Holger Kirsch, Josef Brockmann,
Svenja Taubner

Praxis des Mentalisierens

Mit einem Vorwort
von Anthony W. Bateman

Klett-Cotta

Impressum

www.klett-cotta.de

© 2016 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Roland Sazinger

Unter Verwendung einer Abbildung von © Elisabeth Brockmann »Schreck«, 1983

Gesetzt von Kösel Media GmbH, Krugzell

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94940-7

E-Book: ISBN 978-3-608-10968-9

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20335-6

Dieses E-Book entspricht der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Vorwort

Das Interesse am Mentalisieren hat in den zurückliegenden zehn Jahren sprunghaft zugenommen und das vorliegende Buch ist ein weiterer Beleg dafür, dass Psychotherapeuten und psychiatrische Fachkräfte neben vielen anderen Gruppen ihren Anteil an dieser Entwicklung haben. Dieses Vorwort soll die Leserschaft auf die theoretischen und klinischen Zusammenhänge zwischen Mentalisierung und Psychotherapie aufmerksam machen, das Themenfeld der vorliegenden Veröffentlichung. Alle drei Autoren sind erfahrene Kliniker, Forscher und Lehrer. Vor dem Hintergrund ihrer breiten Fachkenntnis, die von der Sozialarbeit bis zur Psychoanalyse reicht, und ihrer klinischen Tätigkeit mit Kindern, Heranwachsenden und Erwachsenen fassen sie das heute vorhandene Wissen und die bisher zum Konzept des Mentalisierens erhobenen Forschungsdaten zusammen und legen einfühlsam und verbindlich dar, wie dieses Konzept in der täglichen klinischen Praxis herangezogen werden kann. Das Buch ist eine unerlässliche Lektüre für alle, denen daran gelegen ist, ihre Kenntnisse und klinischen Fertigkeiten auf dem Feld des Mentalisierens zu erweitern.

Was ist Mentalisierung?

Mentalisierung ist ein breit gefasstes Konzept, das gegenwärtig in erster Linie als Bezugsrahmen für das Verständnis einer Vielzahl von mentalen Prozessen herangezogen wird; in zweiter Linie dient es als Plattform des Nachdenkens über das psychische Funktionieren von Einzelpersonen jeden Alters, von Gruppen, Familien, sozialen Systemen und frühen Mutter-Kind-Dyaden; und schließlich kann es auch den Fokus einer Behandlung bilden. Kritiker geben zu bedenken, dass das Konzept so umfassend ist, dass es in andere psychologische Konzepte hineinreicht, ja sogar mit dem Vorgang des Denkens zusammenfallen kann. Seine Popularität als Idee wie auch als klinisches Konzept spricht aber dafür, dass es für das Verständnis mentaler Prozesse ergiebiger ist als viele andere Konzepte, die gegenwärtig im Umlauf sind. Mit seiner Verwurzelung in der Entwicklungspsychologie, in der experimentellen Psychologie und in der Neurobiologie gibt das Konzept des Mentalisierens seine Bedeutung als elementarer mentaler Prozess immer offensichtlicher zu erkennen. Das Mentalisieren ist eine fundamentale menschliche Fähigkeit, die sich im Kontext der Mutter-Kind-Interaktion entwickelt: Es ist unsere Fähigkeit, das eigene Verhalten wie auch das Verhalten der anderen Person im Gedanken an die jeweils mitschwingende innere Verfassung zu verstehen, ein Potential, das sich im Lauf der Zeit immer weiter verfeinert und sich im Normalfall erst in der späten Adoleszenz beziehungsweise im frühen Erwachsenenalter stabilisiert. Das Nachdenken über Handlungen in den Begriffen von Gedanken, Gefühlen und anderen mentalen Prozessen und die Anwendung des bezüglich all dieser Prozesse gewonnenen Wissens zur Bewältigung des eigenen Lebens (metakognitive Kompetenz) – ja sogar zur Qualifizierung der eigenen Gedanken als »nur eben Gedanken«, denen nicht notwendig eine Handlung folgen muss, über die aber ernsthaft reflektiert werden kann –, führt, auch in Bezug auf die Emotionen, zu einem höherrangigen, metakognitiven und damit rundum repräsentationalen und reflektiven Prozess. Damit entsteht ein stimmiges Verständnis der eigenen Person in der Welt, das vertraute und konstruktive Beziehungen ermöglicht.

