nach einer Philharmonischen Wiedergabe der Symphonie in Es-Dur Hob. I:103 („Mit dem Paukenwirbel“) zu lesen: „Der ungeheure Erfolg der Haydn’schen Symphonie gibt zu denken! Sollte nicht doch öfter als bisher eine der bedeutendsten Symphonien dieses unerschöpflichen Tondichters hervorgeholt werden?“4 Dabei überragen auch seine „kleinen“ Werke aufgrund ihres kompositorischen Wertes bei Weitem das Schaffen aller Zeitgenossen außer Mozart und Beethoven. Selbst „Miniaturen“, wie etwa die vier „Londoner Trios“ für zwei Flöten und Violoncello5, zeichnen sich durch unübertreffliche satztechnische Meisterschaft, Originalität der melodischen Erfindung und souveräne Behandlung der Instrumente aus. „Eine Anerkennung dieser rein musikalischen Qualitäten neben den primär ausdrucksgeprägten ist aber heute in der Tonkunst noch nicht so selbstverständlich wie in der bildenden Kunst die Anerkennung rein malerischer Qualitäten. Ohne volles Verständnis für das rein Musikalische (das ‚absolut Musikalische‘ in der Denkweise des 19. Jh.) wird man Haydns Kunst nie gerecht werden können.“6

Die letzten Jahrzehnte haben aufgrund großartiger Arbeit der Musikwissenschaft sowie diverser Künstlerpersönlichkeiten (und nicht zuletzt auch dank der vorbildlichen Arbeit der Verantwortlichen des Haydnhauses im VI. Wiener Gemeindebezirk) eine Verbesserung eingeleitet. Die Aufführungspraxis beschränkt sich nicht mehr auf eine Handvoll Werke; man trifft zunehmend auf unbekannte Symphonien, Instrumentalkonzerte, Arien und vor allem auch auf Opern, die Distanz zum Klischee vom „Papa Haydn“ ist aber noch immer nicht sehr groß.

Interessanterweise ist mittlerweile sogar die Haydnrezeption selbst Gegenstand von Klischees geworden. Im Falle der Wiener Philharmoniker ist zu konstatieren, dass nach den mageren Anfängen auch die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht unbedingt eine „Haydn-intensive“ Zeit war. Rund 55 Aufführungen entsprechen ziemlich genau einer Wiedergabe pro Jahr, wobei festzustellen ist, dass die Zahl der Konzerte damals nur ein Bruchteil gemessen an der Zahl der heutigen Auftritte war. Mit dem Beginn der Reisen und der Ausweitung der Konzerttätigkeit in Wien ist auch eine Zunahme der Werke Haydns in den Philharmonischen Programmen feststellbar: Etwa 230 Aufführungen zwischen 1900 und 1945 sprechen bereits eine deutlich andere Sprache.

Eine weitere Steigerung ist nach Ende des Zweiten Weltkrieges zu verzeichnen. Seit Beginn der Saison 1945/46 standen allein in den Abonnementkonzerten 36 Symphonien des Meisters in 74 Produktionen auf dem Programm, und im Schnitt wurde beinahe in jedem zehnten Konzert seit 1945 ein Werk von Haydn aufgeführt, was zwar keine übertrieben intensive Pflege darstellt, aber auch bei Weitem keine Vernachlässigung. Dennoch war im Mai 2009 anlässlich des Eröffnungskonzerts der Wiener Festwochen zu lesen: „Nicht wie man Haydn spielt, sondern dass man ihn spielt, ist die erste Sensation.“7 Wenn dem Orchester ferner vorgehalten wurde, „es sei mit dieser Bilanz durchaus zufrieden“8, so sei zunächst festgehalten, dass von den Zahlen her tatsächlich Zufriedenheit angebracht ist. Und doch wiederum auch nicht: Davon abgesehen, dass Selbstzufriedenheit das Ende jeder wahren Kunst bedeutet, kann man die statistisch widerlegte Kritik nicht mit dem Hinweis auf mangelnde Information abtun; es gibt vielmehr zu denken, dass Haydn trotz der relativ großen Zahl an Aufführungen nicht genügend wahrgenommen wird. Dies wirft zumindest eine wichtige Frage auf: Weshalb haben wir uns so weit von Joseph Haydn entfernt, dass wir die Brillanz, die Innovationskraft, den intelligenten Humor, das seiner Musik innewohnende humanistische Ideal nicht mehr in vollem Umfang begreifen?

