978-3-401-80201-5.tif

Titel

Ana Alonso und Javier Pelegrín

Emotion

Das Zeichen der Auserwählten

Aus dem Spanischen
von Ilse Layer

Arenaneu.tif

Widmung

Für Enrique und Paquina, weil ihr stets für uns da wart.
Wir sind in Gedanken immer bei euch.
Kapitel 6 im dritten Buch ist Teresa von dem Blog
»Libros de ensueño« gewidmet. Sie weiß, warum.

Dieses Buch enthält mehrere Figuren, die sich die Leser
des ersten Bands für den Facebook-Wettbewerb
»Die Klane der Medu« ausgedacht haben.
Gewonnen hat den Wettbewerb die Figur der Drakul Issy
(Verónica López Díaz). Weitere Figuren von Lesern,
die wir in die Geschichte aufgenommen haben, sind:

Railix
Athanambar
Stanislav
Kinow
Lilieth
Pórtal

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2011
bei Editorial Viceversa, S.L., Barcelona, unter dem Titel »Resurreccíón«.
Copyright © Ana Alonso and Javier Pelegrín, 2011
The German language edition is published by arrangement
with Ana Alonso and Javier Pelegrín
c/o MB Agencia Literaria S.L., through
Literarische Agentur Michael Gaeb
All the following volumes according to their
first publication in Spain.

Erste Veröffentlichung als E-Book 2012
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2012 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Aus dem Spanischen von Ilse Layer
Covergestaltung: Frauke Schneider
unter Verwendung eines Fotos von: coka © shutterstock
ISBN 978-3-401-80201-5
www.arena-verlag.de
Mitreden unter forum.arena-verlag.de

Erstes Buch

Kapitel 1

»Wieso sind die Bäume eigentlich schon so gelb?«, sagte Jana, den Blick versonnen auf das Buchenwäldchen hinter dem Rugbyplatz der Schule gerichtet. »Es ist doch erst Mitte September, der Herbst hat noch nicht mal angefangen.«

»Die Zeit vergeht eben immer schneller«, erwiderte Alex lächelnd. »Oder zumindest kommt es mir so vor.«

Sie durchquerten den hinteren Teil der Grünanlage von Los Olmos und waren gerade am Lehrerparkplatz vorbeigekommen. Dort standen nur drei Autos. Alex erinnerte sich, dass er früher immer überfüllt gewesen war; teilweise hatten die Lehrer ihre Fahrzeuge außerhalb des Schulgeländes abgestellt, weil sie keinen freien Platz gefunden hatten. Aber auch das hatte sich offensichtlich geändert.

Die Schulleitung hatte ein halbes Dutzend Lehrer entlassen. Da es zu Beginn des neuen Schuljahrs nur wenige Anmeldungen gegeben hatte, konnte man nicht mehr das gesamte Kollegium bezahlen. So lautete zumindest die offizielle Erklärung.

»Was meinst du, was die neue Rektorin von uns will?«, fragte Jana. »David hatte sie letztes Jahr in Geschichte. Als Lehrerin ist sie anscheinend nicht schlecht, aber sie soll ziemlich streng sein.«

»Bestimmt will sie uns gratulieren«, antwortete Alex spöttisch. »Wie jeder weiß, sind wir ein super Team.«

Jana blieb auf dem weißen Kiesweg stehen und sah ihren Freund an. »Bitte fang du jetzt nicht auch noch an. Mir reichen schon die blöden Sprüche meines Bruders. Was wir in Venedig geschafft haben, war ein echtes Wunder. Wie hätten wir damals ahnen sollen, was das für Folgen hat? Außerdem hat Argo uns keine Wahl gelassen.«

»Man hat immer eine Wahl.« Alex, der kurz neben Jana stehen geblieben war, setzte sich wieder in Bewegung. Er ging mit gesenktem Kopf und starrte so aufmerksam auf den Boden, als hoffte er, zwischen den Kieselsteinen eine Goldmünze zu finden. »Aber egal, jetzt kann man sowieso nichts mehr ändern. Weißt du, was ich am liebsten gemacht hätte?« Er sah Jana in die Augen. »Am liebsten wäre ich in dem Haus am Strand geblieben, mit dir, meiner Mutter und Laura. Ich wollte überhaupt nicht zurück. Ich hasse diesen Ort. Hätte ich meine Mutter doch nur überreden können, mich auf eine andere Schule zu schicken.«

»Rektorin Lynn hätte sich sicher gefreut«, erwiderte Jana ironisch. »David meint, man gibt uns die Schuld daran, dass so viele Schüler wegbleiben.«

»Dir und mir?« Alex verzog ungläubig den Mund.

»Ja, uns beiden. Alle haben Angst vor uns. Überleg doch mal, wie es war, als wir aus Venedig zurückkamen. Wir sind ja praktisch auf einer Wolke aus Magie geschwebt. So was ist den Leuten unheimlich.«

»Sogar den Medu?«

»Ganz besonders den Medu. Für viele bist du noch immer ein Feind. Sie geben dir die Schuld daran, dass wir fast alle unsere magischen Fähigkeiten verloren haben. Und mir misstrauen sie genauso, weil ich mit dir zusammen bin.«

»Aber sie wissen doch überhaupt nicht, was passiert ist. Sie reimen sich irgendwas zusammen, dabei haben sie eigentlich keine Ahnung.«

»Da irrst du dich. Sie wissen genau, dass wir das Buch der Schöpfung gelesen haben und deswegen eine Zeit lang sehr mächtig waren. Sie wissen, dass danach nichts mehr so war wie vorher. Und dass vieles schlimmer geworden ist.«

Alex schüttelte den Kopf, ohne Jana anzusehen. »Das können sie uns nicht in die Schuhe schieben. Wir wissen ja selbst nicht mal sicher, ob es einen Zusammenhang gibt.«

»Ach komm, Alex. Natürlich gibt es einen Zusammenhang«, seufzte Jana matt, als hätte ihre Stimme den melodiösen und lebhaften Klang von früher verloren. »Wir sind schuld, dass alles schlimmer geworden ist. Die Leute haben Angst, was ehrlich gesagt kein Wunder ist. Sogar ich habe Angst vor den Geistern. Wer hätte gedacht, dass das, was wir getan haben, die Grenze zwischen Leben und Tod dermaßen verändern würde?«

»Dann sind aber nicht wir schuld, sondern eure bescheuerte Prophezeiung, das ganze Märchen von der Rückkehr des Königs – was war das, ein Witz oder eine Lüge? Und anscheinend ist der einzige Tote, der nicht wieder lebendig werden will, unser Freund Erik.«

Jana zuckte erschrocken zusammen. »Red nicht so über ihn. Wenn er gekonnt hätte, wäre er bestimmt zurückgekommen. Niemand kann sich erklären, warum das Tor zum Jenseits sich für manche geöffnet hat und für andere nicht. Und was die Prophezeiung angeht – wer weiß. Vielleicht haben wir sie falsch gedeutet.«

Alex wusste nicht, was er erwidern sollte. Eine ganze Weile gingen sie schweigend auf das Verwaltungsgebäude von Los Olmos zu. Das Geräusch ihrer Schritte auf dem Kies durchbrach mit seinem warmen, vertrauten Rhythmus die triste Stille in der Grünanlage.

