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Für alle Menschen,

denen der Vater fehlt,

und für alle Männer,

die sich ihrer väterlichen Bedeutung

nicht bewusst sind.

 

Peter Ballnik

 

vater
seelen
allein

 

 

Warum Kinder einen Vater brauchen
und wohin es führt, wenn er fehlt

Titel

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Teil 1: Scherbensystem

Kapitel 1

„Ich nehm mir, was ich kriegen kann.“

Warum Menschen kriminell werden

Kapitel 2

„Mir doch egal!“

Die Wurzeln der Gewalt gegen Umwelt und Menschen

Kapitel 3

„Wenn ich aufs Klo muss, pinkle ich in die Cola-Flasche.“

Warum Menschen der Mediensucht verfallen

Kapitel 4

„Kinder kommen später.“

Warum wir aussterben

Kapitel 5

„Lieber tot für Gott als lebendig für die Menschen.“

Woher kommt der Terror?

Kapitel 6

„Ihr werdet schon sehen, was ihr davon habt!“

Welche emotionalen Defizite führen zu Amokläufen?

Teil 2: Abgrundverhalten

Kapitel 7

Das Kreuz mit der Aggression

„Papa, rauf mit mir!“

Kapitel 8

Übergangslos

„Wo geht es hier zur Männlichkeit?“

Kapitel 9

Kein Platz für Männer

„Wo stelle ich meinen Ergometer hin?“

Kapitel 10

Vorurteil

„Klarer Fall, der Täter ist männlich.“

Kapitel 11

Entwurzelt

„Wenn ich zuschlage, spüre ich die Ohnmacht nicht.“

Teil 3: Leidpsyche

Kapitel 12

„Papa, ich hasse dich, bitte halt mich fest!“

Warum Paul keinen Halt fand

Kapitel 13

„Papa, was ist fair?“

Was Entenfüttern mit Anstand zu tun hat

Kapitel 14

„Wenn ich allein bin, läuft die Glotze.“

Warum Franz nicht zur Schule ging

Kapitel 15

„Wenn Papa mich nur anrufen würde!“

Wie Markus seinen Amoklauf plante

Kapitel 16

„Wer zeigt mir, wo es langgeht?“

Wie Abd Allah den Dschihad erlebte

Kapitel 17

„Ich hätte eh keine Zeit.“

Wie Hans kinderlos blieb

Teil 4: Verlustkultur

Kapitel 18

Rückkehr zum Anfang

Wie der Vater erfunden wurde

Kapitel 19

Lang lebe die Revolution

Wie der Niedergang begann

Kapitel 20

Krieg

Wie die Väter nicht mehr wiederkamen

Kapitel 21

1968

Als die Welt weiblich wurde

Kapitel 22

Femokratismus

Wie die Macht der Frauen die Väter entmannte

Nachwort

Danksagung

Über den Autor

Quellen

Links

Prolog

Sind wir noch zu retten? Kinder und Jugendliche werden kontinuierlich verhaltensauffälliger. Schon seit Langem laufen angesichts dieser Entwicklung Psychologen und Pädagogen Sturm. Immer mehr Kinder sind nicht gemeinschaftsfähig, sie haben nie gelernt, mit zwei Menschen gleichzeitig zu kommunizieren, und kommen aus ihrer symbiotischen Mutterabhängigkeit nicht heraus. Kinder also, die lernen sollten, in eine Gemeinschaft hineinzuwachsen, aber immer noch narzisstische Bedürfnisse eines Säuglings haben und leben. Sich einzufügen, fällt ihnen schwer bzw. ist ihnen kaum möglich. Woran liegt das? Stimmt irgendetwas nicht mehr? Was fehlt ihnen?

Könnte es womöglich daran liegen, dass ihnen eine klare Richtungsweisung fehlt, was gut und böse ist, was Mein und Dein, was richtig und was falsch ist?

In der Tierwelt regelt dieses Maß der Instinkt. Wenn ein Löwe jagt, dann nur, um zu überleben. Er frisst, bis er satt ist, dann hört er auf. Die anderen Tiere, die sich noch einen Teil der Beute holen, Hyänen und Geier zum Beispiel, laben sich auch nur so lange, bis sie genug haben. Im Grunde verhalten sich alle Tiere so. Der Instinkt sagt ihnen, wann genug ist. Er regelt dies.

Von den Tieren unterscheiden wir Menschen uns dadurch, dass wir uns unserer selbst bewusst sind. Instinkte bestimmen uns nicht. Vielmehr sagt uns eine innere Stimme: Stopp! Es ist genug! Hier ist eine Grenze! Es reicht!

Diese innere Stimme des Genug-Habens ist nicht angeboren, wir erwerben sie im Laufe unserer Kindheit. Allerdings sieht es ganz danach aus, dass heute viel zu vielen Menschen diese innere Stimme fehlt. Denn ein Blick auf die großen Probleme unserer Welt offenbart, dass Menschen bestimmt werden von Gier, Haben-Wollen, Raffen, Rauben, Scheffeln – und dem mehr, mehr, mehr! Bis jemand oder etwas Mächtigeres ihnen Grenzen setzt.

Wenn diese Grenzen ihr Recht einfordern, dann nennen wir das: Wirtschaftskrise, Börsenblase, Umweltkatastrophe, Kriminalität, Raub, Vergewaltigung, Krieg, Mord, Totschlag usw.

Fehlt Menschen diese innere, richtungsweisende Stimme – nennen wir sie ruhig „Gewissen“ –, die ihnen sagt, was gut und böse ist, was Mein und Dein ist, was richtig und falsch ist, dann entwickeln sich starke negative, Unheil bringende Emotionen wie Neid, Eifersucht, Rache und Hass. Sicher, das klingt jetzt ein wenig pastoral, nur es ändert nichts daran, dass diese innere Stimme, die dämpft, mäßigt und uns zur Vernunft ruft, eine Voraussetzung für uns Menschen ist, überhaupt ein Gemeinschaftsgefühl zu entwickeln. Denn ohne sich einander zugehörig zu fühlen und zu begreifen, verliert die Gesellschaft ihre Vertrauensbasis und fällt früher oder später auseinander. Der Kitt jeder Gemeinschaft ist letztlich das Gewissen.

