Rich Schwab

Perlen vor die Schweine

– Der dritte Büb Klütsch-Roman –

FUEGO

 

– Über dieses Buch –

Eher nebenbei fällt im Prolog des zweiten Büb-Klütsch-Romans Eine Alte Dame Ging Hering dieser Satz über Kathrinchen, eine alte Freundin Bübs:

»Wir konnten alle drei noch nicht wissen, dass dies ihr letzter Sommer sein würde …«

»Ja, wie?«, beschwerten sich daraufhin etliche Leser, die Kathrinchen schon in Band Eins, Nie wieder Apfelkorn, ins Herz geschlossen hatten. »Was ist denn mit der passiert?!?«

Aufklärung tat not.

Und so kam es, dass Autor Rich Schwab seinen schönen Editionsplan über den Haufen werfen musste (elf Büb-Klütsch-Bände sollte es geben, in denen Bübs Abenteuer in Fünf-Jahres-Abständen in die Jetztzeit geschrieben werden sollten) – Nie wieder Apfelkorn spielte 1976, Eine Alte Dame Ging Hering spielte 1980, und Paaf!, Band Drei, sollte 1986 spielen. Wird er dann auch – aber um das Geheimnis um Kathrinchens Tod zu lüften, gibt es nun, nur wegen dieses einen unbedachten Satzes, stattdessen als Band Drei Perlen vor die Schweine, dessen Handlung zum Jahreswechsel 1980/81 spielen muss.

Büb glaubt nicht, wie Polizei und Staatsanwaltschaft, an einen Drogenunfall oder gar Selbstmord Kathrinchens – er ist sicher, dass sie ermordet wurde. Nur, warum und von wem? Zwischen Studioterminen und Auftritten macht Rockschlagzeuger Büb sich auf, um Antworten zu finden. Die Suche führt ihn durch etliche Kneipen und die Halb- bis Unterwelt im Kölner Friesenviertel und durch Junkie-Absteigen bis an die Küste Hollands – und die Lösung des Falls überrascht nicht nur ihn … und macht nicht mal ihn selbst glücklich …

 

»… kommt rauh und heiser in ruppiger Gangart daher wie ein Song von Van Morrison, nicht zimperlich, und doch schwingt Sehnsucht mit, Liebe, Romantik«, urteilte Elke Heidenreich nach der Lektüre von Nie wieder Apfelkorn, dem ersten Büb Klütsch-Roman, während Deutschlandfunk-Literaturredakteur Hajo Steinert den zweiten, Eine Alte Dame Ging Hering, »schärfer als die Songs von Tom Waits« fand (s. Pressestimmen).

Nicht die schlechteste Gesellschaft, findet der Autor. Und ist gespannt, mit wessen Songs man Perlen vor die Schweine, den dritten Band der Büb-Klütsch-Reihe, vergleichen wird.

Vorspann

Wen interessiert schon das Warum, nach so langer Zeit? Eine Katastrophe ist und bleibt eine Katastrophe; die dabei verletzt wurden, bleiben verletzt, die dabei getötet wurden, bleiben tot, die Träumer bleiben Träumer, und alles Reden über Ursachen geht am Wesentlichen vorbei.

Margaret Atwood

 

Shit happens.*

Mickey Rourke

 

Do määste nix draan. Hellja – dummer noch e Bier.*

Opa Klütsch

 

(In den Originalsprachen Kölsch und Englisch Geschriebenes ist zum großen Teil im Glossar auf Hochdeutsch zu finden – ein Asterisk im Text [*] fungiert als Link dorthin.)

 

1

Irgendwo da draußen

 

Es kommt von irgendwo da draußen. Ein murmelndes Rauschen, unterlegt von einem tiefen, unterirdisch anmutenden Grollen. Es rückt näher, steigt langsam an, baut sich auf, bis es sich fast überschlägt. Zieht durch die feuchten Schläfen, über die Stirn hinweg, während das Grollen mitten durch den Bauch rumpelt; dann beruhigt sich die Welle, verklingt, verschwindet. Fast ist das schmatzende, schlürfende Flüstern zu vernehmen, mit dem sich die mit feinem Schaum gesäumten Wellen vom Strand zurückziehen, widerwillig, mit dem gezischten, beinahe feindseligen Versprechen wiederzukommen. Fast ist das Trippeln der Sandläufer zu hören, die aus ihren winzigen Höhlen kommen – schnell etwas zu futtern ergattern, bevor die nächste Woge kommt! –, das Schleifen der Feuerquallenbäuche auf dem feinen Sand; da ist das Klatschen der Rückflut an den Felsen, das knirschende Aneinandermahlen glatt gewaschener Steine, ein Klicken und Klacken wie ein Ballett herrenloser Gebisse, darüber der ruhelose Flügelschlag und das ätzend spottende Krächzen der Möwen. Doch da kündigt sich schon die nächste Woge an, rollt herein, gleichzeitig beruhigend und bedrohlich, bringt einen Luftzug mit, einen Windhauch, der nach Salz zu schmecken scheint, nach Algen, Fisch und Teer, nach Afrika, nach Schweißperlen und Kokospalmen.

Schweiß stimmt. Teer auch. Aber es ist nur die Brandung der Bonner Straße, morgens um halb sechs, und ihr Rhythmus wird gestört von Polizeisirenen, dem Laster mit Schokoladenweihnachtsmännern und Überraschungseiern, der drüben vor dem Stüssgen-Markt rangiert, und der rollenden Disco von Bergmann’s Theo, der wegen seines obligaten Katers mal wieder nicht in die Gänge kommt mit seinem Transit voller Sesam-, Mohn- und Rosinenbrötchen, ohne dass ihm Tony Marshalls Schöne Maid mit dreihundert Watt auf die Sprünge hilft; und der Schweiß ist der eigene, muffig, fischig, mit den Bierresten von dem Besäufnis von vorgestern und der Schärfe der Albträume einer ersten Entzugsnacht – in Sauer liegen, wie die Friesen es so passend nennen.

