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  GESCHICHTSUNTERRICHT ERFORSCHEN images BAND 1
   

Peter Gautschi

Guter Geschichtsunterricht

Grundlagen, Erkenntnisse, Hinweise

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

© WOCHENSCHAU Verlag,
Dr. Kurt Debus GmbH
Schwalbach/Ts., 3. durchges. und korr. Aufl. 2015

www.wochenschau-verlag.de

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Die Reihe „Geschichtsunterricht erforschen“

Umschlaggestaltung: Klaus Ohl

Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme

Zugl.: Kassel, Univ., Diss. 2009

Die Studie „Guter Geschichtsunterricht“ und der Druck dieser Publikation wurden durch die Pädagogische Hochschule der PH FHNW unterstützt.

© WOCHENSCHAU Verlag, Dr. Kurt Debus GmbH

Schwalbach/Ts. 2009

Inhaltsverzeichnis

Vorwort des Autors

Vorwort des Herausgebers

1. Einleitung: Fragestellung und Relevanz

1.1Geschichtsunterricht im Gespräch

1.1.1Brennpunkte der Diskussionen über Geschichtsunterricht

1.1.2Die Qualitätsfrage

1.2Fragestellungen der Arbeit

1.2.1Forschungsfragen

1.2.2Probleme der empirischen Erforschung von Unterrichtsqualität

1.2.3Bedeutung und Innovationspotenzial der vorliegenden Arbeit

1.3Gliederung und Aufbau der Arbeit

2.Grundlagen: Qualitätsdiskussionen über Geschichtsunterricht

2.1Was ist Unterricht?

2.1.1Das didaktische Dreieck als Modell von Unterricht

2.1.2Strukturelemente von Unterricht

2.2Was ist Geschichtsunterricht?

2.2.1Schulorganisatorisches Zeitgefäss

2.2.2Lehrplanbasiertes Bildungsanliegen

2.2.3Schulfach für „Historisches Lernen“

2.2.4Kompetenzmodell für den Geschichtsunterricht

2.2.5Strukturelemente von Geschichtsunterricht

2.3Was ist guter Unterricht?

2.3.1Begriffe im Umgang mit der Beurteilung von Unterricht

2.3.2Ausgewählte Gütekriterien

2.4Was ist guter Geschichtsunterricht?

2.4.1Das Kategoriensystem von Ulrich Mayer und Hans-Jürgen Pandel

2.4.2Das Kategoriensystem von Michele Barricelli und Michael Sauer

2.4.3Die Gütekriterien für Geschichtsunterricht in dieser Arbeit

3.Vorgehen: Mehrperspektivische, explorative und deskriptive Querschnittstudie

3.1Wie kann Geschichtsunterricht erforscht werden?

