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Für Mats und Marius

 

 

 

„Wir alle tragen in uns die Sehnsucht nach Wildnis, nach reiner, unverfälschter Natur, nach einem Platz weit weg von den Zwängen der Gesellschaft. Wir stellen uns vor, dort Lebenskraft und Lebendigkeit zu begegnen. Aber wir kennen die alten magischen Zauberworte, die alten heiligen Regeln nicht mehr, die uns den Mantel der Wildnis umlegen könnten und uns so ganz eins mit der Natur werden lassen. Doch es gibt Pfade, die uns dorthin führen, wo wir tiefe Verbundenheit mit der Natur erleben.“

Aus „Mit der Wildnis verbunden“,1
Susanne Fischer-Rizzi

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Inhalt

Die Ankunft

Der erste Tag

Der zweite Tag

Der dritte Tag

Der vierte Tag

Der fünfte Tag

Der sechste Tag

Der siebte Tag

Der achte Tag

Quellenangaben

Über den Autor

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Die Ankunft

Die wichtigste Reise in deinem Leben
ist die Reise zu dir selbst.

Die Fähre legte pünktlich um 11:00 Uhr im Hafen der kleinen Ostseeinsel an. Nur hier und da blinzelte die Sonne durch den wolkenverhangenen Himmel auf das graue Meer. Der Wind türmte die Wellen vor sich auf, bis sie schließlich unter lautem Getöse an den Hafenmolen zerbarsten. Dazu die eisigen Temperaturen – der Winter gab jetzt, Anfang März, eine grandiose Abschiedsvorstellung.

Mir war das egal. Ich war gekommen, um eine Woche am Meer zu angeln, und kein Wetter dieser Welt würde mich davon abhalten. Das war meine Woche, und statt wie der „Jever-Mann“ mit der Bierflasche im Trenchcoat rückwärts in die Sanddüne zu fallen (und wahrscheinlich eine Woche liegen zu bleiben), wollte ich mit meiner Wathose im Meer stehen und meine erste Meerforelle fangen.

Seit zwei Jahren hatte ich mich auf diese Tour gefreut. Es gab nicht viele Auszeiten in meinem Leben, das hauptsächlich aus Arbeit und immer kürzeren Restzeiten für die Familie bestand. Ich fand eigentlich gar nicht statt. Nur mein innerer „Geschichtenerzähler“ hielt mich über Wasser. Er säuselte mir ständig Sätze ins Ohr wie: „Bald wird alles besser“, oder: „Sei froh, dass du überhaupt einen Job hast!“ Der Geschichtenerzähler war die personifizierte Unehrlichkeit mir selbst gegenüber, und ich hatte nicht den Arsch in der Hose, um mich von diesem Typen zu befreien. Außerdem fehlte mir jegliches Handwerkszeug, um mein Leben anders und selbstbestimmter zu gestalten, das dachte ich jedenfalls.

Dass sich das in der Woche am Meer auf eindrucksvolle Weise ändern sollte, wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Im Moment wurde die Luft jedenfalls immer dünner … Ich mied mittlerweile die Zeitschriftenregale in Bahnhöfen und Buchläden, denn zu oft tauchten dort neuerdings die Begriffe „Burn-out“ und „Depression“ auf. Ich wusste: Einmal hineingelesen, wartete auf mich die bittere Erkenntnis, dass sich eigentlich nichts in meinem Leben in einer gesunden Balance befand. Meinen Schlaf erkaufte ich mir mittlerweile mit Schlaftabletten. Der Geschichtenerzähler war ein „Schlauschnacker“. Aus einem mutigen, verantwortungsvollen und selbstbestimmten Mann war im Laufe der Jahre ein fremdbestimmter und ängstlicher Schlappschwanz geworden. Genau genommen hatte ich mich in 85 Kilo Wohlgefallen aufgelöst, die nur darauf warteten, durch eine Krankheit aus ihrer Situation befreit zu werden. Eine Reha ist im modernen Leben doch fast schon eine Selbstverständlichkeit.

Würden wir noch in Stämmen leben und Indianernamen tragen, hieße ich wahrscheinlich „Der von der Angst gejagt wird“ oder „Der ständig über seine Grenzen geht“. Wie schön klingt dagegen doch „Der mit dem Wolf tanzt“ …

Die Fahrt zum Ferienhaus dauerte eine halbe Stunde, und während die Landschaft so an mir vorbeiflog, war ich mit meinen Gedanken schon längst beim Angeln am Meer.

Wie so oft in den letzten zwei Jahren. Doch nun war ich tatsächlich nur noch einen Steinwurf davon entfernt.

Das Ferienhaus lag direkt an einem breiten Sandstrand. Die Brandung hatte einige große Stücke Treibholz angespült, skurrile Skulpturen, deren lange Seereise hier ein abruptes Ende fand. Möwen kreischten aufgeregt über den brechenden Wellen, um im richtigen Augenblick in das aufgewühlte Wasser zu stürzen und nach Sand­aalen zu tauchen. Sie waren geduldige und effektive Jäger, die ohne viel Aufwand an ihre Beute kamen. Der Blick zum Horizont war endlos. Ein Ort, der auch dem „Jever-Mann“ gefallen würde.