Es braucht eine halbe Ewigkeit, zu beschließen, ruhig mal aufstehen zu können und herauszufinden, welche Tageszeit es ist. Ob überhaupt schon Tag ist. Oder noch? Endlich aufzustehen, zum Fenster zu gehen und den Vorhang beiseite zu schieben. Orchideen. Blassviolett und königsblau, purpurn und sonnenuntergangsorange auf Gauguin-grünem Untergrund. Früher mal. Jetzt sind sie alle bräunlich verschleiert von dem Nikotinfilm, der die ganze Zwei-Zimmer-Bude bedeckt, dass sie bei jedem Licht aussieht wie ein Foto aus den Tagen, als James Marshal den ersten Klumpen Gold an Augustus Sutters Mühle fand, 1848. Zum wiederholten Mal der Versuch sich vorzustellen, wie es damals hier ausgesehen haben mochte – da gegenüber sich nicht hundert Meter Schaufenster mit Badewannen, blitzenden Armaturen und Klosettbecken, sondern Weingärten, Obstbäume, Felder mit Kopfsalat, Kartoffeln und Steckrüben erstreckten. Ein Trüppchen Mönche vom Severinskloster und Nonnen vom Kartäuserhof, das müde hinter einem Eselskarren her schlurft, begleitet von zwei, drei mageren, alle paar Schritte mit Flöhen kämpfenden Kötern und von einem widerwillig mehr gebrummten als gesungenen, schlaftrunkenen Lobet den Herrn. Aber vielleicht sind sie auch ein bisschen fröhlicher und singen, in sicherem Abstand von Zelle, Abt und Gott:

 

Ein Leben wie im Paradies

Gewährt uns Vater Rhein

Ich geb’ es zu: Ein Kuss ist süß

Doch süßer ist der Wein

Die Erde wär’ ein Jammertal

Voll Grillensang und Gicht

Wüchs’ uns zur Lind’rung unsrer Qual

Der edle Rheinwein nicht …

 

Einer der Mönche tritt gegen ein Apfelbäumchen, die Nonnen springen hinzu und sammeln die heruntergefallenen Früchte ein, und bevor sie alle an die mühselige Feldarbeit gehen, setzen sie sich in den Schatten des Karrens, albern ein bisschen herum und kauen schmatzend ihr Frühstück. Dann und wann wirft vielleicht mal einer eine Apfelkitsche in eine fremde Kutte, wo sie dann unter Gekicher und Gequietsche vier- oder gar sechshändig wieder hervorgekramt werden muss, und von drüben, von der anderen Rheinseite taucht die aufgehende Sonne den Apfelgarten in goldenes Licht. Und, weiter im Norden, den seit bald vierhundert Jahren halb fertigen Dom.

Was wissen die denn schon, dass bald hundertfünfzig Jahre später jemand den Saft aus ihren Äpfeln mit Korn, Rum und Cointreau mischen und davon mindestens viermal die Woche so besoffen sein wird, dass er nicht mehr weiß, wie er vorgestern nach Hause gekommen ist? Und dass er, weil es gestern keinen Apfelkorn, überhaupt keinen Alkohol gab, sich die ganze Nacht in verschwitzten Laken hin und her wälzen musste, in einem taumeligen Auf und Ab von Albträumen und Zukunftsängsten, verworrenen Erinnerungen an andere, schönere Nächte und noch verworreneren Plänen für ein möglichst besseres Morgen?

 

Ach du Scheiße – morgen! Morgen wird natürlich ein besserer Tag sein, schließlich ist morgen Heiligabend! Weihnachten neunzehnhundertachtzig. Weihnachten! Das Fest der Freude und der Liebe! Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen! Ihr Kinderlein kommet und süßer die Glocken!

Scheiße.

Ich drehte mir eine Kippe und beschloss, endlich mit dem Rauchen aufzuhören. Vielleicht nicht direkt nach dieser hier – aber vielleicht, wenn das Päckchen alle war. Oder die beiden anderen, die – für alle Fälle – in dem Köcher mit den Schlagzeugstöcken steckten. Oder jedenfalls spätestens dann, wenn ich herausgefunden hatte, wer dafür verantwortlich war, dass Kathrinchen mit eingeschlagenem Jochbein, zwei fehlenden Zähnen, ein paar Brandwunden, einem gebrochenen Arm, drei gebrochenen Rippen und hässlichen Rissen an den Schamlippen im Klösterchen gelandet ist. In dem gekühlten Raum im zweiten Kellergeschoss, mausetot.

2

Kathrinchen amüsiert sich

 

Während ich mich mal wieder bemüht hatte, mir die Berufsbezeichnung Schlagzeuger und ein paar Brötchen zu verdienen – zur Abwechslung sogar erfolgreich –, hatte sie wohl mit irgendjemandem ihre zynischen Sado-Maso-Spielchen zu weit getrieben. Zig-mal hatte ich sie gewarnt, dass eines Tages einem ihrer Eisenfressen die Sicherung rausspringen würde, aber sie schleppte immer wieder neue von der Sorte an – Porsche- und Goldwing-Fahrer in unnötig teuren Klamotten, mit überflüssigen Hemdenknöpfen und zu viel Goldschmuck, mit Tätowierungen von Adlern, Tigern und Totenköpfen überall, einer härter als der andere. Alle sahen sie aus wie eine Mischung aus Zuhälter und Fremdenlegionär, auch wenn sie Anwalt, Bauunternehmer oder Diskobesitzer waren, und sogar dann, wenn sie Zuhälter oder Fremdenlegionär waren; und alle griffen sie sich öfter an den Sack als ich nach meinen Kippen. Sie redeten zu laut und warfen zu lässig mit ihrem Geld um sich, sie tranken zu viel aus den Flaschen, die in einer anständigen Kneipe immer ganz oben im Regal stehen, und zu oft kamen sie vom Klo mit einem frischen, nervösen Glitzern in den Augen, ständig die Nase hochziehend, als hätte jemand Niespulver über die Theke geblasen, und erhöhten Pegel und Tempo ihrer dummen Sprücheklopferei.

Und Kathrinchen amüsierte sich königlich, zog spöttisch ihre linke Augenbraue hoch und den rechten Mundwinkel nach unten und erzählte ihnen, was für aufgeblasene Wichser sie doch seien und wie wenig ihre Hahnenkampfspielchen sie beeindrucken könnten, schließlich sei sie kein Huhn; und dass sie’s trotzdem versuchten, zeige doch erst recht und deutlich, wie doof sie seien; die einzige Hoffnung, die sie habe, sei, dass das alte Sprichwort stimme, wonach Dumm gut ficke – aber mit einem Kerl ficken, der sie nicht mal unter den Tisch saufen könne? Haha, da würde sie sich doch lieber auf den Kopf stellen und sich selbst bepinkeln! Und die Arschgeigen starrten auf ihre Titten und ihren Hintern, versuchten sich das Bild vorzustellen, packten sich an die schon nicht mehr so weichen Weichteile und beeilten sich, noch mehr von ihrer Whiskey-Cola-Panscherei zu bestellen und diesem Prachtweib da einen weiteren Kabänes auf Eis. Und egal, wie viele davon sich vor ihr auf der Theke aufreihten, sie kippte sie ungerührt der Reihe nach weg, und niemand merkte ihr irgendwas an, außer dass vielleicht ihre Pupillen ein wenig größer und dunkler wurden, ihr Gang zur Musikbox eine Stufe aufreizender und ihre Stimme einen Hauch ätzender.