Die Glastür war gut geölt und gab nicht ein Quietschen von sich, als Alex sie aufstieß. Im Inneren des Gebäudes herrschte ein staubiges und eiskaltes Dämmerlicht. Die Heizung lief noch nicht, denn eigentlich war ja noch Sommer.

Während sie die Treppe hinaufstiegen, fiel Alex auf, dass Jana einen nach dem anderen die silbernen Knöpfe an ihrer schwarzen Jacke zuknöpfte.

Sie rechneten nicht mit einem freundlichen Empfang und sollten ihn auch nicht bekommen. Die Tür zum Büro von Rektorin Lynn stand offen, und noch bevor sie überhaupt anklopfen konnten, erklang schon ihre müde, verdrießliche Stimme. »Kommt herein, ihr betretet diesen Raum ja sicher nicht zum ersten Mal. Ich habe natürlich einiges verändert, wie ihr seht. Manche Kollegen haben etwas gegen meine Fische, sie meinen, dass sie nicht zu den alten Möbeln passen. Aber Fische machen sich überall gut, findet ihr nicht?«

Jana nickte halbherzig. Im weißen Licht der Leuchtstoffröhre an der Decke wirkte das Aquarium in der Mitte des Raums düster und unheilvoll. Im nicht allzu klarem Wasser dümpelte ein halbes Dutzend tropischer Zierfische umher. Außerdem hatte Dr. Lynn zwei hässliche Aktenschränke aus Metall hinter ihren Schreibtisch stellen lassen. Darin bewahrte sie Hunderte von Mappen mit sämtlichen Unterlagen auf, die sie von ihren Vorgängern geerbt hatte. Ansonsten hatte die neue Rektorin von Los Olmos nicht viel an der Einrichtung des alten Büros geändert, in dem wuchtige englische Möbel aus dem 19. Jahrhundert, ein Chesterfield-Sofa mit rotem Lederbezug und eine stilechte Pendeluhr herumstanden.

»Ihr kommt zu spät«, sprach die Direktorin weiter und bedeutete ihnen, sich zu setzen, während sie sich schwer in einen Drehstuhl aus braunem Leder fallen ließ. »Zehn Minuten zu spät, um genau zu sein. Ich hatte euch für halb fünf bestellt. Aber so ist das wohl, wenn man berühmt ist. Da lässt man andere gern warten.«

Alex ärgerte sich über den spöttischen Ton des letzten Satzes. Er wollte gerade widersprechen, als er Janas warnenden Blick bemerkte. Die Rektorin versuchte, sie zu provozieren, und sie sollten besser nicht darauf eingehen, war in ihren Augen zu lesen.

»Warum wollten Sie uns sprechen, Dr. Lynn?«, fragte Jana scheinbar gelassen. »Können wir Ihnen irgendwie helfen?«

»Mir helfen?« Barbara Lynn heftete ihre blauen Augen mit den dick und ungleichmäßig getuschten Wimpern auf das Mädchen. Die Augen waren das einzig hervorstechende Merkmal im Gesicht der Rektorin und Alex erinnerte sich, dass sie ihm schon früher aufgefallen waren: Sie waren ständig gerötet und tränend und sahen darum aus wie blaue Murmeln, die sich in einem Gespinst aus blutigen Fäden verfangen hatten. »Tja, so könnte man es wohl auch ausdrücken. Mir wäre schon sehr geholfen, wenn ihr aufhören würdet, dauernd Probleme zu verursachen. Ihr habt Los Olmos schon genug geschadet.«

Alex und Jana sahen sich an.

»Darf man erfahren, was wir getan haben sollen?«, fragte Jana, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. »Soweit ich weiß, haben wir nie im Unterricht gefehlt und es hat sich auch kein Lehrer über uns beschwert.«

»Darum geht es doch gar nicht. Ihr stört durch eure bloße Anwesenheit den gesamten Schulbetrieb.« Barbara Lynn strich sich nervös über das honigblonde Haar, dessen stumpfes, krauses Aussehen in überraschendem Gegensatz zu ihrem schicken schwarzen Kostüm stand. »Jetzt seht mich nicht so an. Ihr wisst genau, wovon ich rede. Wir haben es größtenteils euch zu verdanken, dass kaum noch normale Kinder zu uns in die Schule kommen. Und die Medu wissen alle Bescheid über eure – wie soll ich sagen – Heldentaten? Magische Bücher, verfluchte Gräber, Statuen, die lebendig werden …«

»Nicht alles, was man so hört, ist auch wahr, Frau Rektorin«, unterbrach Alex sie ungeduldig. »Außerdem haben wir seit Beginn des Schuljahres versucht, uns so unauffällig wie möglich zu verhalten. Damit die Leute diese ganzen Geschichten vergessen.«

»Schreib mir bitte nicht vor, was ich glauben soll und was nicht.« Der Ton der Rektorin Lynn wurde mit jedem Wort schneidender und ihr Blick anklagender. »Mein Exmann ist aktiver Zenkai-Agent. Ich habe also meine Quellen… Ihr zwei wärt vielleicht geeignete Kandidaten, wenn es darum ginge, einen Streit zwischen zwei Klanen zu schlichten. Aber wir sind hier in Los Olmos und wir wollen hier keine Grabenkämpfe, sondern Frieden. Alle Eltern haben von den Vorfällen in Venedig gehört. Sie wissen, dass ihr sehr mächtig seid, und machen sich deshalb große Sorgen. Ich will ganz ehrlich sein. Wenn es nach mir ginge, hätte man euch längst von der Schule verwiesen.«

»Aber dazu fehlt Ihnen der Grund«, begann Jana. »Und das wissen Sie auch –«

»Ich brauche keine Gründe. Es wäre eine reine Vorsichtsmaßnahme. Leider sitzen immer noch Leute im Beirat, die in solchen Fällen zu zögerlich sind. Doch ohne ihre Zustimmung kann ich euch nicht hinauswerfen. Mir sind also die Hände gebunden, ich muss euch hier akzeptieren. Daher dachte ich, es ist das Beste, die Karten offen auf den Tisch zu legen.«

Jana hielt den beleidigenden Tonfall der Rektorin nicht länger aus und stand von ihrem Stuhl auf. »Okay, das haben Sie ja jetzt getan«, sagte sie ungerührt und sah der Direktorin in die wässrigen Augen. »Sie haben uns deutlich zu verstehen gegeben, dass Sie uns nicht leiden können. Keine Sorge, wir werden Ihnen keine Schwierigkeiten machen. Wir wollen einfach nur ein bisschen zur Ruhe kommen und ein möglichst normales Leben führen.«

»So wie diesen Sommer am Strand von Lockheart?«

Alex biss sich auf die Unterlippe, um nicht die Beherrschung zu verlieren. Wusste die Direktorin wirklich, dass Jana einen Monat mit ihm und seiner Familie in einer Ferienwohnung an der Küste verbracht hatte? Hatte sie von der magischen Verseuchung des Hafens gehört, von der Flucht der Fischschwärme und allem anderen? Eventuell sogar von den Geistern?