Keine Stunde später wählte ich die Nummer von Leif, der mein Guide sein würde. Ich wollte in dieser Woche unbedingt meine erste Meerforelle fangen und nicht sinnlos Zeit damit verplempern, zuerst Strände auszukundschaften oder diverse Angeltechniken auszuprobieren. Also hatte ich für sechs Tage Leifs orts- und fachkundige Dienste gebucht.

„Die Wildnis ist nicht ein Ort, den wir besuchen – sie ist unsere Heimat.“ Dieser Satz von Gary Snyder hatte über Leifs Anzeige in einer Outdoorzeitschrift gestanden. Das hatte gereicht, um meine Neugier zu wecken und nach einem kurzen Telefonat unsere gemeinsame Angelzeit zu verabreden. Leifs Stimme klang am Telefon so ruhig und weise, dass ich es kaum abwarten konnte, ihn kennenzulernen und mit ihm gemeinsam zu angeln.

„Heute gehen wir nicht mehr angeln!“ Leifs Stimme klang jetzt auch freundlich, aber bestimmt. „Heute ist der Tag deiner Anreise, nimm dir also die Zeit, erst einmal auf der Insel anzukommen! Morgen um sieben hole ich dich an deinem Ferienhaus ab. Denk bitte daran, dass dies, wie versprochen, dein letztes Telefonat in dieser Woche ist.“

Stimmt ja. Ich hatte Leif bereits bei der Buchung das Versprechen gegeben, mich eine Woche von allen „elektronischen und digitalen Nabelschnüren“ zu trennen. Er wollte keine, wie er es nannte, „Stand-by-Menschen“ mit an den Strand nehmen. Seine Tonlage ließ ahnen, dass er in der Frage auch keinen Spaß verstand.

„Ich muss am Montag noch mal kurz mit meinem Büro telefonieren, dann schalte ich mein Handy aus“, warb ich um ein letztes Telefonat für die Woche.

„Dann kannst du allein angeln gehen“, kam die prompte Reaktion. „Mittlerweile ist es für viele Menschen eine Frage des Selbstrespekts geworden, ob sie noch in der Lage sind, sich eine balsamische Zeit ohne Verbindung zur Außenwelt zu schenken  oder eben nicht. Diese ständige Erreichbarkeit, das ständige Checken und Versenden von Nachrichten – die elektronischen Nabelschnüre machen die Menschen krank. Sie versinken in einem Meer von Belanglosigkeiten. Es ist eigentlich die moderne Form der Selbstversklavung. Also, entscheide dich. Entweder regelst du vor unserem Treffen morgen früh die letzten Angelegenheiten oder ich werde nicht mit dir angeln gehen. Die Welt des Jägers ist eine stille Welt. Ich bin um sieben bei dir!“

Noch bevor ich etwas sagen konnte, hatte er bereits aufgelegt. Die Klarheit, mit der Leif mir im Telefonat begegnet war, ging mir im Ferienhaus noch eine ganze Zeit nach. Wäre es nach mir gegangen, stünden wir längst im Wasser, und wahrscheinlich hätte ich zwischenzeitlich auch schon drei Telefonate geführt oder mal schnell die eingegangenen Nachrichten gecheckt.

Für einen Moment überlegte ich, vielleicht noch allein einen ersten Angelversuch zu starten. Schließlich war ich ein erfahrener Angler, nur mit dem Fang einer Meerforelle hatte es bisher nicht klappen wollen … Da war sie wieder, diese Zerrissenheit, die ich nur allzu gut kannte. Der eine Teil in mir strotzte vor Abenteuerlust und Entdeckergeist, und der andere Teil sehnte sich nach Stille, einem innerlichen Zur-Ruhe-Kommen und dem Gefühl, einfach nur da zu sein.

„Komm erst einmal auf der Insel an!“, hatte Leif gesagt. Ich spürte innerlich, dass ich gut beraten war, seinem Hinweis zu folgen. Seltsam – ich hatte diesen Mann noch nie gesehen, und trotzdem war da ein tiefes Urvertrauen, das ich nicht in Worte fassen, aber tief fühlen konnte.

Statt also in die Wathose zu springen und irgendeinen Strand aufzusuchen, den ich sowieso nicht kannte, richtete ich mich in meinem Ferienhaus ein und kümmerte mich um ein gemütliches Feuer in dem kleinen Holzofen.

Das Knistern und Knacken der brennenden Holzscheite im Ofen, der Blick aus dem großen Fenster des Ferienhauses auf das Meer und die beruhigende Stille – langsam begann ich zu spüren, wie das Tempo und die Hektik der Anreise von mir wichen.

„Warum ist es so schwer für dich, eine Woche lang auf dein Telefon zu verzichten?“, hatte Leif mich während unseres Gesprächs vorhin gefragt.

Eine gute Frage.

Nun hatte ich mich entschieden – gegen mein iPhone und dafür, eine Woche mit Leif angeln zu gehen.

Es sollte sich als die beste Entscheidung meines Lebens herausstellen.