»Der Büb hier! Dat is’ doch der einzige Typ, der wat taugt in dem Laden hier, ihr Luschen!«, goss sie Öl ins Feuer und küsste mich mit gespieltem Stolz auf den Adamsapfel, was insofern gut war, dass keiner mitkriegte, wie heftig ich schlucken musste, denn die Blicke, mit denen die Jungs mich betrachteten, als hätten sie mit ihren handgenähten Slippern in einen Hundehaufen getreten, ließen mich zum x-ten Mal verfluchen, dass ich mich wieder mal auf eine Verabredung mit ihr eingelassen hatte – oder zumindest, dass ich zu dieser Verabredung schon wieder ohne so was wie ’ne abgesägte Schrotflinte gekommen war.

Aber warum auch immer, sie ließen mich leben, nahmen mich hin, wie sie einen Silberpudel an Kathrinchens Seite, einen Papagei auf ihrer Schulter oder ein Töchterchen an ihrer Hand hingenommen hätten – ich war eben Kathrinchens Liebling, ihr bunt schillernder Wellensittich mit seinen langen Haaren, der kaputten Lederjacke, den mit Gaffa-Tape geflickten Hosen und den selbstgedrehten Zigaretten. Sie tätschelten mir freundlich-herablassend die Schulter, gerade noch so vorsichtig, dass es als freundschaftlich durchgehen, aber hart genug, dass es auch als Warnung verstanden werden konnte, und ich tat wie immer so, als würde ich davon nichts merken. Ich grinste nur blöde und machte Witze über die Mucke, die gerade aus der Musikbox plärrte, oder über Belziger, der endlich einen lokalen Hit mit seinem Lied vom Schwarzfahren hatte, oder über Lokalhelden wie den Klautze, der es mal wieder geschafft hatte, die Trööt zu verarschen* – er hatte gewettet, dass der es nie im Leben schaffen würde, hundertmal um den Gerling-Konzern herumzulaufen. Klar hatte die Trööt dagegen gehalten, das konnte er als gefürchteter Türsteher natürlich nicht auf sich sitzen lassen, und war bald zwei Stunden lang um das riesige Karree im Friesenviertel herum gerannt, hundertmal an den feixenden und Piccolo saufenden Claqueuren Klautzes vorbei, bis er sich kurz vor einem Kreislaufkollaps, aber unter Triumphgeheul den Wetteinsatz abgeholt – einen läppischen Hunni – und vier Flaschen Wasser in sich hinein gekippt hatte. Der Kollaps kam erst eine Flasche Escorial später. Beliebt war auch mein Geläster über den FC, der doch tatsächlich erst Hennes Weisweiler zu Cosmos New York hatte ziehen lassen (»Unsere Zusammenarbeit war zum Schluss nicht mehr sinnvoll.«), um sich dann den Fußball-Dozenten Heddergott in den Pelz zu setzen. Der wiederum kriegte sich gleich mal mit Jungstar Bernd Schuster in die langen Haare und verscherbelte den für Dreikommasechs Millionen nach Barcelona, wofür er dann prompt zwei Monate später die Kündigung kassierte.

Oder die lustige Geschichte von Ikonen-Jupp, der neulich nach einem ausgiebigen und Mut machenden Frühschoppen am hellichten Sonntagnachmittag in Kölns größtes Auktionshaus eingestiegen war. Ganz der Profi, für den er sich hielt, hatte er das komplette ausgeklügelte Alarmsystem überlistet und sorgfältig für eine halbe Million antike Kostbarkeiten in die mitgebrachte Reisetasche gepackt. Außerdem hatte er noch einen Flachmann voll Asbach und ein Transistorradio dabei. Also setzte er sich erst mal zum Ausruhen in einen Biedermeier-Sessel in einem der Schaufenster, genehmigte sich ein paar Schlückchen und schaltete sein Radio ein, um mal zu hören, was ihm sein Wetteinsatz beim Großen Preis von Baden-Baden einbringen würde.

Leider berichtete vor dem Start des Rennens der große Adi Furler vom Dressurreiten in Salzburg. Erst der Mann vom Wachdienst, der abends seine Runde drehte, bekam Zweifel, ob ein schnarchender Mann in einem übergroßen Hawaiihemd mit einem plärrenden Radio im Arm ein passendes Exponat für die exklusive Montagsversteigerung sei.

Auch mein Repertoire an Anekdoten von irgendwelchen Rockgrößen, die mir hinter der Bühne irgendwelcher Festivals über den Weg gelaufen waren, beeindruckte, immerhin, die Bumsköppe ein bisschen – zu hören, wie viel Schnaps in Joe Cockers Fanta-Dosen passte, wie Chuck Berry es mal wieder geschafft hatte, seine Gage noch mal in die Höhe zu pokern, während draußen schon Sechzigtausend Go, Johnny, Go! brüllten; oder wie der Berufscholeriker Conny Becker dem Berufskotzbrocken Gröhlemüller eine eingeschenkt hatte, weil der ihm für sechshundert Ocken Koks vom Tisch gepustet hatte. Oder wie der Bassist der Schroeder Roadshow eines Morgens um halb fünf mit den Worten »Ihr könnt mich mal! Ich fahr’ jetzt in die Kellerbar!« in voller Ledermontur in die Duschkabine seines Hotelzimmers gestiegen war und die Dusche aufgedreht hatte, Gimme the beat, boys, free my soul, I wanna get lost in your rock’n’roll singend*. Und nachdem er danach ’ne Weile klatschnass und besoffen kichernd in seinem Bett gelegen hatte, war er mit einem Schraubenzieher auf den Flur gegangen und mit der Tür des Aufzugs ins Zimmer zurückgekommen, weil ihm dessen Quietschen und Klappern auf die Nerven ging. Na ja, Rock’n’Roll eben …

 

Die meisten dieser Geschichten waren erfunden oder zumindest übertrieben, aber so fühlte ich mich ein wenig besser als ein Papagei auf Kathrinchens schöner Schulter. Die Arschgeigen versuchten amüsiert, mich abzufüllen mit ihrer Kentucky-Plörre, aber ich blieb stur und brav bei meinem Gedeck aus Kölsch und Apfelkorn, denn damit kriegten sie mich so schnell nicht platt, und manchmal landete man dann noch zu dritt in Kathrinchens Apartment am Beethoven-Park, und ich lag auf der edlen grauen Ledercouch und hörte mir Thomas Rapp und seine Pearls Before Swine an, ihre Lieblingsband, besonders beim Sex, während ihr nebenan ein von weißen Pülverchen und ihren Lästereien angestachelter Hengst das Nähmaschinchen machte. Es machte sie an, zu wissen, dass ich zuhörte, und noch mehr, wenn ich dann zwischendurch mal in ihrer Schlafzimmertür stand und sie mir über muskulöse, schweißnasse Schultern hinweg in die Augen sehen konnte, bis es ihr kam und sie schrie und jodelte und lange, blutige Striemen in den Rücken über ihr furchte. Koksgerammel kann sich hinziehen, und meistens schlief ich irgendwann ein auf der Couch, eingelullt von ihrem Stöhnen, während Thomas Rapp lispelte:

 

She says love will get you

Through times of no sex

Better than sex will get you

Through times of no love …*

 

Da hatte Kathrinchen wohl was nicht richtig verstanden.