Mentalisieren ist keine unverrückbare, gleichbleibende oder eindimensionale Fähigkeit. Wenn diese Fähigkeit jedoch verloren geht, bleiben der betroffenen Person noch einige weniger erfolgreiche Mechanismen, um mit ihrer Erfahrung der inneren und äußeren Welt zurechtzukommen: Diese nicht-mentalisierenden Vorgehensweisen sind als Modus der psychischen Äquivalenz, als »Als-Ob-Modus« und als teleologisches Denken bekannt. Darüber hinaus hat die Neurowissenschaft vier distinkte Modalitäten des Mentalisierens ermittelt, die sich, jeweils als klinische Dimension erkannt, in der therapeutischen Praxis als hilfreich erweisen:

Die verschiedenen Modalitäten und Dimensionen des Mentalisierens müssen bei der Lektüre der in diesem Buch enthaltenen Fallgeschichten und beim Nachdenken über die beschriebenen mentalisierungsgestützten Interventionen in Betracht gezogen werden. Der Modus der psychischen Äquivalenz ist konkret, absolut und »gewiss«. Es besteht Kontinuität zwischen der inneren und der äußeren Welt. Was ein Mensch in diesem Modus über sich selbst oder über andere Personen denkt, ist für diesen Menschen real. Im Als-Ob-Modus sind Gedanken und Gefühle von der Realität abgetrennt. Im Extremfall kann das zum Derealisationserleben und zur Dissoziation führen. In diesem Modus können Patienten über ihr Erleben sprechen, ohne es in irgendeine Form der physischen oder materiellen Realität einzuordnen, so als erschüfen sie eine Als-Ob-Welt. Möglich ist auch, dass Patienten hypermentalisieren oder pseudomentalisieren, ein Zustand, in dem sie viel über innere Zustände sagen, wobei ihre Äußerungen allerdings kaum eine wirkliche Bedeutung transportieren und wenig mit der Realität zu tun haben. Im teleologischen Modus werden innere Zustände nur erkannt und »geglaubt«, wenn sie in physisch beobachtbarer Form zum Ausdruck kommen. Das heißt, das Individuum kann das Vorhandensein und die potentielle Bedeutung innerer Zustände erkennen, aber dieses Erkennen beschränkt sich auf sehr konkrete Situationen. Zärtlichkeit zum Beispiel wird nur als wahr empfunden, wenn sie von physischem Kontakt, also etwa vom Berührt- oder Gestreicheltwerden, begleitet wird. Der teleologische Modus findet sich bei Patienten mit einem unausgewogen auf die äußeren Aspekte ausgerichteten Mentalisierungsstil – solche Patienten neigen ganz entschieden dazu, sich das Verhalten und die Intentionen anderer Menschen (wie auch ihr eigenes Verhalten und ihre eigenen Intentionen) vor dem Hintergrund dessen zu erklären, was diese anderen beziehungsweise was sie selbst physisch tun.

Wirksames Mentalisieren setzt die Fähigkeit voraus, ein Gleichgewicht bezüglich der vier Dimensionen sozialer Kognition zu wahren und dabei den Kontext entsprechend zu berücksichtigen. Das durchgängige Bevorzugen des einen oder anderen Pols dieser Dimensionen führt zu einem verzerrten Verständnis innerer Zustände und damit zu ganz erheblichen sozialen und emotionalen Schwierigkeiten. Wirksame mentalisierungsgestützte Interventionen stellen das Gleichgewicht und den unter Umständen verlorengegangenen kontextuellen Bezug wieder her und helfen der betroffenen Person, das Mentalisieren auch in solchen Augenblicken beizubehalten, in denen es in Gefahr ist zu versagen.

