Dieter E. Zimmer

Ist Intelligenz erblich?

Eine Klarstellung

Inhaltsverzeichnis

1 Warum dieses Buch

2 Ein Eklat

3 Der gedoppelte Mensch

4 Die Messung des Unermesslichen

5 Eine Pyramide aus Faktoren

6 Das g-Hirn

7 Was das ist: Erblichkeit

8 Das Altern der Intelligenz

9 Der verbleibende Spielraum

10 Deine Umwelt, unsere Umwelt

11 Der Flynn-Effekt

12 Heikel, heikler, am heikelsten

13 Länder-IQs und PISA

14 Immer höher hinaus

15 Fazit

Annex 1 Komplikationen

Annex 2 Korrelationen und Konsorten

Anmerkungen

Literatur

Register

Bildnachweis

Fußnoten

KAPITEL 1

WARUM DIESES BUCH

Dieses Buch hat einen Anlass, den ich bedauere. Anfang September 2010, auf dem Höhepunkt der medial-politischen Empörung über «das Sarrazin-Buch», wurde der SPD dringend angeraten, endlich den Autor hinauszuwerfen, der ihr seit 36 Jahren angehörte. Diese wollte sich ohnehin schon lange von Thilo Sarrazin trennen, brauchte aber einen stichhaltigeren Grund als bei früheren Versuchen. Jetzt fand sie ihn, aber wohlweislich nicht unter seinen Ansichten zu den bevölkerungspolitischen Konsequenzen der Einwanderungspolitik, die die Empörung ausgelöst hatten, sondern auf einem bequemeren Nebenschauplatz.

Generalsekretärin Andrea Nahles gab in einem Brief an die Parteibasis die Linie vor: «Thilo Sarrazin … hat mit seinen Äußerungen zu genetischen Identitäten von Völkern, Ethnien oder Religionsgemeinschaften eine Grenze überschritten und sich außerhalb der Partei- und Wertegemeinschaft der SPD gestellt. Deshalb hat der SPD-Parteivorstand einstimmig beschlossen, ein Parteiordnungsverfahren mit dem Ziel eines Ausschlusses aus der SPD einzuleiten … Als Sozialdemokraten sagen wir klar: Das Leben ist offen. Die Entwicklung oder Charaktereigenschaften eines Menschen oder einer Gruppe von Menschen sind nicht durch ein bestimmtes Erbgut vorgezeichnet.» Zwei Tage später sekundierte ihr der Parteivorsitzende: «Thilo Sarrazin hat in der Öffentlichkeit so getan», sagte Sigmar Gabriel, «als würde sich Intelligenz und Dummheit und Fleiß und Leistungsverhalten genetisch vererben, und wer das sagt …, der ist natürlich ganz nah an den ganzen Rassentheorien, die in den letzten hundert Jahren viel Verderben produziert haben … Damit verstößt er gegen elementare Wertvorstellungen der Sozialdemokraten. Ich glaube übrigens, auch gegen elementare Wertvorstellungen unserer Verfassung.» Es war mehr als eine momentane Einschätzung der Parteispitze. «Möchtegern-Darwin», «genetischer Unsinn», «biologistisches Geschwätz», «Sozialdarwinismus», so tönte es monatelang aus der SPD, hastige Etikettierungen, die ganz auf die Automatik eines allgemeinen Abscheus setzten.

Dies also schien die Meinung der SPD-Spitze zu sein: Weder Intelligenz noch irgendeine Charaktereigenschaft sind genetisch vorgezeichnet, Biologie spielt im Leben des Menschen keine Rolle. Wer etwas anderes glaubt, verstößt gegen die elementaren Wertvorstellungen der Sozialdemokratie, ist ein Biologist, ein Rassist, fast ein Nazi und eigentlich ein Fall für den Verfassungsschutz 

