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Über das Buch

Die hier versammelten Unterhaltungen und Interviews Elias Canettis mit Dichtern, bildenden Künstlern, Theatermachern, Literaturwissenschaftlern und Journalisten, einschließlich des berühmten Gesprächs mit Theodor W. Adorno führen Canettis unvergleichliche Direktheit vor Augen, geben lebhafte Eindrücke zu seiner Biographie und seinem stets wachen Blick auf die Zeitgeschichte und lassen erahnen, wie er gewirkt haben muss, wenn er im Gespräch aus sich herausging.

 

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Elias Canetti

Gespräche

 

 

 

 

 

 

Carl Hanser Verlag

Über das heutige Theater

Leergegessene Bonbonnieren
Das Reich der Schatten
Die akustische Maske

Der Sonntag: Die erste Frage, die ich Ihnen stellen möchte, klingt wohl etwas äußerlich. Aber Sie sind Dramatiker. Da darf das Publikum vielleicht erfahren, wie Sie sich zum heutigen Theater stellen?

Canetti: Ich möchte sagen, daß ich mich darum nicht kümmere, aber das wäre nur der angenehmere Teil der Wahrheit. Der Theaterbetrieb, wie er sich heute in den meisten europäischen Kulturstädten manifestiert, erfüllt mich mit tiefstem Abscheu. Es gibt kaum ein Gebiet des öffentlichen Lebens, das so hoffnungslos und häßlich zugleich wäre. Man weiß nicht recht, wozu die vielen pompösen Theatergebäude herumstehen. Sie muten wie riesige, leergegessene Bonbonnieren an; manchmal raschelt noch drin das Papier. Teils stehen sie wirklich leer; das ist wenigstens ehrlich. Teils aber sind sie usurpiert worden, von Sports- oder von Geschäftsleuten, was auf dasselbe herauskommt, denn beiden geht es um Kassenrekorde. Über die Geschäftsleute ist wenig zu sagen. Sie tun dasselbe, das sie überall tun: Sie grämen sich um ihr Geld langsam zu Tode. Allerdings treten sie in diesem besonderen Theaterfall mit dem Anspruch von Himmelsboten auf. Wären sie nicht – noch mehr Bonbonnieren stünden leer und ohne schokoladene Füllung da. Zu den Sportsleuten rechne ich die Regisseure. Sie überbieten einander in alten Füllungen. Sie stellen ihre Bonbons bald so, bald anders. Sie liefern dem Publikum »games«, daß das ganze Naschwerk tanzt. Und nun ermesse man erst, aus was für geistigen Potenzen das Publikum besteht. Seine Bildung reicht vom Fußball bis zum Börsenwitz. Es gähnt und klatscht durcheinander, ein häufig bezeugter Anblick. Mit besonderem Jubel begrüßt es Betten auf der Bühne. Badewannen sind ihm fast lieber. Diesem Publikum gilt es zu schmeicheln. Mit gelinden Mitteln: Aufregungen sind unerwünscht, sie könnten den Herzen schaden.

So wird in diesem Betrieb gerade das peinlich vermieden, was die eigentliche Absicht des Dichters zu sein hätte: die Erschütterung. Für den Dramatiker, der sein Metier ernst nimmt, ist hier kein Platz. Er hat sich jede Konzession zu versagen, die ihn diesen, den falschen Mächten, annähern könnte. Sein Beruf fängt damit an, daß er sich gegen das Theater stellt, wie es heute ist und wie es bleiben darf.

Der Sonntag: Viele und nicht die verschlafensten Köpfe sind der Meinung, daß das Theater im Film aufgehe. Gibt es überhaupt noch eine klare Grenze zwischen Theater und Film? Oder wäre es wünschenswert, sie wieder zu ziehen?

Canetti: Ich glaube, sie ist nie ernsthaft genug gezogen worden. Der Film ist wild und ohne alle ersichtliche Regel ins Kraut geschossen. Er hat manche schwächeren Gewächse überwuchert. Seine Praktikanten haben wenig über sein eigentliches Wesen nachgedacht; es blieb ihnen keine Zeit dazu. Sie waren ja auf Entdeckung in einem Gebiete aus, das sie völlig neu dünkte. Außerdem eroberten sie die Welt. – Eine ernstzunehmende Theorie des Films gibt es meines Wissens bis heute nicht.

