Aus dem Babylonischen übersetzt
und mit einem Nachwort versehen
von
Stefan M. Maul
Verlag C.H.Beck
Der Heidelberger Assyriologe Stefan M. Maul bietet auf der Grundlage von zum Teil noch unveröffentlichten Textzeugnissen eine vollständig neue Übersetzung des Gilgamesch-Epos. Der babylonische Originaltext ist so wortgetreu wie möglich wiedergegeben und zugleich in ein schönes, gut lesbares Deutsch übertragen. Das Epos erzählt die Geschichte des Königs Gilgamesch von Uruk, der seine Kräfte mit der ganzen Welt messen will, nach der Untersterblichkeit strebt und schließlich auf die Erkenntnis zurückgeworfen wird, daß auch für ihn das Leben endlich ist. Bis Gilgamesch bereit ist, diese Lehre anzunehmen, und erst dadurch die Fähigkeit erwirbt, ein guter Herrscher zu sein, muß er freilich zahllose Abenteuer bestehen. Das Gilgamesch-Epos ist so in mancherlei Hinsicht einem modernen Entwicklungsroman vergleichbar, der von den Wünschen und Hoffnungen, Gefühlen, Schwächen und Ängsten des Menschen handelt.
Stefan. M. Maul, Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, lehrt als Ordinarius für Assyriologie an der Universität Heidelberg. 1997 wurde er für seine Forschungsleistungen mit dem Leibnizpreis ausgezeichnet. Im Verlag C.H.Beck hat Stefan M. Maul eine Übersetzung des Gilgamesch-Epos mit einer ausführlichen Einleitung, einem Kommentar und zahlreichen Annotationen zu einzelnen Versen veröffentlicht: Das Gilgamesch-Epos (62014).
GILGAMESCH (lies: Gilgmesch), der König der Stadt Uruk (lies: Úruk), zu zwei Dritteln Gott, zu einem Drittel Mensch
ISCHTAR (lies: Íschtar), die Göttin der Liebe und des Krieges, die mächtige Stadtgöttin von Uruk, die König Gilgamesch über viele Umwege zur Einsicht bringt
ANUM (lies: num), der gemeinsam mit seiner göttlichen Tochter Ischtar in Uruk verehrte Himmelsgott
ENKIDU (lies: Enkdu), der von den Göttern erschaffene Freund und Gefährte des Gilgamesch
DER FALLENSTELLER, der Ahnherr aller Fallensteller, die in der Steppe wilde Tiere fangen
SCHAMCHAT (lies: Schámchat [ch wie in «ach»]), eine Dirne aus Uruk, die eine treue Dienerin der Liebesgöttin Ischtar ist
SCHAMASCH (lies: Schámasch), der Sonnengott, unter dessen besonderem Schutz Gilgamesch und Enkidu stehen
WILDKUH-NINSUN (lies: Ninsun) oder Wildkuh-Ninsunna (lies: Ninsùnna), die göttliche Mutter des Gilgamesch, die Träume deutet und in die Zukunft schauen kann
HUMBABA (lies: Humbba), der schreckenerregende Wächter des Zedernwaldes
DER HIMMELSSTIER, ein gewaltiger geflügelter menschenköpfiger Stier von ungeheurer Kraft, der Anum im Himmel zu Diensten steht, bis Ischtar sich seiner bedient
DER SKORPIONMENSCH, ein angsteinflößendes, vogelbeiniges Wesen mit einem menschlichen Oberkörper und dem Unterleib eines Skorpions, das am Ende der Welt den Zugang zur Bahn der Sonne bewacht
DIE FRAU DES SKORPIONMENSCHEN, die ihrem Mann aufmerksam zur Seite steht
SIDURI (lies: Sidri), eine tief verschleierte Göttin, in deren Gestalt Ischtar in der jenseitigen Welt ein Wirtshaus betreibt, um Gilgamesch den rechten Weg zu weisen
UR-SCHANABI (lies: Ur-schanbi), der Fährmann des Utanapischti
UTA-NAPISCHTI (lies: ta-napíschti), der babylonische Noah, der in seiner Arche die Weltenflut überlebt hatte und die Unsterblichkeit erlangte
DIE FRAU DES UTA-NAPISCHTI, die Gilgamesch mit sieben Broten um die Hoffnung auf ewiges Leben bringt
DIE SCHLANGE, die Gilgamesch den Weg zur Erkenntnis freimacht
Bei den zu Anfang jedes Kapitels stehenden Keilschriftzeichen handelt es sich um den Namenszug des Gilgamesch.