Nun habe ich mich als Wissenschaftspublizist zwischen 1974 und 1998 in einer ganzen Reihe von Artikeln, vor allem in der «Zeit», und in einigen Büchern mit der allzeit brisanten Frage der Erblichkeit des IQ befasst.1 Ich war 1974, zunächst widerstrebend, zu dem Schluss gekommen, dass jene, die damals «Nativisten» genannt wurden, die Anhänger der Lehre von den angeborenen kognitiven Fähigkeiten, recht haben könnten – dass der IQ tatsächlich in erheblichem Maß erblich ist, genauer: dass die individuellen Unterschiede in der gemessenen Intelligenz eine erhebliche Erblichkeit aufweisen, so erheblich, dass sie sich auch bei den damals in Amerika propagierten Förderprogrammen zur Erhöhung der Intelligenz lernschwacher Kinder nicht ungestraft ignorieren ließ. Die wissenschaftliche Basis dieses Schlusses erhärtete sich in dem Vierteljahrhundert immer mehr, bis ich meinte, die Kontroverse sei inzwischen glücklich zur Ruhe gekommen und die Sache ein für alle Mal erledigt. Auch im neuen Millennium begegnete mir kein wissenschaftlicher Befund, der jenen Schluss wieder in Frage gestellt hätte. Weiter erforscht werden nur noch die Feinheiten am Rande. In der ganzen Psychologie ist kaum eine Frage so gründlich geklärt worden wie diese, und seit Mitte der 1990er Jahre hätte das jedermann wissen können – da wurde es Lehrbuchstoff. An der Spitze der SPD aber nahm das offenbar niemand zur Kenntnis.

Man muss nicht lange rätseln, warum die Partei den Stand der Dinge verschlafen hatte: weil die Medien, zumal in Deutschland, sich keine Mühe gemacht haben, untendenziös über jenen Forschungszweig zu berichten, der heute Verhaltensgenetik heißt. Niemand setzt sich gern einem Vorwurf wie dem des «Biologismus» aus, am allerwenigsten in Deutschland, wo ‹Biologie› einmal der Deckname für die Rechtfertigung eines mörderischen Rassenwahns war. Wenn sich das Thema nicht ganz vermeiden ließ, driftete die Berichterstattung wie von selbst auf die Seite der Biologieverächter. Ein gutes Beispiel für die anhaltende Voreingenommenheit fand sich genau in jener ersten Septemberwoche 2010 im «Spiegel», und es ist ganz instruktiv, es etwas näher ins Auge zu fassen.

Der Wissenschaftsredakteur Jörg Blech schreibt da in einem dreiseitigen Artikel, die Forscher hätten «den Einfluss der Erbanlagen auf Intelligenzunterschiede in den vergangenen Jahren nach unten korrigiert … Auch die moderne Genforschung hat inzwischen ergeben, dass es eine biologische Wurzel der Schlauheit, bestehend aus einem oder einigen wenigen ‹Intelligenz-Genen›, mitnichten gibt.» Der erste Satz war rundheraus falsch. Die Erblichkeitsschätzungen beim IQ schwankten über die Jahrzehnte hin zwischen 40 und 85 Prozent (der Leser wird erfahren, warum sie es taten); Anfang der 1980er Jahre schienen sie sich bei 50 bis 60 Prozent einzupendeln; seit Mitte der 1990er Jahre lauteten die Zahlen: 40 bis 45 Prozent für Kinder und 65 bis 75 Prozent für Erwachsene (Näheres zur Altersabhängigkeit in Kapitel 8); neueste Studien aus Belgien, England und Russland melden sogar 82 bis 86 Prozent2. Die Zahlen wurden also nicht nach unten, sondern nach oben korrigiert. Den zweiten Satz rettet nur eine kleine stilistische Finesse, über die man leicht hinwegliest. Die «biologische Wurzel der Schlauheit», wenn man es denn so sagen will, ist tatsächlich nicht das Werk von «einem oder einigen wenigen Genen» – das hat auch niemand behauptet, sonst gäbe es nämlich gar keine Erblichkeitsschätzung. Aber eine biologische Wurzel gibt es sehr wohl, und zwar als das Werk unbekannt vieler Gene. Das ist keine Neuigkeit, sondern in Fachkreisen seit Jahrzehnten eine Selbstverständlichkeit, es stand in Science und Nature, die jeder Naturwissenschaftler auf der Welt kennt, man könnte es sogar in der Wikipedia nachlesen.

