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Benedikt Stuchtey

GESCHICHTE IRLANDS

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

C.H.Beck

 


 

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Zum Buch

Die Geschichte Irlands war von ihren Anfängen an nicht nur mit der englischen Geschichte, sondern auch mit dem übrigen Europa und später mit der außereuropäischen Welt eng verflochten. Invasionen verschiedener Völker, Englands Kampf um die Herrschaft in Irland und große Auswanderungswellen prägten die Insel in besonderem Maße. Benedikt Stuchtey gibt in diesem Buch einen kompakten Überblick über die Geschichte Irlands, die von langen und blutigen Konflikten, aber auch von einer blühenden Kultur gekennzeichnet ist und in der jüngsten Zeit den Weg zu einem stabileren Frieden eingeschlagen hat.

Über den Autor

Benedikt Stuchtey ist Stellvertretender Direktor des Deutschen Historischen Instituts in London und lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Konstanz.

Für meinen Vater

Inhalt

Einleitung

  I. Zeitalter der Invasionen: 1169–1534

Vorgeschichte bis zum 12. Jahrhundert

Gesellschaftliche Strukturen

Weltliche und geistliche Herrschaft

Kolonisierung und Krisen

Äußere und innere Fremdherrschaft

Zwischen archaischer Tradition und Modernisierung

Die Unregierbarkeit Irlands

 II. Reformation und Restauration: 1534–1691

Wirtschaft und Gesellschaft

Reformation und politische Autorität

Die Besiedlungspolitik

Krieg

Die Vermessung Irlands

Zwei Kulturen

III. Das protestantische Irland: 1691–1800

Die protestantische Ascendancy

Politisches und kulturelles Leben

Kolonialer Nationalismus und geistiges Leben

Das katholische Irland

Wirtschaft und Handel

Amerika, Frankreich und Irland

IV. Jahrhundert der Extreme: 1801–1921

Die Massenmobilisierung der öffentlichen Meinung

Die große Hungersnot 1845–1849

Wirtschaft und Infrastruktur

Emigration und sozialer Wandel

Bildung und geistiges Leben

Land, Home Rule und Protestantischer Unionismus

Irland und das Britische Empire

Zwischen Krieg und Revolution

 V. Teilung und Internationalisierung: 1922–2012

Gewalt als Grundmotiv

Eigenwege des Südens

Katholische Kirche, politische und gesellschaftliche Spannungen

Wandel und Öffnung

Eigenwege des Nordens

Der Nordirlandkonflikt und die Folgen

Irland in Europa und der Welt

 

Schluss

 

Zeittafel

Literatur

Personenregister

Einleitung

Geographisch liegt Irland in der Mitte des europäisch-atlantischen Kulturraums. Wie die Geschichte jeder anderen europäischen Nation ist auch diejenige Irlands von der Geschichte seiner Nachbarn geprägt. Sie nur auf die Auseinandersetzung mit England zu reduzieren, wäre aber eine Verkürzung. Von Irischer See und Atlantischem Ozean umgeben, hat die Insel gleichermaßen an europäischen wie an globalen historischen Prozessen teilgehabt und diese mitgestaltet. So waren Iren zuweilen in der Fremde erfolgreicher als zu Hause. Der Erfolg stellte sich manchmal erst nach Generationen ein, wie z.B. bei der Familie Kennedy, bei der irische Herkunft und amerikanische Identität miteinander verschmolzen. Blieb er aus und bildeten die Iren im Gastland lediglich eine untergeordnete Randgruppe wie viele andere Einwanderer, so spricht man von der für die irische Geschichte so charakteristischen Diaspora. Insgesamt ist die Emigration eines der dominanten Themen der irischen Geschichte.

Ein anderes ist Fremdherrschaft. Der anglo-irische Historiker W. E. H. Lecky meinte einmal, die Geschichte seines Landes sei die der Eroberung durch Wikinger, Normannen und Engländer. Die Römer hingegen hätten darauf verzichtet, auch hier die kontinentale Zivilisation einzuführen. Die Zweiteilung der Insel in eine östliche, in Klima und Bodenbeschaffenheit begünstigte, den Briten nähere Hälfte und eine westliche mit atlantischem Klima und kärglichem Boden ist eine für die irische Geschichte wichtige Konstante. Was in einigen europäischen Ländern das Nord-Süd-Gefälle ist, war in Irland zunächst ein Ost-West-Gegensatz.