Diese innere Stimme, die Orientierung schenkt und Menschen maßregelt, ist immer leiser geworden oder auch schon ganz verstummt – bei sehr vielen Menschen. Wie es dazu kommen kann, was die Ursache für das Verstummen des Gewissens ist, darum geht es in diesem Buch.

Für mich hat das relativ einfach und offensichtlich mit der zunehmenden Vaterlosigkeit in unseren Familien wie unserer Gesellschaft zu tun. In meiner täglichen Arbeit als Psychotherapeut, der besonders Probleme mit der Rolle des Vaters fokussiert, kommen zu mir Angehörige von Familien, deren Vaterbild beschädigt oder verschwunden ist. Manchmal sind es die Männer selbst, die als Vater ihre Rolle suchen bzw. keine mehr spielen. Manchmal Frauen, die ohne einen väterlichen Mann an ihrer Seite im Alltag alleine kämpfen. Häufig sind es aber Kinder, die ohne Vaterfigur aufwachsen müssen. Und was ich in diesen Familien sehe und erlebe, verschlägt mir oft die Sprache.

Vaterlosigkeit wird im Allgemeinen völlig unterschätzt. Viel zu viele Menschen leben vaterseelenallein. Insbesondere scheint niemand die fatalen Auswirkungen zu sehen, die sich in einer solchen Gesellschaft niederschlagen. Es existiert diesbezüglich in der öffentlichen Diskussion eine partielle Blindheit. Es handelt sich wohl um ein Tabu, über das man in unserer Gesellschaft weder reden noch schreiben darf, ohne sofort missverstanden zu werden, absichtlich oder unabsichtlich. Ein Tabu, das auch verhindert, sich mit Themen wie Wirtschaftskrisen, Kriminalität, Amokläufen und Terroranschlägen wirklich gründlich auseinanderzusetzen. So erstarrt zum Beispiel nach einem Amoklauf die ganze mediale Welt in publizierter Fassungslosigkeit. Und die auf der politischen Bühne Agierenden nutzen den Anlass für öffentliche Empörung und Betroffenheit, während die Frage nach dem „Warum?“ nur ein rhetorisches Stilmittel bleibt, um die Schwere der Tat zu betonen. Weder ist sie ernst gemeint noch fordert sie eine Antwort. Dementsprechend bemüht sich auch niemand, diese Frage zu beantworten. Denn würde jemand nach einer Antwort suchen wollen, müsste er zunächst dafür Sorge tragen, dass sich das Lamento und die Empörung einstellen, sodass stattdessen nach dem familiären Hintergrund des Täters gefragt werden kann, nach seiner Sozialisation, nach den Umständen vor der Tat. Das ist erstens mühsam und zweitens verfänglich, denn wenn dabei herauskäme, dass die Vaterlosigkeit des Täters etwas mit seinem Werdegang zum Täter zu tun haben könnte, würde man damit ein riesiges Fass aufmachen: Wie halten wir es in unserer Gesellschaft mit den Männern? Insbesondere mit den Vätern? – Und diese Debatte will keiner!

Außerdem würde jeder, der diese Frage stellt, automatisch Angriffsfläche bieten: Willst du die schreckliche Tat etwa rechtfertigen? – Natürlich nicht. Aber bei der ernsthaften Suche nach den Ursachen von Leid und Gewalt kommt ja vielleicht zum Vorschein, dass es tatsächlich nicht nur den einen Schuldigen gibt, den man so bequem öffentlich verurteilen kann. Und sofort befindet man sich öffentlich auf vermintem Terrain.

Man hält also den Mund und stimmt in die Klagen ein: „Warum nur musste das geschehen? Wie schrecklich!“ – Nach einer gewissen Zeit wächst Gras über die Sache und beim nächsten Amoklauf, beim nächsten Terrorakt passiert das Ganze wieder von vorne. Die politischen Entscheidungsträger verschanzen sich bei diesen Themen hinter einer Mauer der totalen Unabänderlichkeit.

Dieses Wegsehen und diese Empörungs-Shows habe ich satt. Daher stelle ich die Frage: Könnte das gewaltige Ausmaß zerstörerischer Tendenzen in unserer heutigen Welt etwas mit der veränderten, schwindenden Rolle der Väter zu tun haben?

Das Problem dieses Tabus ist, dass es unter der Ebene der Wahrnehmungsschwelle liegt. Ein unbewusstes Tabu also. Erzähle ich beispielsweise Menschen davon, dass ich Bücher schreibe, erkundigen sie sich meist zuerst nach den Themen. Wenn ich dann sage: „Ich schreibe für und über Väter“, schauen sie mich sehr oft ungläubig an. Wozu ein Buch über so etwas Marginales schreiben wie Väter?

Bei meinen Erklärungen muss ich meist zuerst das Bild der Mutter einführen, damit die Leute zu verstehen beginnen, dass es doch auch immer – zumindest einen biologischen – Vater geben muss. Ist diese Tatsache bei meinen Gesprächspartnern angekommen, schauen sie mich oft etwas ungläubig an oder murmeln etwas von „Ach, wie interessant“. In ihren Gesichtern steht geschrieben, dass es wahrlich Wichtigeres gibt als Väter, Vaterschaft oder Väterlichkeit. Kein Zweifel: Während Frauen und Mütter in der Champions League der öffentlichen Aufmerksamkeit spielen, sind die Väter offenbar in die Kreisliga abgestiegen.

Spielt der Vater also überhaupt keine Rolle mehr in den Familien, in der Arbeitsstelle und in der Gesellschaft? Und sollte er das?

Wie kam es zu diesem Tabu? Vielleicht durch die Abwendung vom Patriarchat. Ich finde es wie die meisten vernünftigen Menschen sehr gut, dass diese totale Macht, wie sie der Mann in unserer Gesellschaft einst hatte, in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts gebrochen worden ist. Für mich ist es sehr wichtig, dass Frauen die gleichen Rechte haben wie Männer. Frauen und Männer sollten einander auf Augenhöhe begegnen und sich in ihrem Anderssein respektieren. Was ich aber sehe, ist, dass Männer in der Arbeitswelt noch immer dominieren, während sie dafür im häuslichen Umfeld quasi ausradiert worden sind.