Jana und er schienen die Geister der Toten anzuziehen wie der Honig die Fliegen. Janas Bruder David behauptete, das sei kein Zufall. Die Toten brauchten so viel Magie wie möglich, um sich an die Welt der Lebenden zu klammern, und Jana und er hatten mehr als genug Zauberkraft. Auch wenn sie mit jedem Tag weniger wurde.

Es stimmte, sie hatten in der Feriensiedlung von Lockheart für ziemlichen Aufruhr gesorgt. Viele ganz normale Leute hatten dort ihren Urlaub verbracht; Leute, die sich einfach nur erholen wollten – in der Sonne liegen, im Meer schwimmen und den Alltag vergessen. Doch ohne richtig zu wissen, wie ihnen geschah, waren sie auf einmal in eine Art Horrorfilm geraten: markerschütternde Schreie mitten in der Nacht, Gegenstände, die sich von allein bewegten, schemenhafte Gesichter in der Dunkelheit… Die Toten hatten ihnen absichtlich Angst eingejagt, um Alex und Jana unter Druck zu setzen. Auf diese Weise konnten sie ungehindert deren Magie aufsaugen, ohne dass sie sich wehren konnten. Arme Laura! Auch sie hatte schreckliche Angst gehabt. Irgendwann hatte Alex aus dem Mund seiner eigenen Mutter hören müssen, dass er und Jana besser abreisen sollten.

Doch wer konnte der Direktorin davon erzählt haben? David bestimmt nicht, auch wenn er Bescheid wusste. Und auch nicht Laura. Nie im Leben würde sie über ihren Bruder herziehen.

Während Alex noch über diese Frage nachgrübelte, hatte Jana sich wieder hingesetzt und sah die Schulleiterin mit herausfordernder Miene an. »Alex und ich können nichts dafür, dass wir… so anders sind«, sagte sie selbstbewusst. »Vielen Schülern in Los Olmos geht es genauso. Deswegen besuchen wir ja diese Schule und nicht irgendeine andere. Als unsere Eltern uns hier angemeldet haben, haben sie darauf gebaut, dass man uns tolerant behandeln würde. Sie dachten, dass wir hier keine Probleme bekommen würden, nur weil wir ungewöhnliche Fähigkeiten haben.«

»Da verwechselst du etwas, Jana. Los Olmos ist seit seiner Gründung eine Bildungseinrichtung der Medu gewesen. Und früher war Magie hier etwas ganz Normales, aber das war, als wir Medu noch einen Großteil der Magie auf der Welt für uns beanspruchen konnten. Durch deinen Freund Alex hat sich das leider geändert. Er wollte uns ja unbedingt unsere Macht entreißen. Nur aus dem Grund gilt Magie in Los Olmos mittlerweile als etwas Ungewöhnliches.«

»Und warum reiben Sie uns das gerade jetzt unter die Nase?« Da der Ton der Direktorin immer unverschämter wurde, wollte Alex es ihr mit gleicher Münze heimzahlen. »Wenn Sie wollen, dass wir uns an der Schule unwohl fühlen und freiwillig gehen, verschwenden Sie Ihre Zeit, das kann ich Ihnen gleich sagen. Jana und ich sind im letzten Schuljahr. Sie brauchen nur ein kleines bisschen Geduld. Nächstes Jahr wechseln wir sowieso an die Uni und werden uns hier nie wieder blicken lassen.«

»So lange kann ich leider nicht warten.« Nachdenklich stützte die Direktorin das Kinn auf die Hände. Dann, mit einer ruckartigen Bewegung, drehte sie das Gesicht der Marmorbüste auf ihrem Schreibtisch zu Jana.

Das Mädchen hätte beinahe laut aufgeschrien: Es war Ober, Eriks Vater, der letzte große Drakul-Anführer.

Als beide noch am Leben waren, war Jana nie eine besondere Ähnlichkeit zwischen Erik und seinem Vater aufgefallen. Doch diese Darstellung eines jungen, energiegeladenen Obers ließ sie an das edle und kluge Gesicht des verlorenen Freundes denken: dieselbe gerade Nase, dasselbe markante Kinn, dieselbe breite, leicht gerunzelte Stirn…

»Erinnert er dich an deinen Freund?« Mit unverhohlener Neugier lauerte die Direktorin auf Janas Reaktion. »Das war wirklich ein großer Verlust für uns alle. Ich spreche nicht von der Schule, sondern von der gesamten Medu-Gemeinschaft.«

»Wen meinen Sie, Erik oder seinen Vater?«, fragte Alex.

Die Direktorin sann über die Antwort nach. »Vermutlich beide«, antwortete sie schließlich mit einem Lächeln. »Wusstet ihr, dass Ober in der gesamten Geschichte der Schule der größte Wohltäter von Los Olmos war? Wir verwalten noch immer einen Teil seines Erbes im Rahmen einer Stiftung, die seinen Namen trägt.«

»Worauf wollen Sie eigentlich hinaus?« Jana schien kurz davor, die Geduld zu verlieren. »Sie haben uns doch nicht kommen lassen, um uns ohne jeden Beweis vorzuwerfen, dass wir ein Problem für die Schule wären. Bestimmt wollen Sie irgendwas von uns. Hat es was mit den Drakul zu tun?«

»In gewisser Weise ja. Wie ihr sicher wisst, gehören die meisten Schüler, die uns geblieben sind, diesem Klan an. Der Weisenrat der Drakul hat vor Kurzem fünfzig vielversprechenden Jugendlichen Stipendien gewährt, damit sie hier zur Schule gehen können. Ohne diese Maßnahme hätten wir in diesem Schuljahr ernsthafte Probleme mit der Finanzierung gehabt. Ihr werdet also sicher verstehen, dass wir ihnen sehr dankbar sind.«

»Und?« Alex beugte sich nach vorne, während er die kurze Frage stellte.

»Wir können es uns nicht leisten, die Drakul zu verärgern. Es wäre eine Katastrophe für Los Olmos, wenn wir ihre Unterstützung verlieren. Und ebendas könnte bald passieren.«

Die Direktorin machte eine Pause, vielleicht in der Erwartung, Jana oder Alex würden eine Frage stellen. Beide sahen sie gespannt an, wollten ihr jedoch nicht die Genugtuung verschaffen, ihre Neugier allzu deutlich zu zeigen.

»Wir wissen, dass unsere Lage überall auf der Welt äußerst heikel ist«, sprach Barbara Lynn schließlich weiter. »Seit dem Frühjahr sind die Mächte des Jenseits im Aufruhr. Wir wissen, dass die Toten uns die Magie rauben wollen, denn die brauchen sie, um in der materiellen Welt bleiben zu können. Genau deshalb ist es so wichtig, dass Los Olmos für die Medu ein sicherer Ort bleibt, sicherer als der Rest des Planeten. Das ist er natürlich auch und die Leute wissen das. Aber sobald sie erfahren, dass zwei Schüler verschwunden sind, werden sie Zweifel bekommen.«

Bei dieser Feststellung horchten Alex und Jana überrascht auf.