Als Friedrich Engels im Zuge seiner Studien über die britische Arbeiterschaft im Herbst 1869 auch Irland besuchte, prägte er den Begriff des englischen Kolonialismus in Irland. Die Teilung der Insel, ob in Nord und Süd oder in Ost und West, ist eine Folge der schwierigen Beziehung zwischen dem irischen Paddy (Patrick) und dem englischen Mr. Punch: Der eine versuchte stets, sich von der Herrschaft des anderen zu emanzipieren oder sich mit ihr zu arrangieren. Die Engländer waren bestrebt, die Insel zu beherrschen, weil es ansonsten andere getan hätten. Wenn Spanier Ende des 16. Jahrhunderts, Franzosen zur Zeit Napoleons und Deutsche im 20. Jahrhundert Kontrolle über Irland zu gewinnen versuchten, dann war das in erster Linie in der Idee begründet, England auf diese Weise militärisch in die Zange zu nehmen. Wie so manches Juwel seines Empires – Indien, Palästina, Zypern –, so behandelte England auch seine älteste Kolonie: Es teilte sie.

Das heutige Nordirland hat eine Fläche von 5452 Quadratmeilen (17 % der Insel), die Republik Irland erstreckt sich auf etwa 27.136 Quadratmeilen (83 %). Die gemeinsame Grenze von ungefähr 250 Meilen Länge wurde mit dem Government of Ireland Act von 1922 festgelegt. An die Gründung des Irish Free State, aus dem 1937 de facto, 1949 dann de jure die Republic of Ireland wurde, war die Hoffnung geknüpft, dass die jahrhundertelange irische Geschichte von Gewalt und Gegengewalt zu einem Ende kommen würde. Wie vergebens diese Hoffnung war, ist bekannt.

Doch die politische Geographie Irlands ist älter als die Geschichte der letzten 90 Jahre. Sie lässt sich bis ins 7. Jahrhundert zurückverfolgen, die noch heute gültige Einteilung in vier Provinzen geht auf vier große Königreiche des 12. Jahrhunderts zurück. Zuvor schon hatten die Normannen im 11. Jahrhundert die Kleineinteilung des Landes, die die Angelsachsen mit der Einführung von Grafschaften begonnen hatten, in Baronien verfeinert und wie auch in der Normandie und in Sizilien einen straff zentralisierten Lehnsstaat eingerichtet. Was zunächst der Eintreibung von Steuern und der militärischen Rechtsprechung gedient hatte, erwies sich im Laufe der Jahrhunderte als wichtige Grundlage für die Erschließung der Insel. Die nördliche Provinz Ulster (26,3 %) umfasst bis heute die Grafschaften Antrim, Armagh, Down, Fermanagh, Londonderry und Tyrone, die zu Nordirland, d.h. zum Vereinigten Königreich, gehören; Cavan, Donegal und Monaghan sind Teil der Republik. Zur östlichen Provinz Leinster (23,4 %) zählen die Grafschaften Carlow, Dublin, Kildare, Kilkenny, Laois, Longford, Louth, Meath, Offaly, Westmeath, Wexford und Wicklow. Munster (29,3 %) im Süden besteht aus den sechs Grafschaften Clare, Cork, Kerry, Limerick, Tipperary und Waterford. Das westliche Connacht (21 %) ist Irlands kleinste und historisch ärmste Provinz mit den fünf Grafschaften Galway, Leitrim, Mayo, Roscommon und Sligo.

