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Ein junger Mann ist gestorben. Sein Tod ist für ihn der Beginn einer Reise, auf der er hofft, seine verstorbene Tochter zu finden. Er begegnet dabei Personen, mit denen er sich über elementare Themen wie Tod, Leben, Liebe, Rache und anderes auseinandersetzt.

So trifft er sich zum Beispiel auf einen Wein mit Stefan Zweig und Sigmund Freud und spricht mit beiden über deren Selbstmord, er erfährt von Elvis Presley wann man wirklich stirbt, diskutiert mit Casanova über die Liebe und Kinder, mit Sokrates über Entscheidungen, mit Steve Jobs über das Leben 2.0, mit Marylin Monroe über Selbstzweifel, mit John Lennon über Rache und lässt Frank Sinatra mit Peter Alexander ein Duett singen. Auch seinem eigenen Vater begegnet er.

Seine Suche wird immer verzweifelter, ist er überhaupt auf dem richtigen Weg?

„Endlich. Ein positives Buch über den Tod, das ihn nicht nur enttabuisiert, sondern neugierig macht, sich mit ihm auseinanderzusetzen!“

Dr. W. Mondorf

Über den Autor:

1961 in München geboren, begann Johannes Klenk als Freies Mitglied der Redaktion für die Süddeutsche Zeitung zu schreiben und absolvierte dort eine Ausbildung zum Verlagskaufmann. Später arbeitete er als Texter und Creative Director bei internationalen Werbeagenturen, bevor er seine Kommunikations-agentur gründete. Johannes Klenk lebt in Frankfurt, ist verheiratet und hat zwei Söhne.

Johannes Klenk

GESTERN
BIN ICH
GESTORBEN.

Keine große Sache.
Wirklich nicht.

© 2016 Johannes Klenk

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback: 978-3-7345-7821-2
Hardcover: 978-3-7345-7822-9
e-Book:978-3-7345-7823-6

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Für meinen Vater

Das Leben kann unbequem werden

und der Tod ist eine interessante Erfahrung

Irgendwie ungewohnt

Auf einen Wein mit Stefan Zweig und Sigmund Freud

Das Leben ist wunderbar

und der Tod kommt manchmal zu früh

War nicht alles schlecht früher

Elvis Presley starb, bevor er gelebt hat

Das Leben kennt keinen Konjunktiv

und der Tod hat auch seine Nachteile

Familienalbum

Casanova über die Liebe

Das Leben zu zweit ist schöner

und der Tod macht nicht einsam

Die Mutter meiner Tochter

John Lennon spricht noch immer mit Yoko

Das Leben wird oft überschätzt

und der Tod ist überraschend harmonisch

Nur ein Spiel

Peter Alexander und Frank Sinatra singen ein Duett für mich

Das Leben sollte man loslassen können

und der Tod will gut überlegt sein

Ein Gespräch mit meinem toten Vater

Sokrates nervt ein wenig

Das Leben ist nicht genug

und der Tod schafft Platz für Neues

Ich fasse den Entschluss

Steve Jobs sieht im Tod das Leben 2.0

Das Leben zu beenden ist anstrengend

und der Tod kann so warm und schön sein

Wie ich starb

Marilyn Monroe ist eine Philosophin

Das Leben kann unbequem werden

Irgendwie ungewohnt

 

Gestern bin ich gestorben. Keine große Sache. Wirklich nicht. Man braucht keine Angst davor zu haben. Kein bisschen. Gut, zuerst ist es schon ein wenig eigenartig, aber dieses Empfinden verfliegt angenehm schnell. Seit ich den Entschluss gefasst habe, zu sterben, und dieses Unbekannte kennenlerne, sind die Furcht und das Gefühl, dass ich es nicht schaffen könnte, vollkommen verschwunden. Vielleicht macht es ein Vergleich etwas klarer. Als Kind konnte ich mir nicht vorstellen, im Schwimmbad vom 10-Meter-Brett zu springen. Und? Irgendwann war ich alt genug und reif genug und bin gesprungen. Gut, es kostete dieses gewisse Etwas an Überwindung, genauso wie das Sterben, aber wenn man den entscheidenden Schritt getan hat und sich getraut hat, fühlt man sich, ja, dann fühlt man sich stolz. Ich bin stolz darauf, dass ich gestorben bin. Endlich. Endlich gehe ich meinen Weg, und wie befriedigend es ist, dass Höhe keine Rolle mehr spielt.