Andererseits wusste Haydn seine Hintergründigkeit nur zu oft hinter scheinbarer Unbefangenheit zu verbergen, und dies nicht nur in seinen Kompositionen. Als bemängelt wurde, dass seine Messen zu fröhlich seien, meinte er: „‚Da mir Gott ein fröhlich’ Herz gegeben hat, so wird er mir’s schon verzeihen, wenn ich ihm fröhlich diene.‘“9 Das Zitat zählt zu den beliebtesten Aussprüchen Haydns: Generationen von Musikfreunden erbauten sich an der kindlichen Frömmigkeit des Meisters – und übersahen dabei, dass er Gott lediglich vorschützte, um die Priorität zu verschleiern, die er der absoluten Musik einräumte.

Haydns Biograph Georg August Griesinger berichtet, dass sich der Meister selbst über seine musikalische Fruchtbarkeit wunderte und zu sagen pflegte, „er wisse sich keine passendere Grabschrift, als die drey Worte: Vixi, scripsi, dixi! zu setzen. Dennoch äußerte er, der schon so vieles geleistet hatte, an seinem 74ten Geburtstage: ‚sein fach sey gränzenlos; das, was in der Musik noch geschehen könne, sey weit größer, als das, was schon darin geschehen sey; ihm schweben öfters Ideen vor, wodurch seine Kunst noch viel weiter gebracht werden könnte, aber seine physischen Kräfte erlauben es ihm nicht mehr, an die Ausführung zu schreiten.‘“10 Diese Bilanz eines der größten Genies der Musikgeschichte sollte den Blick von Aufführungszahlen und der Diskussion über zu viel oder zu wenig Haydnpflege weg auf das Wesentliche lenken: auf die Konzentration darauf, dass jede Wiedergabe eines Werkes von Joseph Haydn an Ausführende wie Zuhörende höchste Ansprüche stellt, deren Erfüllung, um Nikolaus Harnoncourt zu zitieren, die Welt verändern würde.

Während Haydn, der am 31. Mai 1809 starb, bei der Salzburger Mozartwoche 2009 in jedem der drei Philharmonischen Konzerte vertreten war, gelangte bei der traditionellen „Wiener Philharmoniker-Woche in Japan“ dieses „Haydn-Jahres“ lediglich die letzte Symphonie des Meisters (D-Dur Hob. I:104) zur Aufführung. Dafür stand der obligate Vortrag, den ich mit Ausnahme des Jahres 2015 im Rahmen sämtlicher „Philharmoniker-Wochen“ seit 1999 in der Suntory Hall in Tokio halten durfte, im Zeichen des Jahresregenten: Die „Hommage an Joseph Haydn“ wurde von Konzertmeisterin Albena Danailova, Soloflötist Dieter Flury, Jun Keller, Solobratschist Tobias Lea und den Solocellisten Tamás Varga und Robert Nagy musikalisch gestaltet. Auf dem Programm standen neben Werken Haydns Kompositionen seines 24 Jahre jüngeren Freundes Wolfgang Amadeus Mozart, seiner Schüler Ludwig van Beethoven und Ignaz Pleyel sowie – in Anlehnung an Haydns Kaisertreue und (vermutlich) als japanische Erstaufführung – zwei Tanzsätze des Habsburger-Kaisers Leopold I., der von 1658 bis 1705 regierte und ein begabter Komponist war. Albena Danailova spielte, am Klavier begleitet von René Staar, Menuett und Bourrée des komponierenden Herrschers.

Der folgende Text ist die adaptierte Fassung des Vortrags vom 20. September 2009, der ein Versuch war, meine Dankbarkeit für die Begegnung mit dem Werk Joseph Haydns zum Ausdruck zu bringen. Sie reicht in meine frühe Jugend zurück, spielte doch mein Vater mit meinem Bruder und mir mehrere Male sämtliche Streichquartette Haydns, der bei uns somit „ein gewohnter Hausfreund“ war und „immer gern und achtungsvoll empfangen“ wurde.

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Meine sehr geehrten Damen und Herren!

Joseph Haydn wurde am 31. März 1732 als ältester Sohn eines Wagnermeisters in Rohrau in Niederösterreich geboren, in einem Landesteil also, in dem neben der deutschsprachigen Bevölkerung auch Ungarn, Kroaten und andere Volksgruppen beheimatet waren. Johann Matthias Franck, Schulrektor und Regenschori in Hainburg und Schwager von Haydns Vater, entdeckte bei einem Besuch das herausragende musikalische Talent des fünfjährigen Knaben und nahm ihn zu sich. „Hier erhielt er Unterricht im Lesen und Schreiben, im Catechismus, im Singen, und fast in allen Blas- und Saiten-Instrumenten, sogar im Paukenschlagen. ‚Ich verdanke es diesem Manne noch im Grabe‘, sagte Haydn öfters, ‚daß er mich zu so vielerley angehalten hat, wenn ich gleich dabey mehr Prügel als zu essen bekam.‘“11