Und als letzter Gedanke ging mir oft genug durch den Kopf: Eines Tages wird dich noch mal einer totrammeln, du dusselige Blumenkuh!

Selbst der miesepetrigste Pessimist ist ja ein unverbesserlicher Optimist insofern, als er immer wieder voller Hoffnung ist, dass seine ewigen Unkereien in Erfüllung gehen.

Und leider, leider sollte auch ich recht behalten.

Aber welches von den Arschgesichtern da draußen war da so dermaßen ausgerastet?

3

But people are not singers ...

 

Koomm, Fritzi, kooomm!« Der Kanarienvogel legte das Köpfchen auf die Seite, wich auf seine Schaukel aus, seine Äuglein zuckten hin und her. Aber das Salatblatt, das der Junge ihm durch die offene Klappe in den Käfig hielt, war zu verlockend. Er trippelte näher, hackte danach, eroberte sich ein Häppchen Vorgeschmack. Das Blatt klemmte zwischen zwei Fingern der kleinen Hand, also kletterte der Vogel, zutraulich geworden, auf die Handfläche, begann ausführlicher zu knabbern. Dann schloss sich die Hand um den zarten Körper, wand sich durch die Klappe nach draußen. Eine zweite Hand wölbte sich um die erste, ließ eine enge Öffnung zwischen den beiden Daumen, aus dem sich neugierig, verunsichert, Fritzis Kopf reckte. Von nebenan, aus der Küche, klang quäkend das kleine alte Vorkriegsradio der Großmutter. Eine Akkordeon-Polka, begleitet vom sphärischen Pfeifen und Rauschen des fernen deutschen Senders.

»Guck mal, Olga, was ich hier hab’!« Vorsichtig ging der Junge zum Nachbarkäfig.

»Ngrröök!«, machte der Rabe darin und hüpfte aufgeregt in seinem Sand herum. »Yahiiieeek!«

Langsam näherte der Junge seine Hände dem Rabengitter. Und zuckte sofort wieder zurück – im Nu hatte der Rabe zwischen den Stäben hindurch in Richtung des Kanarienvogelkopfs gehackt, aber den Daumen des Jungen getroffen. Fast hätte der vor Schmerz seine Hände geöffnet, den ängstlich tschilpenden Gelben fliegen lassen. Aber er hielt ihn mit der Rechten fest und öffnete mit der Linken, von der bereits dicke Blutperlen tropften, das Türchen zum Rabenkäfig. Knallte es noch einmal heftig zu, als der Rabe Anstalten machte, sich nach draußen zu drängen, was diesen bewog, sich an die Käfigrückwand zurückzuziehen, bösartig blinzelnd.

Schnell schob der Junge seine rechte Faust durch das Türchen und ließ Fritzi los. Klappte das Türchen zu, hakte es ein. Tat einen Schritt zurück. Beobachtete mit glänzenden Augen, was geschah.

Zwei, drei lange Sekunden herrschte Stille. Im Käfig zumindest – nebenan sang Marika Rökk die Julischka aus Buda-Budapest.

Dann reckte der Rabe seinen Kopf vor, öffnete halb den Schnabel, machte spöttisch »Krreek!« Der Kanarienvogel flatterte hoch, stieß an das Käfigdach, verlor zwei Schwanzfedern, die wiegend zu Boden schwebten und in dem schmutzigen, verkoteten Sand liegenblieben. Der Rabe breitete seine Flügel aus, plusterte sich auf. Der Kleinere stieß ein hohes Kreischen aus, drei Oktaven über Marika Rökk, wollte zur Seite ausweichen, davonfliegen, prallte an die Seitengitter des Käfigs, noch einmal und noch einmal, immer hektischer und verzweifelter. Beim vierten Mal brach er sich einen Flügel, landete auf dem Boden. Schlich, versuchte, hinter das Wasserbecken des Raben zu schleichen, aber da war der schon von seiner Stange herabgesprungen. Mit einem triumphierenden »Jägägäck!« schlug er eine seiner Krallen in den Rücken des Kanarienvogels, zerrte ihn halb in die Höhe und hieb ihm die Spitze seines Schnabels ins Genick. Der Kanare fiepte in den höchsten Tönen, noch lauter. Erschrocken fuhr der Kopf des Jungen zur Küchenwand herum. Die ungarischen Geigen jubilierten im Schlussfortissimo, molto presto. Keine Gefahr.

Im Käfig riss der Rabe dem Gelben gerade den gebrochenen Flügel aus. Noch ein letztes Mal gelang es dem, sich loszureißen, unter dem Bauch des Raben hindurch zu schlüpfen, teils hüpfend, teils mit dem heilen Flügel flatternd, teils purzelnd bis in die Mitte des Käfigbodens zu gelangen. Dann wirbelte ihn der Schlag eines Rabenflügels herum, eine Kralle riss drei tiefe Furchen in seine Brust, aus der sogleich eine bräunliche Masse quoll, ein Schnabelhieb hackte ein schmatzendes Loch in seinen weiß geflaumten Hals.

»Grrraack!«, schrie der Rabe und knackte mit einem weiteren Schnabelhieb die Hirnschale seines Opfers, zerfetzte mit einer Kralle den heil gebliebenen Flügel, dass die gelben Federn nur so umher stoben.

Fasziniert stand der Junge daneben, Speichel tropfte aus seinen Mundwinkeln, unverwandt beobachtete er das grausame Schauspiel, Fritzis zerrissenen Körper, den mit Blut und Eingeweiden verschmierten Schnabel des Raben, dessen gierig zitterndes Hinterteil.

»Na, Olga«, flüsterte er. Einen Moment drehte der Rabe sich ihm zu, betrachtete ihn mit schräg gelegtem Kopf, beäugte nachdenklich, wie der Junge an seinem blutenden Daumen leckte, fiebrige rote Flecken im Gesicht. Aus der Küche erklang die süßliche Ouvertüre der Blume von Hawaii.

4

Rabotti

 

Mann, hatte ich eine Woche hinter mir! Beim Pinkeln wäre ich fast vornüber gekippt. Meine Zunge schmeckte, als hätte ich die halbe Nacht am Abflussrohr eines Brauhauses geleckt. Und wahrscheinlich auch an dem bröckligen Mörtel drum herum – mein Gaumen war trocken wie Tante Friedas Sandkuchen. Nach einem ordentlichen Schwall kaltem Wasser fühlte es sich ein bisschen besser an, aber an dem Geschmack änderte das auch nichts.