3.1.1Phänomenforschung

3.1.2Ergebnisforschung

3.1.3Wirkungsforschung

3.1.4Interventionsforschung

3.1.5Forschung zu historischem Denken und Lernen

3.2Forschungszugänge und Methodenrepertoire

3.3Forschungszugang der vorliegenden Arbeit

3.3.1Anknüpfung an das Projekt „Geschichte und Politik im Unterricht“

3.3.2Ziehung der Stichprobe

3.3.3Zugang mittels „Triangulation“

3.3.4Formen und Ziele der Triangulation

3.3.5Triangulationen in der vorliegenden Untersuchung

3.3.6Forschungsdesign und Arbeitsprogramm im Überblick

3.4Datenerhebungen

3.4.1Videografierung von 41 Geschichtslektionen

3.4.2Befragung von Lernenden zum videografierten Unterricht

3.4.3Befragung von Lehrenden zum videografierten Unterricht

3.4.4Kodierung und Kategorisierung der videografierten Geschichtslektionen

3.4.5Befragung von Expertinnen und Experten zum videografierten Unterricht

4.Exploration: Identifikation von gutem Geschichtsunterricht

4.1Die Sicht der Lernenden

4.2Die Sicht der Lehrenden

4.3Die Sicht des Autors und der Kontroll-Expertinnen/Experten

4.3.1Gute Lektionen aus Sicht des Autors

4.3.2Gute Lektionen aus Sicht der Kontroll-Expertinnen/Experten

4.3.3Gute Lektionen aus Sicht der Expertinnen und Experten

4.4Triangulationsergebnisse

4.4.1Triangulation aus unterschiedlicher Perspektive

4.4.2Vergleich der unterschiedlichen Beurteilungen

5.Analyse: Beschreibung und Beurteilung der ausgewählten Lektionen

5.1„Wir konnten über die Probleme von früher und heute diskutieren“: Die Schweiz im Zweiten Weltkrieg

5.1.1Kurzbeschreibung

5.1.2Lerngegenstand: „Vergleich der Schweiz heute mit der Schweiz im Zweiten Weltkrieg“

5.1.3Prozessstruktur: „Die Gruppenarbeit war sehr gut“

5.1.4Nutzung: „Der Lehrer hat uns zum selber Nachdenken angeregt“

5.1.5Güteprofil der Lektion „Die Schweiz im Zweiten Weltkrieg“

5.2„Mir haben die einfachen Aufgaben gefallen“: Auseinandersetzung mit sechs Freiheitsrechten

5.2.1Kurzbeschreibung

5.2.2Lerngegenstand: Brücke vom 19. Jahrhundert zu heute

5.2.3Prozessstruktur: Gute Unterrichtsgestaltung an den drei Schlüsselgelenkstellen

5.2.4Nutzung: „Jeder darf sich zu der Religion bekennen, die ihm am meisten zusagt“

5.2.5Güteprofil der Lektion „Auseinandersetzung mit sechs Freiheitsrechten“

5.3„Ich kann besser aufpassen, wenn es interessant ist“: Erster Weltkrieg: Zahlen, Fakten, Waffen

5.3.1Kurzbeschreibung

5.3.2Lerngegenstand: „Darf ich die Gasmaske jetzt wieder ausziehen?“

5.3.3Prozessstruktur: „Ready, set, go!“

5.3.4Nutzung: „Die Lernenden haben selber mit Quellen gearbeitet, diese ausgewertet und Resultate präsentiert.“

5.3.5Güteprofil der Lektion „Erster Weltkrieg: Zahlen, Fakten, Waffen“

5.4„Film schauen ist immer gut“: Deutschland in den Jahren 1918−1930

5.4.1Kurzbeschreibung

5.4.2Lerngegenstand: „Erfahren, wie es Hitler gelang, aufzusteigen“

5.4.3Prozessstruktur: „Ich habe das Programm an der Wandtafel“

5.4.4Nutzung: „Sich zu Hause einen Zeitenstrahl zeichnen“

5.4.5Güteprofil der Lektion „Deutschland in den Jahren 1918−1930“

5.5Gute Vorbereitung auf die Prüfung“: Repetition Renaissance

5.5.1Kurzbeschreibung

5.5.2Lerngegenstand: „Nennt Unterschiede zwischen dieser und einer heutigen Weltkarte“

5.5.3Prozessstruktur: „Binnendifferenzierung und intensive Betreuung der Gruppen“