Blechs Kronzeuge war der amerikanische Psychologe Richard E. Nisbett. Im Wesentlichen war der ganze Artikel ein Resümee von dessen 2009 erschienenem Buch Intelligence and How to Get It. Es suchte das Gewicht der Gene durchweg herunterzuspielen. Dass der IQ von den individuellen genetischen Anlagen mitbestimmt wird, bezweifelte aber auch Nisbett nicht. Sein Argument lautete vielmehr, dass bestimmte Fördermaßnahmen den Intelligenzquotienten stärker günstig beeinflussen können als allgemein angenommen; und dass sich der faktische Abstand zwischen Schwarz und Weiß vollständig ohne Berufung auf die Gene erklären lasse. Unter anderem stützte sich Nisbett auf eine in der Tat eindrucksvolle Studie von Eric Turkheimer, die aufgezeigt hatte, dass bei Kindern aus der Unterschicht Umwelteinflüssen ein größeres Gewicht für den IQ zukommt als bei Kindern der Mittel- und Oberschicht, während umgekehrt das Gewicht der Gene mit dem Sozialstatus steigt.3 Es war ein interessanter Befund, der jedoch die Erbtheorie nicht aus den Angeln hob. Turkheimer selber meinte denn auch keineswegs, die Gene zur Bagatelle gemacht zu haben, im Gegenteil: «Natur oder Kultur – die Debatte ist zu Ende. Herausgekommen ist, dass alles erblich ist, ein Ergebnis, das für beide Seiten der Debatte überraschend kam. Irving Gottesman und ich haben 1991 vorgeschlagen, den universalen Einfluss der Gene auf das Verhalten zum obersten Gesetz der Verhaltensgenetik zu ernennen, und wenn es auch gewagt von mir ist, Gesetze mit einem Namen zu versehen, die ich leider nicht selber entdeckt habe, lohnt es sich doch, die nahezu einhelligen Ergebnisse der Verhaltensgenetik förmlich festzuhalten. Erstes Gesetz. Sämtliche menschlichen Verhaltensmerkmale sind erblich. Zweites Gesetz. Das Heranwachsen in der gleichen Familie hat einen geringeren Effekt als die Gene. Drittes Gesetz. Ein substanzieller Teil der Unterschiede bei komplexen menschlichen Verhaltensmerkmalen lässt sich weder auf die Effekte der Gene noch die der Familien zurückführen.»

Es ist schwer zu sagen, wie das Gros der Zeitgenossen zu der Frage steht.4 Vermutlich gehen die meisten für sich privat ganz selbstverständlich davon aus, dass die Menschen in vielerlei Hinsicht von Geburt an verschieden begabt sind. Aber da sie auch wissen, wohin der Wind der veröffentlichten Meinung bläst, und da ihnen ihre eigene wahrscheinlich überdurchschnittliche Intelligenz ein schlechtes soziales Gewissen macht, ist ihnen die These, Intelligenz und andere Wesenszüge seien zu einem erheblichen Teil erbbedingt, unheimlich und unsympathisch. Der Artikel im «Spiegel» war nicht der einzige seiner Art, und jedes Mal werden einige hunderttausend Leser aufgeatmet haben: Es war also alles nur ein Märchen, und die Wissenschaft widerruft es jetzt glücklicherweise selbst.

Schiefe Darstellungen wie in jenem Artikel bestimmen seit Jahrzehnten die öffentliche Meinung. Sie ist tendenziös, und die SPD-Spitze teilt diese Tendenz sozusagen aus dem Stegreif, weil sie ihr gelegen kommt. Auf Dauer aber werden die unvereinbaren Fakten ein unwissenschaftliches Menschenbild korrigieren.