Fakt ist: Die entscheidende Rolle, die Väter in den Familien neben den Müttern spielen sollten, wird zum Teil zurückgedrängt, verdrängt oder gar tabuisiert. Dass Väter außer als Erzeuger in Familien irgendetwas zu melden haben, ist heute nicht mehr selbstverständlich. Im Gegenteil: Wer Vätern, also Männern, eine wichtige, tragende, unverzichtbare Rolle für intakte Familien bescheinigt, gerät sofort in den Generalverdacht, ein rückwärtsgewandter, reaktionärer Trottel und verkappter Chauvinist zu sein.

Ist diese überzogene Form des Kampfs der Frauen gegen die Unterdrückung der Frau aber nicht auch selbst eine Form der Unterdrückung?

In diesem Buch erfahren Sie, ob es diesen Zusammenhang zwischen den vergessenen Vätern und den Problemen dieser Welt wirklich gibt. Und warum Väter so wichtig sind.

Teil 1: Scherbensystem

Kapitel 1

„Ich nehm mir, was ich kriegen kann.“

Warum Menschen kriminell werden

Die Unterlagen von Paul liegen vor mir. Der Satz am Ende meiner Notizen von der letzten Sitzung mit dem Sechzehnjährigen lautet: „Paul zeigt immer noch keine Reue.“

Es läutet. Da ist er. Leicht außer Atem und wieder einmal ein wenig verspätet. Ich reiche ihm die Hand. Mittlerweile muss ich schon ziemlich aufschauen, um in sein Gesicht zu sehen.

Paul ist guter Dinge, frohgemut und setzt sich auf die Couch. Er macht es sich gerne bequem. Bis er seine richtige Sitzposition gefunden hat, dauert es eine Weile. Wie oft in letzter Zeit kann er sich einen leichten Seitenhieb auf meine Kleidung nicht ersparen:

„Hey, diese weiße Cordhose stammt ja wohl noch aus den Achtzigern …“

„Stimmt“, antworte ich, „wenn nicht sogar aus den Siebzigern. Aber du siehst heute gut aus.“

„Ja, alles neu“, erzählt Paul stolz und schaut an sich herunter. „Die schwarze Jeans“, die wie jede Hose an ihm weit unten hängt, „ist von Fishbone. Aber vor allem der Gürtel“, dabei zeigt er auf das weiße Prachtstück mit einer überdimensionierten grauen Metallschnalle, die wie eine kleine Ziegelmauer aussieht, „die ist von Jeans only, der letzte Schrei.“

Ich stutze. Der letzte Schrei – das ist doch ein Ausdruck aus den Siebzigern. So redet doch heute kein Jugendlicher! Stellt sich dieser Junge etwa so gut auf mich ein? Will er auch mich so manipulieren, wie er es mit allen Menschen in seiner Umgebung macht? Einen Moment lang fühle ich mich düpiert, aber dann sage ich mir selbst: Warum sollte gerade ich eine Ausnahme sein?

Paul schaut mich kurz etwas irritiert an und fährt dann fort: „Mein Hemd“, ebenfalls schwarz und im Militärlook, „ist auch von Fishbone, war nicht billig!“ Stolz zeigt Paudann noch sein schwarzes Superman-Leibchen. In diesem Moment sehe ich vor mir das Bild, wie Paul als Erwachsener, im Maßanzug und perfekt gestylt, gestandene Wirtschaftsmanager über den Tisch zieht.

„Aber die Socken“, dabei zeige ich schmunzelnd auf seine alten, leicht zerfledderten hellgrauen Frotteesocken, „das ist ja ein richtiger Stilbruch. Sind die von Aldi?“

„Ich hatte es eilig“, antwortet Paul auffallend ruhig. Dann kontert er spielerisch aufgebracht mit einem schelmischen Lächeln: „Du hast es nötig, du mit deiner weißen Hose!“ Lachend beschließen wir unser Eingangsritual.

„Letzte Woche hatte ich riesiges Glück“, sagt Paul.

„Wie zeigte sich denn dein Glück?“, frage ich nach.

„Also, ich habe dir doch erzählt, dass ich ein Sparbuch gefunden habe. Das gehört einem alten Bauern im Altersheim. Der liegt im Koma und stirbt wahrscheinlich in den nächsten Tagen.“

„Ich dachte, du wolltest das Sparbuch zurückgeben“, setze ich nach.

„Wieso, der hat doch keine Erben und er selber kann damit nichts mehr anfangen.“

„Ja, aber ohne Passwort hast du keine Chance.“

„Mein Lehrer, der war mal Rechtspfleger und meint, dass in so einem Fall ein Totenschein ausreicht, damit die 12534 Euro mir gehören.“

Die Summe schockiert mich, die Höhe war mir neu. „Was du machst, ist nicht in Ordnung, das ist nicht legal“, beziehe ich Stellung.

„Ja, ja“, meint Paul, „aber ich tue doch niemandem weh, ich schade niemandem.“

„Und den Erben? Du kannst nicht sicher sein, dass es keine gibt.“

„Um den Mann hat sich doch niemand gekümmert, also gehört das Geld mir. – Aber das ist nur ein Teil meines Glücks“, fährt Paul fort. „Mein Opa war letztes Wochenende mit seinem Fahrrad am Kirchenflohmarkt und dort hat man ihm sein Rad gestohlen. Weil er so an seinem Rad hängt, ein Erbstück von seinem verstorbenen Bruder, hat er mir eine Belohnung von 150 Euro versprochen, wenn ich das Rad wieder auftreibe. Ich habe dann im Pfarramt angerufen. Sein Rad war gar nicht gestohlen worden. Ich habe es einfach abgeholt, aber das habe ich ihm natürlich nicht gesagt. Hundert Euro habe ich schon gekriegt, die restlichen 50 bekomme ich morgen, dann gibt es wieder neue Klamotten.“

Bevor ich ihn auf das moralische Dilemma aufmerksam machen kann, setzt Paul fort: „Ach ja, und sehr wahrscheinlich habe ich jetzt eine Lehrstelle.“

Das erstaunt mich jetzt wirklich. Paul, der laut Arbeitsmarktservice so gut wie keine Chancen auf eine Lehrstelle hatte, schon seines miserablen Schulabschlusszeugnisses wegen. Spontan stehe ich auf, reiche Paul die Hand und gratuliere. „Erzähl!“, fordere ich ihn auf.