»Wie bitte? Jemand von der Schule ist verschwunden?« Alex hatte seine vorgetäuschte Zurückhaltung über Bord geworfen.

Anstatt zu antworten, stand die Direktorin auf und stöckelte mit ihren hohen, spitzen Absätzen auf die Aktenschränke an der Wand zu.

Sie zog eine Schublade auf und wühlte eine Weile darin herum. Dann stolzierte sie, in jeder Hand eine hellblaue Mappe und ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen, zurück zu ihrem ergonomischen Drehstuhl hinter dem Schreibtisch. »Hier habe ich die Berichte.« Sie schlug eine der Akten auf. »Der hier ist über Kinow Kuud. Sie ist die zweite, die verschwunden ist, und zwar vergangene Woche.«

»Wie ist das denn passiert, in der Schule?«, fragte Jana.

»Natürlich nicht. Sie kam einfach nicht mehr zum Unterricht und nach einer Woche hat uns dann die Tutorin informiert. Seit letztem Dienstag hat sie niemand mehr gesehen. An dem Nachmittag hat sie im Cheerleader-Training gefehlt. Wusstet ihr, dass es seit diesem Schuljahr ein Cheerleader-Team in Los Olmos gibt? Zum ersten Mal in der Geschichte unserer Institution!«

»Was hat das mit dem Verschwinden des Mädchens zu tun?«, fragte Alex irritiert.

»Natürlich nichts. Kinow Kuud ist eine Drakul und sie ist ziemlich beliebt. Sie gehört zu Issys Clique. Ihr kennt doch Issy? Sie ist eine der Sprecherinnen der Elften.«

»Ich weiß, wer das ist«, sagte Jana. »Sie kommt doch immer mit dem Motorrad zur Schule. Mit einer Harley, um die viele sie beneiden.«

»Richtig. Kinow Kuud war eine ihrer besten Freundinnen.« Die Rektorin überflog den Bericht noch einmal. »Letztes Jahr war sie für das Fernabitur eingeschrieben«, erklärte sie beim Lesen. »Aber dann hat sie eines der Drakul-Stipendien bekommen, die ich vorhin erwähnt habe, und deswegen nimmt sie seit diesem Jahr am normalen Unterricht teil. Glattes, ziemlich langes Haar, blau gefärbt. Vielleicht habt ihr sie mal auf dem Sportplatz gesehen.«

Barbara Lynn legte den Bericht sorgfältig in die Mappe zurück und sah Jana in die Augen.

»Warum erzählen Sie uns das?«, fragte Jana.

»Weil ich euch etwas vorschlagen will: Ich lasse euch in Ruhe und werde vor dem Beirat nicht wieder auf einen möglichen Schulverweis zu sprechen kommen. Dafür helft ihr mir, die beiden Verschwundenen zu finden. Ich bin sicher, dass ihnen nichts Schlimmes zugestoßen ist. Wie mir gesagt wurde, ist dieses Mädchen viel herumgekommen und weiß sich zu helfen. Bestimmt ist sie auf etwas gestoßen, das interessanter ist als die Schule, und hat sich einfach aus dem Staub gemacht. Aber sie ist schon die zweite verschwundene Drakul und ich muss unbedingt verhindern, dass sich unter den Eltern Panik ausbreitet.«

»Die zweite, haben Sie gesagt. Wer war denn die erste?«, fragte Alex.

»Der erste, um genau zu sein.« Barbara Lynn schlug die andere Mappe auf. »Er ist Mitte letzten Monats verschwunden. Es handelt sich um einen ziemlich seltsamen Jungen namens Pórtal. Sein Vater ist unter ungewöhnlichen Umständen ums Leben gekommen. In dem Bericht steht außerdem, dass sich jemand die Mühe gemacht hat, direkt neben der Ruhestätte seines Vaters ein Grab für Pórtal anzulegen. Ein übler Scherz und kostspielig noch dazu. Ein Grabmal auf einem Drakul-Friedhof ist nicht gerade billig.«

»Haben Sie mit seiner Familie gesprochen?«, wollte Jana wissen.

»Sein letzter lebender Verwandter ist ein Onkel, mit dem er sich anscheinend in letzter Zeit nicht sehr gut verstanden hat. Wir haben ihn natürlich kontaktiert. Er hat seinen Neffen seit über einem Jahr nicht mehr gesehen. Das letzte Mal haben sie im Juni telefoniert. Danach hat er nichts mehr von ihm gehört.«

»Ich weiß nicht, ob ich Sie richtig verstehe.« Alex warf Obers Marmorbüste einen zerstreuten Blick zu. »Wir sollen also für Sie herausfinden, wo sich die beiden verschwundenen Drakul aufhalten.«

»Sonst würde ich euch das alles überhaupt nicht erzählen«, fiel ihm die Schulleiterin ins Wort und starrte ihn mit geröteten Augen an. »Beweist mir, dass euch etwas an dieser Einrichtung liegt. Als Gegenleistung dürft ihr bis zum Ende des Schuljahrs in Los Olmos bleiben.«

»Sie hätten uns nicht zu drohen brauchen, damit wir Ihnen helfen«, sagte Jana und stand auf. »Das ist nicht unser Stil.«

»So ist es heutzutage leider allgemein üblich, meine Liebe.« Die Direktorin erhob sich ebenfalls und verzog beim Versuch zu lächeln ihre farblosen Lippen. »Darf ich das als Ja auffassen? Ihr werdet die beiden suchen?«

»So wie Sie uns behandeln, verdienen Sie eigentlich kein Ja.« Widerwillig ergriff Alex die Hand, die Dr. Lynn ihm hinhielt. »Aber Sie können trotzdem auf uns zählen.«

Kapitel 2

Janas Elternhaus in der Antigua Colonia sah noch genauso aus wie in der Nacht, als Alex es zum ersten Mal betreten hatte. Nur vor dem Nachbarhaus stand inzwischen ein Gerüst und die Säulen waren in Plastikplanen eingepackt, um sie vor Farbklecksen zu schützen. Genau wie vor einem Jahr gaben die Bäume in den Gärten mit Ausnahme einiger Palmen und Zypressen ein typisch herbstliches Bild ab, ein leuchtendes Mosaik aus roten und gelben Blättern.

Immer wenn Alex über die Schwelle des Hauses trat, bekam er eine Gänsehaut, weil er daran denken musste, wie Jana und er sich hier auf der Treppe zum ersten Mal geküsst hatten. Wie weit weg ihm jene Nacht inzwischen vorkam! Die Party im Molino Negro… Erik hatte ihn mit zwei Mädchen im Schlepptau zu Hause abgeholt und er wollte an dem Abend einfach ein bisschen Spaß haben. Mit dem Gedanken war er zu Erik ins Auto gestiegen.

Wie viel war seitdem geschehen!