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Der erste Tag

Wir müssen lernen, uns nicht mit unwesentlichen Aktivitäten und Beschäftigungen zu überfordern, sondern unser Leben mehr und mehr zu vereinfachen. Der Schlüssel zu einer glück­lichen Ausgewogenheit im modernen Leben ist Einfachheit.

Sogyal Rinpoche

Der Wind hatte in der Nacht auf nordöstliche Richtung gedreht und noch etwas zugelegt. Das Wasser schwappte bis an die Dünen und der vollkommen überspülte Strand war längst zum Jagdgebiet der Möwen geworden. Die kräftige Uferströmung hatte die Treibhölzer mit auf eine neue Reise genommen.

„Wir fahren an die Südküste“, waren Leifs erste Worte nach einer kurzen und herzlichen Begrüßung. Mir fiel ein Stein vom Herzen, denn die Brandung vor dem Ferienhaus überstieg bei Weitem meine anglerischen Fähigkeiten. „Dort war die letzten drei Tage auflandiger Wind und es ist viel Nahrung freigespült worden. Die Fische werden zum Fressen an die Riffe kommen. Wir nennen das Angeln in den alten Wellen. Sie brechen nicht so hart wie die Wellen im Seewind. Das macht das Angeln einfacher und effektiver“, erklärte Leif seine Platzwahl.

Wir stiegen in seinen alten Landrover und fuhren Richtung Südküste.

Leif erinnerte mich vom Aussehen her ein wenig an Spencer Tracy in dem Film „Der alte Mann und das Meer“, aber er hatte eine Vitalität an sich, die selbst die Haie vertrieben hätte. Man spürte förmlich seine Lebensfreude und die Lust darauf, jetzt ans Meer zu fahren und Fische zu fangen. „Das Meer ist der letzte freie Ort der Welt“, hatte Ernest Hemingway einmal in einem Interview zu dem Film gesagt. Und wer diesen Mann sah, verstand genau, was er meinte.

„Und? Hast du einen guten Abend im Ferienhaus gehabt?“, fragte Leif mich mit einem aufmunternden Klaps auf meinen Oberschenkel.

„Am Ende schon!“, lachte ich. „Zuerst stand ich mir selbst ein wenig im Weg. Ich hätte schon Lust gehabt, gleich mit dir an den Strand zu fahren. Nachdem du mir dann gesagt hast, dass wir erst heute starten, wusste ich zunächst nicht so recht, was ich mit mir anfangen sollte. Es hat eine ganze Zeit gedauert, den inneren Widerstand loszulassen und mich wirklich auf das Ankommen im Ferienhaus einzulassen“, gab ich zu. „Aber dann war es ein wunderbares Gefühl, einfach nur auf der Couch zu liegen und auf das Meer zu schauen!“

„Einfach ist manchmal eben richtig schwer!“, lachte Leif. „Toll, dass du diesen Abend genießen konntest. Damit hast du auch den ersten Schritt zum Fang deiner ersten Meerforelle gemacht!“

„Wie meinst du das denn?“, fragte ich etwas erstaunt. Was hatte der Abend im Ferienhaus mit dem Fang meiner ersten Meerforelle zu tun?

„Die Kunst, einen Fisch zu fangen, beginnt damit, den Übergang aus deinem Alltag in die Jägerwelt zu meistern. Du kehrst in den Rhythmus der Natur zurück, und da herrscht ein anderes Tempo als auf der Überholspur der Autobahn oder in deinem Büro, von dem du mir erzählt hast“, antwortete Leif. „Für diesen Übergang benötigt man Zeit und die hast du dir gestern genommen! Ich sehe hier so viele Männer, die bereits am Anreisetag raus zum Angeln gehen. Die meisten von ihnen fallen ins Wasser. Sie haben verlernt, ihre Geschwindigkeit achtsam an die Bedingungen anzupassen. Ein Riff im Meer ist eben keine Autobahn! Und mit der Energie, mit der die Männer am Strand aufschlagen, schaffen sie es in kürzester Zeit, den Strand völlig fischleer zu poltern. Die wenigsten Fische werden am Anreisetag gefangen! Deshalb bist du deinem Fisch einen Schritt näher gekommen.“ Leif sah mich mit einem verschmitzten Lächeln an.

Ich war sprachlos. Noch nie hatte ich mir über das Ankommen am Strand Gedanken gemacht. Oft genug war ich ohne Fang nach Hause gegangen, und die Vorstellung, die Nummer vielleicht schon beim Betreten des Strandes vergeigt zu haben, war mir ein wenig unangenehm.

Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich mich wirklich bewusst einem Strand näherte und wahrnahm, wie viele Wasservögel das Revier mit uns teilten. Wir erreichten den Strand, ohne dass ein Vogel aufgeregt die Flucht ergriffen hätte. Gemächlich schwammen die Enten, der Strömung folgend, am Strand entlang. Zwei Kormorane, die nach kleinen Fischen tauchten, wichen auf die nächste Landspitze aus, um dort nach der Jagd ihr Gefieder im Wind zu trocknen.

Wir hatten uns nicht nur langsam, sondern auch in völliger Stille dem Strand genähert. Seit langer Zeit machte sich bei mir erstmals wieder ein Gefühl von Zufriedenheit breit.