Was habe ich mir früher als Lebender Gedanken über den Tod gemacht! Ist es dann hell oder dunkel? Kann man sprechen? Hat man einen Körper? Fühlt man noch Schmerzen? Trifft man andere, und wenn ja, wen? Und ganz wichtig: Gibt es Gott oder nicht?

Und jetzt das. Wahnsinn! Hatte ich mir so nicht vorgestellt, als ich in Bayern auf dem Land aufwuchs. Meine Eltern waren zwar beide nicht gläubig, aber ganz konnte ich mich den katholischen Einflüssen dort nicht entziehen.

Wir hatten eine schöne, barocke Kirche mit viel Gold und so. Sehr feierlich. Da hatte ich immer so ein devotes Gefühl, ich ging quasi schon auf Knien hinein. Zugegebenermaßen war ich nicht oft in der Kirche, und wenn, dann fühlte ich mich eingeschüchtert, fast erniedrigt, wie Jean Simmons in dem Film „Die Geschichte einer Nonne“, in dem sie wie ein Kreuz vor dem Altar auf dem Boden liegt. In dieser Kirche hatte ich meine erste Begegnung mit dem Tod. Ein Klassenkamerad erkrankte an Leukämie und starb. Er wurde aufgebahrt, und wir konnten – mussten – Abschied von ihm nehmen. Die ganze Schule kam und war betroffen, obwohl ihn die meisten überhaupt nicht kannten. Es stimmt schon, nirgends wird mehr gelogen als auf Beerdigungen. Wenn ich, wahrscheinlich morgen – keine Ahnung wie lange das dauert – beerdigt werde, sollen die ganzen Heuchler und Schleimer zu Hause bleiben und mich wenigstens dann in Ruhe lassen. Auch Susanne möchte ich nicht sehen. Ganz besonders Susanne soll nicht kommen.

Auf jeden Fall habe ich damals bei dieser ersten Beerdigung den – wie ich meinte – Geruch des Todes kennengelernt. Diese Mischung aus Moder, altem Weihrauch und Kälte – selbst im Sommer – war für mich der Tod. Alles feierlich, aber eben düster, und ich hatte das Gefühl, dass jeder froh war, als er aus der Kirche wieder raus durfte in die Helligkeit und Wärme der Sonne, bis auf die alten Leute vielleicht, die kamen als Letzte raus. Entweder gefiel es ihnen da drinnen so gut, oder sie überlegten, ob sie nicht gleich drinnen bleiben sollten, ob es sich überhaupt lohnt, noch mal rauszugehen. Kurz, der Tod war von Anfang an nichts Schönes für mich, sondern etwas, das ich immer zu verdrängen suchte.

Heute weiß ich, dass das alles Unsinn ist. Der Tod riecht nach überhaupt nichts, ist vollkommen geschmacksneutral. Er ist auch nicht dunkel oder bedrohlich. Der Tod ist wie das Leben. Vielleicht ist der Tod sogar das Leben, aber ich bin ja gerade erst gestorben, ich muss mir alles noch genauer ansehen und es erleben. Erleben ist natürlich Unfug. Ertoden? Ach, ich muss noch eine Menge lernen, ich stehe erst am Anfang, nicht am Ende. Wie leicht jetzt alles ist. Früher war das anders.

In unserer Kirche zum Beispiel musste man immer ganz leise sein. Ruhe sanft. Völliger Quatsch. Schon damals wusste ich nicht warum, und jetzt, da ich tot bin, verstehe ich es noch weniger. Hat man Angst, die Toten zu wecken? Hallo, da gibt es nichts zu wecken. Wir Toten schlafen nicht. Nie. Wir wollen nichts verpassen, obwohl Zeit keine Rolle spielt. Zeit gibt es nicht mehr, kein Heute oder Morgen, kein letztes Jahr im Sommer, kein „Ich rufe dich nächste Woche an“, kein „Ich bleibe dir ewig treu“ oder „bis dass der Tod uns scheidet“. Nein, wir sind hellwach, Tag und Nacht, wie man sagt, wenn man noch lebt. Der Tod ist nicht so, wie ich ihn in meiner bayerischen Heimat kennenlernte, also etwas sehr, sehr Ernstes. Er ist genau das Gegenteil, schon feierlich, aber eben auch fröhlich.