»Er ist nicht in seinem Zimmer.« Jana kam zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppe herunter. »Hast du in der Küche nachgesehen?«

Alex schüttelte den Kopf. Er war wie angewurzelt vor dem Porträt von Janas Urgroßmutter stehen geblieben, jenem Gemälde, das ihn bei seinem ersten Besuch so beeindruckt hatte. »Vielleicht sollten wir ihn besser nicht mit reinziehen«, sagte er vorsichtig, als Jana auf ihn zukam. »Er hatte schon genug Stress wegen uns.«

»Wir ziehen ihn nicht mit rein. Wir fragen ihn nur, ob er etwas über diese verschwundenen Schüler weiß. Er kennt mehr Leute als wir in der Schule, Alex. Leider stimmt es, was die Rektorin gesagt hat, wir sind wirklich nicht besonders beliebt. Unsere Mitschüler haben Angst vor uns.«

»Na ja, dann stimmt es erst recht, was ich sage. Je weniger man deinen Bruder mit uns in Verbindung bringt, desto besser für ihn.«

»Aber David können wir vertrauen; wir können ihn alles fragen, ohne irgendein Risiko einzugehen. Und er hat die besondere Gabe, alles genau zu erfassen, was um ihn herum geschieht. Von wie vielen Menschen kannst du das behaupten, Alex? Wir müssen das gar nicht länger durchkauen. Wir brauchen ihn und das weißt du auch.«

Alex betrat hinter Jana die alte, ein wenig heruntergekommene Küche. Aus dem Backofen roch es nach verbranntem Käse und auf der Arbeitsplatte stand ein Topf mit einem Rest Makkaroni. Auf dem Cerankochfeld hatte jemand eine riesige Flasche Zitronenlimonade offen stehen lassen.

Jana griff sich die Flasche und las stirnrunzelnd das Etikett, als könne sie nicht glauben, etwas so Seltsames in ihrer Küche gefunden zu haben. »Zitronenlimo«, sagte sie. »Ich habe David noch nie Zitronenlimo trinken sehen. Merkwürdig…«

Genau in diesem Moment flog die Tür zum Garten auf und David tauchte auf, in der Hand einen Plastikbecher voll frisch gepflückter Brombeeren.

Hinter David stand ein Mädchen. Sie war in etwa so groß wie er und sah Jana und Alex mit dunklen, samtweichen Augen an.

»Das ist Dora«, verkündete David feierlich. »Dora, das ist meine Schwester Jana, und das hier ist Alex. Dora ist neu in meiner Klasse. Briggs, der Biologielehrer, hat uns eine Hausaufgabe über Gartenpflanzen aufgegeben.«

Ohne sich von dieser unbeholfenen Vorstellung irritieren zu lassen, gab Dora zuerst Alex und dann Jana die Hand. »Freut mich, euch kennenzulernen. David erzählt ständig von euch.«

Aus der Miene des Mädchens sprach große Neugier. Jana hatte sie seit Beginn dieses Schuljahrs ein paar Mal in der Pause gesehen. Sie trug immer eng anliegende Tops und luftige Röcke und bewegte sich mit der Geschmeidigkeit und Eleganz einer Tänzerin.

»Bist du neu in der Stadt?«, fragte Jana freundlich. Sie wollte nett zu Dora sein. Wenn David sie nach Hause mitgebracht hatte, musste ihm ziemlich viel an ihr liegen. »Los Olmos ist ganz okay, wenn man sich erst mal eingewöhnt hat.«

»Eigentlich habe ich schon immer hier gewohnt«, erwiderte Dora hastig.

»Auf welche Schule bist du denn letztes Jahr gegangen?«, fragte Alex.

Sie sah ihn nachdenklich an, bevor sie antwortete. »Auf gar keine. Ich bin überhaupt nicht zur Schule gegangen.«

Es trat ein verlegenes Schweigen ein, das David hastig brach. »Dora hatte einen schweren Autounfall und lag vier Jahre lang im Koma«, erklärte er. »Sie ist im Juli aufgewacht. Deswegen ist sie nicht zur Schule gegangen.«

Jana stand die Überraschung ins Gesicht geschrieben. »Äh… ich… tut mir leid«, stammelte sie. »Ich hätte nicht danach fragen sollen.«

»Kein Problem, es ist ganz normal, dass du nachfragst«, unterbrach sie Dora mit einem Lächeln. »Und mir macht es nichts aus, darüber zu reden, wirklich nicht. Zumindest nicht mit David… oder mit euch.«

Alex hatte das Gefühl, dass Doras Augen etwas zu lange auf Janas Gesicht ruhten, bevor sie weitersprach.

»Meine Eltern sagen, es war ein Wunder.« Ihre Stirn war leicht gerunzelt. »Sie hatten schon keine Hoffnung mehr. Die Ärzte meinten, ich würde wahrscheinlich nie wieder aufwachen. Die Heiler des Klans waren derselben Meinung.«

»Von welchem Klan bist du denn?«, fragte Alex. »Sorry, ich bin kein Medu, manchmal fällt es mir noch schwer, Leute einzuordnen.«

»Dafür weiß ich, wer du bist.« Dora musterte ihn mit schräg gelegtem Kopf. »Alex, der letzte Nachfahre der Kurilen. Ich habe von deinen magischen Fähigkeiten gehört.«

Unwillkürlich drehte Alex sich nach David um, aber der wedelte abwehrend mit den Händen. »Du brauchst mich gar nicht so anzusehen, ich habe nichts gesagt! Vergiss nicht, in den letzten paar Monaten bist du eine ziemliche Berühmtheit geworden.«

»Das stimmt.« Dora biss sich auf die Unterlippe, als befürchtete sie, zu weit gegangen zu sein. »Entschuldige, ich wollte dir nicht zu nahe treten. Ich dachte, du bist es gewohnt, dass man dich erkennt… Ich bin übrigens eine Varulf«, fügte sie hinzu und schob das Haar hinter dem linken Ohr zur Seite, um ihnen das Tattoo zu zeigen, das sie am Hals trug: einen kleinen Schmetterling.

»Eine Varulf«, wiederholte Jana überrascht. »Wir haben nicht viele Freunde, die dem Klan der Varulf angehören.«

»Wir haben in keinem Klan viele Freunde, Jana, nicht mal in unserem eigenen«, bemerkte David scheinbar leichthin, obwohl man eine gewisse Bitterkeit heraushören konnte. »Seit diesem Schuljahr weniger denn je. Ich habe Dora schon erklärt, dass sie sich lieber von mir fernhalten sollte, wenn sie an der Schule beliebt sein will. In meiner Klasse redet fast keiner mehr mit mir.«

»Mir kommt es nicht darauf an, beliebt zu sein«, stellte Dora klar und richtete ihre großen dunklen Augen auf David.

Mit einer kurzen, zärtlichen Bewegung berührte David das Haar des Mädchens. Als sie errötete, hatte er sich bereits umgedreht und schenkte Zitronenlimonade in hohe Gläser.

Jana und Alex tauschten einen Blick.

»Es war schön, dich kennenzulernen, Dora«, sagte Jana. »David, vielleicht können wir später reden, ja?«

Mit einem blauen Glas in der einen Hand und einem durchsichtigen Strohhalm in der anderen drehte David sich zu seiner Schwester um. »Du willst reden? Dann muss was passiert sein«, stieß er hervor und sah abwechselnd seine Schwester und Alex an. »Klar, deswegen seid ihr um diese Zeit schon hier. Und Alex kommt sonst nie mit. Erzählt schon, was ist los?«

Jana warf einen Seitenblick auf Dora. »Es hat keine Eile, wir reden später«, erwiderte sie lächelnd, sie wollte nicht unhöflich wirken.