Will man sich der irischen Geschichte von den Anfängen bis in die Gegenwart nähern, so bieten sich verschiedene thematische Zugriffe an. Historikerinnen und Historiker Irlands haben neben den bereits genannten Spannungsfeldern Emigration und Fremdherrschaft stets auch auf andere verwiesen, wie etwa Religion, die keltische Kultur, die Landfrage, Arbeitslosigkeit, Armut und Gewalt. Teils sind sie spezifische Signaturen einer bestimmten Zeit, teils epochenübergreifend wirksam. Die religiöse Frage und die Konflikte zwischen Katholiken und Protestanten haben seit der Reformation eine entscheidende politische Wirkung entfaltet. Darin unterscheidet sich Irland nicht grundlegend von der europäischen Entwicklung. Was aber als genuin irisch gelten kann, ist die soziale Sprengkraft des Religiösen, wie man sie in dieser Form sonst wohl nur in Polen findet. Kontinentale Besucher Irlands im 18. und 19. Jahrhundert haben hervorgehoben, wie die von ihnen beobachteten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme konfessionell verortet werden konnten. Hier verbietet sich eine allzu versöhnliche Interpretation der Vergangenheit von selbst.

Der französische politische Denker Alexis de Tocqueville schilderte in seinen Reisebeschreibungen vom Sommer 1835 drei Grundzüge Irlands: die außergewöhnliche Armut, den unnachgiebigen Hass auf die landbesitzende Aristokratie und die feste Bindung an die Kirche der Vorfahren. Auch in der irischen Literatur bis hin zu William Butler Yeats und James Joyce sind diese Themen immer wieder angeklungen. In der Geschichtsschreibung wird zunehmend Wert darauf gelegt, sie nicht nur als Gelenkstellen der Nationalgeschichte zu begreifen, sondern sie in die europäische wie in die Globalgeschichte zu integrieren. Armut, Hungersnot und Emigration in die Neue Welt gehören unmittelbar zusammen, ebenso wie der protestantische Landadel und das missionarische wie militärische Engagement Irlands im Britischen Empire.

Gleichwohl macht man es sich zu leicht, wenn man nur die üblichen Generalisierungen gegeneinanderstellt: Auf Enteignung der Mehrheit und Dominanz der kleinen Landelite seien Vergeltung, Rebellion und der katholische Nationalismus gefolgt. Oder umgekehrt: Als Antwort auf die katholische Rebellion von 1641 habe Cromwells Vernichtungsfeldzug in Irland folgen müssen. Die protestantische Führungsschicht (Ascendancy) des 18. und 19. Jahrhunderts hat (vergeblich) versucht, einen eigenen Weg zwischen den Fronten zu gehen. Diese Ambivalenz äußerte sich auch in Irlands Stellung im Britischen Weltreich. Betrachteten die republikanischen Bürgerkriegsparteien ihren Kampf in Nordirland seit 1969 als «antikolonialen Befreiungskrieg», so hatten sich besonders im 19. Jahrhundert unzählige Iren im Empire als Soldaten, Administratoren, Siedler, Lehrer und Missionare engagiert.

Die Vernetzung der irischen Geschichte mit der europäischen ging anfänglich von der Insel aus. Christliche Missionare strömten im Frühmittelalter auf den Kontinent, um ihren religiösen Enthusiasmus zu verbreiten, mit dem sie in Irland zwischen dem 5. und dem 8. Jahrhundert über 800 Klöster als Stätten der Frömmigkeit und Gelehrsamkeit gründeten. Irlands Bedeutung für die europäische Geschichte in dieser Epoche war sicherlich einmalig. Im berühmten Book of Kells (um 800) kulminierte die Kunst der Buchmalerei als Verherrlichung des Wortes Gottes.