Nun, so durchaus neu ist das Reich des Films in der Geschichte der Menschheit nicht. Es ist das alte Reich der Schatten, das hier, mitten in unserer modernen technischen Zivilisation, wieder erwacht. Entsinnen Sie sich noch des Hades, der griechischen Unterwelt, wo die Toten als dunkle Schatten, schweigend und körperlos, ihr Dasein weiterführen? Er ist die Vorahnung dessen, was wir heute in tausend Abwandlungen erleben, der erste Film sozusagen, gleich ein Massenfilm, in dem alle Menschen auftraten, die bis dahin gestorben waren. Uralt ist ja die Beziehung des Menschen zu den Schatten, seinem und dem der Tiere. Sie mag sich gesteigert haben in den feuererleuchteten Höhlen der Eiszeit, als sein Leben fast ganz zu einem Schattendasein wurde. Aus dieser Zeit stammen die ältesten Umrißbilder von mächtigen Tieren, tief in den Höhlen drinnen. Ihre Bedeutung für die Menschen drückt sich in ihrer Größe aus. Es waren magische Bilder; die Filmstars heute sind durch ihre Schatten so mächtig wie damals Mammut und Bär.

Besonders intimer Natur ist bei den primitiven Völkern die Beziehung zum eigenen Schatten; man pflegt ihn, denn er soll gedeihen. »Er hat viele Schatten« bedeutet bei den Zulus soviel wie »er ist mächtig«. Manche merkwürdige Übereinstimmungen zwischen alten Schattenspielen und unserem modernen Film wären aufzuzeigen. Aber es genüge die simple Feststellung, daß der Film, eben durch seine Herkunft von den stummen Schatten, an ganz andere Bezirke rührt als das Drama, das aus der Sprache allein lebt. Der Sprechfilm, wie wir ihn heute haben, ist eine Mißgeburt. Odysseus hat den Schatten in der Unterwelt Blut zu trinken gegeben.

Der Sonntag: Sie sagen, daß das Drama aus der Sprache allein lebt. Diese Kennzeichnung trifft doch wohl für die Dichtung insgesamt zu. Oder gelten für die Beziehung des Dramas zur Sprache besondere Gesetze?

Canetti: Ihr Einwand zwingt mich zu einer Präzisierung, die mir sehr erwünscht ist. Das Drama lebt auf eine ganz eigene Art in der Sprache. Fast könnte man, wenn es nicht so mißverständlich wäre, sagen: Es lebt in den Sprachen. Denn für das wichtigste Element dramatischer Gestaltung halte ich die akustische Maske. Es ist nicht leicht, diesen Begriff in wenigen Sätzen klar zu fassen. Ich muß dabei Gedanken streifen, die mich seit Jahren beschäftigen und die ich in einem größeren Werk über das Wesen des Dramas der Öffentlichkeit vorzulegen denke.

Gehen Sie in ein Volkslokal, etwa das altbekannte O. K., setzen Sie sich an irgendeinen Tisch und machen Sie da die Bekanntschaft eines Ihnen wildfremden Menschen. Im Anfang werden Sie nicht umhinkönnen, ihn mit einigen entgegenkommenden Sätzen aufzumuntern. Sobald er aber richtig ins Sprechen gekommen ist – und er wird gerne sprechen, dazu geht er ins O. K. –, halten Sie einmal konsequent den Mund und hören Sie ihn sich einige Minuten hindurch genau an. Unternehmen Sie keinerlei Versuch, ihn zu verstehen, forschen Sie nicht nach dem, was er meint, fühlen Sie sich nicht in ihn ein – achten Sie ganz einfach auf das Äußere seiner Worte. Dieser Rat soll ja beileibe nicht für immer gelten. Er dient nur dazu, ein für allemal und möglichst rasch das zu erleben, was soeben als akustische Maske bezeichnet wurde.

