Jess Jochimsen

»Krieg ich schulfrei, wenn du stirbst?«

Geschichten von einem chaotischen Grundschüler und seinem Rabenvater

Mit Illustrationen von Jörg Mühle

Deutscher Taschenbuch Verlag

Die Sache mit dem Rückenmark

Was die Großmutter noch wusste

Wehret den Anfängen

Von mir hat er das nicht

Ägypten im Kinderzimmer

Die Spielplatz-Eltern

Sprechen, Laufen, Schlafen

Trinken

Kleine Einführung in den Kapitalismus

Eine Frage der Technik

Kindermund tut Wahrheit kund

Die Schatzinsel

Schönheit und Schrecken des Ferienendes

St. Martin auf Umwegen

Kleine Kunde von Neid und Missgunst

Vom Glauben abfallen und zurück

Am Anfang war das Bild

Das böse »i«

Aufräumen und Urlaub

Piratdeketiv

Zwei Wochen im Herbst. Ein Tagebuch

Wer solche Freunde hat ...

Familienpolitik

Mit Sicherheit

Sein schönstes Ferienerlebnis

Die Beschneidung

Behinderten-Kick

Blöde Eltern

Eine Kuh namens Albert

Traurige Tage in F.

Weihnachten damals und heute

Schlachtgesang des Rabenvaters

Hier spricht Tom

Bankenkrise

Wenn Eltern sprechen

Bio, Geo, Thüringen

Nur falsche Kleidung

Splitter zur Fastenzeit

Zum guten Schluss

Nachwort und Dank

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Originalausgabe 2012

© 2012 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

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Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital - die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

eBook ISBN 978-3-423-41405-0 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423- 34715-0

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www.dtv.de/ebooks

Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel.

Johann Wolfgang von Goethe

Für Moritz und Anton

Die Sache mit dem Rückenmark

Mein Sohn Tom schießt den Vogel ab. Ich habe einen Hexenschuss und jammere, wie nur Männer es können, aber keiner hat Mitleid.

Meine Mutter: »Stell dich nicht so an!«

Meine Frau: »Wer hat denn behauptet, dass er den Schlafzimmerschrank locker alleine aufbauen kann?«

Mein Arzt: »Sie sollten nicht so schwer heben.«

Tom jedoch sagte: »Du hast wahrscheinlich zu viel ongarniert, davon schmilzt das Rückenmark.«

»Ich habe bitte was?«

»Zu viel ongarniert. Hat der Paul in der Schule erzählt. Wenn man das macht, kriegt man Kreuzschmerzen, weil das Rückenmark schmilzt. Was ist denn das überhaupt?«

»Das Rückenmark? Das kann ich dir erklären, mein Sohn.«

Und noch bevor er etwas sagen kann, halte ich ihm einen atemlosen Vortrag über jenen Teil des zentralen Nervensystems, der eine ganze Menge könne, aber nicht schmelzen, ein ausgemachter Unsinn sei das, und überhaupt solle er nicht alles glauben, was der Paul sagt, weil der nämlich von nichts eine Ahnung habe, und vom Ongarnieren schon gleich zweimal nicht, und abgesehen davon seien meine Schmerzen muskulärer Natur, wegen des gottverdammten Schlafzimmerschrankes, und jetzt raus!

Mein Sohn zieht verdattert von dannen und ich werde nachdenklich. Manche Dinge sind einfach nicht totzukriegen; schon zu meiner Zeit wurde man blind oder wahlweise blöd »davon«, und auch der »Rückenmarksschwund« fand häufige Erwähnung. Aber ein für alle Mal: Mit »Ongarnieren« hat das alles nichts zu tun.

Wobei das Wort schön ist, ich schlage es hiermit der Gesellschaft für Deutsche Sprache (die ihren Sitz aus unerfindlichen Gründen in Mannheim hat) als Neuerfindung vor: »Ongarnieren ist skandinavischen Ursprungs und bezeichnet die Illusion, hässliche schwedische Möbel eigenhändig montieren zu können; zieht Schiefhängen des häuslichen Segens und der Bandscheiben nach sich.«

Und jetzt ernsthaft: Irgendwann wird das »Rückenmark«-Thema wieder aufkommen, nicht sprachlich hoffentlich, sondern in Form von Flecken auf der Bayern-München-Bettwäsche meines Sohnes. Und ich weiß nicht, was ich dann schlimmer finden werde, die Flecken oder die Bettwäsche.