Ich beguckte mir ein Weilchen das Gesicht in meinem Spiegel. Wir sahen aus wie ein und derselbe Typ, aber das waren wir auf keinen Fall. Beschlossen wir eben Kumpels zu werden und putzten uns gemeinsam die Zähne.

Was für ’ne beschissene Woche!, knurrte er blubbernd und schüttelte angeekelt den Kopf.

Autsch! Nich’ so heftig!, erwiderte ich mit Schaum vorm Mund. Musste ihm freilich recht geben und versuchte, die letzten Tage zu rekapitulieren. Einfach kapitulieren, ohne Kontra, ohne Re, wär’ auch nich’ schlecht, dachte ich. Einfach wieder in die Kiste hauen, Decke über’n Kopp, Augen und Ohren zu, und warten, bis mehr als nur sechzig Prozent von einem meinen, wieder in die Gänge kommen zu müssen, es wagen zu können, sich der gierig quengelnden Welt da draußen zu stellen.

Wider besseres Wissen – war ja nicht der erste Versuch gewesen –, aber eben auch, weil ich, pleite wie lange nicht mehr, kaum eine Wahl hatte, war ich vorletztes Wochenende mit einer Snare, einem Bündel Knüppel und einem Satz eigener Becken im Gepäck nach Hinderup gereist – nach drei Stunden Zugfahrt Umsteigen in Osnabrück, eine halbe Stunde Bummelzug, in Espelkamp fast eine Stunde Warten auf einen Überlandbus, der mich nach einer weiteren halben Stunde in Brödershof hatte stehen lassen, von wo ich dann aus einer Telefonzelle Bescheid geben konnte, damit mich jemand abholen käme.

Ich war’s ja nun wirklich gewohnt, über Land zu gurken, vor allem in Gefährten, die stinken, schaukeln und nicht gerade flott vorankommen, und auch auf dieser Fahrt hätte man schön seinen alten Ross McDonald lesen und sich mit Lew Archer amüsieren können, zwischendurch vielleicht ein bisschen Leute und Landschaft gucken – immerhin war die Deutsche Märchenstraße nicht weit – oder einfach nur vor sich hin dösen und über das komische Leben meditieren …

Aber apropos Leute und komisches Leben – oder auch umgekehrt – leider stand da auf dem, was in Espelkamp als Marktplatz durchging, an der Bushaltestelle dieser Freak. Rabotti hatte ihm eine fürsorgliche Freundin in fettem Knatschrosa auf eine dunkelblaue Wollmütze gestickt. Karottenhosen an spindeldürren Beinen, aber schwere Malocherstiefel, ungefähr drei T-Shirts übereinander, das oberste eins von, ausgerechnet, Grobschnitt, und eine verwaschen grüne bayrische Trachtenjacke, von oben bis unten vollgepappt mit bunten Buttons à la Ich war bei Pink Pop!, Rock gegen Rechts, Legalize It! und so weiter. Das Beste war noch Atomkraft? Nein danke!, woraus jemand mit lila Filzstift Schwerkraft? Nein danke! gemacht hatte. Zwischen den Stiefeln klemmte eine verschlissene braune Aktentasche.

»Ey – ich kenn’ dich irgendwo her, Ollen«, sprach er mich an. Es gibt so Typen, da weißt du gleich, wenn du auch nur »Tach« sagst, hast du sie an der Backe. Also guckte ich bloß und zuckte mit einer Schulter. »Echt, ey! Ich hab’ dich iiir-gend-wo …«

Er zog ein Päckchen Drum aus einer Jackentasche. Diese Typen rauchen immer Drum. »’ne Kippe, Ollen?« Ich holte ein Päckchen von meinem eigenen Vorrat raus, hielt es hoch und schüttelte bedauernd den Kopf. Fehler. »Ey, wow! Is’ dat denn? Türkenkost, ha ha! Kann ich ma’ probier’n, ey?«

Diese Typen wollen immer probieren. Ich öffnete die Packung und hielt sie ihm unter die Nase. Innerlich soufflierte ich ihm seinen nächsten Satz – Oh, is’ ja blonder, nee danke.

»Ach so – is’ so’n Blonder, ey. Nö, lass ma’«, sagte er. Er kramte in seinem zerknüllten Scheiß-Drum herum, und ich kannte auch schon seine nächste Zeile. Kam prompt. »Au! Haste ma’n Paper, ey?«

Diese Typen haben nie genug Blättchen. Drehen sich viermal am Tag dreiblättrige Joints, aber es kommt ihnen im Leben nicht in die bekiffte Birne, dass auf die Art die Blättchen womöglich nicht so lange halten wie der Tabak. Dafür ha’m sie ja immer Typen wie mich. Ich ging ja nicht mal zum Brötchenholen ohne ein zweites Päckchen Tabak und drei Extraheftchen Zigarettenpapier in der Tasche. Und zwei Feuerzeuge natürlich.

»Spießer!«, hatte Kathrinchen mich deswegen mal genannt. »Immer auf Nummer Sicher, wa’?«

»Du weißt nie, wo du landest«, hatte ich ihr erklärt, »und wann du von da wieder zurückkommst.«

»Klar«, schnaubte sie, »Clint Eastwood und du …« Das ließ ich dann einfach mal so stehen.

Für Rabotti hatte ich auch gleich noch mehr Gesprächsstoff – als ich ihm eins von meinen braunen Maisblättchen rauspulte.

»Boah, ey! Geil, Ollen! Haste’n die her?« Ich nickte Richtung Friesenplatz. »Ah«, meinte er.

Also drehten wir uns jeder eine. Kein Feuer oder ein Zippo, wettete ich mit mir selbst. Und wenn Zippo, dann irgendwelche albernen Kunststückchen damit. Verloren. Es waren Streichhölzer. Aber immerhin keine stinknormalen, sondern Kunststückchen-geeignete – seins rieb er lässig an einem besonders großen Button an, mit einem Foto von Jane Fonda als Barbarella drauf. Make Love Not War!, forderte sie mich per Sprechblase auf, das von Henry geerbte Nussknackerkinn grimmig zu einer Art Lächeln verrenkend, ihre Augen so liebevoll wie ein Stück Schmirgelpapier. Ich dachte einen Augenblick darüber nach. Aber den alten Witz mit dem Kasten Bier auf’m Gesicht hatte ich noch nie so wahnsinnig komisch gefunden. Zugegeben, Jane – immer noch besser als Krieg … Aber mit Jane Asher zum Beispiel würde mir die Friedensbewegung doch ein bisschen mehr Spaß machen. Sorry.

»Irgendwoher kenn’ ich dich, Ollen, weiß ich ganz genau.« Natürlich gab er so schnell nicht auf. Na ja, jetzt rauchten wir schon zusammen, konnte ich auch mit ihm reden.