Da werden Sie nun finden, daß Ihr neuer Bekannter eine ganz eigentümliche Art des Sprechens an sich hat. Es genügt nicht festzustellen: er spricht Deutsch, oder er spricht im Dialekt, das tun alle oder die meisten Menschen in diesem Lokal. Nein, seine Sprechweise ist einmalig und unverwechselbar. Sie hat ihre eigene Tonhöhe und Geschwindigkeit, sie hat ihren eigenen Rhythmus. Er hebt die Sätze wenig voneinander ab. Bestimmte Worte und Wendungen kehren immer wieder. Überhaupt besteht seine Sprache nur aus fünfhundert Worten. Er behilft sich recht gewandt damit. Es sind seine fünfhundert Worte. Ein anderer, auch wortarm, spricht in anderen fünfhundert. Sie können ihn, wenn Sie ihm gut zugehört haben, das nächstemal an seiner Sprache erkennen, ohne ihn zu sehen. Er ist im Sprechen so sehr Gestalt geworden, nach allen Seiten hin deutlich abgegrenzt, von allen übrigen Menschen verschieden, wie etwa in seiner Physiognomie, die ja auch einmalig ist. Diese sprachliche Gestalt eines Menschen, das Gleichbleibende seines Sprechens, diese Sprache, die mit ihm entstanden ist, die er für sich allein hat, die nur mit ihm vergehen wird, nenne ich seine akustische Maske.

Es soll nun damit nicht gesagt sein, daß der Dramatiker als wandelnder Phonograph zu existieren habe, der die Sprechweise möglichst vieler Menschen registriert und dann, je nach Bedarf, aus der vorhandenen Kollektion von akustischen Masken Dramen zusammensetzt. Das wäre ja nun wieder eine der zahlreichen Formen mechanischer Abschreiberei des Lebens, die an sich mit Kunst nicht das mindeste zu tun haben. Aber hören muß der Dramatiker schon können; er muß ein gerüttelt Maß sprachlichen Lebens in sich haben; in ihm muß sich das Gehörte gründlich mischen und gründlich wieder sondern, damit die Gestalten, die zu ihrer Zeit entstehen, eben in ihrer akustischen Maske deutlich und wirksam sind.

Der Sonntag: Soll das Drama ›Hochzeit‹, das Sie vorlesen werden, als Beispiel für die strenge Durchführung dieses Prinzips dienen? Wurde es in dieser besonderen Absicht geschrieben?

Canetti: Nein! Die ›Hochzeit‹ ist vor einigen Jahren durchaus eruptiv und absichtslos entstanden. Sie ist die erste, wenn auch nicht mehr die einzige dramatische Arbeit, zu der ich stehe, da sie ihr eigenes Gesicht hat und von keinem Vorbild abhängig ist. Ich lese sie darum besonders gerne, weil mir an ihr, wenn auch nachträglich, die tieferen Gesetze des Dramas klargeworden sind. Das Gesetz der akustischen Maske ist nur eines davon; es läßt sich sehr leicht zurückverfolgen bis ins Drama der Primitiven. Dort, wo das Tier als die älteste dramatische Figur handelnd auftritt, würde kein Mensch an seiner Gültigkeit zu zweifeln wagen. Aber es gibt noch andere, beinahe ebenso wichtige Gesetze; die Zeit erlaubt nicht, jetzt davon zu sprechen. Nur eines möchte ich noch erwähnen: die Frage der Struktur. Das wirkliche Drama hat seinen strengen Bau. Die Bilderschneider im Theater sind vom Film, den sie kopieren, genau so weit entfernt wie vom Drama. Diese Struktur steht aber nicht ein für allemal fest. Sie ist eine Funktion der Gestalten und noch mehr des Raumes, in dem diese Gestalten sich bewegen. Jedes gute Drama sollte sich auf seine Weise bauen. Unverwechselbar wie in seinen einzelnen Gestalten, müßte es auch in der Gesamtheit seines Baues wirken. Ich glaube, daß nur dadurch die besondere Lebendigkeit zu erreichen ist, die man vom Drama verlangen darf. Der Mangel an Lebendigkeit ist es letzten Endes, der das Theater heute so verächtlich macht.