Allein, ich werde das tun, was aufgeklärte Eltern tun sollten: ohne weitere Worte das Laken abziehen, es in die Waschmaschine schmeißen und ein neues holen – aus einem Schrank, den ich einst unter Schmerzen ongarniert habe.

Was die Großmutter noch wusste

Ab und an verbringt mein Sohn Tom ein paar Tage bei seiner Oma. Was völlig in Ordnung ist. Schließlich ist er naturgemäß das tollste Enkelkind der Welt und sie die beste Oma von allen, wenn man mal von der Tatsache absieht, dass sie eben auch noch meine Mutter ist, weswegen ich den Störfaktor Nummer eins in der Oma-Enkel-Beziehung darstelle, wir andauernd streiten und ich ohnehin in der Erziehung alles falsch mache: »So kannst du ihn aber nicht rumlaufen lassen!« »Kriegt der Junge überhaupt genug zu essen?« »Wie habe ich das mit dir damals nur geschafft?« Egal. »Tom soll es einmal besser haben.«

Der letzte Oma-Besuch allerdings wirkte nach.

»Papa«, sagt mein pädagogisch runderneuerter und pausbäckiger Spross, als ich ihn ins Bett bringe, »die Oma wollte mich immer mit Nägeln zudecken.«

»Sie wollte was?«

»Na, mich mit Nägeln zudecken.«

Meine Mutter hat zwar von autogenem Walfischgesang bis zu kosmischem Oberton-Stricken wenig an esoterischem Firlefanz ausgelassen, aber bei einem Fakir war sie meines Wissens noch nie. Tom erzählt denn auch, dass die Oma ihm zum Einschlafen immer »Guten Abend, gute Nacht« ins Ohr gebrüllt habe, und da gebe es doch diese Stelle: »Mit Röslein bedacht, mit Näglein bedeckt.«

Ich brauche eine geschlagene Weile, Tom zu erklären, dass es sich in dem Lied nicht um Nägel handele, sondern um Nelken, was Blumen seien, die sich zwar durch irgendwelches Zauberwerk in diese kleinen Piksedinger verwandelten, welche man aber nicht unter die Bettdecke, sondern in den Kuchen tue.

Als der Kleine dann schläft, kommt mir in den Sinn, dass meine Mutter mich seinerzeit auch mit diesem Lied zum Einschlafen bringen wollte; ebenfalls ohne Erfolg, allerdings wegen einer anderen Stelle: »Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt.« Und wenn er nicht will? Kein Auge tat ich zu. Was, wenn er es vergessen würde, dachte ich damals, schließlich hatte er ja bestimmt auch noch anderes zu tun. Und irgendwann, so stellte ich mir vor, in hundert Jahren oder so, würde Gott auf seiner Wolke sitzen und ausrufen: »Verdammt, den hätte ich wecken sollen!«

Meine Mutter hat aber auch noch andere Erziehungsmaximen als Old-School-Schlaflieder auf Lager, das exzessive Vorlesen von Märchen etwa. Und auch das blieb für Tom nicht folgenlos.

nix

»Hast du dein Pausenbrot gegessen?«, frage ich ihn ein paar Tage, nachdem er von der Oma zurückgekehrt ist.

»Das ging nicht«, antwortet er.

»Wieso nicht?«

»Ich musste es auf dem Hinweg zerbröseln, wie Hänsel und Gretel, damit ich wieder nach Hause finde.«

Den ganzen Nachmittag warte ich auf einen Beschwerdeanruf aus der Schule, dass Tom versucht hätte, die Lehrerin in den Backofen zu schubsen ...

Damit muss Schluss sein, denke ich, und suche nach Gegenpädagogik.