Nach der sozialen und ökonomischen Katastrophe der europaweiten Pestpandemie von 1348–1352 mit rund 25 Millionen Toten setzte in Irland jedoch ein Niedergang ein, der der irischen Geschichte gleichsam ein Muster zugrunde legte: im fortwährenden Kampf um Freiheit, Unabhängigkeit, Anerkennung und Wohlstand gewöhnlich zu unterliegen. Dabei setzte der Misserfolg auch Chancen für ein exemplarisches historisches Verständnis frei. Langfristige Verlusterfahrungen konnten lehrreicher sein als der kurzfristige Erfolg. Aus ihnen eine Identität zu schöpfen, wurde zu einer der irischen Geschichte eigenen Herausforderung. Im Schatten der Übermacht Englands konnte Irland zwar keine ruhmreiche Historie vorweisen, aber den Freiraum nutzen, um Geschichte zu schreiben. Dabei war an die für die irische Vergangenheit so bestimmende Perspektive des Unterdrücktseins eine große Hoffnung geknüpft, wie sie schon der Schriftsteller und Dekan der Dubliner St. Patrick’s-Kathedrale, Jonathan Swift, ausdrückte, als er 1724 sein Pamphlet To the Whole People of Ireland veröffentlichte. Swifts Botschaft ist ungebrochen aktuell. Es ging ihm um die Verbesserung von Staat, Ökonomie, Gesellschaft und Kultur in ihrer Einheit. Ob sie mit dem irischen Wirtschaftswunder des späten 20. Jahrhunderts, auch «Celtic tiger» genannt, erreicht wurde, sei zunächst dahingestellt.

Der weite Weg bis dahin soll in diesem Buch beschrieben werden. Jedem der fünf Kapitel geht ein knapper Abriss voraus, jedes ist von einem Schlüsselbegriff geleitet. Das sind erstens Invasion (Mittelalter), zweitens Religion (Frühe Neuzeit), drittens Zivilisation (18. Jh.), viertens Union (19. Jh.) und fünftens Nation (20. Jh.). Diese Schlüsselbegriffe sind als Angebote konzipiert, nicht als ausschließliche Kriterien. Politische Eckdaten bilden das chronologische Gerüst, doch wird die politische Geschichte für sich genommen in diesem Buch nicht stärker gewichtet als die Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte. Den Ausgangspunkt für die Schilderung bildet die gälische Vor- und Frühgeschichte, bevor für Mittelalter (Kap. 1) und Frühe Neuzeit (Kap. 2) schärfer herausgearbeitet werden kann, wie Irland in Auseinandersetzung mit und in Abgrenzung von England Teil der europäischen Geschichte wurde. Seine Unterwerfung und der Unabhängigkeitskampf, die Methoden der Kolonisierung und des Aufstands, die Aufspaltung in den protestantischen Patriotismus des 18. Jahrhunderts (Kap. 3) und den katholischen Nationalismus seit Daniel O’Connell im frühen 19. Jahrhundert (Kap. 4): Diese Stationen von Invasion bis Nation sind bestimmende Richtungsweiser in einem langen historischen Prozess. Die geographische, politische, religiöse, soziale und kulturelle Teilung war nahezu unvermeidlich, und die Sehnsucht nach Frieden, Gerechtigkeit und Überwindung der sozialen Ungleichheit ist im Spannungsfeld von Gewalt und Bürgerkrieg als Grundmelodie zu vernehmen.

Das geteilte Irland ist ein wirkmächtiges Motiv, das als Ursache für Armut, Emigration und überhaupt eine Geschichte der Gegensätze dominiert. Es ist überdies ein von vielen in Übersee lebenden Iren befestigtes Motiv, die bis zu den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den USA den Terrorismus und die Gewalt der IRA unterstützten. Danach jedoch war der Terrorismus vollständig delegitimiert, und erst jetzt wurde ein Ausgleich möglich. Da in der Geschichte Irlands schließlich die große Chance der Gemeinsamkeit und einer Annäherung zwischen Norden und Süden liegt, eröffnet sich in ihr im 20. Jahrhundert (Kap. 5) jenseits der nationalgeschichtlichen Pfade und der langen Teilungsgeschichte auch eine globalgeschichtliche Perspektive. Denn warum sollte eine irische Familie, die seit Generationen an der Ostküste der USA lebt, nicht gleichwohl ihren Teil zur Geschichte Irlands beigetragen haben?