5.5.4Nutzung: „Ich konnte vor der Klasse reden“

5.5.5Güteprofil der Lektion „Repetition Renaissance“

6.Erkenntnisse: Guter Geschichtsunterricht heute

6.1Kriterien zur Beschreibung und Beurteilung von Geschichtsunterricht

6.1.1Beurteilungskriterien der Expertinnen und Experten

6.1.2Beurteilungskriterien der Lernenden

6.1.3Beurteilungskriterien der Lehrenden

6.2Unterrichtsformen und Lernmaterialien in guten Geschichtslektionen

6.3Merkmale und Schlüsselfaktoren von guten Geschichtslektionen

6.3.1Gute Geschichtslektionen und Gütekriterien

6.3.2Schülerorientierung als ein Schlüsselfaktor für guten Geschichtsunterricht

6.3.3Lernaufgaben als ein Schlüsselfaktor für guten Geschichtsunterricht

6.3.4Analyse einer ausgewählten Lernaufgabe aus gutem Geschichtsunterricht

6.3.5Gute Lernaufgaben für den Geschichtsunterricht

7.Diskussion und Ausblick: Ein neuer Dialog von Geschichtsdidaktik und Unterrichtspraxis

7.1Reflexion des Forschungsdesigns und der Erkenntnisse

7.1.1Triangulation zur Erforschung von Unterrichtsqualität

7.1.2Videoaufzeichnung als unabdingbare Grundlage

7.1.3Diskussion der Datenauswertung

7.1.4Vergleich der Resultate mit einem Leistungstest

7.2Die Praxis des Geschichtsunterrichts als ein Kern der Geschichtsdidaktik

7.2.1Geschichtsunterricht im Fokus von Theorie, Empirie und Pragmatik

7.2.2Geschichtsdidaktik als „Design Science“

7.3Hinweise für die Praxis des Geschichtsunterrichts

7.3.1Schülerinnen und Schüler haben eine Vorstellung von Historischem Lernen

7.3.2Schülerinnen und Schüler reflektieren, was guter Geschichtsunterricht ist

7.3.3Lehrende regen Historisches Lernen mittels Lernaufgaben an

7.3.4Lehrende beziehen das Thema auf die Situation der Lernenden

7.3.5Curriculumsverantwortliche definieren Opportunity-to-learn-Standards für den Geschichtsunterricht

7.3.6Lehrende der Lehrerbildung entwickeln gemeinsam mit Studierenden und Lehrpersonen der Zielstufen Lernumgebungen für Historisches Lernen

7.4Vorschläge für Forschungsvorhaben zum Geschichtsunterricht

7.4.1Validierung des Beurteilungsbogens und Re-Identifikation guter Geschichtslektionen

7.4.2Überprüfung und Weiterentwicklung des Kompetenzmodells

7.4.3Exploration von Zusammenhängen verschiedener Bestimmungsfaktoren des Geschichtsunterrichts

7.4.4Interventionsforschung im Geschichtsunterricht

8.Verzeichnisse

8.1Literaturverzeichnis

8.2Verzeichnis der Grafiken, Abbildungen und Tabellen

Dank

Vorwort des Autors

Was ist guter Geschichtsunterricht? – Meine Antwort auf diese Frage veränderte sich im Verlauf der Zeit. Als Mittelstufenschüler gefiel mir die Heimatkundelektion, als der Lehrer die Geschichte von Tallo, dem Sohn eines Schmieds der Helvetier, spannend erzählte. Während der Sekundarstufenzeit fand ich die Geschichtslektion gut, in der wir einen Film zum Zweiten Weltkrieg anschauen durften. Im Geschichtsstudium beeindruckte mich die detailreiche Vorlesung zur Reformation in der Schweiz. Als junger Geschichtslehrer freute ich mich über das engagierte Theaterspiel der Schülerinnen und Schüler zur Geschichte der Eidgenossenschaft. Als Vater bekomme ich einen positiven Eindruck vom Geschichtsunterricht, wenn die Söhne zu Hause freiwillig weiterrecherchieren, weil sie das behandelte Thema interessiert und neugierig gemacht hat.

Was ist guter Geschichtsunterricht? – Mit dieser Frage wurde ich als Lehrerinnen- und Lehrerbildner nach meiner Publikation „Geschichte lehren“ (1999) häufig konfrontiert. Studierende und Lehrpersonen wollten wissen, ob denn all die aufgezeigten Lernwege und Lernsituationen für den Geschichtsunterricht gleich gut seien. Eine wissenschaftlich abgestützte Antwort hatte ich nicht. Dieses Manko war ein Anlass zur vorliegenden Arbeit.