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Der, der die Tiefe sah, die Grundfeste des Landes, |
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vertraut sind ihm die Göttersitze allesamt. |
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Einen weiten Weg kam er her, um (zwar) müde doch (endlich) zur Ruhe gekommen zu sein. |
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Festgehalten auf einem Steinmonument ist all die Mühsal. |
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Sieh an dessen Mauer, die wie Kupfer glänzt! Besieh ihre Brustwehr, die niemand nachzubilden weiß! |
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Nimm doch die Treppe, die (dort) seit ewigen Zeiten! noch sonst ein anderer Mensch! |
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Steig doch hinauf, auf der Mauer von Uruk wandle umher! Die Fundamente beschaue, und das Ziegelwerk prüfe: |
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ob ihr Ziegelwerk nicht aus Backstein (besteht) ihre Grundmauern legten! |
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Eine (ganze) Quadratmeile ist Stadt, eine (ganze) Quadratmeile Gartenland, eine (ganze) Quadratmeile ist Aue, eine halbe Quadratmeile der Tempel der Ischtar. Drei Quadratmeilen und eine halbe, das ist Uruk, das sind die Maße! |
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Sieh doch nach der Tafelschatulle aus Zedernholz! |
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Löse ihre Schließen aus Bronze! So öffne den Deckel, der ihr Geheimnis (birgt)! Nimm doch heraus die Lapislazuli-Tafel, und lies |
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Alle Könige weit überragend, hochberühmt und von schönster Gestalt: |
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Der kühne Sproß Uruks, der stößige Stier, |
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Festes Ufer und Schirm seiner Truppen, |
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Stier Lugalbandas, Gilgamesch, vollkommen an Kraft, |
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Hochaufgewachsener Gilgamesch, vollkommen und ehrfurchtgebietend, der die Gebirgsdurchgänge erschloß, |
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der den Ozean, das weite Meer, überquerte bis hin zum Aufgang der Sonne, |
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der die Ufer (der Welt), nach dem Leben stets suchend, erforschte, der dank seiner Kraft Uta-napischti, den Fernen, erreichte, |
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der die Kultstätten, welche die Sintflut zerstörte, wiedererrichtete an ihrem Ort, der die Riten festsetzte für die umnebelten Menschen! |
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Wer ist denn der, der mit ihm sich an Königswürde messen und zu sagen vermag wie Gilgamesch: [könnte «Ich, ja, ich bin der König!»? – «Gilgamesch» ist er seit dem Tage, da er geboren, mit Namen genannt. Zwei Drittel an ihm sind Gott, doch sein (drittes) Drittel, das ist Mensch. |
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Das Bild seines Leibes entwarf Belet-ili, |
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Nudimmud vollendete meisterhaft seine Gestalt. Jener ist strotzend an Kraft und von strahlender Schönheit, |
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Zwei Ellen beträgt die Breite seiner Lenden. Sein Fuß mißt drei Ellen, eine halbe Rute sein Bein. Sechs Ellen sind seine Schultern breit, |
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Bartbewachsen seine Wangen, wie Lapislazuli schimmernd sein Bart, |
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seiner Haarmähne Locken sprießen so üppig hervor wie Nissaba selbst. Als er heranwuchs, ward er in seiner Lebensfülle vollkommen. |
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In der Hürde von Uruk wandelt jener umher. Er läßt seine Kräfte (dort) spüren wie ein Stier erhobenen |
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Nicht einen gibt es, der ihm gleichkommt, [Hauptes. und hocherhoben sind seine Waffen. Wegen des Spielballs stehen seine Gefährten bereit. |
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In finstere Stimmung verfallen die jungen Männer von Uruk, in der Lage, die (ihnen) nicht angemessen. Nicht läßt Gilgamesch den Sohn zu seinem Vater heraus. Bei Tag und bei Nacht bäumt er sich auf voller Grimm, |
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Gilgamesch, der König der zahllosen Menschen! |
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Er ist doch Hirte von Uruk, der Hürden(umhegten)! Nicht läßt Gilgamesch die Tochter zu ihrer Mutter heraus. Ihre Klagen erheben vor Ischtar die Frauen Monat für Monat. Ihre Beschwerde bringen sie immer wieder vor sie: |
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«Der starke, herrliche, kundige König, nicht läßt Gilgamesch die junge Frau zu ihrem Bräutigam.» Die Tochter des Kriegers, des jungen Manns Gattin, |
