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Christoph Peters wurde 1966 in Kalkar (Niederrhein) geboren. Er hat an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Karlsruhe Malerei studiert. Für sein Romandebüt »Stadt Land Fluß« erhielt er u.a. den Niederrheinischen Literaturpreis und den aspekte-Literaturpreis. Christoph Peters lebt heute in Berlin.

Nach wie vor liegt der Brief mit dem Befund ungeöffnet da. Ich wandere im Zimmer auf und ab. Drehe Runden um den Eßtisch, gebe mir Mühe, den Brief nicht zu sehen. Ein Esel am Wasserrad, stumpf und unermüdlich. Die Mechanik ächzt, der Brunnen ist leer, Trockenzeit. Ich halte an, stampfe auf, so fest, daß den alten Leuten in der Wohnung unter mir der Putz in die Kaffeetassen rieselt. Und weiter. Bewegung löst Verkrampfungen aller Art. Peripathetik für Stubenhocker. Ein anderes Spiel: Ich versuche, wie als Kind auf den Pflastermustern der Bürgersteige, einen bestimmten Schrittrhythmus einzuhalten. Jetzt ist die Problemstellung anspruchsvoller: Wie nähert man sich innerhalb eines Quadratrasters dem Kreis an? Alternierende Springerzüge – etwas Besseres fällt mir nicht ein. Schräg links, waagerecht, schräg rechts, senkrecht. Mehrfach verknoten sich meine Beine. Das einfarbige Parkett macht die Sache nicht leichter. Durch einen falschen Zug gerate ich in eine Spiralbewegung, drifte nach innen, die Schwerkraft des Zentrums saugt mich unwiderstehlich an, ich zerschelle an der Tischkante. Neuer Versuch. Ich markiere den Ausgangspunkt mit einem Flußkiesel. Vorsichtig, als ginge es ums Ganze, setze ich die ersten Schritte. Allmählich begreifen meine Füße das Gesetz, schaffen die erste Runde. Bald läuft es flüssiger, ich rotiere taumelnd um mich selbst, folge meinem vorgegebenen Kurs, schlingernd, wie ein Planet, der nach einer gewaltigen Kollision noch eben seine Umlaufbahn hält. Dann ein erneuter Fehltritt (mit Absicht, wegen des schrecklichen Endes). Ich verlasse das Gravitationsfeld der Sonne, die Zentrifugalkräfte schleudern mich in die endlosen Weiten des Universums, ich pralle gegen den Schrank.

Es ist gleich vier Uhr, und ich habe heute nichts zustande gebracht. Zum fünften Mal durchsuche ich sämtliche Ablagen nach dem Postkartensatz von Douwermans Xantener Marienretabel, den Astrid mir geschickt hat. Die Karten müssen ganz neu sein, bei meinem letzten Besuch vor acht Monaten lag noch das Schwarzweißphoto von 1970 aus. Den Domherren ist es wider Erwarten nach fünfundzwanzig Jahren gelungen, brauchbare Aufnahmen, insbesondere von der Wurzel-Jesse-Predella, in Druck zu geben.

Im Moment halte ich es am Schreibtisch nicht aus. Unfähig, mich zu konzentrieren, flüchtig, gasförmig. Geist in Diffusion. Alle möglichen Teilchen fliegen in alle möglichen Richtungen, bis der ganze Raum schwächlich nach etwas Undefinierbarem riecht. Um Viertel nach neun der erste Blick in den Briefkasten. Solange er leer ist, halbstündliche Nachkontrolle bis elf. Später kommt die Post nie. Das Telephon funktioniert seit zwei Tagen nicht mehr. Fluchtwege: Für eine Tageszeitung zum Kiosk laufen (hin und zurück gut dreißig Minuten plus fünf Minuten Blättern), sie könnte eine wichtige Nachricht enthalten. Trotzdem Ruhe bewahren. Ein doppelter Cognac, damit das Hirn weich wird. Oder Hemden waschen. Oder Kaffee aufsetzen, den ich dann vergesse. Zwischendrin halbherzige Versuche, zu denken, eine Verbindungslinie zu ziehen, wobei ich keine Ahnung habe, was eigentlich verbunden werden soll. Wahlloses Blättern in den Bildbänden auf der Suche nach etwas Unbekanntem, Übersehenem. Bibliotheks-Paläontologie. Kubikmeterweise Papier umgraben, um das Missing link zu finden, wenigstens ein Fingerglied, einen kleinen Zeh. Oder umgekehrt: Plötzlich taucht eine Perspektivkonstruktion auf (Uccelo? Brunelleschi?), vor Jahren achtlos in der hintersten Gedächtnisreihe abgelegt, ohne Registriernummer, kurz vor dem endgültigen Verblassen. Ich bin sicher, daß sie die Lücke schließen wird, daß sich völlig unerwartete Bezüge herstellen lassen, die ganze italienische Renaissance in neuem Licht. Aber wo ist die Abbildung? Fünftausend Buchrücken lächeln desinteressiert wie die Sphingen von Karnak. In den Kisten mit Postkarten und Photos mache ich seit langem nur noch Zufallsfunde, abgesehen davon, daß ich sie in irgendeinem geliehenen Band gesehen haben könnte, der längst wieder in seinem angestammten Bibliotheksregal verstaubt. Aber von Minute zu Minute bin ich fester überzeugt, daß ich ohne dieses Blatt keinen Millimeter vorankomme, daß meine ganze Arbeit in sich zusammenfällt, unhaltbar ist, wertlos. Natürlich finde ich nichts, bin aber so bis vier, halb fünf beschäftigt, dann kann ich guten Gewissens Feierabend machen. Wie viele Karren Abraum hat Leakey weggekippt, Abend für Abend, ehe ihm eines Tages unter der sengenden Zenitsonne Kenias sein Turkana-Knabe grinsend in die Hand biß. Ausdauer und Geduld und Beharrlichkeit. Morgen wieder.

Ich stelle den Fernseher an, schalte meine sieben Programme durch, Börsendaten, Serengetilöwen, Puppenspiel. Ein Gespräch mit Strafgefangenen: Die Mauern bleiben – Leben nach dem Knast. Davon will ich nichts hören.