Die nicht-mentalisierenden Modalitäten und Dimensionen des Denkens werden in diesem Buch in Ausführlichkeit besprochen, deshalb werden sie an dieser Stelle nur in der Form illustrativer Beispiele erwähnt. Ein Mensch mit einer Verhaltensstörung oder einer antisozialen Persönlichkeitsstörung wird die inneren Zustände anderer Personen gar nicht in Betracht ziehen; falls er es aber doch tut, wird er sich jedenfalls durch das Gewahrwerden dieser Zustände nicht eingeschränkt fühlen und sein Verständnis der Dinge möglicherweise zum eigenen Vorteil missbrauchen. Er ist vielleicht imstande, über innere Zustände zu räsonieren, und, soweit es sich um einen Psychopathen oder um einen abgestumpften und emotionslosen Menschen handelt, kann es sogar sein, dass er zu einer hochentwickelten Form des kognitiven Mentalisierens fähig ist. Allerdings fehlt es solchen Personen an der empathischen Identifikation mit anderen Menschen. Umgekehrt gibt es Individuen, die ein unverhältnismäßiges Gewicht auf das affektive Mentalisieren legen. Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung werden von Emotionen überflutet und sind damit anfällig für automatische Informationsverarbeitung, Reaktivität, emotionale Ansteckung und dürftige Selbst-Fremd-Differenzierung. Starke Gefühle bringen den Prozess der kognitiven Einschätzung, der normalerweise zur Emotionsregulation beiträgt, zum Erliegen. So schließt zum Beispiel ein Mensch, der kaum Zugang zu seinem subjektiven Erleben hat und sich insoweit sehr unsicher fühlt, wie dies oft bei Borderline-Patienten zu beobachten ist, unter Umständen aus den Reaktionen anderer Personen auf das, was er selbst empfindet: Das heißt, er beobachtet das Mienenspiel und die Körperbewegungen dieser anderen Personen genau und schließt »automatisch« auf damit assoziierte innere Zustände. Diese Abhängigkeit von einem äußeren Fokus als der primären Quelle des Verständnisses innerer Zustände gilt unter Umständen auch für den Umgang mit sich selbst: jemand leidet, nimmt seine Beine als rastlos wahr und schlussfolgert daraus, dass er wohl ängstlich und angespannt sei.

Bei einem erwachsenen Menschen mit einer Persönlichkeitsstörung werden konstante Verzerrungen der sozialen Kognition als Folge eines unausgewogenen Mentalisierens entlang mindestens einer der vier genannten Dimensionen deutlich zutage kommen. In der Regel kommt bei einem solchen Menschen einer der Pole der jeweiligen Dimension oder auch mehrerer Dimensionen »zu kurz«, und damit wird der entgegengesetzte Pol die soziale Kognition dominieren. So kommt es zum übermäßig emotionalen Denken, wenn es am kognitiven Mentalisieren fehlt, oder der Einfluss anderer Personen dominiert, wenn das subjektive Erleben von Selbstzuständen reduziert ist. Das heißt also, anhand der je unterschiedlichen Kombination von Defiziten am einen oder anderen Pol der vier Dimensionen lassen sich unterschiedliche Formen der Psychopathologie identifizieren. Mit anderen Worten, Persönlichkeitsstörungen und in einem gewissen Umfang auch andere psychiatrische Störungen, etwa Depression und Trauma, können vor dem Hintergrund der je unterschiedlichen Mentalisierungsprofile als solche erkannt werden. In der Regel fordern Kliniker ihre Patienten auf, sich in der Sitzung weniger auf das automatische und eher auf das kontrollierte Mentalisieren zu verlassen: Was veranlasst Sie, das zu sagen? Wie sind Sie auf diese Lösung gekommen? Können Sie Ihre augenblicklichen Gedanken und Gefühle beschreiben?

Mentalisierung und Psychotherapie

Wie bereits angemerkt, ist das Mentalisieren ein fundamentaler psychischer Prozess und steht damit in Berührung mit allen ausgeprägteren psychischen Störungen. Dass eine mentalisierungsgestützte Behandlung sich bei einer ganzen Reihe von Störungen positiv auf das Befinden des Patienten auswirken kann, vermag daher nicht mehr zu überraschen als die Erkenntnis, dass das Mittel der Verstärkung (oder ein anderes allgemeines psychologisches Prinzip) sich durch generische Anwendbarkeit auszeichnet. Was immer die Ursache der jeweiligen Störung ist und ob das Mentalisieren im Mittelpunkt steht oder nicht – gestörte mentale Prozesse und gestörte zwischenmenschliche Beziehungen beeinträchtigen die Kapazität zu denken und innere Zustände zu repräsentieren, oder sie werden von dieser Kapazität beeinträchtigt.