So habe ich mir das Sterben, alles in allem, als etwas sehr Düsteres und Finsteres vorgestellt und wohl darum Angst davor gehabt. Schon witzig, heute – das es ja für mich nicht gibt – darüber nachzudenken, denn es ist hell, manchmal sogar zu hell, wenn ihr mich fragt. Es gibt manchmal so komische helle Blitze, die stören ein wenig, aber ich gewöhne mich schon noch daran.

Damals, als Unwissender, suchte ich Wege aus der Angst. So kam ich irgendwann zum Buddhismus, auch weil ich den Dalai Lama immer cool fand. Der lächelte so nett und sagte ohne Furcht, ganz freundlich und sicher, dass man sich jeden Tag mit dem Tod auseinandersetzen solle. Ohne eine bewusste Beschäftigung mit dem Tod gäbe es kein bewusstes Leben. Das habe ich versucht, aber wenn man sich den Tod als etwas dermaßen Unschönes vorstellt wie ich, dann macht es einfach keinen Spaß, jeden Tag daran zu denken. Man denkt ja auch nicht jeden Tag an die Steuererklärung oder an eine bevorstehende schwierige Prüfung. Fasziniert hat mich die Gewaltlosigkeit im Buddhismus und dass nie ein Krieg in seinem Namen geführt wurde, keine Kreuzzüge, keine Hexenverbrennungen, keine Inquisition, kein alles legitimierendes „Im Namen des Heiligen Vaters“. Nicht diese wie Christbäume mit kostbaren Ringen und Geschmeide geschmückten Päpste, die mit weihevollem Gesicht in allen möglichen Sprachen das „Urbi et Orbi“ predigen und die rubinverzierte Hand mahnend heben: Spendet den Armen und Hungernden! Teile mit deinem Nächsten! – Ich habe nie verstanden, warum die Kirche nicht mit gutem Beispiel vorangeht. Warum reißt sich der Papst nicht die Ringe von der Hand, die Gobelins von den Wänden und verteilt das Gold aus den Tresoren der Vatikanischen Bank, damit Kinder nicht verhungern müssen? Darüber hat mich immer der Zorn gepackt. Die Heldentaten der Kirche, als man noch seinen Mantel mit dem Frierenden teilte, sind schon lange vorbei – zu lange.

Das alles interessiert einen natürlich nur, wenn man noch lebt. Danach spielt das keine Rolle mehr, man versteht, dass Religionen vor allem dazu da sind, den Lebenden die Angst vor dem Tod zu nehmen. Was für eine Verschwendung von Energie. Ihr armen Lebenden wisst es halt nicht besser. Vor allem eines wisst ihr nicht, und das ist das Beste von allem, und allein dafür lohnt es sich schon fast zu sterben. Man trifft hier die tollsten Leute. Ja, wirklich, man trifft hier, wen man möchte. Das ist großartig. Bevor ich starb, hatte ich mich schon mal gefragt, ob ich wohl den einen oder anderen im „Himmel“ treffen würde, ob ich mich in einer Schlange anstellen müsste, um mit J. F. Kennedy zu sprechen, um von ihm zu erfahren, wer ihn erschossen hat. Oder ob ich Pontius Pilatus einfach gegenübertreten und ihn fragen kann, wie er sich damals gefühlt hat, als er Jesus verurteilte, und wie er sich im Musical „Jesus Christ Superstar“ findet. Jetzt muss ich über mich selbst lachen, denn hier steht natürlich keiner in irgendeiner Schlange. Wo auch?

Also das mit der nicht existierenden Zeit und dem nicht existierenden Raum ist zugegebenermaßen schon etwas irritierend. Jetzt bin ich gerade mal einen Tag (schon wieder reingefallen, aber wie soll ich es sonst sagen – kurz? Geht nicht, also wie?) tot und habe schon so viel erlebt. Schon wieder erlebt? Geht auch nicht, es ist zum Kotzen. Also: erfahren. Und genau das liegt eben an der Sache mit Zeit und Raum, sonst würde man das gar nicht alles schaffen. Ich muss mich einfach erst daran gewöhnen, dass ich – in der Sprache und dem Denken der Lebenden – schon eine Ewigkeit tot bin und nicht erst einen Tag. Und ich muss verstehen lernen, dass man hier niemanden zufällig trifft. Wenn ich also zum Beispiel einer berühmten Persönlichkeit begegne, dann nicht, weil sie zufällig vorbeikommt, sondern weil ich sie sehen möchte. Darin liegt jetzt diese unglaubliche Chance auf spannende Gespräche, und die möchte ich wahrnehmen.