Dieses Buch fängt sozusagen noch einmal bei null an. Es informiert ohne Ranken- und Schnörkelwerk, wie und warum die zuständigen Disziplinen der Wissenschaft nicht umhingekommen sind, die individuellen IQ-Unterschiede für substanziell erblich zu halten, und es erörtert ansatzweise, wie ein solcher Befund zu verstehen ist und was aus ihm folgt. Es behandelt nicht die Erblichkeit der sogenannten Persönlichkeitseigenschaften, sondern nur die Intelligenzforschung, und zwar nur einen kleinen Ausschnitt aus ihr, zieht eine Schneise durch die inzwischen unübersehbare Fachliteratur, immer am Mainstream entlang und ohne Abstecher zu vielleicht interessanten, aber ohne Gefolgschaft gebliebenen Außenseitermeinungen, und gibt damit leider auch keinen Eindruck von der Lebendigkeit dieser Forschungsszene. Auch verkürzt und pointiert es oft in einer Weise, die sich kein Wissenschaftler herausnehmen würde. Es gehört also zu jenen Büchern, die in Amerika «semipopulär» genannt werden und darauf setzen, dass es Leser gibt, die auch die unverkleidete Wissenschaft für unterhaltsam halten. Es enthält keine erfundenen Fallgeschichten, dazu bestimmt, den Leser bei sich selbst «abzuholen». Es vereinfacht nicht so stark, dass man vor lauter Vereinfachung nicht mehr erkennen kann, worin eigentlich das Problem bestand. Es bietet keine patenten Rezepte zur Intelligenzsteigerung. Es verficht keine originelle neue Intelligenztheorie. Es möchte nur das Thema so behandeln, dass alle, die verstehen wollen, auch verstehen können, selbst wenn Mathematik und Graeco-Latein nicht ihre Stärken sind.

Allerdings, ohne einige der (statistischen) Grundbegriffe der Verhaltensgenetik kommt es nicht aus. Im Text sind sie dort, wo sie zum ersten Mal auftauchen, mit ein paar Worten definiert; in Annex 2 finden sich kurze zusammenhängende Erläuterungen. Wer nicht weiß und nicht wissen will, was eine Korrelation ist, was Varianz, Normalverteilung und Standardabweichung bedeuten, sollte gar nicht weiterlesen, sich dann aber fairerweise auch aus der Diskussion heraushalten.

Ideologische Ambitionen verfolgt das Buch nicht. Ich selber halte mich für einen Naturalisten. Wenn jemand seinen Inhalt für «reduktionistisch», «mechanistisch», «darwinistisch», «sozialdarwinistisch», «positivistisch» und so weiter halten möchte, bitte sehr. Aber «biologistisch»? «Biologisch» wäre das Wort. Jemand, der die Welt durch die Brille der Soziologie zu sehen beliebt, muss sich von niemandem «Soziologist» schimpfen lassen. Und «rassistisch»? Das Wort sollte strikt für jene reserviert sein, die einzelne Ethnien in Wort oder Tat geringschätzen, verunglimpfen und diskriminieren. Wenn schon die Konstatierung von ethnischen Differenzen «Rassismus» sein soll, verlöre das Wort seinen Sinn, denn dann wäre letztlich jedermann ein Rassist.

Jedenfalls ist der Inhalt des Buchs kein beliebiges Narrativ, wie es die Partei der Kulturisten gern auch hinter naturwissenschaftlichen Erkenntnissen vermutet. Es ist gesättigt mit empirischem Wissen. Nach heutigem menschlichem Ermessen handelt es sich also um Fakten. Missliebige Fakten aber lassen sich nicht durch eine Fatwa aus der Welt schaffen. Wer sich ihrer entledigen will, hätte sie zu widerlegen.