Als etwa zwei Jahre später Georg Reutter, Kapellmeister von St. Stephan in Wien, bei einem Besuch in Hainburg den so begabten Buben kennenlernte, nahm er ihn als Sängerknaben von St. Stephan auf und verhalf ihm zu einer erstklassigen Ausbildung. Es gibt einige bezaubernde Episoden aus dieser Zeit. Als Haydn etwa bei einer Kirchenmusik im Schloss Schönbrunn mitwirkte, das damals gerade umgebaut wurde, kletterte er verbotenerweise auf dem Baugerüst herum – und wurde von der Kaiserin Maria Theresia persönlich entdeckt und auf die großen Gefahren seines Tuns hingewiesen. Ein weiterer Streich kostete ihn die Zugehörigkeit zu den Chorknaben (die allerdings wegen des beginnenden Stimmbruchs ohnehin nicht mehr von langer Dauer gewesen wäre): Er soll einem Mitschüler den Haarzopf abgeschnitten haben, was für Reutter Grund genug war, ihn zu entlassen.

Für Haydn brachen nun entbehrungsreiche Jahre an, in denen er in einer Dachstube im heute noch bestehenden Großen Michaelerhaus in Wien wohnte, die keinen Ofen hatte und nicht regendicht war. Den Lebensunterhalt verdiente er mühselig mit Unterrichten, gleichzeitig widmete er sich mit höchstem Eifer der Komposition: „[…] ich schriebe [!] fleissig, doch nicht ganz gegründet, bis ich endlich die gnade hatte von dem berühmten Herrn [Nicola Antonio] Porpora (so dazumahl [von 1752/53 bis etwa 1760] in Wienn [!] wäre) die ächten Fundamente der sezkunst zu erlehrnen.“12 Sämtliche frühen Biographien vermitteln einen Eindruck von Haydns enormem Fleiß. Er spielte in mehreren Kirchenorchestern, wirkte als Sänger in der Hofmusikkapelle mit, geigte bei Hofbällen und erhielt auch bereits erste Kompositionsaufträge. Ein Sonn- oder Feiertag sah für ihn beispielsweise folgendermaßen aus: Um acht Uhr morgens Geiger in einer Kirche im heutigen II. Wiener Gemeindebezirk, um zehn Uhr Organist in einer Privatkapelle in der Inneren Stadt und um elf Uhr Sänger in St. Stephan. Es liegt nahe, dass Haydn selbst am Ende seiner Laufbahn meinte: „Junge Leute werden an meinem Beispiele sehen können, daß aus dem Nichts doch etwas werden kann.“ Die Begründung, die er für diesen Erfolg nannte, ist ebenso kurz wie fundamental: „‚Das Talent lag freylich in mir: dadurch und durch vielen Fleiß schritt ich vorwärts.“13

Kurz nach 1750 kam es zu einer überaus bedeutungsvollen Konstellation. Der wohlhabende Musikfreund Karl Joseph Weber von Fürnberg lud Haydn auf sein (ebenfalls heute noch bestehendes, in Wieselburg-Land gelegenes) Schloss Weinzierl in Niederösterreich ein, wo dieser für die dort anwesenden Musiker, also für sich selbst, den Schlossgeistlichen, den Verwalter und den Cellisten Anton Albrechtsberger, einen Bruder des von Haydn überaus geschätzten Komponisten Johann Georg Albrechtsberger, Werke in der vorgegebenen Besetzung schrieb – zwei Violinen, Viola und Violoncello: Das Streichquartett, eine der anspruchsvollsten Gattungen der Musikgeschichte, mit der sich in der Folge viele der größten Komponisten auseinandersetzen sollten, war geboren.

Auf Empfehlung Fürnbergs erhielt Haydn 1757 seine erste feste Anstellung als Musikdirektor des Grafen Morzin. Über diesen Abschnitt im Leben des Meisters ist wenig bekannt; es steht aber fest, dass seine ersten Symphonien ebenso wie die unglückliche Eheschließung mit Maria Anna Keller, der Tochter eines Perückenmeisters („‚[…] ihr ist es gleichgültig, ob ihr Mann ein Schuster oder ein Künstler ist‘“14), in diese Zeit fallen, in der sich auch sein Ruf als Komponist allmählich verbreitete.