Leif holte eine Thermoskanne mit Kaffee und zwei Becher aus dem Rucksack. „Es gibt eine alte Tradition bei uns auf der Insel“, verriet er und reichte mir einen Becher. „Bevor wir mit dem Angeln beginnen, trinken wir erst einmal in Ruhe einen Kaffee am Strand. Wenn du es so ausdrücken willst, gehört dieses Ritual mit zu dem Übergang von der alltäglichen in die Jägerwelt. Ist der Becher geleert, sind wir bereit zur Jagd. Das ist übrigens auch eine der wichtigen Übungen für das Leben. Die Menschen schaffen sich so oft keine Übergänge mehr. Zwischen Büro und Familie, zwischen Familie und eigener Zeit, zwischen An- und Entspannung. Viele nehmen die Energie und das Tempo vom Arbeitsplatz mit in die Familie. Dabei ist es so viel besser, sich vorher zu entschleunigen und sich ein Ritual zu überlegen, um von der einen in die andere Welt zu gehen. Sonst passiert das Gleiche wie hier am Strand: Die Energie, mit der die Männer zu Hause aufschlagen, löst im Rest der Familie nur noch Fluchtinstinkte aus. Statt Nähe entsteht Distanz, und es braucht anschließend viel Zeit, bis sich die Wogen wieder geglättet haben. Die Achtsamkeit und Entschleunigung, die man als guter Jäger nutzt, um dem Fang ein Stück näher zu kommen, ist auch ein gutes Handwerkszeug für die Übergänge im alltäglichen Leben.“

Er lehnte sich gegen eine angespülte Wurzel. „Der ,Becher Kaffee kann dabei ein Spaziergang durch den Park sein, ein paar Seiten in einem guten Buch oder etwas ganz anderes, das dir hilft, den Übergang gut hinzubekommen. Du wirst in jedem Fall mit besseren ,Fängen‘ belohnt.“ Dabei grinste Leif mich an.

Ich sah mich um, während ich meinen Kaffee trank. Der Sandstrand wurde immer wieder von kleineren Landspitzen durchbrochen. Dort lagen größere Steine am Ufer und im Wasser. Der Wind der letzten Tage hatte viel frisches Seegras an den Strand gespült. Im Wasser konnte ich einzelne Sandbänke erkennen, auf denen die „alten Wellen“ immer noch kräftig ausrollten. Das Wasser war leicht angetrübt und es wimmelte darin sicher von Kleintieren: Flohkrebse, Garnelen, Tangläufer – die Brandung der letzten Tage hatte den Tisch für die Meerforellen reich gedeckt.

Als wir den Kaffee ausgetrunken hatten, nahm ich meine Angel und machte mich auf zur nächsten Landspitze. Vorsichtig watete ich über kleinere Steine hinaus auf eine vorgelagerte Sandbank. Hier fand ich einen sicheren Stand im hüfttiefen Wasser. Die Wellen brachen an meinem Körper, und immer wieder musste ich etwas hochspringen, um nicht ein Vollbad zu nehmen.

Das Meer war ein kraftvoller Ort, eine starke, positive Energie erfüllte mich.

Ich hatte mich lange nicht mehr so lebendig gefühlt. Und wie hatte Leif mir noch mit einem breiten Grinsen hinterhergerufen? „Denk dran, die Wellen wollen dich nicht umwerfen, sie wollen dich nur lehren, stark zu sein!“

Ich warf meinen Blinker weit hinter die brechenden Wellen in das tiefere Wasser. Meerforellenangeln ist eigentlich einfach: Man wirft einen Blinker (ein Stück Blech in Form eines Fischs) so weit wie möglich in das Meer hinaus. Dann dreht man den künstlichen Verführer mit der Angel so schnell wieder heran, dass die Meerforelle denkt, im Wasser sei ein Beutefisch unterwegs. Sie schnappt nach dem Stück Blech und der Kampf beginnt.

Da das Wasser im Strandbereich nicht sehr tief ist, wird der Blinker eher etwas schneller als zu langsam geführt. Zum einen verhindert man so, dass der Blinker am Grund hängen bleibt, zum anderen ist der Köder besser im Blickfeld der Fische, die ihre Beute gern von unten attackieren.

Es lässt sich vortrefflich darüber streiten, welche Farbe, welche Form und welches Gewicht so ein Blinker haben sollte. Die Hauptbeutefische der Meerforelle sind Sandaale und Heringe. Die Farbe dieser Beutefische im Wasser ist grünlich silbern. Das Wurfgewicht, das so ein Blinker haben sollte, liegt idealerweise zwischen 15 und 25 Gramm. Die volle Palette aller käuflich zu erwerbenden Blinker umfasst, zieht man alle Gewichte und Farben mit in Betracht, geschätzte 20.000 Modelle. 20.000 Modelle für die Jagd auf einen Fisch, der sich hauptsächlich von Heringen und Sandaalen ernährt. Die PR- und Werbeagenturen müssen ganze Arbeit leisten, um die vielen Dinger an den Mann zu bringen!