Ich schaue durch die verdreckten nikotingelben Wollgardinen auf die Straßenbahnhaltestelle. Mittwochs kam Hanna immer früher aus der Praxis. Vielleicht steigt sie aus, wie sie all die Jahre ausgestiegen ist, sieht zum Fenster hoch, lacht und winkt, wenn sie mich hinter der Gardine erkennt, den Hausschlüssel schon in der Hand. Drückt den Knopf an der Fußgängerampel, obwohl weit und breit kein Wagen zu sehen ist, wartet stur auf Grün. – Dann bin ich schnell in die Küche gegangen, habe den Herd eingeschaltet für Bratkartoffeln, Schnitzel (Hanna liebte Kalbsschnitzel in allen Variationen), Gemüse oder Nudelwasser, und meist blieb noch Zeit, ihr die Tür aufzumachen.

Ich koche gern. Aber jetzt beschränkt sich meine Karte auf gebratene Eier mit Speck, Bananenpfannkuchen und Salbei-Spaghetti. Eine Zeitlang habe ich jeden Tag einen Aufwand getrieben, wie meine Mutter an Weihnachten nicht. Kochbücher studiert, Rezepte verglichen, synoptische Fassungen von Klassikern wie Coq au vin oder Carré d’agneau entwickelt, den halben Morgen Zutaten ausgesucht, mit Fischhändlern gestritten, Metzger zur Weißglut gebracht.

Hanna hat bei Tisch fast immer geredet, oft so ausdauernd, daß sie gar keine Pause zum Essen fand. Alles wurde kalt, schmeckte dann nicht mehr, zumindest war ich überzeugt, daß es nicht mehr schmecken konnte, und gekränkt, weil sie gar nicht merkte, was sie sich da in Fünfminutenabständen zwischen die Zähne schob: daß mein Lammrücken genau auf den Punkt gebraten war, die Sauce wunderbar ausgewogen, die Böhnchen knackig mit einer Spur Knoblauch. Nicht, daß sie schwatzhaft gewesen wäre, jedenfalls nicht im üblichen Sinn. Hanna mußte reden, um Ordnung in ihren Kopf zu bekommen. Ohne Punkt und Komma, ausufernd, angespannt. Ihr Schädel lief ständig über, weil sie nicht in der Lage war, Belanglosigkeiten sofort zu vergessen, auf Abstand zu halten. Vieles erzählte sie drei-, viermal. Die Geschichten irrten wie Ratten in einem Labyrinth durch ihre Hirnwindungen, blieben stecken, kehrten um, wiederholten sich, bis sie endlich ihre Koje entdeckt hatten, Heu und Weizenkörner. Alles schien gleich wichtig und völlig unsortiert, weshalb Hanna sich beim Erzählen immer strikt an die Chronologie hielt. Auf das Nacheinander der Ereignisse war Verlaß, Streichungen konnte man später vornehmen. Erlebnisse mit Patienten, Gebißbefunde, Stolz auf eine besonders gelungene Brücke, Ärger mit dem Labor, weil der Abguß mißlungen war und sie dem hilflosen Opfer zum zweiten Mal das Maul mit dieser gallebitteren Silikonpaste stopfen mußte; die peinlichen Auftritte des Pharmavertreters, der ihr heute Blutungsstiller mit Orangengeschmack, beim nächsten Mal Zahnpolitur auf Bienenwachsbasis aufschwatzen wollte, und regelmäßig Frontberichte vom Kleinkrieg zwischen Frau Almeroth, die schon für Hannas Vater Amalgam gemixt und Speichel gesaugt hat, und Lise, einem siebzehnjährigen Aussiedlermädchen, das Hanna eingestellt hatte und mit einiger Mühe zur Sprechstundenhilfe ausbildete. Etwas abseits Frau Jung, vergeblich um Neutralität bemüht. Lise war tolpatschig, fahrig, überempfindlich, planlos. Sobald ihre Hände nichts zu tun hatten, verschwand sie in Tagträumen. Aber wir mochten sie. Ihr blasses ungeschminktes Gesicht – Lises Vater hielt Make-up für die unmittelbare Vorstufe der Unzucht –, ihren seltsam provinziellen, fast bäuerlichen Charme, den sie ohne Berechnung einsetzte, sinnlich, verspielt und auf altmodische Art rein; ihre ungläubige Freude über Lob oder ein Kompliment.

Lise ist erst vor fünf oder sechs Jahren mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen, aus einem hauptsächlich von Deutschstämmigen bewohnten Dorf in der kasachischen Steppe, wo man an den protestantischen Gott und die ferne Heimat glaubte, an das Land der Väter, das gelobte Land. Dort wären die Menschen fromm und fleißig und von Gott deshalb mit den Gütern der Welt reich gesegnet, wohingegen einen hier als aufrechte, aber verschwindende Minderheit die gerechte Abstrafung der russischen Heiden schuldlos mit ins Elend riß. Am Ende ihrer Kindheit, als Lise ihren Platz in der Welt kannte, gelernt hatte, wie man Kartoffeln pflanzt, Hühner rupft, Suppe kocht, die schönen Lieder Ein feste Burg ist unser Gott und He-ho spann den Wagen an, wurde sie in einem wackeligen, aus den Nähten platzenden Überlandbus einige hundert Kilometer nach Baikonur verfrachtet, in eine Sojus-Rakete gesetzt und nach Alpha germani ’90 geschossen. Dort war alles anders.