Im Jahre 1761 erfolgte die entscheidende Wende in Haydns Laufbahn: Er erhielt eine Anstellung als Kapellmeister der Fürsten Esterházy de Galántha. Über 40 Jahre stand er im Dienst der unerhört reichen ungarischen Magnaten (Paul II. Anton, Nikolaus I., Anton I. und Nikolaus II.), die ungeachtet ihrer Loyalität gegenüber dem Kaiserhaus de facto einen Staat im Staate regierten und durch ihr hohes Interesse an Musik und Literatur bleibende kulturhistorische Verdienste erwarben. Haydn war zunächst als Vizekapellmeister tätig, rückte aber bald auch nominell an die Stelle des altersschwachen Kapellmeisters Gregor Werner – der sich kurz vor seinem Tod im Jahre 1766 schriftlich über mangelnden Eifer seines um 39 Jahre jüngeren, genialen Konkurrenten beschwerte, worauf dieser in einem neuen Regulativ angehalten wurde, „Sich selbst embsiger als bisher auf die Composition zu legen“15 – und war somit für die Kammer-, Theater- und Kirchenmusik verantwortlich. Außerdem hatte er Gesangsunterricht zu erteilen, als Violin- und Klaviersolist aufzutreten und auf fürstliche Bestellung zu komponieren, wobei er seine Werke nicht weitergeben bzw. für andere Auftraggeber nur mit Erlaubnis des Fürsten tätig werden durfte.

Haydn verbrachte nun einen großen Teil des Jahres in Eisenstadt sowie in Schloss Esterháza bei Fertöd (Westungarn), das Fürst Nikolaus I. nach dem Vorbild von Versailles glanzvoll ausgebaut hatte. Zu seinen Aufgaben gehörte auch noch die Komposition von Opern, die in beiden Schlössern aufgeführt wurden. Besondere Bedeutung kam ferner den großen Festen zu, welche die Fürsten Esterházy anlässlich der Besuche der Kaiserfamilie oder anderer hochgestellter Persönlichkeiten gaben; sie bestanden aus Bällen, Konzerten, Feuerwerken, Tänzen und Gesängen sowie aus einer jeweils neuen Oper von Haydn, die einen immer wichtigeren Teil dieses aufwendigen Gesamtprogramms bildete.

In zunehmendem Maße gelangten Werke des Meisters durch Abschriften zur Drucklegung, was von Nikolaus I. toleriert wurde, weil er stolz darauf war, erstrangige Künstler in seinem Orchester und Joseph Haydn an dessen Spitze zu haben. Ein neuer Dienstvertrag enthielt daher auch nicht mehr die Bestimmung, dass er nur für den Fürsten komponieren dürfe. Der wachsende Ruhm wurde anfänglich durch Kritik vor allem aus dem konservativen Norddeutschland begleitet, wo Haydn ein „seltsame[s] Gemisch der Schreibart, des Ernsthaften und Komischen, des Erhabenen und Niedrigen“ vorgeworfen und er sogar der „Unwissenheit des Kontrapunkts“16 geziehen wurde. Seine Kontakte zu zahlreichen europäischen Verlegern, die gelegentlich nicht reibungslos waren, da er manchmal dieselben Werke nach Wien und Paris oder London etc. verkaufte, sorgten jedoch für eine enorme Verbreitung seiner Kompositionen und damit für den Aufstieg zum führenden Tonsetzer seiner Zeit.

Die Intensivierung seiner Beziehungen zu Wien ließ Haydn die sommerliche Zurückgezogenheit in Schloss Esterháza mehr und mehr als Isolation und sogar als „Unglück“ erscheinen, obwohl sie seinen eigenen Worten zufolge ursprünglich auch Vorteile gehabt hatte: „Mein Fürst war mit allen meinen Arbeiten zufrieden, ich erhielt Beyfall, ich konnte als Chef eines Orchesters Versuche machen, beobachten, was den Eindruck hervorbringt, und was ihn schwächt, also verbessern, zusetzen, wegschneiden, wagen; ich war von der Welt abgesondert, Niemand in meiner Nähe konnte mich an mir selbst irre machen und quälen, und so mußte ich original werden.“17

Der Tod des Fürsten Nikolaus I. im Jahre 1790 brachte eine wesentliche Änderung. Sein Sohn Anton behielt Haydn zwar im Amt und erhöhte sogar noch sein Salär, nahm aber seine Dienste vorerst nicht in Anspruch. Dies ermöglichte die Annahme eines prestigemäßig wie finanziell verlockenden Angebots aus London: Auf Einladung des Impresarios und Musikers Johann Peter Salomon reiste er im Dezember 1790 nach England, wo er beispiellose Triumphe feierte und einige seiner bedeutendsten Werke, so etwa die „Londoner Symphonien“ oder die Oper „L’anima del filosofo“ schrieb. 1791 wurde er in Oxford zum „Doctor in musica honoris causa“ ernannt. Neben zahlreichen gesellschaftlichen Ereignissen und Veranstaltungen zu seinen Ehren sowie den vielen eigenen Konzerten nahm er intensiv am hiesigen Musikleben teil und wurde vor allem durch die Vokalwerke Georg Friedrich Händels tief beeindruckt. Er fuhr ferner nach Slough in der Grafschaft Berkshire, um den aus Hannover stammenden und in England tätigen Musiker und Astronomen Wilhelm Herschel, der 1781 den Planet Uranus entdeckt hatte, in dessen Observatorium zu besuchen, und dieses Zusammentreffen hatte eine musikhistorisch relevante Folge, war es doch Teil der Inspiration zu Haydns berühmtestem Werk, dem Oratorium „Die Schöpfung“. Die Erfolge und die Anerkennung in England veranlassten ihn, gegen den Willen von Fürst Esterházy eine weitere Saison in London zu verbringen, sodass er erst im Sommer 1792 zurückkehrte.