Psychotherapeutische Bemühungen, auf welchem Interventionsmodell sie auch immer beruhen, setzen eine Beziehung zwischen dem Kliniker und seinem Patienten beziehungsweise der behandelten Gruppe oder Familie voraus, und eine Beziehung wiederum bedingt das Mentalisieren unter den daran Beteiligten. Damit wird das Ingangbringen eines Mentalisierungsprozesses unabhängig vom jeweiligen Therapiemodell zur unerlässlichen Voraussetzung der Behandlung und zum potentiellen Fokus der Intervention. Bei Persönlichkeitsstörungen, Depressionen, Traumata und anderen psychiatrischen Zuständen ist das Mentalisieren aus dem Gleichgewicht und übermäßig anfällig gegenüber Stress, vor allem Beziehungsstress, was ein weiteres Mal darauf hindeutet, dass es verbessert werden muss, wenn die Behandlung hilfreich sein soll. Ohne die Fähigkeit zum Mentalisieren hat der Patient keine Möglichkeit, die vom Kliniker bereitgehaltenen Techniken einzuschätzen und zu nutzen – sie fallen auf unfruchtbaren Boden. Im Fall einer Depression zum Beispiel bewirken elementare kognitive Interventionen nichts, wenn nicht zunächst das Mentalisieren angeregt wird. Natürlich zielen Therapien mehr oder weniger direkt auf das Mentalisieren, wobei dies unter Umständen im Rahmen des jeweiligen Therapiemodells gar nicht erkannt wird. Interventionen, die das Mentalisieren fördern, finden sich in allen Therapien – eine Verhaltens(ketten)analyse kann sowohl mit dem Verhalten zusammenhängende mentale Prozesse erfassen als auch die Kette der Ereignisse erkunden. Wer das vorliegende Buch liest, sollte sich diesen Umstand vor Augen halten. Was ist es, was der Kliniker tut und was das Mentalisieren anregt? Ist das Mentalisieren ein Katalysator der Veränderung in der Person des Patienten, oder ist besseres Mentalisieren in sich ein Agens der Veränderung? Zielt die Intervention auf innere Zustände, soll also das Mentalisieren im Fokus stehen, oder geht es eher um das Narrativ und um die Geschehnisse?

Die mentalisierungsgestützte Therapie der Borderline-Persönlichkeitsstörung zielt ganz explizit auf den Mentalisierungsprozess, weil gerade diese durch zwischenmenschliche und emotionale Schwierigkeiten gekennzeichnete Störung als ein Zustand gilt, bei dem die Mentalisierungsfähigkeit speziell im Kontext der Bindungsbeziehungen in Gefahr ist, verlorenzugehen. Ein Therapeut, der mentalisierungsbasiert arbeitet, hat gelernt, seinem Patienten sozusagen mit dem mentalisierenden Ohr zuzuhören und gleich zu intervenieren, wenn der Patient sich im primären nicht-mentalisierenden Modus befindet oder es an Flexibilität fehlen lässt und soeben dabei ist, sich an einem Endpunkt einer oder mehrerer Dimensionen festzufahren. Darüber hinaus muss der Therapeut sein eigenes Mentalisieren im Auge behalten und sicherstellen, dass es flexibel funktioniert. Aber auch Therapien, die nicht dem MBT-Manual folgen, können das Mentalisieren verbessern, und natürlich haben Kliniker ein Ohr für ungerechtfertigte Überzeugungen, für Denkverzerrungen oder Beziehungsprobleme und versuchen, diese Dinge anzugehen, indem sie den Patienten drängen, sich vom automatischen Mentalisieren hin zum kontrollierten Mentalisieren zu bewegen. In den in diesem Buch versammelten Fallgeschichten geht es um eben solche Therapien und um die Frage, in welchem Maß sie das Mentalisieren begünstigen.