Ich habe mich immer wieder gewundert, wieviel Hanna über ihre Patienten wußte, wenn sie es denn wußte und nicht bloß schloß. Was kann einer schon groß erzählen, während vier Hände in seinem Mund arbeiten. »Du liest Gebisse wie römische Auguren Hühnerlebern«, habe ich einmal zu ihr gesagt, da war sie für den Rest des Tages beleidigt. Sie speicherte jede Kleinigkeit und rekonstruierte aus Dutzenden von Details ganze Genealogien. Manchmal durchforstete sie den halben Abend alte Patientenkarteien nach längst verstorbenen Urgroßeltern, die vor fünfunddreißig Jahren von ihrem Vater behandelt worden waren. Schon der alte Martinek hatte neben medizinischen Einträgen alles mögliche zu seinen Patienten notiert, wie er behauptete, als Erinnerungsstütze. Bei Gelegenheit, meist sonntags nach dem Kaffee, mußte er sich dann von Hanna anhand der Stichpunkte mit kriminalistischer Hartnäckigkeit nach deren Aussehen, Charakter, wirtschaftlichen Verhältnissen und Schrullen befragen lassen. Sein Gedächtnis war erstaunlich, selten, daß ihm zu einem Patienten nichts einfiel. Er wußte von Skandalen, heimlichen Liebschaften, Ehebruch, kannte die kommunalen Mandatsträger, Bündnisse, Feindschaften, wer wann gegen wen um was prozessiert hatte, Hunderte skurriler Anekdoten. Er erzählte kühl und pointiert, war aber selbst nie verwickelt. Der allseits respektierte Zahnarzt und Jagdpächter Dr. Hans Martinek hatte zeitlebens auf seinem Hochstand gesessen und das Treiben der Sauen beobachtet. Manchmal erkundigte er sich nach Kindern und Enkeln, wunderte sich oder wunderte sich nicht, stellte Ferndiagnosen, machte Therapievorschläge, belehrte Hanna eines Besseren, schimpfte über die gegenwärtige Verteufelung des Amalgams und die Sparpläne des Gesundheitsministers und hieß seine Frau mit distanzierter Bestimmtheit Sherry ausschenken, als sei sie die Sprechstundenhilfe und solle den Bohrer richten.

Hanna liebte ihren Vater abgöttisch. Sie verteidigte ihn gegen jede Kritik meinerseits, vehement und eifernd, als handele es sich dabei um Hochverrat. Ich bin zwiegespalten. Die Zuneigung, die ein Mann für den Vater seiner Frau fühlt, hält sich zwangsläufig in Grenzen. Er war immer schon da, größer und stärker als alle anderen, einen selbst inbegriffen. Er gewährt Schutz, Rechtleitung und Vergebung in Fülle, selbst als halbdebiler Trottel noch, der kaum alleine die Toilette benutzen kann. In seiner Anwesenheit verwandelte Hanna sich in ein kleines Mädchen, das um Papas Anerkennung warb. Sie äußerte nichts, was sein Mißfallen erregte, entgegnete nichts, wenn er Behandlungsmethoden pries, die längst überholt waren, oder politische Ansichten von beispielloser Borniertheit von sich gab. Später, zu Hause, verabscheute sie sich dafür, nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit energisch zu widersprechen, aber sobald der Alte selbstherrlich und majestätisch den Kopfplatz am Mittagstisch einnahm, schrumpfte Hanna zusammen, war folgsam und redete nur, wenn sie gefragt wurde.

Im Zimmer über mir fallen Schüsse. Die Leute scheinen schwerhörig zu sein. Das habe ich schon oft gedacht. Sie machen alles laut. Wahrscheinlich leiden die Rentner in der Wohnung unter mir nicht weniger. Das Haus ist fünfundzwanzig Jahre alt. Damals hat sich noch niemand für Schalldämmung interessiert. Es gibt weder Stille noch Dunkelheit. Nie. Bis zehn am Abend kann ohnehin jeder nach Belieben Krach schlagen. Bohrmaschinen rattern, Türen knallen, Schränke werden verrückt; wüste Beschimpfungen, Lustschreie, Lachanfälle, gurgelnde Abflüsse, Popmusik. Wir leben hier öffentlich, sind Lauscher und Belauschte, stehen unter Beobachtung, verurteilen Stimmen. Ich höre Hundegebell. Eine Stahltür wird aufgebrochen und kracht gegen Holz. Überhastete Schrittfolgen hallen durch das Lager einer dubiosen Spedition am Stadtrand: »Hände hoch, Polizei! – Werfen Sie die Waffe weg!« – »Ich habe sie nicht umgebracht.« – Dann der Hauptkommissar, väterliche Strenge über einer Schlucht von Traurigkeit: »Es ist aus, Tom, seien Sie vernünftig.« – Tom sackt auf einen Stuhl und wird von Weinkrämpfen geschüttelt.

Ich weiß nicht, was die Leute an Krimis finden. Tragödien, die früher Jahrhunderte erschüttert und geläutert hätten, verpuffen jetzt im Stundentakt auf allen Kanälen. Zu Tausenden verschwinden die Täter in Untersuchungsgefängnissen, enden im Kugelhagel oder richten sich selbst. Kommissare werden melancholisch, zynisch und endlich auch erschossen. Einer, ein Amerikaner, lief nach sechsundsiebzig Folgen Amok. Beim Zuschauer keine Reaktion, höchstens ein leichtes Kribbeln in der Magengegend, das man Spannung nennt. Ich kenne es von Hanna, die immer wollte, daß ich diese Filme mit ihr anschaue. Oft habe ich dem Mörder gewünscht, daß seine Flucht ein Ende hätte, daß er irgendwo Ruhe fände, einen Ort, um zu begreifen, fernab der Zivilisation, in einem Blockhaus in den Rocky Mountains, aber spätestens am Flughafen wurde er dann doch gefaßt. Vielleicht hatte er noch einige Patronen. Wenn er mit jedem Schuß ein Stück Wild erlegt hätte, wäre er zumindest durch den ersten Winter gekommen. Nach einigen Monaten Aktenverwaltung statt hektischer Fahndung, die Sonderkommission aufgelöst, keine Pressekonferenzen mehr, andere Verbrechen füllen die Zeitungen. Er kann abwägen, ob er sich stellt, ausliefern läßt oder für den Rest seines Lebens als Einsiedler Gold wäscht, Pelztiere wildert, mit besoffenen Indianern Tauschhandel treibt. Vielleicht hält er es auch eines Nachts einfach nicht länger aus. Dieses eine Mal will es dem mürben Hirn nicht gelingen, wach zu werden, sich aus dem Traum zu befreien: der unendlich zähe Widerstand des Abzugs, als wolle er die Tat mit aller Macht verhindern, Millimeter für Millimeter Gewalt, der Finger schmerzt, er wird tagelang schmerzen, dann eine ausgedehnte Phase vollkommener Stille, in der nichts geschieht, bis plötzlich ein dumpfer Schlag durch den Arm fährt, ein Revolver fällt aufs Parkett, noch immer völlig geräuschlos, und daneben eine Tote, für die er sein Leben gegeben hätte. Vielleicht stürmt er schreiend und ohne Schuhe durch die verschneiten Wälder, verballert seine letzte Munition, liquidiert ein halbes Dutzend Krüppelkiefern, bricht zusammen, erfriert. Heldentaten und Verbrechen sind unkompliziert, schnell geschehen. Zufälle, Unachtsamkeiten, Ausnahmezustände. Eine fremde Frau liegt neben dir, gleich, ob tot oder lebendig, gehört ihr das nächste Jahrzehnt. Den Fall mit dem Zuschnappen der Handschellen abzuschließen ist so unsinnig wie die obligatorische Umarmung am Ende von Romanzen, das dezent gebräunte Fleisch in weichgezeichneter Glückseligkeit, schweiß- und faltenfrei, blaue Stunde, ohne Zögern, ohne Angst.