Hoffentlich begriff ihr Bruder, dass sie in Gegenwart des fremden Mädchens kein Wort sagen würde.

Doch David reagierte vollkommen unerwartet. Janas Reserviertheit schien ihn zu kränken und er ließ nicht locker. Es war klar, dass er Dora unbedingt in dieses Gespräch einbeziehen wollte, das seiner Schwester so wichtig zu sein schien. »Nachher habe ich keine Zeit«, erklärte er bestimmt. »Ich habe doch gesagt, dass wir eine Hausaufgabe fertig machen müssen, und dazu brauchen wir den ganzen Nachmittag und wahrscheinlich den halben Abend. Wenn ihr mir was erzählen wollt, dann jetzt, bevor wir loslegen. Eure Entscheidung. Und wenn es ein Geheimnis ist, will ich es sowieso nicht erfahren.«

»Es ist kein Geheimnis.« Jana hielt ihren Bruder zurück, als er mit den frisch gefüllten Gläsern wieder in den Garten hinauswollte. »Aber es geht um Familienangelegenheiten und die interessieren Dora doch bestimmt sowieso nicht.«

»Alles, was mit David zu tun hat, interessiert mich«, widersprach Dora sofort. »Er ist mein einziger Freund in Los Olmos. Und ich bin keine Klatschtante, das könnt ihr mir glauben. Außerdem hört mir an der Schule sowieso niemand richtig zu, um mich braucht ihr euch also keine Sorgen zu machen, ehrlich.«

Alex verzog das Gesicht. Es war nicht gerade feinfühlig von diesem Mädchen, Jana praktisch keine Wahl zu lassen. Jetzt war sie gezwungen, das fremde Mädchen in etwas einzuweihen, das sie absolut nichts anging. Aber das schien Dora überhaupt nicht zu kümmern. David sah sie an, er freute sich über ihre Worte und sie lächelte zurück.

Jana ließ sich auf einen Stuhl fallen, stützte beide Ellbogen auf den Tisch und sah ihrem Bruder mehrere Sekunden lang in die Augen. »Na schön«, seufzte sie. »Wie ihr wollt, wahrscheinlich ist es sowieso egal. Habt ihr zufällig von den beiden Drakul gehört, die verschwunden sind?«

»Kinow und Pórtal«, sagte David wie aus der Pistole geschossen. »Pórtal war in der Fünften und Sechsten in meiner Klasse. Wir waren nie richtig befreundet, obwohl ich ihn eigentlich ganz nett fand. Aber er hat immer sein eigenes Ding gemacht. Wisst ihr, was ich meine?«

»Ja, genau wie du, oder?«, sagte Jana spitz. »Weißt du sonst noch was über ihn?«

»Seine Mutter ist bei seiner Geburt gestorben und sein Vater wurde ermordet. Er hat nie darüber geredet, wie ihr euch denken könnt. Er hatte nicht viele Freunde in Los Olmos, bis er irgendwann anfing, mit der Clique von Railix abzuhängen.«

»Railix? Wer ist denn Railix?«, fragte Alex. »In welche Klasse…?«

»Machst du Witze?« David sah ihn verblüfft an. »Du weißt nicht, wer Railix ist? Ihr lebt wohl echt auf einem anderen Planeten. Railix ist der beliebteste Typ an der ganzen Schule! Obwohl er aus dem Schulalter eigentlich raus ist.«

»Ich verstehe kein Wort.« Jana ärgerte sich sichtlich über den spöttischen Ton ihres Bruders. »Warum ist er denn in Los Olmos so beliebt, wenn er gar nicht auf die Schule geht?«

»Weil er das coolste Motorrad der ganzen Stadt und wahrscheinlich des ganzen Universums fährt. Du hast ihn bestimmt schon mal gesehen. Mindestens zweimal pro Woche holt er Issy damit ab. Alle machen Witze über ihn, aber Issy stellt sich taub und sagt nichts dazu. Niemand weiß genau, ob sie eigentlich zusammen sind oder nicht… Kennt ihr Issy? Sie ist in meinem Jahrgang, in der C.«

»Die Rektorin hat sie erwähnt, als sie über Kinow Kuud gesprochen hat, das andere Mädchen, das verschwunden ist«, erinnerte sich Alex. »Die beiden waren anscheinend Freundinnen. Aber Moment mal, hatte sie auch was mit Pórtal zu tun?«

»Na ja, sie waren jetzt nicht supereng befreundet, aber manchmal sind sie zusammen nach der Schule mit der Clique von Railix losgezogen«, erklärte David. »Railix hast du bestimmt schon mal gesehen, Jana. Ein athletischer Typ mit einer auffälligen Narbe im Gesicht. Angeblich leitet er ein Fitnessstudio für Drakul, aber es geht das Gerücht, dass das Studio nur eine Tarnung ist.«

»Wie alt ist er denn?«, fragte Alex.

David zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Er sieht aus wie dreißig, aber vermutlich ist er sogar noch älter. Offenbar trainieren nachmittags auch einige Drakul unserer Schule ihre magischen Fähigkeiten in seinem Studio. Soll so eine Art außerschulische Aktivität sein.«

»So was könnten wir in unserem Klan doch auch mal anleiern«, schlug Jana in sarkastischem Ton vor. »Und du wärst der Trainer, David. Das käme bei den Agmar bestimmt gut an. Okay, er trainiert also Schüler.«

»Das behauptet er zumindest. Aber ich habe auch gehört, dass er dem direkten Befehl des Drakul-Oberhaupts untersteht und ›Spezialaufträge‹ für ihn durchführt.«

»Wo ist das Studio?«, fragte Alex.

»Keine Ahnung. Unter dem neueren Teil der Stadt gibt es doch ein richtiges Labyrinth aus Drakul-Tunneln. Irgendwo dort muss es sein. Ich weiß nur, dass er und seine Jungs oft in diesem Café Rosa Oscura abhängen.«

»Das Rosa Oscura.« Dora hatte die Augen auf ihr Glas gerichtet. »Ich glaube, da ist meine Schwester früher immer hingegangen. Es ist eins der wenigen Medu-Lokale, wo sie auch Leute von anderen Klanen reinlassen.«

»Ich war ein paar Mal dort«, sagte Jana unbeeindruckt. »Die Hamburger sind ganz lecker, aber sonst gefällt mir der Laden nicht besonders. Die Atmosphäre ist irgendwie… angespannt.«

»Ein guter Ort, um mit der Suche anzufangen«, sagte Alex. »Weißt du sonst noch irgendwas über Kinow Kuud oder Pórtal, David?«