Nach nur eineinhalb Jahren ersuchte er den Fürst um Urlaub für eine zweite Reise nach London, die ihm dieser nach längerem Zögern bewilligte. Sein Aufenthalt in der englischen Hauptstadt dauerte von Februar 1794 bis August 1795, umfasste also wiederum zwei Konzertsaisonen und war ein neuerlicher Triumph. Auch diesmal glänzte er mit neuen und alten Kompositionen, stand im Mittelpunkt zahlreicher Ehrungen und erhielt schließlich vom englischen Königspaar das Angebot, für immer in England zu bleiben („Ich räume Ihnen des Sommers eine Wohnung in Windsor ein, sagte die Königin, und dann, setzte sie schalkhaft gegen den König schielend hinzu, machen wir zuweilen tête à tête Musik“18), was er aber unter Hinweis auf seine Dankbarkeit gegenüber den Esterházys und seine Anhänglichkeit an das Vaterland ablehnte. Sogar die Reiseunwilligkeit seiner Frau führte er als Argument an: „‚Die fährt nicht über die Donau, noch weniger über das Meer.‘“19

Nach Rückkehr von der auch finanziell sehr erfolgreichen Reise zog er in ein Haus in der Wiener Vorstadt Gumpendorf, das er schon 1793 erworben und ausgebaut hatte und das heute als Haydn-Museum im VI. Gemeindebezirk erhalten ist. Inzwischen war Fürst Anton Esterházy nach nur vierjähriger Regentschaft gestorben, und sein Sohn Nikolaus II. offerierte Haydn erheblich angenehmere Dienstbedingungen. Er verstand sich als Mäzen, erhöhte das Jahresgehalt des Komponisten um fast ein Viertel und verpflichtete ihn nur mehr während der Sommermonate zum Aufenthalt in Eisenstadt, wo der Meister nun auch im Schloss wohnen durfte. Da der Fürst ein besonderer Freund der Kirchenmusik war, schrieb Haydn in der Folge jedes Jahr eine Messe; einige dieser Kompositionen, etwa die Pauken-, Theresien- oder die Nelsonmesse, zählen zu seinen bedeutendsten Werken.

Da Fürst Nikolaus II. ihm somit einen großen Freiraum gestattete, komponierte Haydn in der Spätzeit zumeist für andere Auftraggeber. Vor allem die „Assoziierten Kavaliere“, eine Gesellschaft adeliger Wiener Musikliebhaber, deren Geschäftsführer Mozarts Freund Baron Gottfried van Swieten war, erlangten für Haydn hohe Bedeutung. Sie finanzierten die ersten Aufführungen der Vokalfassung von „Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze“, und van Swieten gestaltete die Textbücher zu den Oratorien „Die Schöpfung“ und „Die Jahreszeiten“.

Von einer ernstlichen Erkrankung im Alter von 39 Jahren abgesehen, war Haydn bis etwa 1799, also zehn Jahre vor seinem Tod, bei guter Gesundheit. Es ist psychologisch interessant, dass sich dieser Zustand nach dem Tod seiner ungeliebten Frau, die im März 1800 starb, änderte. Er litt unter mehreren Erkrankungen, erholte sich zwar immer wieder, sein Zustand blieb aber labil, und er wurde sukzessive schwächer. Im August 1803 reiste er zum letzten Mal nach Eisenstadt, im Dezember dieses Jahres dirigierte er im Wiener Redoutensaal die „Sieben letzten Worte“. Ansonsten genoss er seinen wegen der Altersbeschwerden nicht leidens-, aber materiell sorgenfreien Ruhestand: „‚[…] ich habe meine bequeme Wohnung, drey bis vier Gerichte zum Mittagsessen, ein gutes Glaserl Wein, ich kann mich in feines Tuch kleiden, und wenn ich fahren will, so ist mir ein Miethwagen gut genug.‘“20