»Tatsächlich«, sagte ich also und hockte mich auf mein hölzernes Snare-Flightcase mit den typischen Aluleisten und Flügelschrauben. Dachte darüber nach, was aus Jane Asher wohl geworden sein mochte. Guckte auf dem menschenleeren, nassen Platz herum. Zählte sieben Häufchen schmutzig-graue Schneereste. Bewunderte den Dorf-Weihnachtsbaum, ein windschiefes Wrack mit neun elektrischen Kerzen, drei davon kaputt, und einer rot-weißen Stoffgirlande, das zwei Tage nach dem ersten Advent schon aussah, als säßen die Heiligen Drei Könige bereits seit vier Wochen wieder am Strand vom Roten Meer. Und im Stillen verfasste ich einen Leserbrief an den Espelkamper Landboten, ein geharnischtes Protestschreiben gegen Gustav Schnöken & Sohn, die ihre Marktschänke laut Aushang »mittag bis zwei, abend 17 bis 22 Uhr« geöffnet hatten. Jetzt war es viertel vor zwei, und das schiefe schwarze Rollgitter vor der Eingangstür war bereits unten. Falls es heute überhaupt schon mal oben gewesen war. Auf der anderen Seite des Platzes duckte sich eine dunkelrote Backsteinkirche unter dem bleigrauen flachen Himmel, hinter bunten Fensterchen schien Kerzenlicht zu flackern. Da war jetzt, zur Adventszeit, wohl mehr los als bei Gustav. Aber vielleicht war Gustav ja auch gleichzeitig der Pfarrer der Gemeinde – Seelsorger ist Seelsorger.

»Ich wette, du bist Musiker, ey«, näherte mein neuer Kumpel sich dem Jackpot. Ich starrte auf die Kiste unter mir, den runden Koffer neben mir, mit meinen Becken drin und all den Aufklebern auf dem verschrammten Deckel – Guru Guru, Checkpoint Charlie, Eiliff und Embryo. Penner’s Radio …

»Nah dran.« Den Witz hatte er auch schon mal gehört. Er warf seine langen, verfilzten blonden Locken aus dem Gesicht und wieherte.

»Schlagzeuger! Jau, Mann!« Er blies beide Backen auf, schob die Lippen vor und trommelte beidarmig in der Luft herum. »Dudu duduff duduff duffuff …« Irgendwas zwischen You Really Got Me und ’nem kleinen Jungen mit ’ner Märklin-Eisenbahn. Aus seiner Kippe sprühten Funken und aus seinem Mund Speichelbläschen zwischen einem Schwall Atemwölkchen. Jau, Mann.

Mir war kalt. Ich hatte Hunger. Und Durst. Vor allem Durst. Oder wie Opa Klütsch immer zu sagen pflegte: Mir es et esu kalt, datt isch vür louter Hunger nimmieh weiß, wat für ’nen Doosch isch han – esu mööd ben isch* … Und der nächste Bus kam laut Fahrplan, soweit man das zwischen all dem Geli liebt Jens-Gekrakel lesen konnte, um halb drei. Rock’n’Roll, I gave you all the best years of my life*, knödelte Kevin Johnson in meinem Hinterkopf.

Um es kurz zu fassen: Er ging mir auf die Nerven, bis ich aussteigen musste. Nee, nicht Kevin. Da wusste ich aber dann auch, dass er zwar Klaus-Peter hieß, aber von allen nur Rabotti genannt wurde, weil er seit drei Jahren in zwei Jobs malochte – morgens um sechs ging er bis vier Trecker und Rasenmäher reparieren, und abends von sechs bis halb zehn stand er an einem elektrischen Hobel und verwandelte Schalbretter in Nut-und-Feder, ein Baumaterial für Innenausstattungen, von dem der deutsche Eigenheimbewohner und Gartenlaubenbesitzer nie genug kriegen kann. Ich hatte einen ganzen Packen Fotos von seinen vier Freundinnen gesehen, wusste, dass er sich mit achtzehn beim Bund eine Vorhautverengung mit einer Rasierklinge selbst operiert hatte (»Riesensauerei, Ollen – würd’ ich so nich’ noch ma’ machen, ey! Aber sechs Wochen danach! Mann! Ich bin Freitagabend nach Bremen in’n Puff un’ erst Sonntagabend wieder raus, ey!«). Ich hatte erfahren, dass er kiffte, seit er dreizehn war, dass es mit einer eigenen Band nie geklappt hatte (»Scheiße, Ollen, ich bin so musikalisch wie’n Sack doude Katzen, ey!«) und dass er, schon interessanter, neun Schwestern hatte, die älteste elf Jahre älter als er und die jüngste eins (»Un’ alle noch dünner als ich, Ollen!«). Und er war schon so mager, dass man ihm nicht zutrauen mochte, ein Loch in eine nasse Tapete zu hauen. Das täuschte allerdings – meinen Beckenkoffer hob er mit zwei Fingern in den Bus, als sei’s bloß die Bild-Zeitung.

Aber wie unser Eiermann immer so schön kontert, wenn ihn jemand wegen seiner drei Bass-Saiten löchert: »Alles im Leben hat mindestens zwei Saiten!« – auch Freund Rabotti hatte sein Gutes. Erstens war ich dank ihm zu beschäftigt, um Zoff mit dem Busfahrer zu kriegen, an dessen Rückspiegel ein kleines Kofferradio hing und die ganze Fahrt volle Kanne Weihnachtslieder in den ansonsten leeren Bus plärrte. Und zweitens stellte sich raus, dass Mister Arbeiterklasse nicht nur kiffte wie ein Weltmeister (»He wätt nich gerook!«, schrie der Busfahrer nach hinten. »Dann mäck dat Fensta op, Sören! Un guck oppe Straat!«, schrie Rabotti ungerührt zurück. Ein milder Stern herniederlacht / Und kerzenhelle strahlt die Nacht, krähte das Radio), nein, mit seiner großen Tasche spielte er tatsächlich noch vorweihnachtliche Bescherung und zauberte sieben Büchsen Bier hervor. Die teilten wir dann gerecht, und als ich kurz vor meiner Haltestelle den letzten Schluck aus meiner fünften schlürfte, wusste ich schließlich auch, dass er am liebsten Perry Rhodan las, dass seine Kölner Lieblingsband die von Balkan-Rock-Axel war, dass er von dreien seiner Schwestern nacheinander recht anschaulich aufgeklärt worden war, mit seinen beiden Jobs bereits über fünfzigtausend Mark zusammengespart hatte, um sich bald nach Neuseeland absetzen zu können, und dass er in den letzten drei Jahren auf insgesamt sechsundvierzig Open-Air-Festivals gewesen war – »Un’ für nich’ ein einziges hab’ ich ’ne Eintrittskarte bezahlt, Ollen, nich’ ein einziges! Un’ immer vorne inne erste Reihe! Vonne erste Scheiß-Kapelle bis zur letzten Zugabe, ey!«

Kein Wunder, dass er mich kannte.