Das vom Therapeuten praktizierte Mentalisieren des Patienten – also das therapeutische Handeln in Übereinstimmung mit der Perspektive des Patienten – dürfte über den gesamten Bereich der Psychotherapien hinweg verbreitet sein, nicht nur weil Patienten etwas über die Inhalte ihres Innenlebens oder des Innenlebens anderer Personen in Erfahrung bringen sollen, sondern weil das Mentalisieren ganz allgemein eine Möglichkeit ist, das Vertrauen in andere Menschen und in die Welt zu stärken – ein dringendes Erfordernis, wenn Menschen lernen und sich ändern sollen. Das Mentalisieren ermöglicht es ihnen, vom Wissen und Interesse des Therapeuten zu profitieren. Es spricht einiges dafür, dass die Mentalisierungsfähigkeit von Patienten sich unter allen wirksamen Therapien verbessert und dass ein Fächer unterschiedlicher Techniken dem Mentalisieren ebenfalls zugutekommt. Das wiederum wird insofern positive Wirkungen haben, als es die Selbststeuerung und das Kohärenzgefühl des Patienten steigert, die Treffsicherheit seines sozialen Verständnisses vergrößert, sein psychisches Schmerzerleben verringert und seine Fähigkeit verbessert, im Kontext seiner Bindungsbeziehungen zusammenhängend zu denken. Dies alles hat unser Verständnis der Mechanismen der Veränderung geprägt, seitdem das Leitbild der MBT als Therapie voll ausformuliert ist. Man könnte sagen, dass der Patient sich »in der Psyche (›mind‹) des Klinikers wiederfindet«. Das stärkt sein Gefühl der Handlungsfähigkeit und ist auch von größter Bedeutung für eine weitere therapeutische Funktion, nämlich dafür, dass sein Wunsch wieder auflebt, mehr von der Welt zu erfahren, die soziale Welt eingeschlossen.

Die Patienten, die in diesem Buch vorgestellt werden, präsentieren eine Reihe vielschichtiger Probleme, darunter Borderline-Persönlichkeitsstörungen, Depressionen, Traumata und Verhaltensstörungen. Der Bezug zwischen Borderline-Störung und Mentalisierung wird bereits in vielen anderen Veröffentlichungen eingehend diskutiert. Ein für Kliniker signifikanter Sachverhalt ist die Komorbidität von Depression und Trauma, wie sie bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung beobachtet wird. Depression ist keine Störung der Mentalisierungsfähigkeit; wenn ein Mensch aber depressiv ist, kommt ihm seine Mentalisierungsfähigkeit abhanden, und das wiederum schlägt sich in seinem Selbstgefühl und in seinen Beziehungen zu anderen Menschen nieder und ist damit von Einfluss auf den Verlauf seiner Depression; darüber hinaus kommt ihm auch die mentale Kapazität abhanden, die es ermöglicht, sich einer Depression zu entziehen. Im Kontext einer Persönlichkeitsstörung ist die Depression überdies schwierig zu behandeln: Den Mentalisierungsprozessen wird hier doppelt zugesetzt, nämlich zum einen durch die Persönlichkeitsstörung selbst und zum anderen durch die Gehemmtheit, wie sie mit einer gedrückten Stimmung einhergeht. Vor diesem Hintergrund tut der Kliniker gut daran, sich zunächst auf die Persönlichkeitsstörung zu konzentrieren und nicht auf die Depression.

Das Trauma repräsentiert ein teilweises Versagen der Mentalisierungsfähigkeit; da es aber so tiefreichende Auswirkungen auf eine ganze Reihe psychischer Prozesse hat, wird es unweigerlich in Berührung mit dem Vorgang des Mentalisierens kommen, und diese Schnittstelle ist ein kritischer Bereich, der unabhängig von der jeweiligen Behandlungstechnik und -methode angesprochen werden muss. Die Kennzeichnung einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD) ist schwierig. Ein komplexes psychisches Trauma gilt aber allgemein als Folge des Umstandes, dass die betroffene Person starken Stressoren ausgesetzt gewesen ist. Für derartige Stressoren gilt:

  1. Sie sind wiederholt oder über einen längeren Zeitraum hinweg am Werk;

  2. Sie bestehen darin, dass der betroffene Mensch von seinen Bezugspersonen oder anderen angeblich verantwortlichen Personen verlassen oder anderweitig geschädigt wird;

  3. Sie üben ihren Einfluss in entwicklungspsychologisch besonders sensiblen Zeiten im Leben des Opfers aus, etwa in der frühen Kindheit oder in der Adoleszenz.