1. Zeitalter der Invasionen
1169–1534

Das irische Mittelalter, hier chronologisch ausgedehnt als die Zeit bis zur Unterwerfung Irlands durch Heinrich VIII. 1534 verstanden, ist vom Kernbegriff der Invasion geprägt. Gleichwohl ist es eine Zeit unvergleichlichen wirtschaftlichen, religiösen und kulturellen Reichtums. Obwohl Irland ständig von Zerstörung und Plünderung bedroht war, ist vor allem das frühe Mittelalter dank des Erfolgs der irischen Mission auf dem europäischen Kontinent besonders bedeutsam.

Vorgeschichte bis zum 12. Jahrhundert

Der Eroberung Irlands durch die Normannen 1169 gingen Jahrhunderte der Kriege, Beutezüge, religiösen Konflikte und Plünderungen voraus. Seit dem Jahr 793 bis ins 11. Jahrhundert hinein fielen immer wieder Wikinger auf den Britischen Inseln ein und zerstörten die vorhandene Klosterkultur. Berühmte Beispiele sind die Klöster von Lindisfarne (in der englischen Grafschaft Northumberland), Rathlin (nördlich der Küste der nordirischen Grafschaft Antrim) und Iona (in den westschottischen Hebriden). Infolge der Missionierung durch den hl. Patrick im 5. Jahrhundert hatte die keltische Durchdringung Irlands zu einer kulturellen und religiösen Einheit geführt, seine politische Zersplitterung in kleinere Herrschaften jedoch nicht verhindern können und es damit angreifbar gemacht.

Patrick, der Apostel Irlands und Namensgeber des irischen Nationalfeiertags (17. März), war zum Nachfolger des ersten irischen Missionars Palladius bestellt worden und wirkte vor allem im Norden und Westen Irlands. Von seinem Bischofssitz Armagh aus organisierte er zum einen die iro-schottische Kirche, zum anderen schuf er die Grundlagen für den im mittelalterlichen Europa weit verbreiteten Patrick-Kult mit zahlreichen Wallfahrtsorten.

Die iro-schottische Kirche war eine überwiegend eigenständige, bis in die Mitte des 7. Jahrhunderts von Rom unabhängige (Mönchs-)Kirche, deren Zentren bedeutende Klöster wie Clonmacnoise, Glendalough und Bangor bildeten. Die von ihr betriebene Christianisierung war nicht zuletzt deshalb so erfolgreich, weil sie die keltische Religiosität in die christliche Theologie integrierte. Mit der Synode von Kells (1152) war die Organisation der Klosterkirche abgeschlossen, die für das historisch-geographische Landschaftsbild Irlands wichtige Folgen hatte. Klöster waren Stätten des Glaubens, aber auch der Bildung, Kunst und Philosophie, sie waren Friedensbezirke für Kranke und Verfolgte, Pilgerziele und Märkte für Tausch bzw. Kauf und Verkauf von Waren. War eine Klostersiedlung groß genug, dass sich ein regionaler König ansiedelte, konnte sie zu einer Proto-Stadt werden, wie es z.B. im heutigen Kildare der Fall war.

Während das Christentum in anderen Teilen des westlichen Europas zurückgedrängt wurde, schuf es sich im frühmittelalterlichen Irland eine wichtige Basis, in einem Land also, das weder die römische Herrschaft kannte noch die Folgen der Völkerwanderung. Umso erstaunlicher ist es, dass die neue Religion so schnell auf breite Resonanz traf. Mit der Verschriftlichung hielt die Gelehrsamkeit in lateinischer Sprache Einzug, parallel zum irisch-weltlichen Geistesgut, und beides lockte Gelehrte nach Irland, die ihre Kenntnisse vertiefen und sich in asketischer Lebensweise prüfen wollten.