»Schon mal darüber nachgedacht, dass die Vögel alle Brotkrumen aufpicken und dass zum Beispiel eine Schnur viel besser wäre?«

Hätte ich nicht sagen sollen. Heute Mittag gibt mir Tom mit den Worten: »Halt das mal und warte«, das eine Ende eines Paketbandes in die Hand und läuft, die Schnur abrollend, davon. Als mir das Warten nach einer Stunde zu blöd wird, folge ich dem Band. Es führt mich eine Straße weiter zum Haus von Toms Kumpel Paul. Mit Pauls Vater geht es entlang einer zweiten Schnur zu Felix und von dort zu Luka und so weiter. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit stehen dann vierzehn Väter mit etlichen hundert Meter Paketband auf dem Fußballplatz, sehen ihren Söhnen beim Kicken zu und können einfach nicht böse sein – noch nicht mal, als mein Sohn sagt: »Die Schnüre spannt ihr schön wieder auf, sonst kommen wir nicht heim!«

Ein Schlaflied will Tom an diesem Abend übrigens nicht.

Wehret den Anfängen

»Du musst augenblicklich damit aufhören«, schimpft die Oma, »sonst gerät Tom auf die schiefe Bahn.«

»Mutter«, sage ich, »er ist ein Kind!«

»Aber du weißt, wohin das führt«, schimpft die Oma weiter, »oder willst du, dass er so wird wie du?«

Ehrlich gesagt ja, aber das traue ich mich nicht auszusprechen. Nicht jetzt. Nicht in dieser prekären Situation. Das Problem ist: Mein Sohn Tom raucht.

Schuld daran ist eine Verkettung ungünstiger Umstände: falsche Freunde (Felix und Paul), ein schlechtes Vorbild (ich), eine Liberalisierung der Taschengeldpolitik (welche ausgerechnet die Oma forciert hat) und der Tante-Emma-Laden um die Ecke, der die vermaledeiten Kaugummizigaretten zu Spottpreisen auf den Markt wirft.

Fakt ist, dass Felix, Paul und Tom derzeit die angesagten Jungs des Viertels sind. Sie sind beliebt, cool und werden von den Nachbarmädels angehimmelt – echte Raucher eben. Fakt ist aber auch, dass wir vor dem pädagogischen Problem »Wehret den Anfängen« stehen, denn wenn die Oma sich einmal in ein Thema verbissen hat, lässt sie so schnell nicht locker.

»Mutter«, versuche ich es, »nicht jedes Kind, das eine Spielzeugpistole hat, wird später Polizist oder Mörder oder tritt einem Schützenverein bei. Und genauso verhält es sich mit Kaugummizigaretten.«

»Papperlapapp, du weißt ganz genau, dass er dich nachahmt!«

Das stimmt nicht, denke ich, denn mein Sohn schleicht sich zum Rauchen nicht auf den zugigen Balkon oder heimlich auf die Restauranttoilette wie sein Vater, Tom frönt seiner Sucht lässig in der Öffentlichkeit. Ich bin stolz auf ihn. Sagen tue ich das nicht.

»Ich habe dir diese Kaugummidinger damals jedenfalls nicht erlaubt«, sagt die Oma.

»Hat aber auch nichts genützt«, sage ich.

»Jetzt hör doch auf«, sagt sie, »wer ist denn schuld an der Raucherei?«

»Die Amerikaner«, sage ich, »Kolumbus hat den Tabak nach Europa gebracht.«

»In Amerika ist Rauchen überall verboten«, sagt sie, »du solltest dir ein Beispiel daran nehmen.«

»Kommt in Deutschland auch noch so«, sage ich, »und bis dahin finanziert die Tabaksteuer deine Rente.«

»Ein solches Argument ist eines mündigen Demokraten unwürdig«, sagt sie.

»Die einzige Errungenschaft der Demokraten in der 1848er-Revolte war die Raucherlaubnis«, sage ich, »und die Demokraten von heute vergeigen das jetzt.«

»Und wenn sie dadurch Tom vom Rauchen abhalten«, sagt sie, »dann wähle ich die sogar!«

Zum Glück müssen wir solche Dispute in Zukunft vielleicht nicht mehr führen, denn Tom hat uns eröffnet, dass er mit dem Gedanken spiele, das Rauchen aufzugeben und stattdessen Profiseifenkistenfahrer zu werden. (Pauls Vater, ein militanter Nichtraucher übrigens, hat den Jungs ein schlittenähnliches Gefährt gebaut, mit dem sie in einer vorgefertigten Bahn mit Höllenkaracho den Berg hinuntersausen können.)