Ich hatte die zweijährige Vorbereitungszeit auf meine Reise auch zu kleineren, mittleren und großen Kaufräuschen genutzt. War der Druck besonders groß und schien die Reise besonders fern, glich ich das Gefühl gern mit meiner Kreditkarte aus. Also war ich in Sachen Köder bestens ausgestattet. In meinen Boxen tummelten sich rund 250 verschiedene Modelle. Selbst so außergewöhnliche Farben wie Pink, Gold und Neongrün fanden sich in meiner Auswahl. Natürlich gibt es keine pinken Heringe, aber man weiß ja nie …

An diesem Morgen fiel meine Wahl zunächst auf einen rot-schwarzen Blinker mit 20 Gramm. Eigentlich gab es ja auch keine rot-schwarzen Heringe, aber in der Fachpresse war dieses Modell immer wieder hochgejubelt worden.

Das war die andere Leidenschaft, mit der ich mein Erlebnisloch stopfte: Ich hatte in den letzten zwei Jahren alles gelesen, was auch nur im Entferntesten mit dem Thema „Meerforellenangeln“ zu tun hatte, und meine Köderbox hatte sich analog zu den Empfehlungen und Berichten der selbst ernannten Küstenexperten gefüllt.

Wurf für Wurf schleuderte ich also meinen Köder in die anbrandenden Wellen.

Inzwischen war etwa eine halbe Stunde ohne jeglichen Fischkontakt vergangen. Langsam kamen Zweifel in mir hoch, ob ich wirklich den richtigen Köder gewählt hatte, denn schließlich gab es ja tatsächlich keine rot-schwarzen Heringe. In meiner Watjacke hatte ich, über vier Köderboxen verteilt, eine Auswahl meiner illustren Blinkersammlung verstaut, und so wechselte ich kurze Zeit später auf ein Modell in Gelb-Rot, 18 Gramm schwer und etwas schlanker in der Form.

Ich begann, die Einholgeschwindigkeit zu variieren. Nach ein paar schnellen Kurbelumdrehungen ließ ich den Blinker kurz Richtung Grund durchtaumeln. Ich wollte den Meerforellen einen kränkelnden Fisch vorgaukeln – eine für sie vermeintlich leichte Beute. Doch das Vertrauen auf meine Strategie und den Köder schwand nach einer weiteren halben Stunde ohne Fischkontakt.

In Gedanken kramte ich bereits den nächsten Expertentipp aus meiner Köderbox hervor. Kurze Zeit später hatte ich den kupferfarbenen Blinker montiert.

Er war etwas schwerer und bewegte sich im Wasser eher wie ein Toaster als wie ein geschmeidiger Sandaal. Aber vielleicht war es ja genau das, worauf die Meerforellen standen?

Doch auch die „Toaster-Strategie“ verlief ohne den ersehnten Fischkontakt. Vielleicht hätte ich den rot-schwarzen Blinker doch weiterverwenden sollen?

Nachdem ich in den ersten zwei Stunden unzählige Modelle aus meiner Köderbox im Salzwasser getauft hatte, ging ich zurück an den Strand, um mich ein wenig aufzuwärmen.

Leif hatte in der Zwischenzeit ein einladendes Lagerfeuer am Strand entfacht.

„Verflixt kompliziert mit so einer großen Auswahl an Ködern, was?“ Leif konnte sich ein schelmisches Grinsen nicht verkneifen. „Statt dich auf das Angeln zu konzentrieren, warst du mit deinen Gedanken und deinem Fokus nur in deiner Köderbox unterwegs.“

Irgendwie fühlte ich mich in diesem Moment ein wenig ertappt, denn Leif hatte meine Verstrickungen mit der Köderauswahl und die daraus entstehende Unruhe sehr wohl bemerkt.

„Hast du Lust, eine Geschichte über das Meerforellenangeln zu hören? Genauer gesagt ist es eine Geschichte über die Köderwahl.“

Ich nickte. Was sollte ich auch sonst machen?

„Im letzten April angelten zwei Männer aus Norddeutschland an diesem Strand. Sie hatten sich beide für den gleichen Blinker mit demselben Wurfgewicht entschieden – nur in unterschiedlichen Farben. Der eine fischte mit dem Modell in Kupfer, der andere in Grün-Silber. Sie standen nur rund drei Meter auseinander und warfen beide ihre Blinker in die Strömungskante direkt hinter den brechenden Wellen. Es dauerte nur ein paar Minuten und der Angler mit dem kupferfarbenen Blinker fing seine erste Meerforelle. Kurze Zeit später hatte er die zweite und noch etwas später die dritte. Der Angler mit dem grün-silbernen Blinker fing in der ganzen Zeit nichts. Nach dem dritten Fisch fragte der Nichtfänger seinen Freund, ob er noch einen zweiten kupferfarbenen Blinker dabeihätte. Da holte der erfolgreiche Angler einen Blinker aus der Box und schenkte ihn seinem Freund. Zwei Würfe später fing auch er seine erste Meerforelle.“

„Na ja, kein Wunder“, bemerkte ich, „die Farbe war ja wohl wirklich der Erfolgsgarant schlechthin!“

Leif legte ein Stück Holz nach, schenkte sich einen Becher Kaffee ein und sagte: „Nachdem der Mann mit dem kupferfarbenen Blinker seinen ersten Fisch gefangen hatte, verlor der Mann mit dem grün-silbernen Blinker komplett das Vertrauen auf seinen Köder – deshalb hat er keine Fische gefangen. Das Vertrauen kam erst mit dem geschenkten Blinker zurück. Fische zu fangen ist nicht nur eine Frage der Köderwahl, sondern entscheidet sich auch daran, ob du hundertprozentig auf deine Wahl vertraust. Du hast deinem rot-schwarzen Blinker nicht vertraut, deshalb hast du keine Fische gefangen!“

Ich starrte etwas hilflos und stumm in das Lagerfeuer, und in diesem Moment fielen mir meine 250 Blinker ein, die in unzähligen Boxen im Rucksack und in meiner Watjacke verstaut waren.