Drei Vorüberlegungen sind mir dabei wichtig:

In meiner Arbeit sollen verschiedene Perspektiven berücksichtigt werden. Meine eigenen Perspektiven auf Geschichtsunterricht haben sich im Laufe der Jahre durch den Wechsel der Rollen verändert. Deshalb interessiert mich, ob es Geschichtsunterricht gibt, der aus verschiedenen Perspektiven als „gut“ charakterisiert wird.

Im Fokus meiner Arbeit soll „das Gute“ sein. Bei vielen Unterrichtsbesuchen sehe ich interessierte Schülerinnen und Schüler, engagierte Lehrpersonen, gelungenen Geschichtsunterricht. Diese Erfahrungen stehen in Kontrast zu den vielen Beschreibungen von angeblich oder offensichtlich misslungenem Geschichtsunterricht durch Forscherinnen, Forscher und Schulaufsichtspersonen. Mir ist es ein Anliegen, nicht einen weiteren Beitrag zur Lehrerschelte zu schreiben, sondern Belege für alltäglichen guten Geschichtsunterricht zu suchen. Diesen Entscheid habe ich getroffen, obwohl mir bewusst ist, dass aus Dokumentationen über misslungenen Geschichtsunterricht oder im Vergleich von schlechten und guten Lektionen ein Erkenntnisgewinn resultieren kann, und obwohl es mit dem Forschungszugang der vorliegenden Arbeit möglich gewesen wäre, Lektionen zu charakterisieren, die aus verschiedenen Perspektiven als „misslungen“ bezeichnet werden. Auch weil in Videostudien die Beteiligten identifiziert werden können, scheint mir eine freiwillige Beschränkung auf das „Gute“ notwendig zu sein.

Im Zentrum meiner Arbeit soll Geschichtsunterricht als institutionell verordneter, zeitlich und räumlich festgelegter sowie abgeschlossener Prozess stehen. Die aktuellen Diskussionen um Input und Output von Unterricht sowie die Messungen der Leistungen von Schülerinnen und Schülern beleuchten primär Unterricht als Langzeitgeschehen, nicht die einzelnen Lektionen. Diese Lektionen, die für viele Lehrende und Lernende nach wie vor das Grundmass von Unterricht und der eigentliche Kern von Schule sind, wieder stärker in den Blick zu bekommen, ist das dritte Anliegen meiner Arbeit.

 

Die vorliegende Arbeit ist angestossen durch ein Desiderat für die Geschichtsdidaktik, das Mayer/Pandel bereits 1976 formulierten und das meiner Ansicht nach auch heute noch gilt: „Ganz offensichtlich bleibt also in unserer Disziplin das Desiderat bestehen, anstelle weitgehender Spekulation auf der einen Seite und einer sich tendenziell auf platte Unterrichtsrezeptologie zurückziehenden Orientierung an schierer Praxis auf der anderen Seite ein wissenschaftlich kontrollierbares und auf Grund empirischer Belege abgesichertes Instrumentarium zu entwickeln, mit dessen Hilfe unterrichtliche Prozesse im historischen Lernbereich durchschaut und beeinflußt werden können“ (Mayer/Pandel 1976, S. 30). Dieses Desiderat war mir Auftrag für die vorliegende Arbeit.

Das Ziel von „Guter Geschichtsunterricht: Grundlagen, Erkenntnisse, Hinweise“ ist es, einen Beitrag zu liefern zu einer nutzerorientierten geschichtsdidaktischen Unterrichtsforschung. Die Arbeit will sowohl explorativ sein und also Einzelbeobachtungen möglichst genau festhalten und dadurch der Empirie neue Impulse verleihen, als auch nach vorfindbaren Regelmässigkeiten suchen, um allgemeingültige Aussagen zu machen. Beides soll die Geschichtsdidaktik anreichern und die Schulpraxis befruchten. Wenn das gelingt, hilft die vorliegende Arbeit zu gutem Geschichtsunterricht, den Geschichtsunterricht zu verbessern.

Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2008/2009 vom Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Kassel als Dissertation angenommen. Die Disputation fand am 9. Februar 2009 statt.

Zofingen/Kassel, im April 2009
Peter Gautschi

Vorwort des Herausgebers

Peter Gautschi trägt mit seiner Dissertation, wie er es zuvor bereits mit anderen Werken getan hat, Entscheidendes zur geschichtsdidaktischen Grundlagendiskussion bei und leistet damit einen substantiellen Beitrag zur Weiterentwicklung der deutschsprachigen Geschichtsdidaktik als wissenschaftlicher Disziplin der fachdidaktischen Tatsachenforschung.

Seit den 1970er Jahren hat sich die Geschichtsdidaktik von ihrem früheren Verständnis als Methodenlehre für den Geschichtsunterricht entfernt. Sie ist im Gefüge der Geschichtswissenschaft neben Geschichtsforschung und Historik diejenige Disziplin geworden, die sich mit Geschichtsbewusstsein als dem Zustand, der Funktion und der Veränderung historischer Vorstellungen im Denken und Lernen der Menschen beschäftigt. Aus dieser veränderten Ausrichtung resultieren auch neue Ansprüche unterrichtlicher Anstrengungen. Es geht nicht mehr darum, vorgegebene normative Anweisungen und vermeintlich unbezweifelbares fachliches Wissen abbildhaft möglichst effizient in die Köpfe der Lernenden zu transportieren. Vielmehr soll Geschichtslernen zugleich die mitgebrachten Vorstellungen der Lernenden berücksichtigen und die Ausdifferenzierung eines rationalen und humanen Geschichtsbewusstseins ermöglichen und befördern. All dies sollte nicht auf Spekulationen, sondern auf soliden empirischen Erkenntnissen beruhen.

Im Rückblick ist nicht zu übersehen, dass sich das Fach im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts zwar theoretisch erheblich erneuerte, jedoch kaum in unterrichtsmethodischer Hinsicht. Während sich eine ernstzunehmende Geschichtsdidaktik als akademische Disziplin etablierte, welcher freilich gelegentlich Theorieverliebtheit und Praxisferne vorgehalten wurden, mussten sich Vorhaben der Unterrichtspraxis weiterhin auf überwiegend biedere geschichtsmethodische Ratgeber beziehen. Diese orientierten sich oft an überkommenen und überholten didaktischen Voraussetzungen. Frische Ideen brachten neue praxisorientierte Fachzeitschriften und Anregungen aus der allgemeinen Didaktik. Die Übernahme solcher „Unterrichtsrezepte“ geschah aber oft unreflektiert und rein praxeologisch. Es ergab sich lange keine plausible Synthese, so dass noch 1999 das Fehlen einer adäquaten, systematisch und empirisch abgesicherten Geschichtsmethodik beklagt wurde.

Genau in diese Lücke der Verständigungsdefizite zwischen den oft komplexen und komplizierten Theorien der Geschichtsdidaktik und den Anforderungen der Praxis historischen Lehrens und Lernens traf im gleichen Jahr Peter Gautschis didaktisch-methodische Handreichung „Geschichte lehren“ mit einem fachdidaktisch begründeten Angebot fachspezifischer Lernwege und Lernsituationen. Diese zugleich theoretisch fundierte und auf praktische Umsetzbarkeit zielende Konzeption erhielt die Auszeichnung „Worlddidac Award 2000“ und wurde inzwischen in mehreren Auflagen zum Standardwerk in allen Phasen der Geschichtslehrerausbildung. Auf der dort entworfenen Grundlage beruhen auch Konzeption und Realisierung von Geschichtslehrwerken, an denen Peter Gautschi federführend beteiligt war und deren Innovationspotenzial über die Schweiz hinaus hohes Ansehen gewonnen hat.