KAPITEL 2

EIN EKLAT

Es war keine Debatte, es war keine Kontroverse, was 1969 in Amerika losbrach, es war ein Eklat. Der Anlass war unscheinbar: ein trockener wissenschaftlicher Aufsatz voller Zahlen, Formeln und Tabellen, geschrieben von einem angesehenen, denkbar unpolemischen, unpolitischen Erziehungspsychologen der Universität von Kalifornien (Berkeley), Arthur Jensen, veröffentlicht in der vornehm-reservierten Harvard Educational Review.1 Allerdings, stellte er schon im Titel eine Frage, die vielen Pädagogen und Psychologen auf den Nägeln brannte, nachdem jahrelang viel Mühe, Optimismus und Geld für Förderprogramme aufgewendet worden war, die die kognitiven Leistungen amerikanischer Schüler verbessern sollten: «Wie stark lassen sich IQ und Schulleistung steigern?» Er gab auch gleich eine Antwort: So gut wie gar nicht, denn Unterschiede im IQ, dem Intelligenzquotienten, seien zu einem Großteil erblich, und pädagogische Maßnahmen könnten gegen einen niedrigen IQ nur wenig ausrichten.

Jensen hatte diese Antwort nicht aus der Luft gegriffen, und eigentlich hätte sie niemanden überraschen sollen. Zwei Jahre vorher war die Bürgerrechtskommission der USA zu dem vernichtenden Schluss gekommen: «Die Analyse der Kommission behauptet nicht, dass kompensatorische Fördermaßnahmen prinzipiell untauglich seien, die Auswirkungen der Armut auf die Schulleistungen bei einzelnen Kindern aufzuheben … Es ist jedoch eine Tatsache, dass keins der untersuchten Programme die Schulleistungen insgesamt nennenswert erhöht hat.» Und dass die Erblichkeit des IQ 80 bis 85 Prozent betrage, war schon seit einigen Auflagen in der Encyclopædia Britannica nachzulesen gewesen und hatte dort niemanden aufgeregt. («Erblichkeit» ist ein technischer Ausdruck der Verhaltensgenetik, der angibt, in welchem Maß die bei einem bestimmten Merkmal gemessenen individuellen Unterschiede auf Unterschiede im Erbgut zurückgehen; Näheres dazu in Kapitel 7.) Eigentlich sagte Jensens Aufsatz also nichts Neues.

Indem er die beiden Befunde kombinierte, traf Jensen jedoch einen neuralgischen Punkt. In den Jahrzehnten zuvor hatte sich in Amerika der Behaviorismus zur dominierenden psychologisch-pädagogischen Theorie oder besser Ideologie ausgewachsen. Er interessierte sich fast ausschließlich für das Lernen und seine Gesetze. Dass der Mensch nicht alles lernen kann und nicht alles gleich gut, interessierte ihn wenig; dass er einiges schon von Natur aus mitbringt und nicht erst lernen muss, vergaß, verdrängte und verleugnete er. Der Mensch, das Wesen mit dem anfangs leeren, aber unbegrenzt plastischen Gehirn, einer immerhin von Natur aus lernwilligen Tabula rasa, das durch seine Erziehung, seine Lebenserfahrungen lernt und geformt wird – dieses Credo hatte der Begründer des Behaviorismus, James B. Watson, in seiner berühmten und aus heutiger Sicht lächerlich großsprecherischen Herausforderung ausgedrückt: «Man gebe mir ein Dutzend gesunder, wohlgestalter Kleinkinder und meine eigene spezielle Welt, in der ich sie aufwachsen lasse, und ich garantiere, dass ich aufs Geratewohl jedes beliebige von ihnen zu jeder Art von Spezialist erziehen kann – Arzt, Anwalt, Künstler, Kaufmann und Dieb und, ja, auch Bettler und Dieb, ungeachtet seiner Talente, Neigungen, Vorlieben, Fähigkeiten, Berufsinteressen und der Rasse seiner Vorfahren.»2