Wir haben uns, seit wir uns kennen, unsere Leben erzählt, Hanna und ich. Das war unsere Art Liebe. Hanna täglich in ihren seltsamen Kreisen, gebetsmühlenartig, so lange, bis sie den endgültigen Wortlaut der Geschichte samt Deutung gefunden hatte. In dieser Fassung wurde sie schließlich gespeichert, ging ins offizielle Repertoire über und konnte bei passender Gelegenheit vorgetragen werden. Ich habe nie erlebt, daß Hanna in Gesellschaft etwas erzählt hätte, was ich nicht bis in Phrasierung und Stimmführung hinein bereits gehört hatte. Während der ersten Zeit habe ich sie oft unterbrochen, um die Sache abzukürzen, weil ich nicht verstand, daß Hanna so die Dinge aus der Beliebigkeit in ihren Besitz überführte. Dann starrte sie mich an, verstört, etwas wirr, aber auch ärgerlich und fuhr unbeeindruckt fort. Wie eine Spinne, die, wenn ihr ein böser Junge das halbfertige Netz zerrissen hat, ja auch kein neues anfängt, sondern einfach da weiterbaut, wo sie stehengeblieben ist, selbst auf die Gefahr hin, ihre Eier am Ende ins Nichts zu legen.

Ich hatte immer Angst, mich zu wiederholen. Nicht aus Furcht, Hanna zu langweilen. Hanna vergaß vieles nach kurzer Zeit. Die Wiederholung selbst schreckt mich, die Gewöhnung an einen bestimmten Wortlaut, der das Vage eindeutig macht und vertreibt. Mir sind die dicken weichen Bildteppiche lieb, an vielen Stellen ausgebleicht, von Motten zerfressen, nur noch ein Schatten ihrer selbst, aber voller zwielichtiger flüchtiger Ahnungen, hier und da noch scharf umrissene Fragmente in leuchtenden Farben, frisch wie am ersten Tag, die winzigen roten Blüten eines knorrigen, wehrhaften Christusdorns, der jahrelang neben der Terrassentür stand und von dem niemand weiß, warum gerade er überlebt hat; leptosome, wenig standfeste Tierfiguren aus grellbunten Pfeifenputzern und krakelig bemaltem Styropor, die nie so gelangen wie in der Bastelanleitung; der schreiende, vor Schmerz, in Todesangst, zum Himmel schreiende, blutüberströmte Maulwurf, dickflüssiges Zinnober auf schwarzem Samt, den Tante Dora mit ihrem langen, schmalgeschliffenen Küchenmesser zwischen den Gitterstäben des Kellerfensters erstach, nachdem er doch auf dem Kiesweg schon mehreren Spatenhieben ausgewichen war, und ich konnte ihn nicht retten. Mit jeder Wiederholung werden die Bilder blasser, fadenscheiniger, bis am Ende der Putz hervortritt, flach und hart und spiegelglatt poliert, der nur das kalte Echo der Worte zurückwirft.

Aber Hanna wollte wissen, wie ich geworden bin, wer ich vor ihr war, gerade so, wie bei ihren Patienten, nur hundertmal genauer. Sie befragte meine Eltern, Onkel und Tanten, blätterte bei jeder Gelegenheit die dicken kunstledernen Photoalben durch, in denen meine Entwicklung bis zum dreizehnten Lebensjahr ausführlich dokumentiert ist, sieben an der Zahl. In den ersten fünf Bänden hat Mutter noch zu jedem Bild einen lustigen Kommentar geschrieben. Hanna brauchte festen Boden unter den Füßen, nicht dieses Puzzle aus zerfledderten Stoffetzen. Also habe ich sie gereinigt, ausgebürstet, nachkoloriert, Stück für Stück vernäht, bis sich zusammenhängende Szenen ergaben. Und allmählich ist darüber auch die Zeit vor Hanna in ihren Besitz übergegangen. Zumindest hatte sie eine Art Vormundschaft darüber. Meine Geschichte ist die, die Hanna verstand. Hätte ich nicht ihr, sondern Regina, Eva oder Astrid erzählt, sähe alles anders aus. Was ich Hanna nicht erzählen konnte, ist irgendwann verschwunden. Vielleicht ist es auch noch da, in einen Kokon eingesponnen, verkapselt und geduldig abwartend, wie die Herpesviren in meiner Lippe, die auf eine schwache Stunde des Immunsystems lauern, auf den nächsten Fieberschub, einen Sonnenstich, einen Vollrausch.

Ich bin jetzt dreiunddreißig, und ein Drittel meines Lebens gehört Hanna ganz. Was mit den ersten zweiundzwanzig Jahren ist, weiß ich, wie gesagt, noch nicht. Gibt es mich unabhängig von ihr überhaupt? Reste von Leinenbinden, eine Handvoll Glassplitter um den Schädel verstreut, die Gürtelschnalle aus Messing, der schmucklose Ring: mein Hügelgrab im Schatten einer Esche, ein Findling als Dach. Ich werde Staubpinsel aus feinstem Marderhaar verwenden, ein Fläschchen Kunstharz, um die morschen Knochen notdürftig zu stabilisieren. Kleine Pappschachteln mit Schaumstoff, mit Watte ausgekleidet und sorgsam beschriftet, nehmen mich auf.