„Ja, ich war im Baumarkt, da musste ich mit 25 anderen einen Test machen. Stell dir vor, ich habe den zweitbesten Test geschrieben. Von 102 Fragen habe ich 98 richtig. Die schulischen Noten sagen gar nichts aus, ich bin eben doch ein Genie. Die nehmen nur drei Lehrlinge. Mit dem Juniorchef habe ich auch gesprochen, der war richtig begeistert von mir, von meiner ‚Ausstrahlung‘ hat er gesagt. Die Lehrstelle habe ich.“

Wir freuen uns eine Zeit lang gemeinsam. Dann frage ich ihn: „Wird dir deine Vorstrafe diese Lehrstelle nicht vermasseln?“

„Das ist doch Quatsch“, sagt Paul leicht aufgebracht, „es steht noch nicht fest, wann die Verhandlung ist. Jetzt kann ich noch ein positives Leumundszeugnis vorlegen und wenn ich dann die Lehrstelle habe, können die mich nicht mehr hinauswerfen. Im ersten Lehrjahr verdiene ich zwar wenig, aber mit dem zweiten wird das schon ganz gut“, lenkt Paul das Gespräch wieder auf das Geld, auf das für ihn wesentliche Thema.

„Eigentlich schön blöd von dir, wegen 200 Euro 35 Zeitungskassen aufzuknacken“, stelle ich in den Raum.

„Ja, ja, das habe ich bei den Bullen so gesagt. In Wirklichkeit waren es 800 Euro und so an die 70 Zeitungskassen.“ Dabei grinst er mich an und seine blauen Augen strahlen mit seinen Zähnen um die Wette. Nichts kann heute sein Glück trüben.

Adel schützt vor Schande nicht

Paul stiehlt und lügt schon sehr lange. Bereits in der Schule steckte er wahllos Buntstifte, Füllfederhalter, Radiergummis und Comichefte der Mitschüler ein. Nichts war vor ihm sicher. Nicht einmal die Geldtasche seiner freundlichen und schon etwas betagten Nachbarin, die ihn dann doch anzeigte. Für diesen Diebstahl musste Paul im Rahmen eines außergerichtlichen Tatausgleichs soziale Dienste in einem Kinderheim leisten. Dafür hat er der alten Frau das Blumenbeet verwüstet, was zu einer weiteren Strafanzeige führte.

Paul kennt keine Reue. Vom Verstand her weiß er sehr wohl, was legal und was illegal ist, was Mein und Dein ist. Aber es schert ihn nicht die Bohne. Obwohl er in den Momenten, in denen er seinen reichlich vorhandenen Intellekt gebraucht, ganz klar einschätzen kann, welche Konsequenzen sein Verhalten für ihn selbst und für andere haben kann, gelingt es ihm nicht, auf der richtigen Seite des Gesetzes und des Anstands zu bleiben. Er priorisiert seinen eigenen kurzfristigen Vorteil gegenüber dem Wohlergehen aller anderen Menschen und auch gegenüber seinem eigenen langfristigen Wohlergehen. Ich mache mir keine Illusionen: Auch mich würde er betrügen, wenn er dazu die Gelegenheit bekäme. Und von seiner Seite aus würde so etwas unser Verhältnis nicht einmal trüben, geschweige denn zerstören, denn so etwas steht für ihn auf einem ganz anderen Blatt.

Was geht in so einem Menschen vor? Es scheint, als würde in seiner Persönlichkeit eine Lücke klaffen, als würde ein komplettes Stück vom Ich fehlen. Ein Stück, das wir Menschen brauchen, um friedlich zusammenleben zu können, und das dafür sorgt, dass wir ehrlich bleiben. Warum hat Paul diese Instanz in seinem Innern nicht, die ihm sagt, wie er urteilen soll, die ihm zuflüstert, wie er handeln soll? Was hat ihn daran gehindert, den Unterschied zwischen Gut und Böse zu erlernen? Welche Faktoren gaben dafür den Ausschlag? Sein Elternhaus? Ist es ein Problem der sozialen Schicht? Wäre es anders geworden, wenn er in geordneten Verhältnissen und Wohlstand aufgewachsen wäre?

Dass Letzteres nicht ausreicht, ein ehrlicher Mensch zu werden, führte uns der deutsche Ex-Verteidigungsminister Karl-Theodor von und zu Guttenberg eindrucksvoll vor. Er kommt aus einer altehrwürdigen, einflussreichen Familie, ist wohlhabend, gebildet, hat studiert, legte eine Traumkarriere hin und ist mit einer bildhübschen und ebenfalls adeligen Frau und zwei nett aussehenden und gesunden Töchtern gesegnet. Karl-Theodor hat alles, wovon ein Mann nur träumen kann. Und doch: Seine Dissertation hat er schlicht und einfach geklaut. Wie die Universität Bayreuth in ihrem Gutachten vom 6. Mai 2011 schrieb, besteht die Doktorarbeit des Freiherrn von und zu Guttenberg zu circa 65 Prozent aus Plagiaten.

Hat er je öffentlich aufrichtig Entschuldigung gesagt? Von wegen. Genau das sagte Karl-Theodor nicht! Und darin liegt für mich das eigentliche Armutszeugnis der Persönlichkeit dieses geistigen Diebes. Er, eigentlich ein gestandener Mann, hatte gelogen. Wie ein Schulkind, das eine schlechte Note verschweigt. Nachdem der Vorwurf im Raum stand, steckte er den Kopf in den Sand und frettete sich von Tag zu Tag. Obwohl ganz klar war, dass irgendwann alles in vollem Ausmaß ans Tageslicht kommen sollte. Wie eine Schlange wand sich der windige Freiherr. Obwohl er ganz genau wusste, was er getan hatte, sah er nicht ein, dass er damit Schuld auf sich geladen hatte. Diese merkwürdige Diskrepanz zwischen der Realität der Tat einerseits und dem fehlenden Eingeständnis der Schuld andererseits, diese unreife Uneinsichtigkeit, ist für mich das Bemerkenswerte an diesem Fall.