Ich weiß nicht, ob es allen Neuankömmlingen hier so geht, aber ein paar Fragen drängen sich einem selbst hier noch auf, zum Leben und vor allem zum Tod. Ist doch interessant, von den Toten hier zu erfahren, welchen Einfluss ihr Leben auf ihren Tod hatte. Hatte es Sinn, sich zu Lebzeiten mit dem Tod auseinanderzusetzen? Macht es einen Unterschied, wie man gestorben ist und vor allem wie alt man wurde? Ist die Situation für jemanden, der ermordet wurde, hier anders als für jemanden, der sich umgebracht hat oder an einer Krankheit gestorben ist? Sind im Tod also alle gleich? Als Lebender bekommt man auf solche Fragen keine Antworten, wie auch, ist ja noch keiner aus dem Totenreich zurückgekommen, der es hätte erzählen können. Aber ich habe jetzt diese einmalige Gelegenheit, mit Leuten zu sprechen, die mir das erzählen können, Menschen, die ich kannte – meinen Vater zum Beispiel – oder Prominente, deren Leben ich verfolgt und bestimmte Schlüsse daraus gezogen habe. Elvis Presley hat für mich beispielsweise ein intensives Leben geführt und mehr erlebt als viele, die 100 Jahre alt wurden. Ist er dadurch leichter gestorben oder eben gerade nicht? Wie war das für Stefan Zweig, als er sich umbrachte? Wie denkt er jetzt darüber? Wie geht es einem Casanova hier? Empfindet er noch Liebe? Ist Frank Sinatra hier auch cool? Und vieles mehr. Das alles kann ich jetzt herausfinden, und der Clou: Ich muss mich nicht beeilen. Denn jetzt habe ich wirklich ewig Zeit. Endlich.

Der Tod ist eine interessante Erfahrung

Auf einen Wein mit Stefan Zweig und Sigmund Freud

 

Stefan Zweig war mein absoluter Lieblingsschriftsteller und stand darum auf meiner Liste der Prominenten, die ich treffen möchte, ganz oben. Und weil ich es gerade möchte und spannend finde, und weil ich es einfach so machen kann, setze ich Sigmund Freud gleich mit dazu. Die zwei sind schon zu Lebzeiten gut miteinander bekannt gewesen und haben beide – das ist dafür, warum ich dieses Gespräch suche, nicht unwichtig – Selbstmord begangen. Wie spricht man sein Idol am besten an? Erst mal ein wenig schmeicheln. Das schadet nie.

„Ihre Biografien habe ich geliebt, besonders Maria Stuart“, eröffne ich das Gespräch mit etwas zittriger Stimme. Ich bin ziemlich aufgeregt.

Zweig lacht, und seine Augen blitzen: „Ich auch, aber dann habe ich mal mit Maria Stuart darüber gesprochen. Na ja, die Kassettenbriefe hat es überhaupt nicht gegeben, und ihren Mann hat sie nur umbringen lassen, weil …“

„Sie haben mit Maria Stuart gesprochen?“, unterbreche ich ihn, weil ich erst eine halbe Ewigkeit hier bin und mich noch immer nicht daran gewöhnt habe, was hier alles möglich ist.

„Sollen wir sie zu uns an den Tisch bitten?“ Sigmund Freud blickt unter seinem Hut hervor und sieht mich fragend an. „Ich wollte sowieso noch eine Sitzung mit ihr machen, aber sie büxt mir immer wieder aus. Dabei hat sie es dringend nötig. Dringend!“

Weiterhin etwas verwirrt sage ich: „Nein, nein, danke. Das wird nicht nötig sein. Danke“, nehme einen kräftigen Schluck von dem Wein, der ungemein nach Äther schmeckt, und frage: „Haben Sie auch mit Maria Stuart und Königin Elisabeth gemeinsam gesprochen? Ich meine, die beiden sind sich doch im wahren Leben nie begegnet, oder?“