Die mannigfaltigen Folgewirkungen treten in komplexen traumatischen Belastungsstörungen auf, in denen körperliche Veränderungen, Veränderungen im Denken, Fühlen und Empfinden und Veränderungen in den Beziehungen beteiligt sind und die daher unter Umständen eine breite Komorbidität nach sich ziehen, so etwa eine Reihe von Symptomen und klinischen Syndromen oder auch Persönlichkeitsstörungen. Die Forschung hat gezeigt, dass die Mentalisierungsfähigkeit von Menschen, die ein Trauma erlitten haben, häufig beschädigt ist. So fällt es traumatisierten Kindern zum Beispiel vergleichsweise schwerer, Worte zur Bezeichnung von Gefühlen zu erlernen, während traumatisierte Erwachsene eher Schwierigkeiten damit haben, die Absicht hinter dem Gesichtsausdruck ihres Gegenübers zu erkennen. All das spricht dafür, dass Kliniker gut beraten sind, das Mentalisieren in Betracht zu ziehen, wenn sie Menschen mit traumatischen Symptomen behandeln.

Vor dem Hintergrund des Konzepts der Mentalisierung ist ein komplexes Trauma-Modell erarbeitet worden. Es stellt einen Zusammenhang zwischen Trauma und Bindungstheorie her, indem es das Trauma als die Erfahrung definiert, in unerträglichen emotionalen Situationen psychologisch alleingelassen worden zu sein. Das könnte unter anderem auch deshalb traumatisch sein, weil es in Bezug auf das Mentalisieren an sozialer Unterstützung fehlte. Für die Behandlung bedeutet dies, dass ein Umfeld des sicheren Gebundenseins geschaffen werden muss, das dem Mentalisieren förderlich ist und in dem emotionale Zustände, die zuvor unerträglich waren, erträglich gemacht werden können. Anteilnahme an der eigenen Person, Achtsamkeit und tätiges Mentalisieren, all das steht als Beispiel für die einfühlsame Responsivität, wie sie mit sicheren Bindungen in Eltern-Kind-Beziehungen, Freundschafts- und Liebesbeziehungen gegeben ist. Diese Konstellation gibt dem psychotherapeutischen Ansatz, der darauf zielt, die Mentalisierungsfähigkeit des Betreffenden zu steigern, einen »Akzeptanzwert«. Mit unprätentiöser Wissbegierde und entschlossen, die Welt mit den Augen des Patienten zu sehen, wird der Kliniker implizit und explizit eine von Toleranz, Mitgefühl und Akzeptanz geprägte Haltung gegenüber dem subjektiven Erleben seines Gegenübers entwickeln und so allmählich die Tendenz des Patienten eindämmen, sich für die eigenen Gefühle zu schelten (eine Tendenz, die wir übrigens alle teilen).

Verhaltensgestörte Menschen haben eine Vorgeschichte der anhaltenden Traumatisierung und Vernachlässigung. Das Mentalisieren mit dem Ziel, die Motive anderer Menschen zu verstehen, bewirkt in ihrem Fall nichts mehr und erleichtert ihnen die Dinge nicht; das Misstrauen durchzieht alles. Um mental zu überleben, müssen sie sich innerlich verschließen, anstatt sich zu öffnen. Sie können nicht über sich selbst oder darüber nachdenken, wie andere sie sehen, und sie können sich auch nicht mit den inneren Zuständen anderer Menschen befassen. Die Unterscheidung zwischen Selbst und anderen ist bei ihnen hochgradig eingeschränkt. Das führt zusammen mit Defiziten am affektiven Pol des Mentalisierens dazu, dass verhaltensgestörte Menschen nicht fähig sind, emotionale Zustände des eigenen Selbst wie auch der anderen Person wahrzunehmen und die interpersonale Signifikanz dieser Zustände zu erkennen. Ihre Interaktionen mit anderen beruhen zumeist auf einem teleologischen Verständnis: Ich weiß, wer ich bin – wegen der physischen Reaktionen der anderen. In schweren Fällen kann es sein, dass ein solcher Mensch, nachdem er den Schmerz eines anderen gesehen hat, zu größerer Selbstkohärenz findet, was dann eine eher angenehme denn aversive Erfahrung ist. Die Behandlung muss den Akzent auf solche Deformationen des Mentalisierens legen. In der Gruppentherapie erwachsener Patienten mit antisozialer Persönlichkeitsstörung sind die Teilnehmer aufgefordert, sich über die eigene emotionale Verfassung klarzuwerden und die emotionale Verfassung anderer zu erkennen und darauf einzugehen.