Es war die hochgemute, bisweilen militante Doktrin von der Allmacht der Erziehung («Jeder kann alles lernen!»), und ihr notwendiges Korrelat war das Vertrauen, dass die Menschen von Natur aus gleich seien oder sich die Erziehung jedenfalls über etwaige Ungleichheiten hinwegsetzen könne. Oder wie es der britische Pädagoge Brian Simon unter Berufung auf Marx und Engels ausdrückte: «Der Mensch erschafft sich buchstäblich selbst. Er hat sich selbst erschaffen, indem er aktiv seine Lebensumstände verändert hat – durch gesellschaftliche Arbeit. Das unterscheidet den Menschen von der Welt der Tiere, und daraus folgt, dass für die Herausbildung des Menschen andere Gesetze als die rein biologischen gelten … Es ist darum klar, dass nicht die Vererbung der Schlüssel zur menschlichen Entwicklung ist, sondern die Erziehung.»3

Kurz, man war bei einigen der letzten Fragen und damit in den Sphären des Glaubens angelangt: Wie gleich können und sollen die Menschen sein? Was ist Gerechtigkeit? Irgendwie hatte sich die alte Überzeugung, dass es auf beides ankomme, Erbe und Umwelt, in den 1960er Jahren verflüchtigt. Wie eines der wenigen fairen Bücher über die damalige IQ-Kontroverse feststellte: «Die neue Welle der frühen 60er Jahre brachte nicht nur eine Betonung der Umwelt. Irgendwo entlang des Weges gerieten genetische Faktoren in Vergessenheit. Der lange bestehende psychologische Konsens, dass Gene eine große Rolle bei den individuellen Intelligenzunterschieden spielen, war zusammengebrochen. Niemand schien rundheraus abzustreiten, dass sie für die Intelligenz von Bedeutung sind, doch um das Thema entstand geradezu eine Verschwörung des Schweigens, als Psychologen und Pädagogen zu dankbaren Empfängern der staatlichen Dollarmillionen wurden, die dazu bestimmt waren, den IQ der Unterprivilegierten anzuheben.»4

Jensens Aufsatz traf die Verfechter der Allmacht der Erziehung tief. Er rechnete ihnen vor, dass die mit so viel Idealismus und öffentlichen Geldern unternommenen Förderanstrengungen der vorangegangenen Jahre nichts gefruchtet hatten, dass die Erziehung keineswegs so allmächtig war wie geglaubt. Das schmerzte. Plötzlich befand man sich mitten in der seit Jahrzehnten schwelenden Kontroverse Nature vs. Nurture (die elegante Formel stammt von Shakespeare und wurde von Sir Francis Galton in ihrem modernen Sinn aufgenommen) – Erbe gegen Umwelt, Natur gegen Kultur, Gene gegen Erziehung, Nativisten gegen Kulturdeterministen.

Von Anfang an war es eine asymmetrische Kontroverse. Die Nativisten hielten es immer für selbstverständlich, dass der Mensch das Produkt von beidem sei, Erbe und Umwelt, und wollten nur das relative Gewicht beider Faktoren ausloten; die Kulturdeterministen dagegen hielten in der Regel jede Berücksichtigung der Gene für verfehlt, überflüssig und politisch gefährlich. Daran hat sich bis heute wenig geändert.

Trotzdem hätte sich die Aufregung über Jensens Aufsatz wahrscheinlich in Grenzen gehalten, hätte er nicht auch noch ein zweites Thema in sein Resümee einbezogen: Gruppenunterschiede im IQ, genauer: den durchschnittlich niedrigeren IQ der afroamerikanischen Bevölkerung. Dass er ein Faktum war, muss zumindest den Testexperten seit langem bekannt gewesen sein; wenige Jahre zuvor hatten mehrere Metaanalysen, unter anderen ein dickes, berüchtigtes Buch der Psychologieprofessorin Audrey M. Shuey5, alles auffindbare Material (200 Studien) gesichtet und waren zu dem Schluss gekommen, dass der Durchschnitts-IQ der Schwarzen von 1910 bis in die 1960er Jahre unverändert 15 Punkte niedriger lag als der der nichtschwarzen Bevölkerung. Ein gleichzeitiger Bericht des amerikanischen Erziehungsministeriums hatte das bestätigt.6 Neue Erkenntnisse, die dazu genötigt hätten, das Thema wieder auf den Tisch zu bringen, gab es jedoch nicht.