Die Bilder. Die Bilder habe ich für mich. Und die Träume vielleicht, Angst und Schrecken, unbeeinflußt von Mondphasen. Hanna fand Bilder schön oder nicht schön. Zwar ließ sie sich von mir bereitwillig durch Museen und Ausstellungen schleppen, hätte unter anderen Umständen allerdings auch gut darauf verzichten können. Wenn ich ihr wortreiche Erklärungen gab, stilgeschichtliche Einordnungen, gefiel ihr ein Bild gleich viel besser. Ich wollte seit meinem sechzehnten Lebensjahr Kunsthistoriker werden. Vorher wollte ich im Prinzip auch nichts anderes, aber ein Beruf dieser Art existierte bei uns nicht. Ich wollte die Bilder verstehen, die Menschen hinter den Bildern und die Menschen auf den Bildern. Aber das ist nicht Wissenschaft, sondern Liebhaberei. So begründete schon Professor van den Boom sein befriedigend für meine Magisterarbeit. Über meine Karriere mache ich mir keine Illusionen. Sie fällt aus. Ich kann damit gut leben, und Hanna scherte sich auch nicht darum. Man weiß ja, welche Leute die Promotionsstipendien, Assistentenstellen und Universitätspreise bekommen: Papiertiger, Staubmilben. Aus lauter Sorge, eine These nicht beweisen zu können, werfen sie statt Gedanken lieber Anmerkungen zu Anmerkungen zu Anmerkungen aus. Agnes Bleyle, Dissertation über die Floralsymbolik beim Meister des Frankfurter Paradiesgärtleins, 238 Seiten, 657 Fußnoten, summa cum laude. Eva Liebig, meine alte Feindin, hat unlängst in Kleve eine Archivalie entdeckt, der zufolge Henrick Douwerman 1513 mit 140 Gulden verschuldet gewesen ist. Damit reist sie jetzt von Kongreß zu Kongreß.

Anfangs haben viele geglaubt, daß auch aus mir etwas Besonderes würde. Meine Eltern natürlich, aber außerdem die Kindergärtnerin, Lehrer und unser Hausarzt. Etwas Besonderes hieß: Rechtsanwalt, Mediziner, Studienrat. Mein Großvater mütterlicherseits war so sehr von meiner Einzigartigkeit überzeugt, daß er ein Buch über mich begann. Es bricht gegen Ende des dritten Lebensjahrs auf Seite vierundzwanzig ab. Mutter gab mir das Kuvert zehn Jahre nach seinem Tod zusammen mit Briefen und Postkarten. Beim Aufräumen der Kellerschränke war sie darauf gestoßen, und beinahe wäre der ganze Stapel im Müll gelandet. Seine Handschrift kam noch dramatischer daher, als ich sie in Erinnerung gehabt hatte. Mühsam eingeübte Schwünge und Schleifen, ausladend wie bei Autographen aus der päpstlichen Kanzlei, die Großbuchstaben zu wilden Initialen aufgebauscht. Spiralen wickelten sich um die Senkrechten der großen D; Rinder standen wie in einem alten Nachen, der über den blaßblauen Tintenfluß setzte, auf dem Abschwung des R, die Querbalken der T und F flatterten hoch über den Zeilen, Wimpel über Schlachtreihen. Eine andere Zeit wehte herüber, das vergangene Jahrhundert, die Vergangenheit überhaupt, Kaiserreiche, Kanonendonner. Die Vorfahren wisperten sich meinen Namen zu. Aus unserem Stamm wird einer hervorgehen. Aber die Prophezeiung erfüllte sich nicht. Bei meinem letzten Umzug sind die Blätter offenbar endgültig verlorengegangen. Möglich, daß Hanna sie weggeworfen hat.

 

Die Kunst zu Beginn: fremd, roh, stolz. Gold und Pfeffer. Koggen vor dem Stadttor, die Segel voll Wind. Ein düster geharnischter Mohr im Kreis seiner Getreuen: der Heidenkönig. Die Linke am Knauf des mächtigen Schwerts, in der Rechten das Zepter. Hellebarden, Morgensterne, Bögen, Pfeile, das Löwenbanner. Im Hintergrund tobt ein Kampf. Er wird verlorengehen. Vor dem König sitzt die Königin in einen purpurnen, hermelingefütterten Mantel gehüllt. Ihre Arme scheinen die Erinnerung an einen Säugling zu wiegen. (Das Jesuskind? – Sie ist nicht die Gottesmutter Maria.) Den Armbrustbolzen, der ihr im Hals steckt, sieht man kaum, es fließt auch kein Blut. Zofen ringsherum, kalkweiße Gesichter, aber lächelnd: Ihre Herrin wurde des Martyriums für würdig befunden. Der Himmel hat ein geöffnetes Fenster, Gottvater schaut zu, wohlgefällig, ohne erkennbare Regung. Engel steigen auf und nieder, legen die reine Seele, ein kränkliches, unterernährtes Kind, vertrauensvoll in seine Hände. Der Himmel ist jedoch schon blau, und erste Wolken sind aufgezogen: rechter Flügel des Georgsaltars, A. D. 1484, St.-Nicolai-Kirche, Kalkar, Niederrhein. Der Name des Malers ist nicht überliefert. Eine rätselhafte Geschichte, die mir damals niemand erzählen konnte. Samstag für Samstag eine Dreiviertelstunde Betrachtung, Staunen, vorsichtige Schlußfolgerungen, allesamt falsch. Während der Pfarrer zu Buße und Umkehr rief, auf daß wir nicht dem ewigen Feuer anheimfielen, während das Opfer zur Vergebung unserer Sünden nach der Ordnung Melchisedeks dargebracht wurde, der Segen des dreifaltigen Gottes auf uns kam, Weisung und Trost, Erschütterung und Langeweile, doch auf die entscheidenden Fragen gab es keine Antwort: Wer ist die Frau? Wer der fremde Fürst? Wer hat geschossen? Warum schreit sie nicht?

Hanna hat die Tafel mehrfach gesehen. Sie ist ihr nicht im Gedächtnis geblieben.

Die Legende: Ursula, Tochter aus englischem Herrschergeschlecht, soll mit einem Ungläubigen verheiratet werden. Aber sie hat ihr Herz Gott versprochen. Eine Frist von drei Jahren wird vereinbart, um den drohenden Krieg mit der Sippe des Abgewiesenen zu verhindern. Ursula zieht mit 11000 Jungfrauen nach Rom. Entfacht das Feuer des Glaubens neu. Der Papst legt sein Amt nieder und folgt ihr nach. Auf der Rückfahrt geraten ihre Schiffe in ein verheerendes Unwetter, werden abgetrieben und gelangen über den Rhein nach Köln, das von den Hunnen belagert wird. Alle Gefährtinnen werden erschlagen. Über das Schicksal des Papstes ist nichts bekannt. Aber der Anführer der Barbaren verfällt Ursulas Liebreiz, muß sie besitzen. Sie allein soll sein Weib sein, die Freude seiner Tage und Nächte, sein ein und alles, bis in den Tod. Als sie ihn um Jesu willen zurückweist, eher sterben will, als diese verdammte Menschenliebe aushalten, erschießt er sie eigenhändig mit einem Pfeil. Aber der Pfeil trifft ihn selbst. Sein Kampfeswille ist gebrochen, er befiehlt seinen Truppen den Rückzug, flieht den Ort des Schreckens, verschwindet namenlos in den Wirren der Völkerwanderung. Köln ist frei.