Zweig schmunzelt: „Ich habe hier verschiedene Runden – Stammtische, wenn Sie möchten – wichtiger Persönlichkeiten gegründet. Das ist sehr, sehr unterhaltsam und lehrreich für mich und oft hilfreich und versöhnlich für die beteiligten Personen. Da haben sich die beiden zum ersten Mal gesehen. Im Leben war es ja nie dazu gekommen, wie Sie richtig in Erinnerung haben. Da hatten sie sich die hinterlistigsten Briefe geschrieben, jeweils adressiert an die „teuerste Freundin und Schwester“, und sich dabei bis aufs Blut bekämpft. Hier haben sie dann ihren Frieden geschlossen, sind heute wirklich ein Herz und eine Seele. Ich habe dabei ein bisschen mitgeholfen, wenn ich ehrlich bin, und eine wesentliche Frage zur Sprache gebracht, die schon immer zwischen den beiden stand. Maria hatte es sehr verletzt, dass Elisabeth immer behauptete, sie habe Marias Todesurteil nur versehentlich unterzeichnet. Ihr seien damals mehrere Unterlagen zur Unterschrift vorgelegt worden und sie habe nicht gewusst, dass auch das Todesurteil darunter war. Hier lügt man nicht mehr, hier gibt es nur die Wahrheit, und so hat sie dann zugegeben, das Urteil ganz bewusst unterschrieben zu haben. Maria war irgendwie erleichtert darüber, gar nicht böse. Die beiden verstehen sich deswegen gut, glaube ich, weil sie sich so ähnlich sind, beide hart und entschlossen, wenn auch Maria mehr Glück bei den Männern hatte, was ihr dann mit zum Verhängnis wurde. Ist schon genial, die Leute zu treffen, über die man ein Leben lang geschrieben hat. So kann ich leicht überprüfen, ob es stimmt, was ich schrieb.“ Er denkt kurz nach. „Besonders viel Spaß macht mir die Runde ‚Sternstunden der Menschheit‘. Robert Scott und Roald Amundsen zum Beispiel sind so feine Kerle, die hätten 1912 zusammen den Südpol entdecken sollen, aber das Schicksal wollte es nicht so. Ich lehne mich dann meistens zurück und höre nur zu, wenn die beiden zusammensitzen und ihre Erlebnisse austauschen, genauso bei Goethe, Dostojewski, Tolstoi, Lenin, Napoléon Bonaparte und den anderen. Ach, ich mag die Gespräche, selbst wenn ich dann feststellen muss, dass ich unrecht mit dem hatte, was ich über sie schrieb.“

„Aber meistens“, entgegne ich, „haben Sie doch richtig gelegen, oder?“

Zweig schaut ernst und ein wenig frustriert, wie es mir scheint, und doziert: „Na ja, wie man’s nimmt. Marie Antoinette ist eine Zicke, Joseph Fouché ein prima Kerl, mit Balzac kann man kein vernünftiges Wort wechseln. Der Fehler liegt darin, dass wir dazu tendieren, die Menschen nach ihren Taten zu beurteilen. Mozart ist demnach fröhlich und verspielt und Heinrich VIII. brutal. Das stimmt natürlich nicht. Mit den ‚normalen‘ Menschen ist es ähnlich, nicht wahr, Sigmund? Da denkt man immer, die Menschen wären wie ihr Leben.“

Freud hatte nicht aufgepasst. Er schrieb irgendetwas in ein kleines schwarzes Büchlein und lächelte dabei verschmitzt in sich hinein.

„Herr Zweig“, ich wollte mich langsam an die Frage herantasten, die mir auf der Zunge brannte, „hatten sie ein schönes Begräbnis?“

Zweig strahlt und zupft zufrieden an seinem Schnurrbart. „Das kann man wohl sagen, lieber Freund. Mein Sterben begann, wie Sie sicherlich verstehen werden, als meine Bücher verbrannt wurden, und ging dann schneller, als ich dachte, in Brasilien weiter. Ich habe damals viele Briefe geschrieben, und eines Tages lief der Postbote an meiner Tür vorbei, ohne anzuhalten. Ohne einen Brief für mich. Da wurde mir klar, dass die Welt mich vergessen hatte. Ich hatte keine Stimme mehr, die irgendwer hören wollte, die irgendetwas hätte verändern können. Die Welt hatte mich also vergessen. Da wurde mir klar, dass ich gestorben war. Ich war nie jemand, der sich anderen aufgedrängt hätte, und trotzdem hatte ich eine rege Korrespondenz mit vielen, vielen anderen Schriftstellern, Künstlern und Politikern. Aber ich schrieb nicht nur, ich traf mich mit ihnen, zum Beispiel mit Rainer Maria Rilke, Auguste Rodin, Hermann Hesse, Albert Schweitzer, Arthur Schnitzler und vielen anderen. Sigmund, kannst du dich erinnern, wie ich mal mit Salvador Dali zu dir kam und ihn dir vorstellte?“