»Nein, außer dass Kinow eine Freundin von Issy ist und anscheinend auch bei Railix trainiert hat. Keine Ahnung, vielleicht haben sie ja beim Training übertrieben und sich ernsthaft verletzt. Ihr wisst doch, wie die Drakul sind: Sie albern herum und versuchen, die Naturgewalten mit ihrem Bewusstsein zu beherrschen. Sie spielen im wahrsten Sinne des Wortes mit dem Feuer. Klar, dass man sich da mal verbrennt.«

»Sie experimentieren mit Feuer, Eis, der Macht der Erde und des Wassers… Du hast recht«, sagte Jana. »Das ist die gefährlichste Magie überhaupt. Vielleicht hat es einen Unfall gegeben.« Sie zog eine Grimasse und stand auf. Das Gespräch war für sie beendet. »Wir lassen euch dann mal besser allein«, fügte sie ein wenig spöttisch hinzu und sah dabei David an. »Ihr müsst euch ja auf eure Hausaufgabe konzentrieren.«

»Warte doch mal.« Als Jana nach ihrem Rucksack griff, der über der Stuhllehne hing, packte David sie am Handgelenk. »Wollt ihr mir nicht erklären, warum ihr euch plötzlich so für diese Drakul interessiert? Warum erzählst du mir nicht, was los ist?«

»Es hat nichts mit dir zu tun, David«, erwiderte sie und machte sich los. »Je weniger du weißt, desto besser.«

»Das sagst du immer.« David hatte sich nach vorne gebeugt und die Ellbogen auf den Tisch gestützt. Er musterte sie mit gerunzelter Stirn. »Und hinterher stellt sich jedes Mal raus, dass es genau umgekehrt ist. Je weniger ich weiß, desto schlimmer wird es für mich, Jana. Muss ich dir denn wirklich noch beweisen, dass du mir vertrauen kannst?«

Jana blickte Dora an und dann wieder David. »Ihr habt doch jetzt zu tun«, sagte sie abwehrend. »Wir reden später, wenn du Zeit hast.«

»Nein. Jetzt.«

Jana war klar, dass David sich nicht mit Andeutungen abspeisen lassen würde, und setzte sich wieder hin. Alex stand ein wenig abseits gegen die Arbeitsfläche gelehnt, verfolgte das Gespräch aber aufmerksam.

»Also schön«, begann Jana. »Dr. Lynn hat uns in ihr Büro bestellt.«

»Euch beide?«

»Alex und mich, ja«, bestätigte Jana. »Sie hat damit gedroht, dass wir von der Schule fliegen, wenn wir ihr nicht helfen, die beiden verschwundenen Drakul-Schüler zu finden. Zufrieden?«

David brauchte eine Ewigkeit, bis er antwortete. »Okay. Wenn ich noch was in Erfahrung bringe, sage ich euch Bescheid.«

»Bist du jetzt enttäuscht?«, fragte Alex grinsend.

Janas Bruder zuckte mit den Schultern. »Ja«, gab er zu. »Ich habe wohl irgendwie was… Romantischeres erwartet. Keinen Befehl von der Rektorin… Unglaublich, dass sie euch herumkommandiert, und das, obwohl ihr das Buch der Schöpfung gelesen habt!«

Jana und Alex sahen ihn erschrocken an, aber David blieb völlig gelassen. »Denkt ihr etwa, Dora wüsste nichts davon? Ihr seid so clever und mächtig, keine Ahnung, wie ihr es hinkriegt, so hinterm Mond zu leben. Alle wissen Bescheid. In der Medu-Welt seid ihr die absoluten Stars!«

Alex nickte und versuchte, ein unbekümmertes Gesicht aufzusetzen. Es mochte ja sein, dass sie vieles über Jana und ihn wussten, aber über eine Sache wusste nicht einmal David Bescheid: In den letzten Monaten hatten ihre magischen Fähigkeiten kontinuierlich nachgelassen. Zum Glück war es ihnen bis jetzt gelungen, diese Schwäche geheim zu halten, aber früher oder später würden die Leute bestimmt davon erfahren.

Jana verabschiedete sich von Dora mit einem Kuss auf die Wange. »Ich würde mich freuen, wenn du mal wieder vorbeikommst«, sagte sie mit einer Aufrichtigkeit, die sogar David überraschte. »Mein Bruder soll dir mal sein Studio zeigen. Er ist Künstler und macht ganz tolle Sachen. Komm, Alex, wir gehen.«

Jana war bereits im Flur, nur Alex stand noch in der Tür, als plötzlich ein Klirren von zerbrochenem Glas zu hören war. Dora stieß einen Schrei aus.

»Autsch!«

Als Alex sich umdrehte, sah er einen dicken Tropfen Blut über ihren Handrücken laufen. Offenbar hatte Dora ihr Glas fallen lassen und sich geschnitten.

Sie wirkte leichenblass. »Kannst du mir schnell ein Desinfektionsmittel bringen?«, bat sie David mit zittriger Stimme. »Mein Immunsystem ist ziemlich geschwächt, seit ich aus dem Koma aufgewacht bin. Eine Infektion könnte tödlich sein.«

David rannte aus der Küche. »Jana, wo haben wir Alkohol? Oder Jod oder so was? Haben wir irgendwo eine Hausapotheke?«

»In deinem Studio, für die Tätowierungen«, rief ihm Jana zu, während sie durch den Flur davonging.

»Nein, nicht mehr.« David wirkte noch nervöser als Dora. »Ich habe doch alles weggeworfen, nachdem Heru meine Hand zerstört hat. Ich dachte, ich würde das Zeug nicht mehr brauchen.«

»Dann oben im Bad. Komm mit.«

Alex hörte, wie Jana und David auf der Holztreppe nach oben liefen. Doras Gesichtsausdruck hatte sich plötzlich komplett verändert. Sie wirkte gelassen, stellte mit der gesunden Hand ihre Tasche auf den Tisch, zog den Reißverschluss einer Innentasche auf und griff mit schnellen, gezielten Bewegungen hinein. »Hier«, sagte das Mädchen leise. Sie hatte etwas herausgeholt und hielt es Alex hin. »Ich musste warten, bis ich alleine mit dir bin, um dir das hier zu geben. Bitte zeig es nicht Jana. Du wirst bald verstehen, warum. Vertrau mir.«

Verblüfft nahm Alex den kleinen Gegenstand entgegen, den Dora ihm hinhielt: eine goldene Anstecknadel mit einem kleinen Flügel aus schwarzem Jettstein am oberen Ende. »Was zum Teufel…?«

»Pst! Steck sie ein. Sie kommen gleich.«

Ohne nachzudenken, schob Alex die Anstecknadel in die Jackentasche. Genau in dem Moment kam David mit einem Fläschchen Alkohol und einem jodgetränkten Wattebausch zur Tür herein.

Erschöpft hielt Dora ihm die verletzte Hand hin und ließ ihn nacheinander die beiden Desinfektionsmittel auftragen. »Macht euch keine Sorgen«, sagte sie und blickte dabei Alex an. »Ich habe mich erschrocken, als ich das Blut gesehen habe, aber jetzt ist es schon besser. Und wie ihr seht, verarztet David mich vorbildlich.«

»Bist du sicher, dass du nichts brauchst?«, fragte Jana besorgt. »Ich kann schnell zur Apotheke gehen und dir was holen…«

»Nein, nicht nötig«, antwortete Dora und sah sie mit ihren unschuldigen dunklen Samtaugen an. »Jetzt habe ich doch alles, was ich brauche.«

Kapitel 3

Als Alex bei sich zu Hause ankam, wollte er eigentlich gleich in sein Zimmer gehen, aber bei seiner Schwester lief noch Musik, also klopfte er spontan an ihre Tür.