 

Wir wohnten damals in Niel. Mutter war schon seit zehn Jahren nicht mehr die Dorflehrerin. – Das klingt, als ob sich damals und dort etwas ereignet hätte, und wir wären danach fortgegangen. Aber von Mutter abgesehen, die aus Essen kam, hat bis zu meinem Auszug keiner von uns je woanders als in Niel gewohnt.

Niel gehörte zu Kalkar. Köln lag jenseits des Horizonts und zugleich nahe, Mutters Tanten und Onkel Leonard lebten dort. Niel war ein weitläufiges Dorf. Die Häuser wahrten, außer im Kern, wo sich um Kirche, Pastorat, Schulhaus und Friedhof die vier größten Gehöfte drängten, gebührenden Abstand zueinander. Dazwischen Äcker, Weiden, Koppeln. Es hatte als einzige feste Grenze im Osten den Rhein, nach Westen hin allmähliche Auflösung in Kiesgruben und Brachland, der Süden ging in Weert über, wobei niemand genau sagen konnte, wo Niel aufhörte und Weert anfing. Niel-Nord zerfiel hinter dem Postamt in letzten Melkställen.

Zweimal jährlich Hochwasser, aber der Deich hielt. Wir sahen vom Eßzimmer aus Flaggen und Kajüten dahinter vorbeiziehen, Vater immer ein wenig bang: Vierhundert Jahre zuvor hatte Niel auf der anderen Rheinseite gelegen. Dann war es eine Zeitlang Insel mit Landverbindung bei niedrigem Pegelstand gewesen, am Ende des 17. Jahrhunderts wurde es endgültig linksrheinisch, und bei den Nielern bildete sich eine neue Identität aus. Seitdem rückte der Fluß ab, bis in den fünfziger Jahren die Ufer massiv befestigt wurden. Jetzt ist er zum Stillhalten gezwungen.

Die Wählerliste umfaßte 1962, in dem Jahr, in dem ich geboren wurde, außer denen der Eltern, 347 Namen. Niel hatte also 349 erwachsene Einwohner. Es gab zwei Bäcker mit angeschlossenem Gemischtwarenladen, einen Schmied, zwei Schreiner, ein Postamt samt Postbeamten, nämlich Hein mit dem tränenden Glasauge, der auch allmorgendlich die Briefe austrug; zwei Wirtschaften, Sahm im Zentrum und Thekaat im Süden, bei denen sich die Stammtische trafen, Hochzeiten, Vereinsfeste und Beerdigungen gefeiert wurden, Beerdigungen fast immer bei Sahm, wegen der Nähe zum Friedhof.

Vaters Großeltern hatten Anfang des Jahrhunderts den kleinen Hof in Südniel gekauft, gleich hinterm Damm, weil auf der anderen Rheinseite kein Stück Acker mehr zu bekommen war. Mein Urgroßvater konnte außer Landwirtschaft nichts. Das Geld stammte von seinem älteren Bruder, der den Familienbesitz bewirtschaftete. Ländereien blieben in unserer Gegend ungeteilt. Söhne, die nicht erbten, mußten sich als Knechte oder Melker verdingen. Die meisten waren kaum in der Lage, einen eigenen Hausstand zu gründen, von Fortpflanzung ganz zu schweigen. Der Zweig verdorrte. Immerhin hatte mein Urgroßonkel bereits ausreichend Vermögen erwirtschaftet, um seinen Bruder abfinden zu können. Der suchte sich eine neue Bleibe und eine Frau. Wir starben nicht aus. Von meiner Urgroßmutter weiß ich nichts, nicht einmal, wie sie hieß, wahrscheinlich Maria oder Anna oder Annamaria.

Manchmal beneide ich Adelige und Großbauern, die ihre Sippen über Jahrhunderte zurückverfolgen können. Sie haben weitverzweigte Stammbäume, die hängen in protzigen Goldrahmen neben dem Kamin. Sie bewohnen Stammlande, zeugen Stammhalter, die immer wieder dieselben Namen tragen, Robert, Johannes oder Wilhelm zum Beispiel, von denen wissen sie allerhand zu erzählen. Fehden, Intrigen, Husarenstücke, Brautraub und Brudermord. Es gibt eine verstoßene Linie, Abkömmlinge des schwarzen Schafs, dessen Erinnerung durch hartnäckiges Totschweigen gewahrt wird. Unsereins kennt vielleicht drei, vier Generationen, danach herrscht Dunkel.

Erbnamen gab es in unserer Familie allerdings auch. Eigentlich hätte ich wieder Jakob heißen müssen, gerufen »Köb«, wie mein Großvater, mein Vater heißt Josef, »Jupp«, wie sein Großvater, immer abwechselnd, aber meine Eltern haben mich, insbesondere auf Mutters Drängen hin, Thomas genannt, und zwar nicht, was noch angegangen wäre, nach dem Aquinaten, sondern nach dem Apostel, dem Zweifler. Als hätte sie von Anfang an ausschließen wollen, daß ich jemals wirklich zu Niel gehören würde. Vielleicht wußte sie auch schon, daß man in Vaters Familie nicht alt wurde, und hoffte, mich vor einem frühen Tod zu bewahren, indem sie die Jakob-Josef-Linie ein für allemal abbrach. Von den Männern hat, obschon sie alle kräftige, äußerlich kerngesunde Leute waren, außer Vater keiner die sechzig erreicht, von den Frauen ist keine siebzig geworden. Wir sind ein Kurzprogramm.