Aber selbst die abermalige Feststellung des Bekannten wäre vielleicht noch hingenommen worden, obwohl sie auf dem Höhepunkt der schwarzen Bürgerrechtskämpfe (1968 war Martin Luther King ermordet worden) politisch eine Unklugheit sondergleichen war. Was die Sache jedoch zur Explosion brachte, war Jensens Vermutung, jener schwarze IQ-Rückstand könne außer sozialen auch genetische Gründe haben: «Meines Wissens bezweifelt niemand die Rolle, die Umweltfaktoren, eingeschlossen solche aus der Geschichte, bei der Bestimmung zumindest eines Teils der Unterschiede zwischen rassischen Gruppen spielen [in Amerika damals wie heute der normale Begriff für ‹ethnische Gruppen›] … Angesichts der Tatsache aber, dass individuelle Intelligenzunterschiede eine beträchtliche genetische Komponente haben, ist die Vermutung nicht unvernünftig, dass diese auch zu dem Bild [der Gruppendifferenzen] beiträgt.»7

Es war nur eine Mutmaßung, ein Verdacht – eine nicht weiter untermauerte Hypothese, die bis heute nicht bewiesen wurde (aber auch nicht widerlegt) und die möglicherweise prinzipiell unbeweisbar ist. Aber mit ihr schien für viele der ganze Fall klar: Jensen musste nicht nur ein «Biologist» sein, was schon schlimm genug war, sondern auch ein «Rassist» und somit quasi ein «Nazi». Er hatte mit ihr die Verhaltensgenetik, vom herrschenden Kulturdeterminismus sowieso schon lange ignoriert oder misstrauisch beäugt, vollends in Verruf gebracht. Offen pflichteten Jensen nur wenige Kollegen bei, vor allem Richard B. Herrnstein in Harvard und Hans Jürgen Eysenck in London. Herrnstein war derjenige, der die Debatte ins Soziale wendete, indem er Jensens Thesen den lästigen, aber leider unwiderlegbaren «Herrnstein-Syllogismus» hinzufügte: «(1) Wenn die hinsichtlich der Geistesfähigkeiten bestehenden Unterschiede vererbt werden und (2) der Erfolg diese Fähigkeiten voraussetzt, (3) Einkommen und Berufsprestige aber vom Erfolg abhängen, (4) beruht die soziale Stellung (die Einkommen und Prestige widerspiegelt) bis zu einem gewissen Grad auf erbbedingten Unterschieden zwischen den Menschen.»8

Die Professoren, die sich als Parteigänger Jensens geoutet hatten, wurden prompt mit Schmähartikeln in der Presse, Flugblättern und Plakaten überschüttet. Graffiti erschienen an den Wänden von Berkeley. Sie erhielten anonyme Morddrohungen. Einer wurde in effigie verbrannt. Jensen konnte sein Seminar über Intelligenztheorien nur unter Polizeischutz abhalten. Ihre Vorlesungen wurden gestört, Vorträge verhindert, Demonstrationen riefen zu ihrer Boykottierung auf. In Hotels mussten sie inkognito übernachten. Die Äußerungen der «Jensenisten» wurden erst aufs gröbste entstellt und dann empört widerlegt, vorzugsweise von Kollegen, die keine Ahnung von Verhaltensgenetik hatten, aber jetzt ganz genau wussten, warum sie von vornherein ein durch und durch faules Geschäft war. Die Harvard Educational Review hatte schon im Voraus sieben Gegenartikel in Auftrag gegeben und füllte die ganze nächste Ausgabe mit ihnen; in der übernächsten folgten weitere. Zeitweise stellte sie den Verkauf des Hefts mit Jensens Aufsatz ganz ein, auch der Autor selbst konnte keine Exemplare mehr kaufen.9 Auf einen langen Beitrag mit dem Titel «Jensenismus, m. Die Theorie, dass der IQ weitgehend von den Genen abhängt» erhielt das New York Times Magazine im August 1969 mehr Leserbriefe als zu jedem anderen Artikel in seiner Geschichte.10