Wider besseren Wissens und völlig gegen seinen gesellschaftlichen Status hielt er sich an das, was Kleinganoven ihren Kollegen raten, wenn sie erwischt werden, und an das, was untreue Ehemännern anderen untreuen Ehemännern raten, selbst wenn sie von ihrer Ehefrau in flagranti ertappt werden: leugnen, leugnen, leugnen. Und so gab Karl-Theodor zu Guttenberg immer nur so viel zu, wie er nicht mehr abstreiten konnte. Deswegen zog sich diese unheilvolle Affäre vom 16. Februar 2011, an dem die ersten Plagiatsvorwürfe auftauchten, über qualvolle zwei Wochen, bis er als Verteidigungsminister zurücktrat. Mit seinem Rücktritt stellte sich allerdings nicht etwa das Unrechtsbewusstsein einer reifen Persönlichkeit ein, vielmehr verabschiedete sich Karl-Theodor aus der Politik mit den Worten:

„Der Grund liegt im Besonderen in der Frage, ob ich den höchsten Ansprüchen, die ich selbst an meine Verantwortung anlege, noch nachkommen kann.“

Junge, du hast geklaut! Das hat nichts mit Ansprüchen an sich selbst zu tun, es ist ein juristischer Tatbestand. In Nordrhein-Westfalen und in Baden-Württemberg wurden von den Staatsanwaltschaften in ähnlichen Fällen Strafbefehle verhängt, in Höhe von 9000 Euro oder 90 Tagessätzen. Mehr noch, es ist auch ein ethischer Tatbestand. Guttenberg hat nicht nur die Urheber, sondern uns alle betrogen. Er hat Deutschland in die Irre geführt, Europa und die ganze Welt. Und das als Verteidigungsminister. Was für eine Schande, was für ein Schmierentheater!

So wie es Paul völlig kaltlässt, wenn er eine alte, wehrlose Frau beraubt, so lassen die moralisch-ethischen Ansprüche der Öffentlichkeit Karl-Theodor kalt, der sich nur leidend fragt, ob er den Ansprüchen an sich selbst noch gerecht wird. Hier paart sich also kriminelle Energie mit Narzissmus.

Wenn sich also unabhängig von der sozialen Schicht, unabhängig davon, ob die Verhältnisse in der Herkunftsfamilie nun geordnet sind oder nicht, die Neigung zu Diebstahl und Lügen ausbilden kann, so wie bei Paul und bei Guttenberg, bleibt die Frage offen, was bei uns Menschen dafür sorgt, dass wir ein Gefühl für Mein und Dein und ein aufrechtes Unrechtsbewusstsein ausbilden.

Kurzfristdenke ohne Morgen

3. Juli 1999 – laute Wagnermusik erklingt aus den Lautsprechern, sie ergießt sich über die knapp 500 anwesenden Gäste. Der Himmel über dem Turmberg im Karlsruher Stadtteil Durlach explodiert, das Feuerwerk ist einer der Höhepunkte von Manfred Schmiders Feier anlässlich seines fünfzigsten Geburtstags. Eine Million Deutsche Mark soll dieser Abend gekostet haben. Von den höchsten Politikern und Wirtschaftskapitänen wurde der Flowtex-Eigentümer bejubelt und besungen. „Solche Männer braucht das Land“, brachte es Lothar Späth, der frühere Ministerpräsident von Baden-Württemberg, in seiner Laudatio auf den Punkt.

Nur ein halbes Jahr später bricht Manfred Schmiders luxuriöse Welt zusammen wie ein Kartenhaus. Am 4. Februar 2000 werden er und sein Kompagnon Klaus Kleiser verhaftet. Beide hatten seit gut zehn Jahren nicht existente Horizontalbohrgeräte an Leasinggesellschaften verkauft, die von den Geschäftsführern der Firma Flowtex selbst gegründet wurden. Von diesen Leasingunternehmen leaste Flowtex die Maschinen zurück. Banken finanzierten diese Geschäfte mit Krediten. Die Leasingraten mussten mit immer neuen Verkäufen bedient werden. Ein Schneeballsystem mit nur wenigen Begünstigten. Von den mehr als 3400 Bohrsystemen in den Bilanzen, die jeweils um die 1,2 Millionen Mark verkauft wurden, existierten 3187 nicht. Manfred Schmider hatte mit Flowtex eine gewaltige Luftnummer von 4138422766 Mark und 14 Pfennig hingelegt. Mit der Summe, die die Staatsanwaltschaft noch für den unvollendeten Börsengang von Flowtex hinzufügte, entstand ein Schaden von 4,9 Milliarden Mark. Mehr als doppelt so viel wie bei der Pleite von Jürgen Schneider, dem ehemaligen Frankfurter Baulöwen.

Obwohl seit 1996 den Finanz- und Justizbehörden die ersten anonymen, aber detaillierten Betrugsanzeigen vorlagen, verhinderte die Blendkraft von „Big Manni“, wie Manfred Schmider nicht nur wegen seiner Leibesfülle genannt wurde, dass diesen Anzeigen wirklich nachgegangen wurde. Denn in Schmiders mondäner Villa im Karlsruher Vorort Durlach gaben sich Wirtschaftsminister, Außenminister, Ministerpräsidenten, Staatssekretäre und Bürgermeister die Klinke in die Hand. Der Skandal hatte auch politische Folgen: Zwei FDP-Landesminister verloren ihr Amt, im Musterländle Baden-Württemberg brach kurzzeitig eine Regierungskrise aus, Finanzbeamte gerieten unter Betrugsverdacht und Staatsanwälte ermittelten plötzlich gegeneinander. Akten verschwanden im Nirgendwo und renommierte Wirtschaftsprüfer mussten astronomische Schadensersatzsummen bezahlen, weil sie sich hatten übertölpeln lassen. Und das Land Baden-Württemberg wurde mit einer Staatshaftungsklage über rund 1,1 Milliarden Euro konfrontiert.

Es dürfte jedem klar sein: Was es nicht gibt, kann ich auch nicht verkaufen. Ich kann die gleiche Maschine nicht Hunderte Male veräußern, nur indem ich ein paar Nummernschilder austausche. Das klingt wie das Versprechen eines Schulkindes: „Die Schulaufgaben mache ich morgen.“ Aber spätestens nach dem zweiten misslungenen Versuch werden die Eltern darauf bestehen, dass es sie noch heute macht. Manfred Schmider und sein Kompagnon handelten, als gäbe es kein Morgen.