Als Mutter nach Niel kam, Januar 1958, war der Vater meines Vaters – mein Großvater ist er ja genaugenommen nie gewesen  – gerade im Alter von fünfundfünfzig an Blasenkrebs gestorben. Vater sagt, er sei ziemlich elend krepiert, und im ganzen Haus habe es noch Wochen später nach Pisse gerochen. Seine Frau, die immerhin sechs Jahre lang meine Großmutter war, starb zehn Jahre später, mit dreiundsechzig an Darmkrebs. Nach mehreren nutzlosen Eingriffen lag sie sieben oder acht Monate zu Hause und wurde von ihren Kindern gepflegt. Die Geschwulst habe sich langsam ins Freie gezwängt. Erst sei da ein erbsengroßes Löchlein gewesen, das nach kurzer Zeit etwas dem Inneren einer Walnuß Ähnliches nach draußen gelassen habe. Als sie tot war, drückte sich ein Fleischkloß von der Größe einer eingeweichten Semmel aus ihrem Leib.

Während ihres Sterbens ging mein Vater, der, obwohl nicht der Erstgeborene, ihr Lieblingssohn war, abends fast täglich zu ihr, um sie zu waschen und die Wunde zu verbinden. Vater löste dann immer auch ihr Haar aus dem Knoten, aufgrund starken Rheumas hatte sie einen fast steifen rechten Arm und konnte es nicht selbst. Er löste ihr Haar, fettig, vom Angstschweiß verklebt, oder strohtrocken, wenn es frisch gewaschen war, das lange alte gelbgraue Haar einer todkranken Frau, die, wenn man den wenigen Photos glauben darf, nie besonders schön gewesen war, Haar ohne Zauberkraft, das sie höchstens in mondlosen Nächten für ihren Mann, meinen verhinderten Großvater, geöffnet hatte, der Sohn öffnete es jetzt, um es zu kämmen, Strähne für Strähne in die Hand zu nehmen, vielleicht zu wiegen, und dann mit der Bürste in kräftigen Zügen vom Scheitel herunterzufahren, was wohl vorher nie ein Mann getan hatte. Vermutlich hätte sie es auch befremdlich gefunden, wenn nicht obszön: unvorstellbar, daß Jakob Walkenbach auf eine derart absonderliche Idee verfallen wäre.

Ich habe sie während ihres Sterbejahres dreimal besucht. Häufigere Besuche hätten sie zu sehr angestrengt, zumal sie zehn Enkel hatte. Ich wußte, daß sie am Sterben war. Sie lag da sehr dunkel im Schlafzimmer, die Blenden waren geschlossen, und die Nachttischlampe gab nur wenig trübes Licht ab. Lag oder saß halb mit zwei dicken Kissen im Rücken in ihrer Hälfte des Ehebetts, während die andere von einem steifen braunroten Stoff bedeckt wurde, der auch über ihre Seite gezogen wurde, wenn sie das Bett noch für länger verließ. Über dem Bett hingen eine nazarenische Lithographie, Anna Selbdritt, und das Kruzifix aus Steinguß. In der hintersten Ecke stand kaum noch erkennbar der Klostuhl, den Vater irgendwo aufgetrieben hatte. Die Luft war stickig. Es roch nach Salbe, Ausscheidungen und etwas Unbekanntem. Sie nahm meine Hände in ihre, ich konnte sie nicht schnell genug wegziehen, und sprach freundlich zu mir.

 

Ich habe den Geruch jetzt wieder deutlich in Erinnerung. Als Sechsjährigem hat er mir Brechreiz verursacht. Für Hanna verband er sich lediglich mit ihrer Arbeit in der Klinik während des Studiums, im praktischen Jahr: »Ein Krankenhaus riecht nun mal nach Krankenhaus«, sagte sie, »so wie eine Autowerkstatt nach Öl riecht und ein Frisiersalon nach Haarspray.«

Mein Kinderschrecken, nachdem ich begriffen hatte, daß Totsein heißt, jemanden nie mehr wiederzusehen. Er ist geblieben, selbst der Schnaps konnte ihn höchstens für Momente vertreiben. Vielleicht hatte Hanna deshalb keine Angst: Sie kannte den Tod nur aus sicherer Entfernung. Und natürlich auch, weil sie Vertrauen in die Medizin hatte. Und weil von ihren Verwandten niemand vor der Zeit gestorben war.

Es ist ihre entsetzliche Gelassenheit gewesen, die mir Hanna von Stunde zu Stunde fremder gemacht hat, am Ende unerträglich. Wenn sie geweint hätte: »Du mußt bei mir bleiben, Walkenbach, jeden Augenblick mußt du mich festhalten, vor allem wenn es dunkel ist«, das hätte ich verstanden, mir wären Kräfte zugewachsen, ich hätte alles für sie getan. Und jetzt würden wir uns erholen. Wir wären noch einmal nach Italien gefahren, erleichtert oder um zu vergessen, wenigstens für Augenblicke.

Statt dessen: »Ich rege mich erst auf, wenn ich wirklich Grund dazu habe.«

Der Griff, mit dem sie mein Handgelenk umklammert hat, als es zu spät war.

Ich werde diesen Brief ins Altpapier geben, er nützt niemandem mehr.

 

1974 starb Onkel Theo, der ältere Bruder meines Vaters, kaum vierundvierzigjährig, an einem Infarkt. Ich erinnere die nächtliche Szene: Licht im Flur, draußen gurgelte unser Mercedes im Leerlauf und fuhr dann fort, mein Wecker stand auf halb vier, im Bad lief der Wasserhahn, wovon war ich aufgewacht? Mutter zog sich an, ich lehnte tranig und schlafwarm im Türrahmen, ließ mich auf die Wäschetonne fallen, hielt mühsam die Augen auf. Sie sagte, während sie mit allen zehn Fingern fette Tagescreme in ihrem Gesicht verrieb, Tante Lene habe angerufen, Onkel Theo sei tot, und ich solle wieder ins Bett gehen. Morgens wußte ich, daß es kein schlechter Traum gewesen war. Träume fühlten sich anders an. Er habe Tante Lene gegen halb zwei geweckt, weil er Schmerzen in der Brust gehabt habe und Übelkeit und Schwindel, weißt du, zehn Minuten später, noch vor dem Eintreffen des Notarztes, sei er tot gewesen – so Mutter beim Frühstück. Vater ging an dem Tag nicht zur Arbeit, sondern half der Tante, die zahllosen Formalitäten zu regeln: Verhandlungen mit dem Bestattungsunternehmer, Auswahl des Sarges, Eiche massiv oder Furnier, Bronze- oder Holzkreuz, mit oder ohne Corpus; Zeitungsanzeigen, Drucksachen, das Bild für den Totenzettel (Jan Joests Auferstehungstafel vom Kalkarer Hauptaltar), die Kurzbiographie, Gebete, Spruch des Herrn: »Denn alles Fleisch, es ist wie Gras«; Anzahl der Gedecke beim Leichenschmaus, wie viele Sorten Wurst. Während der Beerdigung trug Vater seine dunkle Sonnenbrille, obwohl die Sonne gar nicht schien. Er nahm sie weder in der Kirche noch später beim Kaffee ab. Von der Seite sah ich, daß er stark gerötete Augen hatte. Onkel Henno, der jüngere Bruder, der den elterlichen Hof übernommen hatte, weinte ohne Brille. Es war eine sehr traurige Beerdigung. Anschließend wurde viel getrunken. Wim van Dyck stürzte am frühen Abend beim Verlassen der Wirtschaft und schlug sich den Ellbogen auf.