Noch bevor ich mir richtig leidtun konnte, sagte Leif: „Schütte sie alle auf einen Haufen hier am Strand und entscheide dich für einen Blinker. Wähle ein Modell, von dem du zwei, drei Stück gekauft hast, dann kannst du bei einem Abriss mit dem gleichen Modell weiterfischen.“

Da lag er nun im Strandsand – ein riesiger, bunter Blinkerberg. Ich hatte keine Kosten und Mühen gescheut, alle Blinker auch noch mit neuen Haken auszustatten. Es waren gut 2.500 Euro, die da lagen, und ich sollte mich für ein Modell entscheiden. Für diesen Berg hatte ich mindestens einen halben Monat gearbeitet!

„Wenn du dich für ein Modell entschieden hast, packst du die anderen zurück in die Boxen und legst sie zu deinem Handy. Du wirst sie diese Woche auch nicht mehr brauchen.“ Leif grinste mich freundlich an und nahm einen kräftigen Schluck Kaffee aus seinem Becher.

Eine Zeit lang saßen wir still am Strand. Das Feuer wärmte meine klammen Finger und der Blick auf das Meer mein Herz. Die Wellen brachen immer noch an den vorgelagerten Sandbänken und die Luft roch nach Salz und Seetang. Mir kam noch einmal der Satz von Ernest Hemingway in den Sinn: „Das Meer ist der letzte freie Ort auf der Welt.“

Ich fühlte mich frei in diesem Moment, und diese Freiheit reichte bis in meine Köderbox, denn dort gab es jetzt nichts mehr zu entscheiden. Freiheit durch Reduktion.

„Es ist Zeit, wieder angeln zu gehen!“ Leif gab mir einen aufmunternden Klaps auf den Rücken, nahm seine Rute und ging auf die Landspitze in südlicher Richtung von unserem Lagerfeuerplatz zu.

„Ja, Zeit wieder angeln zu gehen“, murmelte ich seine Worte nach und machte mich erneut zu der Landspitze auf, die ich schon am Morgen beangelt hatte.

Der Wasserstand war in der Zwischenzeit etwas gestiegen und das Wasser sah trüber aus. Beim Hinauswaten auf die Sandbank konnte ich meine Füße nicht mehr sehen. Vorsichtig tastete ich mich Schritt für Schritt über die kleinen Steine hinaus, bis ich endlich feinen Sand unter den Füßen spürte. Hier draußen auf der Sandbank und im anschließenden tieferen Bereich war das Wasser wesentlich klarer. Ich nahm einen von meinen drei rot-schwarzen Blinkern aus der Box und fing an zu angeln.

Für kurze Zeit hingen meine Gedanken noch der zweiten Geschichte nach, die Leif mir am Lagerfeuer erzählt hatte. Eine Geschichte über Anfängerglück und Intuition.

„Ich bin oft mit Menschen angeln gegangen, die noch nie am Meer geangelt haben und nichts über das Meerforellenangeln wussten“, hatte er seine Geschichte begonnen. „Zu Beginn unseres Angeltages bekamen die Greenhorns die Aufgabe, sich aus einer Box mit vielen unterschiedlichen Ködern einen auszusuchen, mit dem sie fischen wollten. Sie hatten wie gesagt alle keine Erfahrung mit dem Meeresangeln, und ich gab ihnen keine Informationen, die ihre Wahl in irgendeiner Weise beeinflusst hätte. Sie mussten ihrer Intuition vertrauen. Sie war das einzige Handwerkszeug, das die Anfänger bei ihrer Wahl zur Verfügung hatten. Die meisten von ihnen haben mit ihren ausgewählten Blinkern Fische gefangen. So etwas wird ja gern etwas abwertend als Anfängerglück bezeichnet. Doch damit hatte das nichts zu tun – sie hatten einfach nur ihrer Intuition vertraut!“

Der Biss kam urplötzlich und mit einer Heftigkeit, die mich ruckartig aus meinen Gedanken riss. Sofort nahm die Meerforelle 20 Meter Schnur von der Rolle und flüchtete in tieferes Wasser. Die Rute bog sich im Halbkreis, und als ich zum ersten Mal versuchte, Druck über die Rute aufzubauen, sprang der Fisch mit einem riesigen Satz aus dem Wasser.

Was für ein großer Fisch!