Ein Gerät von einer Bank finanzieren zu lassen, das es gar nicht gibt, ist schlichtweg Betrug mit weitreichenden Folgen. Ich schade zunächst der Bank, selbst wenn sie zu blöde ist, wirklich zu kontrollieren, ob der Gegenstand der Finanzierung auch wirklich existiert. Doch die Spirale geht weiter: Wenn ich der Bank schade, dann auch folglich ihren Eigentümern und Angestellten. Und wenn dann noch ein ganzes Bundesland haftet, schade ich außerdem den Steuerzahlern. Alles in allem wurden unterm Strich Millionen von Menschen direkt und indirekt geschädigt; das Ausmaß des Schadens bei Wirtschaftskriminalität ist in diesen Milliardengrößenordnungen unvorstellbar groß.

Manfred Schmider und Konsorten handelten in gewisser Hinsicht ähnlich wie Karl-Theodor zu Guttenberg. Während sich Guttenberg von Tag zu Tag frettete, wohl wissend, dass sein Betrug ans Tageslicht kommen würde, taten Manfred Schmider und seine Leute das Gleiche – nur nicht zwei Wochen, sondern zehn Jahre lang. Dabei prolongierten sie ihren Wechsel auf die Zukunft immer öfter und schoben auf diese Weise den Tag des Zusammenbruchs erstaunlich lange hinaus. Verhindern konnten sie ihn dennoch nicht. Zu der Missachtung fremden Eigentums und den Lügen aus der Position des Uneinsichtigen gesellt sich also auch das kurzfristige Denken und Handeln, als ob es kein Morgen gäbe.

Von einem erwachsenen Menschen darf man erwarten, dass er sich für sein eigenes langfristiges Wohlergehen und das der Menschen um ihn herum verantwortlich fühlt. Das Erstaunliche daran ist, dass diese Menschen der Ausblick auf die eigene Zukunft hinter Gittern – also der nach menschlichem Ermessen früher oder später eintreffende schlechte Ausgang ihres Spiels – nicht davon abhält, sich selbst zu schädigen. Ganz abgesehen von dem Schaden, den sie auch für andere anrichten. Es scheint, als ob sie taub wären für die innere Stimme, die ihnen rät, besser für sich selbst zu sorgen. Oder haben sie diese Stimme gar nicht?

Blasen platzen

Schneeballsysteme gab es nicht nur in Deutschland. Manche konnten sich sogar länger als ein Jahrzehnt halten. Ende 2008 wurde Bernard Lawrence Madoff zu 150 Jahren Haft verurteilt, weil er jahrzehntelang einen Investmentfonds nach dem Schneeballsystem betrieben hatte. Madoff hatte die versprochenen Gewinne aus immer neuen Kundeneinlagen ausbezahlt. Als einer seiner Kunden mehrere Milliarden an Einlagen zurückforderte, brach das System zusammen. Der Gesamtschaden wurde zum Zeitpunkt des Prozesses gegen Madoff auf mindestens 65 Milliarden Dollar (rund 51 Milliarden Euro) veranschlagt. 4800 Menschen wurden durch Bernie Madoff direkt betrogen. Es handelte sich um den ersten wirklich globalen Betrugsfall.

Auch Madoff hätte wissen müssen, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis die Sache auffliegen musste. Er wusste es und machte doch immer weiter. Warum? In gewisser Hinsicht sicher aus Gier. Wirtschaftskriminalität entsteht aus Haben-Wollen, den Hals einfach nicht vollkriegen, ohne Rücksicht auf Verluste. Noch ein Maßanzug, noch ein Ferrari, noch ein Hubschrauber, noch ein Firmenjet – noch, noch, noch. Eine riesige innere Leere muss gefüllt werden, mit Dingen, die niemand braucht. Die Betrüger nehmen sehr wohl wahr, dass ihr Handeln auf Kosten anderer Menschen geschieht. Sie sind ja eigentlich nicht dumm. Doch sie verdrängen dieses Wissen und machen weiter und weiter und weiter. So entgleitet diesen Menschen mehr und mehr die Realität. Und was bleibt am Ende übrig? Ein riesiger Scherbenhaufen!

Wie verhält sich das im Vorfeld von Wirtschaftskrisen? Nun, im großen Stil wird vorhandenes überschüssiges Kapital in riskante, meist neuartige Investments gesteckt. Durch die steigenden Kurse springen immer mehr Anleger auf diesen Zug auf. In der Massenpsychologie wird das Herdentrieb genannt. Immer weniger Menschen können sich dieser Euphorie entziehen. Ehe dann die Spekulationsphase zu Ende geht, erkennen viele, wie wenig durchdacht ihre Investments waren, und versuchen auszusteigen. Die Stimmung schlägt um und auch hier bedingt der Herdentrieb die nächste Aktion: Es kommt zur Panik. Die Blase platzt. Darunter leidet die gesamte Volkswirtschaft eines Landes, sogar die Weltwirtschaft kränkelt.

Dieser Kreislauf ist immer der gleiche. Ob beim Tulpenwahn 1636–1637 in Holland, bei der Südseeblase 1720 in England, beim großen Crash 19291938, bei der Dot.com-Blase 1996–2001 und natürlich auch bei der Immobilienblase 2002–2007. Die letzten drei gingen von den USA aus und erfassten die ganze Weltwirtschaft.

Wie bei einem Pyramidenspiel oder einem Kettenbrief werden bei einer Börsenblase auch immer nur die Letzten von den Hunden gebissen. Der berühmte Wirtschaftswissenschaftler Charles Kindleberger nannte das die „greater fool theory“. Es gibt immer einen noch größeren Narren, dem man seine bereits überteuerten Aktien (oder Tulpenzwiebeln oder Häuser oder was auch immer die aktuellen Spekulationsobjekte sind) noch teurer verkaufen kann. Hier setzt für mich wieder die Frage ein: Was fehlt den Menschen, die solche Spekulationsobjekte verkaufen, obwohl sie sehr wohl wissen, dass sie in Kürze sehr viel weniger wert sein werden? Meiner Meinung nach stecken dahinter die exakt gleichen Mechanismen wie bei Wirtschaftskriminellen: fehlender Respekt vor dem Eigentum, uneinsichtige Unaufrichtigkeit, kurzfristiges Denken und Gier. Intelligente Menschen können sehr dumm sein: „Gier frisst Hirn.“

Natürlich kann man auch die Käuferseite bei Spekulationsblasen nicht freisprechen: Die gleichen Eigenschaften wie die der Täter kommen bei den Opfern vor, nur eben vergleichsweise in homöopathischen Dosen. Der einfache Satz unserer Väter oder Großväter: „Von nichts kommt nichts“, reicht vollkommen aus, um zu erkennen, dass ein Unternehmen nicht eigentlich an Wert gewinnt, nur weil diese Aktien von mehr Menschen gekauft werden und sich damit die Aktienkurse erhöhen.