Und eingelullt von Bus, Bier und Blabla hatte ich ihm sogar noch verraten, dass Axel demnächst seinen traditionellen Advents-Auftritt im Session hatte.

5

Brödershof

 

Es gab wahrhaftig eine Telefonzelle in Brödershof, einem Flecken mit sechs Bauernhöfen, einem Molkereibetrieb, einem Reiterhof und einem Edeka-Laden, der Schneider’s Dorfkrug hieß. Und eben dieser halb gelben, halb rostbraunen Telefonzelle, vollgeklebt mit Plakaten, die mich zum berühmten Holzmindener Glühwei(h)nachtsmarkt einluden – Letztes Jahr mehr als 1000 begeisterte Besucher! Die zweite Überraschung war, dass das Telefon sogar funktionierte, und die dritte, dass Herr Schneider mit Gustav Schnöken & Sohns Arbeitsmoral nichts am Hut hatte. Er begrüßte mich überschwänglich, zapfte mir ein blumiges Pils, sah beifällig, wie das nach meinem ersten Schluck halb alle war, und machte sich gleich an ein frisches. Überraschung Nummer vier.

»Woll der noie Schlachzoigä, woll?«, meinte er mit einem Blick auf mein Gepäck. Ich nickte anerkennend. »Ich wollt’ den Jopp ja woll auch gemäkkt ha’m. Aber Hansi hat gemeint, dat wär’ ja woll doch nich’ ganz dat Richtige für Schneiders Vadder sein Sohn.« Er war an die fünfzig, mindestens, wog um die drei Zentner, mindestens, hatte Arme, dicker als meine Oberschenkel, eine Schnapsnase und ein steifes Bein. Hansi war mein Arbeitgeber für diese Woche, Hansi Hedegger, Bassist und in stillschweigender Übereinkunft Chef der Jazzrock-Kapelle Baggermann.

»Ach«, trug ich meinen Teil zur Unterhaltung bei und trank das zweite Pils. Eiskalt, prickelnd herb – ein Genuss. Schien er auch zu finden – er zapfte gleich drei neue. Bis auf eine ungefähr hundertjährige Gestalt, in einem riesigen schwarzen Ledermantel an einem Ecktisch neben der Lebensmitteltheke verbuddelt, war der Laden leer. Die hatte bis jetzt aber noch keinerlei Lebenszeichen von sich gegeben – vielleicht war das ja auch nur der Nubbel von Brödershof. Immerhin war in neun Wochen Karneval.

»Paiste oder Zyldjian?«, bellte mir der Hausherr plötzlich ins Gesicht, seine haarigen Fleischerarme auf das glänzende Zinkblech gestützt, seine Kartoffelnase dicht an meiner. Tausend rote Äderchen leuchteten mich an, aber noch mehr leuchteten seine listigen Augen – Dat hättste nich’ gedacht, mien Jong, datt olle Schneiders Vadder sein Sohn da Ahnung von wech hat, woll?

Tatsächlich hätte ich mich fast verschluckt – kannte der doch tatsächlich die beiden besten Schlagzeugbeckenmarken.

»Weder noch«, brachte ich raus. »Und sowohl als auch.« Da hatte er erst mal was zu schlucken.

»Beide?!?«, fragte er entsetzt. Als hätte Uwe Seeler angekündigt, er ginge jetzt zu St. Pauli. Hinter den Falten auf seiner Stirn sank Hansi ein paar Stufen in seiner Achtung. Ich war sowieso unten durch. Also war’s eh schon wurscht.

»Ich hau auf alles, was Krach macht«, setzte ich einen drauf. Darauf brauchte er einen Klaren. Nahrung für die Äderchen. »Ich bin der Büb«, stellte ich mich vor, »der Kanaldeckel’s Büb aus Köln-Vogelsang.«

»Kanaldeckel«, echote er fassungslos.

»Na ja, ich nehm’ auch Autofelgen.« Hoffentlich kriegt er keinen Herzinfarkt.

Schneiders Vadder sein Sohn doch nicht. Er lachte schallend, machte noch zwei Korn, drückte mir einen in die Hand und stieß mit mir an.

»Autofelgen, Ooas! Nu’ wär’ ich doch beinah drauf reingefallen auf den Spöök.« Ich sagte lieber nix mehr. »Aber schon schad’, das Dingen mit dem Raimund, oder?«

»Na ja, so ganz unschuldig is’ er wohl selber nich’, oder?« Grimmig wiegte er seinen Schädel hin und her, was seinen Hals in mächtige Wellenbewegungen versetzte.

»Tscha! Ich sach ihm doch schon seit Jahren: Lassas nach, Jong! Du wirst dich nomma’s Genick brechen!«

»Da hat er ja diesmal noch ma’ Schwein gehabt, wa’?« Ich auch. Sozusagen. Deswegen war ich hier. Raimund, der eigentliche Schlagzeuger von Baggermann, hatte sich bei einem weiteren unangebrachten Versuch, in Richie Haywards Fußstapfen zu treten, mit seinem Motorrad im wahrsten Wortsinn auf Glatteis begeben und sich beide Beine und einen Arm gebrochen. Blöd für ihn, aber eigentlich nicht weiter schlimm für seine Band – die tourten grundsätzlich nur von April bis November, um den Winter über entweder an der Algarve rumzuhängen oder in ihrem eigenen Studio in Hinderup an neuen Platten zu frickeln. Leider hatten sie dieses Jahr jedoch beschlossen, dass das nächste Album Baggermann den endgültigen Durchbruch bringen sollte, und bei einer neuen Plattenfirma unterschrieben. Nicht zuletzt auch wegen eines schwindelerregenden Vorschusses. Die Firma wiederum war bloß die Hamburger Tochter eines amerikanischen Konzerns, und deren Uhren ticken anders als die bei Omelette, ihrem bisherigen Label, wo Verträge auf Bierdeckel passten und Chef Heiner König seine Frau und seine Mutter neue Platten eintüten und ausliefern ließ.

Dummerweise standen ihre fünf Unterschriften nun also auch auf richtigem Papier, unter einem richtigen Paragraphen, der besagte, dass bei Überschreiten des Abgabetermins eine sechsstellige Konventionalstrafe fällig war. Und der Termin war der 1. Januar nächsten Jahres. Keine vier Wochen, und sie mussten noch fünf Titel aufnehmen – und den ganzen Klumpatsch natürlich noch rechtzeitig abmischen. Stress war angesagt.

Aber sie kannten ja mich.