Mit seinem plötzlichen Tod wurde Onkel Theos Scheitern endgültig. Vielleicht war er froh, die Sache hinter sich zu haben. Seine Tiefbaufirma, gegründet, um unsere rückständige Region mit einer modernen Infrastruktur auszustatten, hatte zwei Jahre zuvor Konkurs anmelden müssen. Irgend etwas war ihm über den Kopf gewachsen, vielleicht hing der Niedergang entfernt mit der Ölkrise zusammen, vielleicht hatte er sich schlicht übernommen, betriebswirtschaftliche Fragen hatten ihn nie interessiert. Anfangs, als überall neue Straßen gebaut und die Treckerpisten asphaltiert wurden, blühte das Geschäft. Onkel Theo war der reichste Mann im Dorf. Er besaß Bagger, Planierraupen, Teerwalzen, ein Dutzend Lastwagen und begann mit dem Bau einer Villa. Auf Flurböden und Treppe wurde Carrara-Marmor verlegt, in den Wohnräumen Parkett mit Wurzelholzintarsien. Aus Delft ließ er sich handbemalte Kacheln für Küche und Bäder liefern, die Dachrinnen sollten aus Kupfer sein. Ein Schwimmbad war geplant, im Keller ein Kühlraum für Schweinehälften und Rinderviertel, Schmalz und Schwartenmagen. Der Konkursrichter platzte mitten in die Bauarbeiten. Immerhin waren die Wohnräume zu diesem Zeitpunkt schon so weit gediehen, daß Onkel Theo mit seiner Familie – er hatte vier Kinder – einziehen konnte. Zur gleichen Zeit zündete sich Ernst Krebber, Onkel Theos Konkurrent aus Mörmter, sonntags beim Stammtisch – demselben, zu dem auch mein Vater und seine Brüder gingen – die Havannas mit gerollten Hundertmarkscheinen an und ließ Gerd Thekaat eine Flasche Asbach bringen. Sobald die Zigarre glühte, drückte er die Geldreste in den Ascher. Dabei schaute er jedem aus der Runde fest in die Augen, den Arm rechtwinklig aufs Knie gestützt, denn das war erst der Anfang. Der Kalkarer Sparkassendirektor hatte kurz zuvor nach einer Prüfung der Bilanzen beider Unternehmen seine Kreditzusagen auf Krebber beschränkt, weil auf so engem Raum ohnehin nur einer überleben könne. Er hatte damit Onkel Theos Pleite verschuldet. Selbstverständlich, daß unsere Familie daraufhin geschlossen und binnen eines Monats ihre Konten bei der Sparkasse kündigte.

Sechs oder sieben Jahre später, als sämtliche Feldwege asphaltiert, alle Orte umgangen und auch die letzten Dörfer an die städtische Kanalisation angeschlossen waren, bekam auch Krebber keinen Kredit mehr und mußte verkaufen.

 

Jetzt ist wieder eine Fliege in den Schnaps gefallen. Als ob ich nichts Besseres zu tun hätte, als Fliegenleben zu retten. Die kleinen Drosophilas lieben alle Arten alkoholischer Getränke. Sie tauchen in jedem Spätsommer auf. Wenn ich auf dem Weg zum Supermarkt durch einen Brei aus faulenden Mirabellen waten muß, weiß ich, daß die Fliegenzeit naht. Beim Einkaufen kleben die Schuhe dann immer am Boden. Drosophila melanogaster: die braunbäuchige Taufreundin. Ein gewaltiger Name für einen unscheinbaren Schmarotzer. Zehn bis fünfzehn schwirren momentan um die Lampe. Warum sie so unwiderstehlich und todsicher Wein- und Schnapsgläser ansteuern, kann ich auch nicht sagen. Mir scheint das Fliegenschicksal nicht so schwer, daß Rauschmittel vonnöten wären, um es auszuhalten. Vielleicht ist die Erklärung einfach die, daß der Duft von vergammelnden Früchten das Gären oder Brennen unbeschadet übersteht. Die Fliegen riechen ein Festmahl und machen sich aus allen Teilen der Wohnung auf den Weg zum heiligen Gral. Endlich am Ziel, krabbeln sie erst einige Zeit seine Wände entlang, schlürfen Reste, drehen eine Abschiedsrunde im Glas, schließlich bricht die Bewegungskoordination zusammen, Manövrierunfähigkeit, sie stürzen ab und ersaufen, wenn ich sie nicht rechtzeitig herausfische. Wahrscheinlich ist die Dosis trotzdem längst tödlich. Jedenfalls habe ich nie beobachtet, daß eine aus dem Koma erwacht wäre.

 

Übrigens ist Niel nicht der richtige Name des Ortes. Niel hieß ein anderes Dorf in unserer Gegend, dort wurden im Februar 1945 von Holland aus die deutschen Linien durchbrochen. Aber da es das echte Niel längst nicht mehr gibt, spielt es keine Rolle, ob ich H., das es auch nicht mehr gibt, jetzt Niel nenne oder Niel H. oder irgendeinen anderen Ort irgendwie. Außerdem wohnen meine Eltern noch da, wo früher Niel gewesen ist, und Tante Lene und Tante Marga, Onkel Hennos Witwe, mit ihren drei Töchtern, die als einzige aus unserer Generation geblieben sind. Sie alle werden froh sein, wenn sie mich verleugnen können. Da ist es besser, mit Niel fortzufahren.