Freud sieht kurz auf und sagt: „Ja, sicher. Das war 1938. Der Spanier war ein netter Kerl. Etwas zu fanatische Augen vielleicht, aber sehr sympathisch.“

Zweig fährt fort: „Jedenfalls habe ich da noch gelebt, aber dann, in Petrópolis? Ich musste Brasilien wirklich dankbar sein. Das Land hat mich herzlich willkommen geheißen. Nur – wo waren meine Freunde, meine Aufzeichnungen, meine geliebten Autografen und die unersetzlichen Bücher? Nein, nein, es war schon richtig für mich, mir Veronal zu besorgen, für mich und Lotte. Da hatte ich anfangs schon ein schlechtes Gewissen, denn sie war noch nicht gestorben – dachte ich jedenfalls. Aber sie sagte mir, wir wären eine Einheit, ein Körper, und es könne nicht sein, dass die Arme tot sind und die Beine noch leben. Wissen Sie, mein Lieber“, und er legt eine Hand auf meinen Arm, „jeder stirbt anders. Ich habe mit vielen hier gesprochen, und jeder hat seine eigene Geschichte. Nur eines ist gleich: Alle sind froh, endlich tot zu sein.“

Dem kann ich nur zustimmen, aber Zweig hat mich nicht ganz verstanden. Ich nähere mich von einer anderen Seite: „Und der Tod selber?“, frage ich.

„Das Begräbnis – eine famose Geschichte. Ganz Petrópolis war auf den Beinen, und der PEN-Club kam. Meinen Abschiedsbrief haben sie sogar in der Tageszeitung originalgetreu abgebildet. Der Staatpräsident Getúlio Dornelles Vargas …“

Er redet und redet, und ich verzweifle langsam. Will er mich nicht verstehen oder kann er es nicht? Daher werde ich deutlicher und komme direkt auf den Punkt. „Wie war das, als Sie sich umbrachten?“

Er sieht mich verwundert an, als ob das eine völlig idiotische Frage wäre.

„Lieber Freund“, sagt er, und mir fällt auf, dass ich mir seine Stimme ganz anders vorgestellt hatte, „es war – wie soll ich sagen – nicht wichtig. Da ich doch schon gestorben war, hatte das Leben keinerlei Bedeutung mehr für mich.“

Er sieht mich noch immer an, als wäre ich ein Idiot, und sagt fast väterlich, wie man es einem kleinen Kind erklärt: „Man kann nur einmal sterben, und wenn man gestorben ist, dann ist einem der Tod jederzeit willkommen.“

Ich weiß genau, was er meint, und lasse seine Worte etwas wirken, als Freud von seinem Notizbuch aufschaut und kopfschüttelnd, fast tadelnd, zu Zweig sagt: „Was für eine Erkenntnis! Du meine Güte, Stefan, jetzt lass dich bitte nicht für so eine Banalität feiern.“

Stefan Zweig neigt den Kopf etwas zur Seite, fährt sich mit dem Zeigefinger über seinen Schnurrbart und lächelt Freud an.

Ich muss ihn unbedingt fragen, warum er den gleichen Bart wie Hitler trug und vor allem noch immer trägt. Wie gut, dass Zeit für mich keine Rolle mehr spielt! Oder ich frage Hitler, warum er den gleichen Bart wie ein berühmter Jude trug. Auch amüsant.

Er sagt: „Schlomo, erzähl uns doch mal, wann du genau gestorben bist.“

„Nenn mich nicht Schlomo“, antwortet Freud ungehalten. „Du weißt genau, dass ich diesen Namen nicht ausstehen kann!“

Die beiden kommen jetzt richtig in Fahrt. Ich lehne mich vorsichtig zurück und schaue mir das Ganze an. Das ist herrlich. So etwas bekommt man als Lebender nicht geboten. Freud ist jetzt in seinem Element. Bevor er antwortet, holt er gekonnt – ich traue meinen Augen kaum – ein Briefchen mit weißem Pulver und ein silbernes Röhrchen aus seinem Jackett und zieht sich in aller Ruhe eine Line Kokain in die Nase.