Paul stiehlt und betrügt, er knackt Zeitungskassen, und er ist sich sicher, dass er nicht erwischt wird. Und wird es doch. Guttenberg hatte gelogen. Der Ex-Verteidigungsminister verfasste eine Doktorarbeit, die einfach geklaut war. Auch er ging davon aus, nicht erwischt zu werden, dafür ließ er uns sogar an seinem Schmierentheater teilnehmen. Zur Strecke gebracht wurde er trotzdem. Schmider lebte ein Jahrzehnt und Madoff noch wesentlich länger in Saus und Braus von einem Schneeballsystem. Die Naivität war ungeheuerlich, mit der die beiden davon ausgingen, nicht erwischt zu werden. Natürlich flog der Schwindel letztlich auf.

Sosehr sich die Fälle von Paul, Guttenberg, Schmider und Madoff äußerlich unterscheiden mögen, eines haben sie gemeinsam: Sie schadeten der Gemeinschaft, als ob sie nicht auch Teil dieser menschlichen Gemeinschaft wären. Sie stellten sich durch ihr Verhalten ins Abseits der Menschheit. Ganz offensichtlich haben sie nicht verinnerlicht, wie man Teil des menschlichen Miteinanders wird und bleibt. Offenbar haben sie das nicht gelernt, niemand hat es ihnen gezeigt. Sie wissen es einfach nicht.

Insofern fehlt diesen Menschen eine Form des Mitwissens mit den anderen Mitgliedern der menschlichen Gemeinschaft. „Mitwissen“, direkt ins Lateinische übersetzt, heißt „conscientia“ und das ist auch das Wort für „Gewissen“ – jene innere Instanz, die uns sagt, wie wir urteilen sollen. Die innere Stimme, die vor falschen Handlungen warnt und uns beratend zur Seite steht. Was diesen Menschen fehlt, ist schlichtweg das Gewissen.

Das schwarze Loch

Woher kommt unser Gewissen? Wie entsteht bei uns Menschen diese innere Stimme? Sigmund Freud, der geistige Vater aller Psychotherapeuten, beschreibt in seinem Strukturmodell der Psyche die Instanzen Es, Ich und Über-Ich.

Das Über-Ich entspricht dem Gewissen, denn im Über-Ich werden die elterlichen Autoritäten verinnerlicht, also internalisiert. Im Menschen entsteht eine Instanz, in der das „Wissen“ der Eltern zusammenfließt und in einer Stimme zu uns spricht. Vor allem dann, wenn wir konfliktreiche Entscheidungen fällen. Dieser Vorgang geschieht unbewusst.

In der Beziehung mit den Eltern, im alltäglichen Leben, wird das Kind mit dem konfrontiert, was gut und schlecht ist. Es erfährt diese Sicht in der direkten Auseinandersetzung mit den Eltern. Weniger durch ihr Reden, sondern mehr durch ihr Tun. Und durch dieses zugewandte Miteinander entdecken sie die Welt. Im Inneren des Kindes werden diese Erlebnisse langsam zu Wertvorstellungen komprimiert. Dadurch entstehen in der Psyche des jungen Menschen sogenannte „Introjekte“, die dem Kind auch dann sagen, was richtig und falsch ist, wenn die Eltern nicht anwesend sind. Die Stimme des Mitwissens, des Gewissens, bildet sich aus.

Was die Außenwelt betrifft, so ist für sie – auch in Zeiten der Gleichberechtigung der Geschlechter – überwiegend der Vater zuständig. Der Vater führt das Kind in die Umwelt ein. Er zeigt dem Kind durch sein Handeln, wie man mit anderen Menschen „da draußen“ dauerhaft zusammenlebt. Indem sich das Kind mit der Außenwelt auseinandersetzt, erlebt es andere Szenen als mit der Mutter. Dadurch übernimmt es vom Vater Werte für andere Bereiche als von der Mutter. Väterliche und mütterliche Introjekte unterscheiden sich also voneinander.

Das heißt natürlich nicht, dass die Kinder von alleinerziehenden Müttern große Löcher in ihrem Gewissen haben müssen, dass ihnen in vielen Bereichen die innere Stimme des Gewissens fehlen muss. Ich ziehe meinen Hut vor alleinerziehenden Müttern, die durch ihren großen Einsatz ihren Kindern ermöglichen, aufrecht in die Welt zu gehen und dort ihren Weg zu machen. Doch umgekehrt bewahrheitet es sich fast immer: Wenn Menschen kriminell werden, fehlt meist der Vater. 85 Prozent der Gefängnisinsassen haben keinen präsenten Vater erlebt.

Ein Kind braucht beide Elternteile. Es entwickelt sich am besten in der Triade Vater-Mutter-Kind. Selbst alleinerziehende Mütter, die ihren Job wirklich gut machen, gestehen mir immer wieder: „Mein Kind bräuchte einen Vater, es fehlt ihm einfach etwas, egal, wie sehr ich mich auch anstrenge.“ Und mehr noch: Jean Le Camus, einer der wichtigsten Väterforscher, hat festgestellt, dass sich Kinder besonders gut entwickeln, wenn sich der Erziehungsstil des Vaters von dem der Mutter klar unterscheidet. Kindergartenkinder, die dieses Glück erfahren, erkennt man daran, dass sie selbstsicherer und in ihrer Kindergartengruppe bestens integriert sind. Ihr Sozialverhalten ist weiter entwickelt, sie legen weniger Wert auf Einzelaktionen und bevorzugen es, mit anderen zu spielen. Sie sind anderen Kindern gegenüber offener und handeln uneigennütziger, sodass sie auch in der Lage sind, Konflikte eher durch Worte als durch Handgreiflichkeiten oder Beschimpfungen zu lösen.