Einen Augenblick später hingen ein paar Meter lose Schnur in der Luft. Der Fisch hatte seine Strategie geändert und schwamm nun schnurstracks auf mich zu. Blitzschnell versuchte ich, die lose Schnur auf die Rolle zu spulen und wieder den Kontakt zum Fisch herzustellen. In diesem Moment sprang er ein zweites Mal aus dem Wasser – keine fünf Meter vor mir!

Der Rest verlief wie in Zeitlupe. Im Sprung schüttelte der Fisch mit weit aufgerissenem Maul kräftig den Kopf hin und her. Und dann geschah das Unfassbare: Als der Fisch zurück ins Wasser fiel, flog mein Blinker für gefühlte 15 Restsekunden immer noch durch die Luft. Die Meerforelle hatte sich von dem Haken befreit!

So ungefähr muss es sich anfühlen, wenn man einen Sechser im Lotto hat und dann feststellt, dass man vergessen hat, den Tippschein abzugeben.

„Wow, was für ein Fisch!“, zeigte sich auch Leif beeindruckt. Er stand längst hinter mir und hatte mir helfen wollen, den Fisch sicher an Land zu bringen.

„Das war der Hammer! Dieser Biss, diese Sprünge – was für ein fantastischer Fisch“, antwortete ich immer noch total perplex.

„Er hat eben seine Chance genutzt. Ein großer Kämpfer ist zurück in der Freiheit!“, lächelte Leif mich an. „Komm, wir setzen uns ans Feuer und stärken uns ein wenig!“

Er legte ein paar kleinere Stücke Holz nach und schnell wurde aus der lodernden Glut wieder ein ansehnliches Lagerfeuer.

„Ich weiß nicht, was ich verkehrt gemacht habe  In den Sprüngen habe ich die Rute nach unten gehalten, damit kein zu großer Schnurbogen entsteht. Als der Fisch auf mich zugeschwommen kam, habe ich in rasendem Tempo die Spannung wieder aufgebaut. Ich hatte meine Angelrolle so eingestellt, dass der Fisch jederzeit Schnur nehmen konnte, ohne dass der Druck auf die Schnur so stark wird, dass sie reißt. Ich habe mich auch nicht von der Stelle bewegt, sondern mich voll und ganz auf den Kampf mit dem Fisch konzentriert. Warum um alles in der Welt habe ich diesen tollen Fisch verloren?“ Ich schaute Leif fragend an.

Er legte ein weiteres Stück Holz auf das Feuer, nahm seinen Kaffeebecher, machte es sich im Sand bequem und sagte: „Es kamen einmal ein paar Suchende zu einem alten Weisen. ,Meister, was tust du, um glücklich und zufrieden zu sein? Wir wären auch gern so glücklich wie du. Der Alte antwortete mit mildem Lächeln: ,Wenn ich liege, dann liege ich. Wenn ich aufstehe, dann stehe ich auf. Wenn ich gehe, dann gehe ich, und wenn ich esse, dann esse ich. Die Fragenden schauten etwas betreten in die Runde. Einer platzte heraus: ,Bitte treib keinen Spott mit uns. Was du sagst, tun wir auch. Wir schlafen, essen und gehen. Aber wir sind nicht glücklich. Was ist also dein Geheimnis? Es kam die gleiche Antwort: ,Wenn ich liege, dann liege ich. Wenn ich aufstehe, dann stehe ich auf. Wenn ich gehe, dann gehe ich, und wenn ich esse, dann esse ich. Die Unruhe und den Unmut der Suchenden spürend fügte der Meister nach einer Weile hinzu: ,Sicher liegt auch ihr, und ihr geht auch und ihr esst. Aber während ihr liegt, denkt ihr schon ans Aufstehen. Während ihr aufsteht, überlegt ihr, wohin ihr gehen werdet, und während ihr geht, fragt ihr euch, was ihr essen werdet. So sind eure Gedanken ständig woanders und nicht da, wo ihr gerade seid. Doch nur in dem Schnittpunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft findet das eigentliche Leben statt. Lasst euch auf diesen nicht messbaren Augenblick ganz ein, und ihr habt die Chance, wirklich glücklich und zufrieden zu sein.

„Eine schöne Geschichte“, seufzte ich.

„Es ist eine Geschichte über die Achtsamkeit“, fuhr Leif fort. „Ein Plädoyer für das Leben im Hier und Jetzt. Das ist die wichtigste Übung für den Jäger! Nur wer diese Übung beherrscht, nur wer mit seiner ganzen Achtsamkeit und seiner vollen Konzentration im Hier und Jetzt ist, wird gute Fänge machen. Es ist der gelebte Unterschied zwischen einem Becher Kaffee am Lagerfeuer und einem Coffee to go.“

Nach einer kurzen Pause fragte Leif mich. „Und, wo warst du mit deinen Gedanken, als der Fisch gebissen hat?“ Ich zuckte die Achseln. „Du hast die Meerforelle verloren, weil du in dem Moment, als der Fisch den Blinker gepackt hat, nicht mit Gegendruck den Haken im Fischmaul fixiert hast. Du hast schlicht und einfach den Biss verschlafen, weil du mit deinen Gedanken woanders warst! Die Jagd nach Wissen ist ganz ähnlich wie die Jagd nach dem Fisch. Dieser Fisch wollte dich etwas lehren. Und wenn du schlau bist, hast du ihm gut zugehört!“

Das war der Moment, in dem ich wirklich zum ersten Mal fühlen konnte, dass die Jagd ein Spiegel für mein alltägliches Leben war. Sie war eine einzige Metapher! Still starrte ich zum endlosen Horizont, zutiefst ergriffen von dieser neuen Erkenntnis.