»Du musst Tom das verbieten«, schimpft die Oma, »das ist viel zu gefährlich.«

Ich verkneife mir den Kommentar, dass bei der ersten Winterolympiade den Bobfahrern das Rauchen noch ausdrücklich erlaubt war – und zwar während des Fahrens. (Ein tolles Bild: Die saßen, mit Frack und Zylinder, in ihren tollkühnen Kisten, ratterten rauchend gen Tal und sahen in erster Linie gut dabei aus!)

»Du weißt doch, wohin das führt«, schimpft die Oma weiter, »oder willst du, dass er so wird wie der Hackl Schorsch?«

»Das wird nicht passieren, Mutter«, sage ich lächelnd, »vertrau mir.«

Dann drücke ich lässig die fertig gerauchte Kaugummizigarette aus.

Von mir hat er das nicht

Wenden wir uns einem echten Tabuthema zu, einem, über das man nur hinter vorgehaltener Hand spricht, wenn überhaupt, einem schmutzigen Thema, einem »Untenrum«-Thema. Die Rede ist von Männerfüßen. Jawohl, Männerfüße! Kein schönes Sujet, ich weiß, aber die meisten Jungs haben nun mal zwei davon, da hilft kein Wehklagen, Weggucken oder Nasezuhalten, sie sind in der Welt, sie tragen uns durch diese und wollen von daher gehegt, gepflegt und vor allem umhüllt sein.

Nicht, dass ich falsch verstanden werde, ich rede nicht von Männerbeinen, denen man gelegentlich eine gewisse Ästhetik zugestehen kann – wenn es sich nicht gerade um die von Piratenkapitänen, Lohnbuchhaltern oder Pierre Littbarski handelt. Nein, ich rede von »Füßen«, jenen beiden sich ganz unten am Manne befindlichen platten, hornbehäuteten und streng riechenden Stellflächen, die oft bis zu einem halben Meter lang werden, damit das zu tragende Gebilde nicht vornüberkippt. (Und auch von den Zehennägeln, oder sagen wir, wie es ist, »Krallen«, und deren notwendiger Stutzung will ich nicht schweigen.)

Die Zeit, in der mein Sohn Tom süße, winzige Füßchen hatte, deren liebliche Nägelchen er bisweilen mit seiner Mutter Nagellack bezaubernd färbte, ist lang vorbei. Tom ist jetzt ein Junge, und auch wenn er auf den ersten Blick noch ein kleiner Fratz ist, glauben Sie mir, ganz untenrum ist er bereits ein Mann.

»Die hat er nicht von mir«, sagt meine Frau mit Bestimmtheit, wenn das Tabuthema anklingt, oder, wenn es sich verschärft: »Ausgerechnet deine hässlichen, blöden Schweißfüße musste er erben!«

In Bezug auf Toms Intellekt, Aussehen, Sportlichkeit und Sprachmacht ist meine Frau mit meinem Erbgut durchaus zufrieden; bezüglich seiner Pedanterie, seines Jähzorns und seiner Mathematikschwäche schieben wir uns den schwarzen Peter gegenseitig zu, aber was die Füße angeht, gibt es nichts zu leugnen. Tom hat meine. Aber ist das ein ausreichender Grund, mir dieses leidige Thema alleine zu überlassen? Für meine Frau ja: »Er hat deine Füße, also kümmerst du dich auch darum. Basta!«

Oh, wie ich Zehennägelschneiden hasse! Schon bei mir mache ich das ungern, aber bei Tom ist es schier ein Ding der Unmöglichkeit, Zehennägelschneiden bei Söhnen ist grauenhaft, ist Folter. Regelmäßig müssen Tom und ich uns nach durchstandener Pein mit viel Süßigkeiten und Dauerfernsehen dafür belohnen (zur großen Freude meiner Liebsten).

Selbstredend fallen auch das Waschen der Füße sowie der Schuhkauf in meinen Zuständigkeitsbereich. Wobei Tom und ich wirklich unschuldig sind, es passiert einfach, wir können nichts dafür, dass wir regelmäßig das Bad unter Wasser setzen und ausschließlich mit hippen Turnschuhen und schicken 100%-Polyester-Winterstiefeln aus dem Laden kommen (zur noch größeren Freude meiner Liebsten).

Nebenbei: Herbst und Winter sind keine guten Jahreszeiten für Männerfüße. Des Geruchs wegen. Sommer ist allerdings auch nicht besser, weil man die Füße da öfter sieht – eine ausweglose Situation.