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Die Götter des Himmels, die Herren sind über Befehle, |
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rufen da zu Nunamnir: «Hast du den Stier, der sich aufbäumt, in Uruk, der Hürden(umhegten), hervorgebracht? Nicht einen gibt es, der ihm gleichkommt, und hocherhoben sind seine Waffen. |
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Wegen des Spielballs haben seine Gefährten bereitzustehen. In finstere Stimmung verfielen die jungen Männer von Uruk, in der Lage, die (ihnen) nicht angemessen. |
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Nicht läßt Gilgamesch den Sohn zu seinem Vater heraus. Bei Tag und bei Nacht bäumt er sich auf voller Grimm. |
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Er ist doch Hirte von Uruk, der Hürden(umhegten), Er ist ihr Hirte und (er) ist ihr Hüter. |
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Der starke, herrliche, kundige König, nicht läßt Gilgamesch die junge Frau zu ihrem Bräutigam.» |
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Die Tochter des Kriegers, des jungen Manns Gattin, Sie riefen Aruru, die Große, herbei: |
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«Du, Aruru, erschufest den Menschen. Jetzt aber erschaffe, so wie er es befiehlt! |
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Dem Sturm seines Herzens soll jener der Widerpart sein. Aneinander mögen sie sich messen, daß Uruk (so) zur Ruhe kommen kann!» Als Aruru dieses vernahm, |
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erschuf sie in ihrem Herzen Anums Befehl. |
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Dann wusch Aruru sich ihre Hände, kniff Ton ab und warf ihn (herab) in die Steppe. In der Steppe erschuf sie Enkidu, den Helden, den Spiößling der Stille, den Brocken Ninurtas. |
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Dicht behaart ist er an seinem ganzen Leibe, Seiner Haarmähne Locken sprießen so üppig hervor wie Nissaba selbst. Nicht sind ihm die Menschen und (nicht) das Kulturland bekannt. |
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Mit einem Gewande bekleidet wie Schakkan, |
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frißt mit Gazellen er Gras. Mit Herdentieren drängt er sich an der Wasserstelle, mit wilden Tieren labt er sich am Wasser. |
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Der Fallensteller, der Räuber-Mensch, trat ihm, ihm gegenüber, an der Wasserstelle entgegen. |
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Einen Tag, einen zweiten und einen dritten trat er ihm, ihm gegenüber, an der Wasserstelle entgegen. Es sah ihn der Fallensteller, und dessen Züge erstarrten. Jener aber und seine Herde – in sein Haus trat er ein. |
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(Der andere) jedoch geriet in Wut, er wurde ganz still und schwieg. Es ist dunkel sein Herz, sein Gesicht ist umwölkt, |
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es steckt Trübsal ihm im Leibe. Einem, der weite Wege gegangen, gleicht sein Gesicht. |
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Der Fallensteller öffnet seinen Mund und spricht, er sagt zu seinem Vater: «Mein Vater, da ist ein Bursche, der gegenüber an die Wasserstelle kam. Im Lande ist er der Stärkste, Kräfte hat er, |
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wie ein Brocken des Anum sind stark seine Kräfte. |
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Auf den Bergen wandert er den ganzen Tag umher. Beständig drängt mit Herdentieren er sich an der Wasserstelle. Beständig finden seine Füße sich gegenüber an der Ich aber bin so voller Angst, [Wasserstelle, daß ich mich ihm nicht nähern kann. |
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130 |
Zugeschüttet hat er die Gruben, die ich gegraben. Meine Fallen, die ich ausgelegt, hat er herausgerissen. Er ließ aus meiner Hand entkommen die Herde, die wilden Tiere der Steppe. Er gibt mich nicht frei für das Tun (in) der Steppe.» |
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Sein Vater öffnet seinen Mund und spricht, er sagt zu dem Fallensteller: |
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«Mein Sohn, ein Sproß aus dem Herzen Uruks, das ist Gilgamesch. Die Kurtisanen, die Freudenmädchen und die Dirnen, die sind bei ihm. Wie ein Brocken des Anum sind stark seine Kräfte. |
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Nimm den Weg, gen Uruk richte deinen Sinn! Um Enkidu zu bezwingen, bedarf es der Muskelkraft des Menschen nicht! |
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Geh, mein Sohn, mit dir führe Schamchat, die Dirne. Denn ihre Macht ist der eines mächtigen Mannes gleich. |
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Wenn die Herde eintrifft an der Wasserstelle, soll sie ihre Kleider von sich streifen und ihre Reize zeigen. Er wird sie sehen und sich ihr dann nähern. |