Die Jagd war ein Spiegel für das Leben, und ich war ans Meer gekommen, um für mein Leben zu lernen.

Die Stille trug diese neuen Erkenntnisse tief in mein Herz. Und es brauchte eine ganze Zeit, bis ich meine Sprache wiederfand.

„Immerhin stimmte die Köderwahl!“, lachte ich Leif an.

„Das ist richtig! Du bist auf einem guten Weg! Und deshalb gehen wir am besten schnell wieder ins Wasser!“

Bevor wir das Lagerfeuer verließen, legten wir noch zwei dicke, trockene Stücke Treibholz auf die Flammen. Wir tranken unseren Kaffee aus, nahmen unsere Angelruten und gingen wieder fischen. Für heute würde es die letzte Angelrunde sein. Die Tage waren jetzt, Anfang März, noch kurz, und das Tageslicht begann bereits zu schwinden.

Mittlerweile war auch meine Zuversicht zurückgekehrt. Ich entschied mich ein drittes Mal an diesem Tag dazu, auf die Landspitze nördlich von unserem Lagerplatz zu gehen. Dort gab es schließlich einen großen Fisch!

Etwas weiter draußen sah ich Enten im Meer tauchen. Sie waren auf Fischjagd. Über ihnen kreisten in sicherer, aber doch kontrollierter Entfernung große Raubmöwen. Hatte eine der Enten Erfolg gehabt und tauchte mit einem Fisch im Schnabel an die Wasseroberfläche, wurde sie sofort von den Möwen attackiert. Es dauerte meis­tens nur Sekundenbruchteile und der erfolgreiche Jäger war seinen Fang wieder los.

Die Möwen hatten ihre „Angestellten“ und die waren ihnen hoffnungslos ausgeliefert! Drei Enten beteiligten sich allerdings nicht an dem Spektakel. Sie ruhten auf einem riesigen flachen Stein hinter der Sandbank.

Während ich den Vögeln zusah, hielt ich meine Rute einfach nur in den Händen, ohne sie auszuwerfen. Die Erfahrung mit dem verlorenen Fisch war mir eine große Lehre. Ich weiß nicht, wie lange ich die Vögel beobachtete, aber das Naturschauspiel zog mich eine ganze Zeit lang in seinen Bann. Am liebsten hätte ich die Möwen verjagt, aber die Natur hat ihre eigenen Gesetze – so viel hatte ich inzwischen kapiert. Und eigentlich waren die Raubritter der Lüfte ja auch wieder eindrucksvolle Lehrer für mich: Sie waren zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Dank ihrer Aufmerksamkeit ging ihnen kein Fang durch die Lappen – zumindest dem Großteil der Möwen.

Angelockt von dem wilden Gekreische und den Kämpfen um die Futterfische tauchten eine ganze Zeit später zwei weitere Möwen über dem Wasser auf. Sie gingen leer aus. In der Natur gibt es nur ein Gesetz: Survival of the fittest.

Nach einer gefühlten Ewigkeit war das Spektakel beendet.

Wahrscheinlich hatten die Enten einfach keine Lust mehr, für die Möwen die Fische nach oben zu holen. Ich warf meine Angel aus, und insgeheim hoffte ich, den Fisch vom Vormittag erneut zu überlisten. Schließlich schwamm er ja noch irgendwo da draußen herum.

Ich war völlig auf die Rute und die Köderführung fokussiert, aber bis zum Einbruch der Dunkelheit hatte ich keinen Fischkontakt mehr. Der Fisch wollte mir wohl keine zweite Chance geben.

Schließlich kehrte ich zu unserem Lagerfeuerplatz zurück.

Leif saß bereits am Feuer. „Nimm dir die Zeit, am Feuer zur Ruhe zu kommen. Jetzt ist der Übergang von der An- in die Entspannung dran. Wenn du bereit bist, brechen wir zu deiner Hütte auf.“

Es tat gut, einfach eine Weile dazusitzen und in die lodernden Flammen zu schauen. Die Stille wurde nur von dem immer gleichen Rhythmus der auflaufenden Wellen untermalt. Ein Augenblick für die Ewigkeit!

Nach einiger Zeit richtete ich mich auf. „Wir können gehen! Danke für einen wunderbaren Tag voller neuer Erkenntnisse.“

Ich hatte lange gebraucht, um wirklich loszulassen und mich innerlich von der Jagd, dem Strand und dem Lagerfeuer zu verabschieden.

Nur noch einmal durchbrach Leif die Stille, in der wir den Strand verließen. „Hast du die drei Enten auf dem Stein vor der Sandbank gesehen? Sie sind jetzt erst zum Jagen rausgeschwommen. In der Dunkelheit werden sie von den Möwen nicht gesehen.“

Tja – survival of the fittest, dachte ich im Stillen.

Ich schlief tief und fest. Im Traum traf ich den großen Fisch wieder.