Laura ließ ihn ziemlich lange warten, und als sie dann endlich aufmachte, musste Alex sich ein Grinsen verkneifen: Sie hatte eine durchsichtige Plastikhaube auf und ihr Haar war dick mit Färbemittel eingeschmiert. Auch ihr T-Shirt zierte schon ein dicker brauner Klecks.

»Welche Farbe ist es denn diesmal?«, fragte er, während er unaufgefordert hineinging. »Weiß Mama Bescheid?«

»Mahagoni. Nein, ich hab ihr nichts gesagt. Wozu auch, sie hätte es mir sowieso bloß verboten.«

»Tolles Argument. Lieber hinterher entschuldigen, als vorher um Erlaubnis fragen, wie?«

Laura zuckte mit den Achseln und entdeckte dabei den Farbfleck auf dem T-Shirt. Entsetzt griff sie nach einem weißen Handtuch, das auf dem Bett lag, und wischte ihn schnell ab.

»Super Idee«, lobte Alex. »Mama wird begeistert sein, wenn sie das Handtuch sieht.«

»Mann, wie bist du denn drauf? Seit wann bist du so ein Spielverderber? Immerhin hast du dich letztes Jahr einfach tätowieren lassen, ohne vorher zu fragen. Schon vergessen? Und das war bloß der Anfang…«

Ja, das war bloß der Anfang, sagte sich Alex ein wenig bitter. Wenn er alles aufzählen müsste, was er seiner Mutter seither verheimlicht hatte, könnte er ein ganzes Buch vollschreiben. Dabei hatte er das nicht einmal absichtlich getan. Er hatte keine Wahl gehabt.

Vielleicht kam es ihm deshalb so kindisch vor, dass Laura etwas so Unwichtiges wie eine neue Haarfarbe vor ihrer Mutter geheim halten wollte.

»Hast du es schon mal mit Magie probiert?«, fragte er und setzte sich im Schneidersitz auf Lauras Bett, wie früher, als sie noch klein waren. »Bei manchen funktioniert es.«

»Bei mir nicht.« Laura seufzte theatralisch. »Am Anfang hab ich schon mal irgendwelchen Kleinkram hingekriegt: einen Lichtfleck auf der Haut oder auf dem Fenster. Aber seit Monaten klappt nicht mal das. Anscheinend habe ich kein Talent fürs Zaubern.«

»Keine Ahnung, ob man dafür Talent braucht. Es ist eher… eine Gabe oder so.«

»Eine Gabe, ja. Die du hast und ich nicht. Meinst du, rote Haare stehen mir? Mara aus der Neunten hat sie sich neulich beim Friseur färben lassen und sieht jetzt aus wie ein Papagei, die Arme.«

»Selbst wenn es dir nicht steht, schlimmer als bei Mara kann es eigentlich kaum werden.«

Die beiden Geschwister sahen sich eine Weile schweigend an. Seit Ewigkeiten hatten sie nicht mehr so herumgealbert und sich gleichzeitig so ernst unterhalten. Früher hatte Alex ihre Gespräche immer total genossen.

»Wann kommt Mama heute nach Hause?« Alex warf ein herzförmiges violettes Kissen in die Luft und fing es wieder auf.

»Sie wollte eigentlich zum Abendessen hier sein. Sie hat noch ein Meeting, hatte aber keine Lust, bis zum Schluss zu bleiben. Sie hat heute Nacht kaum geschlafen.«

»Schon wieder ein Albtraum?«

Laura starrte auf den Teppichboden. »Glaub schon. Wir haben doch alle dauernd Albträume.«

Alex nickte zerstreut. Er wollte lieber nicht so genau wissen, was seine Schwester träumte. Ihm reichten seine eigenen Träume. Außerdem wusste er, dass er ihr nicht helfen konnte. In den Osterferien hatte er Dinge gesehen und gehört, die er nicht mehr so leicht vergessen würde, und selbst wenn er tagsüber nicht daran dachte, war er immer noch damit beschäftigt, das alles zu verarbeiten. Wie besessen kehrte sein Unterbewusstsein Nacht für Nacht zu jenen Ereignissen zurück, um ihre Bedeutung zu verstehen.

Aber er wollte seine Schwester noch etwas anderes fragen. »Weißt du irgendwas über ein Mädchen, das Issy heißt? Sie ist in der Elften, aber vielleicht kennst du sie ja trotzdem.«

»Jeder kennt Issy. Sie ist echt cool. Die Drakul-Schüler himmeln sie richtig an. Ich glaube, weil sie immer mit diesem älteren Typen unterwegs ist, dem mit dem Motorrad.«

»Ich habe gehört, sie ist oft im Rosa Oscura. Da gehst du doch auch manchmal hin.«

»In letzter Zeit nicht mehr. Ich bin keine Medu, schon vergessen? Ich bin ein normaler Mensch und die sind dort nicht willkommen.«

»Jetzt übertreib mal nicht. Das Rosa Oscura mag zwar eine laute, stickige Spelunke sein, aber zumindest behandeln sie alle Gäste gleich. Dort kommt jeder rein.«

»Klar kommt man rein, aber das heißt noch lange nicht, dass man dazugehört. Als ich das letzte Mal mit ein paar Freunden dort war, kam ich mir total fehl am Platz vor. Die Leute haben mich angestarrt und über mich getuschelt. Ein Typ hat sogar ständig mit dem Finger auf mich gezeigt und gelacht. Es war ein Varulf, habe ich später erfahren.«

Alex nickte und musste einen Schauder unterdrücken. Er bekam eine Gänsehaut, wenn er daran dachte, wie gut seine Schwester über die Unterschiede zwischen den Medu-Klanen Bescheid wusste. Vor einem Jahr hatte sie nicht mal gewusst, dass es die Medu überhaupt gab…

Vor einem Jahr hatte er selbst noch nie etwas von ihnen gehört.

»Ich muss unter die Dusche, die Farbe ausspülen«, sagte Laura und griff nach einem Berg Handtücher auf dem Boden. »Sollen wir mit dem Abendessen auf Mama warten? Abendessen und Film, wie in alten Zeiten?«

»Abendessen und Film. Aber nur, wenn ich aussuchen darf«, antwortete Alex grinsend.

Er trödelte noch ein bisschen herum, bevor er sich auf den Weg in sein Zimmer machte. Als er die Tür öffnete, sang Laura schon seit einer ganzen Weile aus vollem Hals unter der Dusche.

Er hatte diesen Augenblick so lange wie möglich hinausgezögert. Jetzt war er allein mit seinem schlechten Gewissen, weil er Jana nichts von der Anstecknadel gesagt hatte.

Vor allem musste er nun entscheiden, was er damit machen sollte.