Sein Ansehen war unerhört. Kein ausländischer Musiker, ja, kein Intellektueller, der Wien im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts besuchte, versäumte es, bei ihm vorzusprechen, wobei Haydn die Gäste stets äußerst gepflegt und in Ausgehkleidung empfing. Ein Besucher bemerkte 1807, also zwei Jahre vor seinem Tod: „‚Trotz […] seiner körperlichen Schwäche strahlet noch ein Feuer in seinen Augen, verbunden mit einer liebenswürdigen Jovialität, die Jedermann entzücken muss.‘“21 Gegenüber dem Schauspieler August Wilhelm Iffland begründete er im September 1808 seinen körperlichen Verfall mit der Überanstrengung, welche er zeitlebens durch die enorme Arbeitsleistung auf sich nahm. „‚Aber‘“, meinte er selbst, „‚es ist eine Niederlage mit Ehre.‘“22

Zwei spektakuläre Beispiele aus seinen letzten Tagen belegen den Weltruhm, den Haydn gegen Ende seines Lebens genoss. Als Napoleon im Mai 1809 Wien belagerte und mit Kanonen beschoss, lehnte es Haydn ab, in die befestigte Stadt zu ziehen, worauf der Kaiser der Franzosen befahl, eine Ehrenwache vor sein Haus zu stellen. Und eine letzte außergewöhnliche Würdigung erfuhr er noch, als ihn am 17. Mai 1809 „ein Kapitain von der französischen Armee, ein geborner Italiener“23 besuchte und ihm die Arie „Mit Würd’ und Hoheit angetan“ aus dem Oratorium „Die Schöpfung“ vorsang.

Am 31. Mai 1809 starb Joseph Haydn in Wien an Entkräftung, wie es im Totenprotokoll heißt, und wurde zunächst auf dem Hundsturmer Friedhof (heute Haydnpark, Wien XII) begraben. Bei einem Trauergottesdienst, der zwei Wochen später in der Wiener Schottenkirche stattfand und bei dem Mozarts Requiem aufgeführt wurde, waren „die französische Generalität und die angesehensten Bewohner und Künstler Wiens“24 anwesend. Auf Veranlassung von Fürst Nikolaus II. wurden Haydns sterbliche Überreste 1820 nach Eisenstadt überführt und in der dortigen Bergkirche beigesetzt. Die endgültige Ruhe fand der Meister allerdings erst 134 Jahre später in jenem Mausoleum der Bergkirche, das Fürst Dr. Paul V. Esterházy 1932 errichten hatte lassen: 1954 wurde Haydns Schädel, den Joseph Carl Rosenbaum, ein Sekretär der Esterházys und Anhänger der obskuren, wiewohl in Wien damals populären Schädellehre des aus dem Schwarzwald stammenden Arztes Franz Joseph Gall, im Jahre 1809 mithilfe des Totengräbers entwendet hatte, feierlich mit den Gebeinen des Meisters vereinigt. –

Der zweite Teil dieser Hommage beginnt mit einem Blick auf den Instrumentalisten und Praktiker Haydn. Wie bereits erwähnt, war er nicht nur als Kapellmeister, sondern auch als Geiger und Pianist tätig, wobei seine diesbezüglichen Leistungen aufgrund der Bescheidenheit seiner eigenen Äußerungen allgemein zu gering eingeschätzt wurden und werden. So meinte er von sich selbst: „‚Ich war auf keinem Instrument ein Hexenmeister, aber ich kannte die Kraft und die Wirkung aller; ich war kein schlechter Klavierspieler und Sänger, und konnte auch ein Konzert auf der Violine vortragen.‘“25 In London übernahm er bei privaten Quartettaufführungen eine der Violinstimmen oder gelegentlich die Viola, ebenso spielte er mit Mozart und den Komponisten Carl Ditters von Dittersdorf und Johann Baptist Vanhal Kammermusik, wobei neben eigenen Streichquartetten auch Mozarts Streichquintette auf dem Programm standen.

Etwa um 1770 befasste er sich ferner intensiv mit dem Baryton. Das zur Familie der Violen zählende Baryton oder Viola di bordone ist ein Verwandter der Gambe. Fürst Nikolaus I. Esterházy spielte es selbst, weshalb Haydn innerhalb eines Jahrzehnts nicht weniger als 175 Werke für dieses erlesene Streichinstrument komponierte. Wie ein Brief des Fürsten beweist, war er mit den Duos und Trios „wohl“ bzw. „sehr zufrieden“26 und ließ Haydn ein Extrahonorar auszahlen. Als Voraussetzung für seine kompositorische Tätigkeit für das Baryton erlernte Haydn das Instrument, indem er ein halbes Jahr äußerst eifrig übte, gab dies aber nach einer eifersüchtigen Bemerkung des Fürsten wieder auf.