In dem Maße, wie sich die Geschichtsdidaktik im Rahmen ihrer disziplinären Profilbildung weitere Betätigungsfelder erschließt, etwa die Beteiligung an den Diskussionen um Geschichtskultur oder an den Debatten um bildungspolitisch verordnete Standardisierung, droht der zentrale Gegenstand und elementare Bereich, der eigentliche Kern geschichtsdidaktischer Forschungsarbeit sozusagen auf ein Nebengleis zu geraten: die Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen. Angesichts dieser prekären Situation dürfte es kaum zu weit gegriffen sein, die vorliegende Arbeit wieder als Signal für eine entscheidende Weichenstellung zu bezeichnen. Denn Peter Gautschis Studie zeigt der Geschichtsdidaktik einen Weg zu einer Disziplin auf, die sich nicht um Deduktionen, sondern prinzipiell um die Beziehungen zwischen Theoriebildung und Praxis historischen Lernens in allen Formen und Stufen bemüht.

Der Blick auf den Geschichtsunterricht erfolgt hier nicht auf der Ebene der Postulate, Spekulationen und Wünschbarkeiten, sondern als empirische Erhebung und Analyse, als forschungsgestütztes Wissen über alltäglichen konkreten Geschichtsunterricht. Die Studie ist in den Strang empirischer Forschung einzuordnen, der innerhalb der letzten fünf Jahre in der deutschsprachigen Geschichtsdidaktik in größeren Kooperationsprojekten, Graduiertenkollegs, Fachtagungen, Monografien und Diskussionen in Fachzeitschriften einen deutlichen Aufschwung genommen hat. Peter Gautschis Arbeit wird als maßgeblicher und zugleich richtungweisender Beitrag im Rahmen einer empirisch-realistischen Wendung beachtet werden, die Heinrich Roth bereits 1955 für die geschichtsdidaktische Forschung eingefordert hatte. Die Diskussion ist auf allen Feldern zu erwarten, denen sich die einzelnen Kapitel der Studie widmen.

Zuerst und vor allem: Peter Gautschis Dissertation macht Lehrerinnen und Lehrern Mut. Es gibt guten Geschichtsunterricht, und guter Geschichtsunterricht ist unter realisierbaren Umständen möglich. Es gibt Schlüsselfaktoren, deren Beachtung es aufmerksamen Lehrpersonen ermöglicht, selbst guten Geschichtsunterricht zu erteilen. Gautschis Ergebnisse sind so ermutigend, weil sie Lehrkräfte bestärken, erreichbare Standards „guter“ Praxis anzustreben und sich nicht durch unerreichbare „Best-Practice“-Ansprüche demotivieren zu lassen.

Empirische Arbeiten haben es gewöhnlich an sich, vor allem auf Defizite hinzuweisen. Im Gegensatz dazu richtet Gautschi sein Augenmerk auf Gelungenes. Er fragt danach, ob es im Unterrichtsalltag Geschichtsstunden gibt, die aus den Perspektiven von Lernenden wie von Lehrenden und externen Expertinnen und Experten als „gut“ beurteilt werden, und ob die so identifizierten Stunden sich durch gemeinsame Merkmale oder Schlüsselfaktoren kennzeichnen lassen, die für andere Nutzer verallgemeinert werden können. Diese Fragestellung erscheint einfach, ist aber gerade deshalb besonders anspruchsvoll. In bester Tradition pädagogischer Tatsachenforschung nach der Art Hans Aeblis betreibt der Autor eine theoretisch fundierte und methodisch ausgefeilte Forschung. Sie greift Probleme der Praxis auf, um durch wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn zu ihrer praktischen Lösung beizutragen.