Angesichts dieser Erkenntnisse ließe sich vermuten, dass Kinder, die einen präsenten Vater erleben, wahrscheinlich auf ein weiter entwickeltes Gewissen zurückgreifen können als andere Kindergartenkinder – sofern sich der Erziehungsstil des Vaters von dem der Mutter unterscheidet. Denn ist der Vater präsent und führt das Kind gut in die Welt ein, übernimmt das Kind von ihm, wie man mit Mein und Dein umgeht und wie man sich Fehlern stellt, wenn man sie macht. Es baut dann einen Erfahrungsschatz, eine innere Stimme auf, dass Fehler auch Konsequenzen im Morgen haben werden. Das heißt, das Kind entwickelt ein Gefühl für seine Identität im Kontinuum der Zeit. Es nimmt wahr, dass es nun mal ein Morgen gibt, an das man schon heute denken muss. Auch übernimmt das Kind vom Vater, ob es die Gemeinschaft als Quelle des eigenen Wohlergehens ansieht, die man für die eigenen Bedürfnisse betrügen darf und auf deren Kosten man sich bereichern darf, oder ob es sich als integralen Teil dieser Gemeinschaft erlebt, die man somit auch nicht betrügen darf.

Hat der Vater selbst ein eingeschränktes Gewissen, gibt er diese Einstellung auch an sein Kind weiter. Über Generationen kann sich daraus eine Spirale nach unten entwickeln, wenn das Kind nicht das Glück erfährt, dies durch Ziehväter oder andere Personen auszugleichen. Ist der leibliche Vater nicht präsent und gibt es auch keine andere – wenn möglich männliche – Bezugsperson, die diese Lücke füllt, entsteht in diesem Gewissensbereich der Außenorientierung eine Art schwarzes Loch. Es fehlt dann diese innere Stimme und es wird geklaut, gelogen und abgestritten. Das Morgen wird verkauft und andere werden geschädigt. Letztlich wirkt sich dieses schwarze Loch auf gesellschaftlicher Ebene auch auf das Miteinander aus, egal, ob legal oder illegal, ob eine Bestrafungsmacht von außen vorliegt oder nicht. Es ist einfach eine andere Gesellschaft, eine andere Kultur, wenn der überwiegende Teil der Menschen das Gefühl für Fairness internalisiert hat, statt nur den Eigennutz zu suchen. So entsteht aus dem Phänomen der fehlenden Väter vieler einzelner Kinder ein gesellschaftliches, ja, ein zivilisatorisches Problem.

Pauls leiblicher Vater, zu dem er nur sporadisch Kontakt hatte und seit seinem zehnten Lebensjahr fast gar keinen mehr, ist selbst ein Kleinkrimineller, der wegen kleinerer Delikte und Vergehen immer wieder im Gefängnis sitzt. Der geliebte Pflegevater starb, als Paul vier Jahre alt war. Der neue Partner der Mutter, Paul war sechs, als er auftauchte, kam für Paul nicht über die Rolle eines kumpelhaften Spielpartners hinaus, sodass diesem die Autorität fehlte, Pauls Gewissen zu verändern oder zu erweitern.

Bei Guttenberg sieht es – so seltsam das klingen mag – ähnlich aus. So sagt Karl-Theodors Vater Enoch zu Guttenberg, wie in der „Guttenberg Biographie“ von Eckart Lohse und Markus Wehner belegt: „Wir haben eher wie Brüder zusammengelebt.“ Und: „Wir waren ein tolles Trio. Ich kann mich an keine einzige Auseinandersetzung erinnern.“

Keine einzige Auseinandersetzung? Was ist denn eine Vater-Sohn-Beziehung, ohne dass sich die Männer miteinander auseinandersetzen? Auch hier fehlte ganz offensichtlich Autorität, die das Kind braucht, damit die inneren Stimmen bedeutend werden können. Mehr noch dürfte aber die mangelnde Präsenz des Vaters Löcher in Karl-Theodors Gewissen hinterlassen haben. Denn Karl-Theodor zu Guttenberg erinnert sich: „Mein Vater war ständig unterwegs.“

Kann das Fehlen des Vaters Menschen in die Kriminalität treiben? Wenn es so wäre, dann wäre die Abwesenheit und die Schwäche von vielen Vätern in den Familien eine Katastrophe. Das ist eine gewagte These. Sie muss natürlich belegt werden.

Kapitel 2

„Mir doch egal!“

Die Wurzeln der Gewalt gegen Umwelt und Menschen

Heute ist die letzte Therapiestunde mit Stefan. Wir feiern Abschied und spielen sein Lieblingsspiel, Fußball. Es ist ein harter Fight. Der Sechsjährige spielt für sein Alter sehr gut, ist in konditionell hervorragender Verfassung und ich, na ja. Wir schwitzen beide.

Wir genießen es, uns zu verausgaben, zu rempeln und zu tricksen. Das Spiel ist ein körperbetontes Duell unter Männern – so wie Jungs es lieben und brauchen. Gut, Stefan bekommt immer zwei Tore Vorsprung, das ist mein Handicap. Gewinne ich ein Fußballspiel, bekommt er beim nächsten Spiel drei Tore Vorsprung. Gewinnt er, bekommt er nur eins. Ein Spiel gewinnt derjenige, der als Erster fünf Tore erreicht. Stefan hält sich mittlerweile sehr gut an die Regeln. Nur noch selten foult er, vor allem nicht mehr mit Absicht. Auch heute ist er fair unterwegs.

Unsere Fußballtherapiestunde wird immer durch das letzte Spiel entschieden. Da geht es nämlich um alles oder nichts. Egal, wer die meisten Spiele zuvor in der Stunde gewonnen oder verloren hat, wer dieses eine Spiel am Ende gewinnt, ist der Sieger der Stunde. Und heute ist dieses Spiel besonders dramatisch, denn es geht um alles. Es ist die allerletzte Stunde, unsere letzte Partie, es wird einen Sieger für immer geben.

Es steht vier zu vier, wer das nächste Tor schießt, gewinnt. Die Nerven liegen blank. Ich täusche einen Schuss an und ziehe dann zurück.

„Ich mag das nicht“, sagt Stefan.

Wir spielen weiter. Ich täusche noch einmal einen Schuss an.