Bei Haydns erster Londoner Reise versuchten die „Professional Concerts“, ein zu Salomon konkurrierendes Unternehmen, den Meister abzuwerben und engagierten, als dies vergeblich war, den österreichischen Komponisten Ignaz Pleyel. Die Strategie ging allerdings ebenfalls nicht auf, da sich dieser als loyaler Schüler Haydns erwies. Ignaz Pleyel wurde 1757 in Ruppersthal geboren, einem kleinen Ort der Marktgemeinde Großweikersdorf im westlichen Weinviertel (der dank der hingebungsvollen und unermüdlichen Bemühungen des pensionierten Amtsdirektors Professor Adolf Ehrentraud, Präsident der „Internationalen Ignaz Joseph Pleyel Gesellschaft“, über ein im Mai 2016 eröffnetes „Pleyel Kulturzentrum“ sowie ein florierendes Konzertleben verfügt, in das auch zahlreiche Mitglieder der Wiener Philharmoniker eingebunden sind). Obwohl Sohn einer armen Lehrerfamilie, erhielt Pleyel eine sehr fundierte musikalische Ausbildung, und schließlich ermöglichte ihm Graf Erdödy ein fünfjähriges Studium bei Joseph Haydn. Pleyel wurde Kapellmeister in Straßburg, wo ihn die Wirren der Französischen Revolution überraschten. 1795 ließ er sich in Paris nieder, eröffnete eine weithin berühmte Musikalienhandlung und schließlich eine noch berühmtere Klavierfabrik. Bis heute trägt der führende Konzertsaal von Paris, die Salle Pleyel, seinen Namen.

Wie bereits erwähnt, scheiterte das unmoralische Bemühen der „Professional Concerts“, Pleyel als Konkurrenten Haydns aufzubauen, kläglich. Haydn zeigte sich von diesem Versuch belustigt und bemerkte: „Ich bin bemüsigt mir all erdenkliche mühe zu geben […] man finge gleich an in allen zeitungen davon zu sprechen, allein mir scheint, es wird bald Allianz werden.“27 Mit dieser Einschätzung behielt er recht – Pleyel setzte bereits in seinem zweiten Konzert in London eine Symphonie von Haydn auf das Programm und erwies damit seinem Lehrer die gebührende Reverenz. Umgekehrt besuchte Haydn die Konzerte Pleyels und applaudierte immer als Erster. Gleichwohl war er sich der Konkurrenzsituation bewusst. Als Griesinger ihn fragte, ob er mit dem berühmten Schlag im Andante der „Symphonie mit dem Paukenschlag“ die im Konzert eingeschlafenen Engländer wecken wollte, antwortete der Meister: „‚Nein, […] sondern es war mir daran gelegen, das Publikum durch etwas Neues zu überraschen, und auf eine brillante Art zu debütiren, um mir nicht den Rang von Pleyel, meinem Schüler, ablaufen zu lassen […]. Das erste Allegro meiner Symphonie wurde schon mit unzählichen Bravos aufgenommen, aber der Enthusiasmus erreichte bey dem Andante mit dem Paukenschlag den höchsten Grad. Ancora, Ancora! schallte es aus allen Kehlen, und Pleyel selbst machte mir über meinen Einfall sein Kompliment‘.“28

In den Neunzigerjahren des 18. Jahrhunderts veranstaltete Fürst Lichnowsky in seinem Wiener Palais jeden Freitagmorgen ein Kammermusikkonzert. An diesen „Morgenmusiken“ beteiligte sich neben Ignaz Schuppanzigh, dem nachmals so berühmten Quartettspieler, dem Bratschisten Franz Weiß und dem Cellisten Anton Kraft zumeist auch Ludwig van Beethoven, der die „Bemerkungen dieser Herren […] jedesmal mit Vergnügen“29 annahm (was wohl „cum grano salis“ zu verstehen ist). Gelegentlich wohnte auch Joseph Haydn diesen Privatkonzerten bei, die somit für alle Beteiligten eine ideale Möglichkeit darstellten, zu experimentieren bzw. aus der Praxis zu lernen.30

Der junge Beethoven hatte vorübergehend bei Haydn studiert, und obwohl Letzterer im November 1793 geschrieben hatte, „daß Beethoven mit der Zeit die Stelle eines der größten Tonkünstler in Europa vertreten werde, und ich werde stolz seyn, mich seinen Meister nennen zu können“, und ihm sogar Geld vorgestreckt hatte, „um ihn nicht unter die Hände der Wucherer fallen zu lassen“31, war es zu Unstimmigkeiten gekommen. Zwar haben sich Übungen Beethovens im strengen Kontrapunkt ebenso erhalten wie seine Abschriften eines Streichquartetts und von Teilen einer Symphonie Haydns, die er zu Studienzwecken anfertigte; dennoch war der Unterricht seiner Meinung nach nicht intensiv genug gewesen, weshalb er das Studium heimlich bei dem vor allem durch seine Singspiele erfolgreichen Komponisten und Pädagogen Johann Baptist Schenk fortgesetzt hatte. Beethoven war ferner verletzt, dass Haydn Vorbehalte gegen einen Satz seiner drei Klaviertrios op. 1 äußerte und lehnte es ab, sich auf dem Titelblatt der Haydn gewidmeten drei Klaviersonaten op. 2 als dessen Schüler zu bezeichnen. Umgekehrt war Haydn verärgert, dass ihm Beethoven ältere, noch in dessen Bonner Zeit geschriebene Werke vorlegte, und nahm ihn nicht auf seine zweite Londoner Reise mit, obwohl er dies offenbar versprochen hatte. Immerhin aber achtete er insofern auf Beethovens weitere Ausbildung, als er ihn vor der Abreise nach London seinem Freund Johann Georg Albrechtsberger zur Fortsetzung des Studiums anvertraute.