Allgemeindidaktik und Fachdidaktik können sinnvoll und fruchtbar aufeinander bezogen werden. Die Arbeit gibt einen Anstoß für die allgemeindidaktisch verbreitete, aber im Fach Geschichte noch rudimentäre Qualitätsdiskussion. Indem der Rahmen für „guten“ Geschichtsunterricht abgesteckt wird, entwickelt der Autor ein allgemein- und fachdidaktisch fundiertes Rahmenmodell für den Geschichtsunterricht, ein geschichtstheoretisch abgeleitetes neues Struktur- und Prozessmodell für historisches Lernen, ein darauf bezogenes Kompetenzmodell sowie ein Set von Gütekriterien für Unterrichtsbeobachtung und Beurteilung. Alle Instrumente dürften neue Anstöße für die Fachdiskussion bieten.

Wissenschaftliche Zusammenarbeit befördert individuell exzellente Forschung. Nur dank eines aufwändigen Kooperationsprojekts konnte der erstaunliche Datenbestand an videografierten Unterrichtslektionen samt zugehörigen Fragebögen von Lernenden und Lehrenden zu diesen Lektionen erhoben werden. Im Zentrum des methodisch vorbildlichen Vorgehens wird ein geradezu modellhaftes Forschungsdesign entfaltet. Im Rahmen dieses Arbeitsprogramms erarbeitet der Autor einen Ratingbogen, der wiederum hervorragend an die Items der Gütekriterien rückgebunden ist.

Lehr- und Lernprozesse, Lernergebnisse, Ursache- und Wirkungsmechanismen, experimentelle Intervention, Standorte und Denkweisen der Beteiligten sind unterschiedliche, sich wechselseitig bedingende Dimensionen eines komplexen Forschungsgegenstandes. Peter Gautschis Vorschlag zur Aufschlüsselung der Mehrdimensionalität durch pragmatisch differenzierende Forschungsrichtungen (Phänomen-, Ergebnis-, Wirkungs-, Interventionsforschung und Forschung zu historischem Denken und Lernen) dürfte sich als praktikables Instrument zur Gliederung der bislang noch vorfindlichen Unübersichtlichkeit empirischer Arbeiten in der Geschichtsdidaktik erweisen.

Mit der Triangulation wird in der deutschsprachigen Geschichtsdidaktik erstmals ein bisher lediglich geforderter Forschungszugang verwirklicht: die Kombination der Urteile verschiedener Beteiligter oder Beobachter aus unterschiedlichen Perspektiven. Das Verfahren ist beispielsweise in der Medizin und der Jurisprudenz längst gebräuchlich. Die Fachdiskussion wird sich angesichts deutlicher Ergebnisse zur empirischen Identifikation und Analyse gelungener Praxisfälle mit der Plausibilität dieses Vorgehens zu beschäftigen haben.

In der geschichtsdidaktischen Empirie kann es keine Ausschließlichkeit von quantitativen oder qualitativen Untersuchungen, von statistischen oder hermeneutischen Verfahren geben. Gerade die Zusammenschau ermöglicht es, gute Geschichtsstunden zu beschreiben und anhand der aus den Gütekriterien hergeleiteten Güteprofile valide zu beurteilen.

Die Bedeutung der Arbeit geht weit über ihren Beitrag zur nutzerorientierten Forschung über den Geschichtsunterricht als schulische Institution hinaus. Es ist durchaus zu erwarten, dass Peter Gautschis Prozess- und Strukturmodell, sein Kompetenzmodell und seine Gütekriterien sich auch in außerschulischen Formen des historischen Lernens als Kriterien zur Beobachtung, Bewertung und produktiven Konstruktion bewähren können. Von den abschließend skizzierten Forschungsvorschlägen haben wir noch eine Menge an vertieften und erweiterten Kenntnissen für die Disziplin zu erwarten.

Wetzlar, im April 2009
Ulrich Mayer