»So’n büschen wundern tu’ ich mich ja schon …«, meinte Schneider. »Nix für ungut – aber dein’ Namen hab’ ich noch nie gehört.«

»Ja, scheinst dich auszukennen, was Schlagzeug angeht, wie?« Sein Stichwort.

»Komm ma’ mit!«, flüsterte er geheimnisvoll. Ich nahm vorsichtshalber noch einen guten Schluck und folgte ihm zu einem dicken rotbraunen Vorhang zwischen Zigarettenautomat und Toilettentür. Mit großer Geste knipste er einen Lichtschalter an und zog den Vorhang auf. »Tädäää!«, schrie er.

Ich war baff. Ein komplettes Schlagzeug-Set auf einem kleinen Podest, schätzungsweise Jahrgang ’55, in einem grauslichen Türkisgrün mit Goldglimmer, fett Premier auf dem vorderen Basstrommelfell, und in rot und golden umrandetem Türkis darunter ein schwungvolles The Blue Beatnicks. Ja, mit ck. Und auf allen auf Hochglanz polierten Becken war der Paiste-Schriftzug mit türkisgrünem Lack nachgezogen. Ein echtes Schmuckstück. Ich wettete mit mir, dass er das Ding Schießbude nennen würde.

»Na, wat sachste, mien Jong?«, strahlte Schneiders Vadder sein Sohn. Ich strahlte zurück.

»Mein lieber Mann. Wo haste gespielt – in Las Vegas?«

»Pah! Las Vegas! Weißte, wo ich an die Schießbude gesessen hab’? Na?« Er zwängte sich an der Kiste vorbei, ließ sich auf ein besonders stabiles Monstrum von Schlagzeughocker plumpsen und griff sich die Stöcke, die fein säuberlich gekreuzt auf der Snare lagen. Weiß, mit Nylonspitzen. Und natürlich mit türkisem Klebeband verziert. Er klickte den Snareteppich hoch und produzierte einen sauberen Zirkuswirbel. »In’n Starclub, Mann! In Hämbuarch in’n Starclub! Neunzehnsechzig! Einunsechzig! Als der Beat losging!« Und prompt legte er einen trocken swingenden Twist hin, der Chubby Checker ein breites Grinsen entlockt hätte. Seine Hi-Hat blieb geschlossen, weil sein steifes Bein ausgestreckt daneben lag. Aber mit dem gesunden rechten spielte er eine ordentliche Bassdrum. Nach acht Takten floss ihm der Schweiß in Strömen übers Gesicht, und seine Zunge streckte sich wild von einem Mundwinkel zum anderen.

»Herrjessas, Himmel, Arsch un’ Klötensuppe!«, tönte es plötzlich aus dem Ledermantel in der anderen Ecke. »Ich denk’, da – nu’ is’ Sören mit sein’ Bus in’n Kruuch gedonnert! Un’ dann is’ auch noch mein Bier alle!« Mit einem gekonnten Wirbel über beide Toms beschloss Schneider seine Darbietung. Ich hatte nur ein bisschen Angst, er würde sich dabei auf die Zunge beißen.

»Kommt sofort, Fritzken, kommt subito!« Mühsam stand er auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er wollte die Stöcke schon wieder akkurat an ihren Platz legen, aber dann warf er mir einen schrägen Blick zu. »Willste auch mal, Jong?«, streckte er sie mir generös entgegen. Ich wollte schon dankend abwehren, aber da sah ich die Enttäuschung, die sich in seinem Gesicht ausbreiten wollte. Verlegen grinsend nahm ich die Dinger, als überreichte er mir den Goldenen Schlüssel zur Stadt. Klemmte mich auf seinen Hocker, schraubte die Hi-Hat-Becken auf Abstand. Vorsicht, Büb, sagte ich mir, jetzt hau dem armen Mann nicht sein Schmuckstück in Fetzen! Aber was sollte ich spielen? Ich trommelte ein paar Paradiddle und Sechzehntel-Triolen auf die Snare, um ein Gefühl für die Abstände, die Spannstärke der Felle und die Stöcke zu kriegen, die nicht halb so schwer waren wie meine Kanaldeckels-Knüppel. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Schneider sich auf halbem Weg zu seinem Zapfhahn herumdrehte und mich aufmerksam beobachtete. Na ja, dachte ich, alle alten Schlagzeuger mögen Jazz, bewundern Gene Krupa, Buddy Rich, Art Blakey. Hey – und Joe Morello natürlich! Und schon rollte ich in einen sanften, locker aus dem Handgelenk gespielten Fünf-Viertel-Rhythmus, spielte einen halben Chorus von Brubeck’s Take Five, brummte das Bassriff dazu, kriegte Spaß an der Sache und legte die ersten sechzehn Takte von Morellos Kult-Solo drauf.

Als ich zwischendurch mal hochblickte, stand der Schießbudenbesitzer mit weit offenem Mund hinter seiner Theke, Unglauben und Bewunderung in den Augen. Aber auch eine gute Portion Neid und Wehmut. Jetzt spiel’ ich doch mindestens zwanzig Jahre länger als dieses langhaarige Früchtchen, konnte ich lesen, aber das werd’ ich mein Lebtag nich’ hinkriegen  Schnell wich er meinem Blick aus und beschäftigte sich angelegentlich mit Fritzkens Pils. Scheiße, Büb, ermahnte ich mich, mach hier nicht den Angeber! Flugs verhedderte ich mich bei einem Tomwirbel, schlug auf dem Rückweg gegen die Unterseite des Ride-Beckens und verlor klappernd den rechten Stock.

»Verdammt!«, schrie ich und sprang auf. »Aber eines Tages werd’ ich’s hinkriegen!« Bemüht, seine Erleichterung zu verbergen, wenn auch nicht ganz erfolgreich, griff Schneider zur Kornflasche.

»He, mien Jong, dat war doch schon gar nich’ so verkehrt! Da hat der alte Joe auch lange dran geübt! Dat kommt nich’ von heut’ auf gleich! Schon gar nich’ mit Kanaldeckeln, ho ho!« Er hielt mir einen doppelten Korn entgegen. »Komm, ich geb’ einen aus! Hier, Fritzken, kriss auch ein’n auf den Schreck! Auf die wunnäbare Welt der Musik, Kinners!« Synchron kippten wir uns zu dritt den Schnaps in die zurückgelegten Hälse. Männerrituale. Ich hob erst mal den Stock wieder auf, legte das Paar schön über Kreuz auf die Snare, wie es sich gehörte, schaltete den Snareteppich ab und schraubte die Hi-Hat wieder zusammen. Zog den Vorhang zu und machte das Licht wieder aus. Hübsch ordentlich und bescheiden, der Junge aus Köln.

Dann hockte ich mich wieder an die Theke, wo schon ein frisches Pils auf mich wartete.