Im Dezember 1795 und Jänner 1796 musizierten die beiden Genies gemeinsam in öffentlichen Konzerten; das persönliche Verhältnis blieb schwierig, war jedoch von gegenseitiger Hochachtung getragen. Noch am Ende seines Lebens erwies ihm Beethoven die gebührende Anerkennung. Als ihm auf dem Totenbett eine Abbildung von Haydns bis heute erhaltenem, niedrigem und strohgedecktem Geburtshaus in Rohrau geschenkt wurde, rief er aus: „‚Eine schlechte Bauernhütte, wo ein so großer Mann geboren wurde!‘“32

Spannungen und Schwierigkeiten im persönlichen Umgang zwischen großen Komponisten sind wahrlich keine Seltenheit. Haydn war jedoch auch Partner einer der bewegendsten Freundschaften der Musikgeschichte. Wolfgang Amadeus Mozart wurde „bald der innigste Verehrer“ Haydns und bezeichnete ihn oft als seinen Lehrer. Das berühmteste Beispiel ist die Vorrede, welche Mozart jenen sechs Streichquartetten voranstellte, die er 1785 veröffentlichte und Joseph Haydn widmete.33 Die deutsche Übersetzung des italienischen Textes lautet: „Wenn ein Vater beschlossen hat, seine Kinder in die große Welt zu schicken, so glaubt er sie dem Schutz und Geleit eines derzeit hochberühmten Mannes anvertrauen zu müssen, der zudem glücklicherweise sein bester Freund war. Nimm daher, berühmter Mann und mein teuerster Freund, meine sechs Kinder entgegen. Wohl sind diese Frucht einer langen und mühevollen Arbeit, allein die Hoffnung, welche mir einige Freunde erweckt haben, diese Mühe wenigstens teilweise belohnt zu sehen, gibt mir Mut und ich schmeichle mir, daß diese meine Geschöpfe mir einst gleichen Trost spenden werden. Du selbst, mein liebster Freund, hast mir während Deines letzten Aufenthaltes in dieser Hauptstadt Deine Genugtuung ausgedrückt. Diese Deine Zustimmung ist es, welche mich vor allem aneifert, Dir meine Kinder ans Herz zu legen, und in mir die Hoffnung erweckt, daß jene nicht ganz Deiner Gunst unwürdig seien. Mögest Du sie also gnädigst aufnehmen und Ihrem Vater Wegweiser und Freund sein. Von diesem Augenblick an trete ich Dir meine Rechte auf sie ab, bitte Dich aber, ihren Mängeln gegenüber Nachsicht zu üben, welche mir das befangene Vaterauge vielleicht verheimlicht hat, und ihnen zum Trotz demjenigen Deine Freundschaft zu bewahren, der diese so hoch schätzt. Von ganzem Herzen bin ich, lieber Freund, Dein aufrichtiger Freund W. A. Mozart.“34

Haydn hörte die letzten drei der ihm gewidmeten Quartette im Februar 1785 in Mozarts Wohnung, als dieser sie ihm zusammen mit seinem Vater und zwei Freunden vorspielte. Dabei kam es zu jenem berühmten Ausspruch Haydns, den Leopold Mozart in einem Brief an seine Tochter Nannerl überlieferte: „Ich sage Ihnen vor Gott, als ein ehrlicher Mann, Ihr Sohn ist der größte Componist, den ich von Person und dem Namen nach kenne; er hat Geschmack, und überdieß die größte Kompositionswissenschaft.“35 Man blieb in engem und freundschaftlichem Kontakt. So schrieb Haydn voll Bewunderung, dass auf dem Gebiet der Opernkomposition „der große Mozart schwerlich jemanden andern zur Seite haben kann“36, und dieser bedankte sich auf seine Weise – am 31. Dezember 1789 lud er Haydn in seine Wohnung und bat ihn, einer Probe für seine noch nicht uraufgeführte Oper „Così fan tutte“ beizuwohnen: Welch eine Begegnung, welch wechselseitige Inspiration!