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Fremd wird ihm seine Herde (dann) sein, in deren Mitte er aufwuchs.» |
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Auf den Rat seines Vaters gab er acht, der Fallensteller ging davon, er begab sich auf die Reise. Er nahm den Weg, gen Uruk richtete er seinen Sinn. |
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Zu König Gilgamesch spricht er das Wort und sagt: |
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«Da ist ein Bursche, der gegenüber an die Wasserstelle kam. Im Lande ist er der Stärkste, Kräfte hat er, wie ein Brocken des Anum sind stark seine Kräfte. |
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Auf den Bergen wandert er den ganzen Tag umher. Beständig drängt mit Herdentieren er sich an der Wasserstelle. |
155 |
Beständig finden seine Füße sich gegenüber an der Ich aber bin so voller Angst, [Wasserstelle, daß ich mich ihm nicht nähern kann. |
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Zugeschüttet hat er die Gruben, die ich gegraben. Meine Fallen, die ich ausgelegt, hat er herausgerissen. Er ließ aus meiner Hand entkommen die Herde, die wilden Tiere der Steppe. |
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Er gibt mich nicht frei für das Tun (in) der Steppe.» |
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Gilgamesch sagt zu ihm, zum Fallensteller: «Geh, mein Fallensteller, mit dir führe Schamchat, die Dirne. |
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Doch wenn die Herde eintrifft an der Wasserstelle, |
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Er wird sie sehen und sich ihr dann nähern. Fremd wird ihm seine Herde (dann) sein, in deren Mitte er aufwuchs.» |
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Es ging der Fallensteller, mit sich führte er Schamchat, die Dirne, sie nahmen den Weg, sie begaben sich auf die Reise. Am dritten Tage erreichten sie das Ziel. |
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Da nahmen der Fallensteller und die Dirne an ihren Ausgucken Platz. |
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Einen Tag, einen zweiten Tag saßen sie gegenüber an der Wasserstelle. (Dann aber) kam die Herde heran, um zu trinken an der Wasserstelle. Es kamen heran die wilden Tiere, sie labten sich am Wasser. Und so auch er, Enkidu, dessen Herkunft die Berge sind. |
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Mit Gazellen frißt er Gras. Mit Herdentieren drängt er sich an der Wasserstelle, mit wilden Tieren labt er sich am Wasser. |
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Es sah ihn die Schamchat, ihn, den Ur-Menschen, den mörderischen Burschen aus dem Innersten der Steppe. |
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«Das ist er, Schamchat, entblöße deine Brust! Öffne deine Scham, auf daß er deine Reize nehme! Er wird dich sehen und sich dir dann nähern. |
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Breite deine Kleider aus, auf daß er auf dir liege. |
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Wirke an ihm, an ihm, dem Ur-Menschen, mit den Künsten des Weibes! |
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Seine Liebe wird dich umschmeicheln. Fremd wird ihm seine Herde (dann) sein, in deren Mitte er aufwuchs.» |
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Da löste Schamchat ihr Untergewand. Sie öffnete ihre Scham, und er nahm ihre Reize. |
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Nicht schreckte sie zurück, seinen Atem nahm sie hin. |
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Sie breitete ihre Kleider aus, und er lag dann auf ihr. Sie wirkte an ihm, an ihm, dem Ur-Menschen, mit den Seine Liebe umschmeichelte sie (da). [Künsten des Weibes. Sechs Tage und sieben Nächte stand Enkidu aufrecht und paarte sich mit Schamchat. |
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Als er sich an ihrer Lust gesättigt, wandte er sein Gesicht seiner Herde zu. Es sahen Enkidu und stürmten davon die Gazellen, |
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Beschmutzt hatte Enkidu seinen ganz reinen Körper, |
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still standen da seine Knie, die sonst gewohnt, mit der Herde zu laufen. |
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Geschwächt war da Enkidu, sein Laufen war nicht mehr so Doch (mit einem Male) besaß er Verstand, [wie zuvor. und tief war seine Einsicht. Er kehrte zurück und setzte sich nieder, der Dirne zu Füßen. Der Dirne sieht er ins Gesicht, |
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205 |
und was die Dirne spricht, vernehmen (auf einmal) seine Die Dirne sagt zu ihm, zu Enkidu: [Ohren. «Gut bist du, Enkidu. Du trittst wie ein Gott ins Sein. Warum nur läufst du mit den wilden Tieren in der Steppe |