Die Wikinger gründeten neue Handels- und Militärniederlassungen in Cork, Dublin, Limerick und Wexford, aus denen sich die späteren Königreiche entwickelten, sowie territoriale Bistümer, deren Bischöfe in Canterbury geweiht wurden. Dublin war in seinen Anfängen, die bis ins 5. Jahrhundert zurückgehen, ein Übergang über den Fluss Liffey, eine Hürdenfurt aus Weidengeflecht, wie der gälische Name (Baile-atha-cliath) offenbart. Aufgrund seiner geographischen Lage genoss Dublin schon früh eine herausragende Bedeutung. Es besaß bereits im 10. Jahrhundert alle notwendigen Attribute einer Stadt: eine Befestigung, einen florierenden Handelshafen, ein Straßennetz, eine eigene Münzstätte, einen Markt, heimische Handwerksbetriebe und ab 1028 einen Bischofssitz mit Kirche, an deren Stelle heute die Christ-Church-Kathedrale steht. Unter dem Einfluss der Wikinger verlagerte sich der politische und wirtschaftliche Schwerpunkt Irlands vom Inneren der Insel zur (süd-)östlichen Küste. Das machte sich auch in der Gründung neuer Siedlungen und im Ausbau des Verkehrsnetzes bemerkbar.

In dieser frühchristlichen Phase bis in die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts wurden weiterhin zahlreiche Klöster gegründet. Das schottische Iona, eine Gründung des hl. Columban, und Armagh bildeten die kirchlichen Machtzentren. Einige Kirchen unterlagen der ökonomischen Kontrolle durch einen weltlichen Herrscher wie auch episkopaler Rechtsprechung. Manche waren frei, also nicht an ein Kloster gebunden, andere wiederum unterstanden der Herrschaft einer adligen Familie, z.B. die Kirchen von Cork und Trim. Zwischen Geistlichkeit und Bevölkerung bestanden Verpflichtungen in Form von Steuerzahlungen einerseits, der Aufrechterhaltung eines religiösen Dienstes andererseits. Eine wichtige Konstante dieser Zeit waren die kulturellen und religiösen Impulse, die von Irland auf das Festland ausgingen und insbesondere das geistige Leben im Karolingerreich voranbrachten.

Der irischen Missionierung in Mitteleuropa war zunächst ein beispielloser Erfolg beschert, der das christliche Erbe Europas nachhaltig prägte. Der Wandermönch Columban wirkte seit 590 als Bußprediger in England und Frankreich, später bei den Alemannen am Zürichsee und am Bodensee. Klostergründungen unter der Prämisse strenger Mönchsregeln wie Luxeuil in Burgund und Bobbio in Oberitalien gehen auf Columban zurück. Sein Schüler Gallus missionierte ebenfalls in Frankreich und seit Anfang des 7. Jahrhunderts bei den Alemannen, wo er 612 eine Klause gründete, aus der 150 Jahre später das Kloster St. Gallen entstand.

Gesellschaftliche Strukturen

Die schriftliche Überlieferung über das soziale Leben im frühmittelalterlichen Irland lag in den Händen des adligen Klerus. Es gab eine breite Schicht abhängiger und unabhängiger Bauern, die Sklaven – oft Kinder aus verarmten Familien – auf den Feldern und zur Viehaufsicht beschäftigten. Die Bevölkerungszahl lag nicht höher als bei einer Million und wurde immer wieder durch Seuchen und Hungersnöte dezimiert. Für die Mehrheit war das Leben arbeitsreich, voller Entbehrungen und kurz. Die große Bedeutung von Landbesitz zeigte sich wie anderswo in Europa in der frühen sozialen Untergliederung unterhalb von Königtum und Adel in landbesitzende Freie und an die Pacht gebundene Unfreie. Die Familie als Zentrum der Gesellschaft definierte sich nicht über Ehe und Abstammung, sondern als ein sozialer Verband, dem alle Mitglieder des Haushalts angehörten. Weder Ehescheidungen noch Polygamie waren im mittelalterlichen Irland ungewöhnlich, was bei europäischen Kirchenreformern häufig für Befremden sorgte. Eine Folge dieser Gesellschaftsstruktur war die Multiplizierung und Aufsplitterung adliger Haushalte, die zu deren sozialem und wirtschaftlichem Abstieg und somit zur allmählichen Verdrängung der landbesitzenden Mittelschicht führte.

Den insgesamt 80 bis 100 Kleinkönigen kam eine nahezu sakrale Funktion zu. In der mittelalterlichen Literatur werden die Wohltaten des Königs und seine heroischen soldatischen Tugenden gepriesen. Tatsächlich gehörte es zu seinen zentralen Aufgaben, seine Provinz im Inneren zu befrieden, Gesetze zu erlassen, Steuern zu erheben und Land unter seinen Gefolgsleuten zu verteilen. Letzteres geschah zumeist über einen Freibrief, für den der König im Gegenzug militärische Dienste einforderte. Hierin unterschied sich der Feudalismus Irlands kaum von dem im übrigen Europa der Zeit.

Weltliche und geistliche Herrschaft

Im Jahr 1101 wurde die Festung Cashel in der Grafschaft Tipperary zum Erzbischofssitz. Wie auch die vorkeltische Stätte Tara in der Grafschaft Meath, seit dem 5. Jahrhundert Hauptsitz der Dynastie der O’Neills, war dieser Ort mehr als nur das Machtzentrum eines Provinzialherrschers, sondern besaß unschätzbaren symbolischen Wert. Die Kirche gab dem König ihren Segen, weihte sein Amt und erwartete im Gegenzug von ihm, gegen äußere Angriffe und innere Unruhen verteidigt zu werden. Ob es aber im Zeitalter der Wikinger-Invasionen bereits ein übergeordnetes, ganz Irland beherrschendes Königtum gegeben hat, wird von Historikern intensiv diskutiert. Zumindest hätte es das Bewusstsein von einer geeinten Insel zur Voraussetzung gehabt.

In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts gelang es dem König von Leinster, Dermot MacMurrough, im Kampf gegen den König von Connacht, Rory O’Connor, nicht, die blühende Machtzentrale Dublin zu seinem Verbündeten zu machen. Er bat daher den englischen König Heinrich II. um Hilfe, lud somit gewissermaßen zur Invasion ein und öffnete Irland politisch und militärisch dem anglo-normannischen Feudalismus. In dem Moment, in dem die Einheit der Insel zum Greifen nahe war, wurde sie den regionalen Rivalitäten geopfert. Im Jahr 1169 setzte die Eroberung unter Gilbert Fitz Richard, genannt Strongbow, ein, 1172 wurde Heinrich II. auf der Synode von Cashel zum Alleinherrscher über Irland ernannt.

Als die Anglo-Normannen im 12. Jahrhundert in Irland einfielen, fanden sie viele Elemente der von den Wikingern geschaffenen Infrastruktur vor, die für eine zügige auch administrative Durchdringung des Landes vorteilhaft waren. Anders als in Schottland, wo sie sich als Bauern und Fischer niederließen, kontrollierten die Anglo-Normannen in Irland als Händler und Seefahrer vor allem die Küsten. Siedlungen wie Galway, Waterford und Wexford wurden rasch wohlhabende Umschlagplätze für Waren wie z.B. teure Seidenstoffe. Die frühchristliche Gold- und Silberschmiedekunst profitierte davon ebenso wie der anglo-normannische Festungsbaustil und die ornamentale Kunst der für Irland so typischen Hochkreuze. Durch den feudalen Herrn – den englischen König, einen Adligen oder einen Bischof – erhielten die Städte eine eigene Verfassung sowie eine Verwaltung und konnten nach einem längeren Zeitraum die besonders begehrte städtische Freiheit erlangen. Diese gipfelte in der City-Würde und dem Recht, den Bürgermeister zu wählen.

So hielt Irland Anschluss an das westliche Europa, wo ähnliche Entwicklungen stattfanden. Eine kulturelle Einheit hat es indessen im Westen Europas nicht gegeben. Denn wie in Wales blieben auch in Irland die als «barbarisch» wahrgenommenen Bewohner des «Celtic fringe», d.h. der gälischen Randlagen, vom Prozess der Zivilisation ausgeschlossen. Der religiösen Spaltung im 16. Jahrhundert durch Heinrich VIII. ging die soziale Spaltung im Hochmittelalter voraus. Dieses Motiv spannt sich wie ein Bogen über den Zeitraum zwischen 1169 und 1534.