Immer waren es die gleichen paar Schurken, die am Pranger standen: allen voran Jensen, neben ihm Herrnstein und Eysenck und dann noch ein vierter, William Shockley, der einst für die Erfindung des Transistors den Nobelpreis erhalten, mit Verhaltensgenetik aber nichts zu tun hatte und auf den Wagen aufgesprungen war, um einen privaten Feldzug für die Eugenik zu führen. Ihnen gegenüber echauffierte sich eine unübersehbare Schar von Professoren und Journalisten, die dem Publikum erklärten, wie durch und durch irregeleitet die These wäre, bei der Intelligenz hätten auch die Gene ein Wort mitzureden.

Zwei Jahrzehnte bevor der Begriff ‹politisch korrekt› als spöttische Bezeichnung für eine vage linksprogressive politische Bewusstseinshaltung auftauchte, bot die erste IQ-Kontroverse der Politischen Korrektheit die Gelegenheit, sich um ein Thema zu sammeln. Es entstand ein Klima, in dem man den anderen nicht mehr ausreden ließ und mit ihm diskutierte, sondern schon auf ein bloßes Reizwort hin («Jensen!», «g!», «Eysenck!») empört weghörte, verdächtigte und niederschrie. (Von dem provokanten «g», der kognitiven Grundfähigkeit, wird noch öfter die Rede sein; Kapitel 5 und 6 erklären, was es damit auf sich hat.) Es wurde politischer Schick, geradezu eine weltgeschichtliche Pflicht, missliebige wissenschaftliche Befunde nicht zur Kenntnis zu nehmen, sondern wegzumobben.

1974 flammte die Kontroverse noch einmal hell auf: als Arthur Jensen und sein radikalster akademischer Gegner, der Princetoner Psychologe Leon Kamin11, gleichzeitig entdeckten, dass mit den Daten des berühmten britischen Erziehungspsychologen Sir Cyril Burt (1883  1971) etwas nicht stimmen konnte. Im Protokoll seiner langangelegten Zwillingsstudie wiederholten sich ab 1952 bestimmte Korrelationen, die sich nicht wiederholen können. Da seine Rohdaten nach seinem Tod vernichtet worden waren, ließ sich die Sache nie wirklich klären – wahrscheinlich hatte er als siebzigjähriger Pensionär seine Daten gar nicht mehr erhoben, sondern nur noch bei sich selbst abgeschrieben. Das brachte sein ganzes empirisches Werk, auch das frühere, in den Verdacht der Fälschung, und es wurde prompt erbarmungslos aus der Wissenschaft gestrichen. Für Kamin hatte sich die Theorie von der Erblichkeit der Intelligenz als Fälscherkomplott entlarvt. Kaum beachtet wurde dagegen, dass inzwischen genug andere Studien vorlagen, um das Burt-Fiasko auszugleichen, sodass Burts Sturz am Stand der Wissenschaft unterm Strich nicht das Geringste änderte.12

Zumindest eine unmittelbare praktische Folge hatten der Eklat und das tumultuöse Durcheinander in seinem Gefolge: Die Verwendung von IQ- und anderen Eignungstests wurde eingeschränkt, hier und da wurden sie ganz verbannt. Mehrfach befasste sich die amerikanische Justiz mit ihnen und entschied gegen sie. Die Begründung: Sie seien diskriminierend, da Afroamerikaner bei ihnen im Durchschnitt weniger gut abschnitten.13 Es war, als wären Schulzensuren gerichtlich verboten worden, weil sie die schlechten Schüler schlecht aussehen lassen.

Wie es in der Wissenschaft weiterging, war nicht so leicht auszumachen. Der sturköpfige Jensen schrieb Buch um Buch, um seine Thesen zu untermauern: erklärte sie Nichtfachleuten14, versuchte – ziemlich erfolgreich – den Vorwurf zu entkräften, IQ-Tests seien gegen einzelne Minderheiten voreingenommen15, machte sich stark für den ominösen g-Faktor (die kognitive Grundfähigkeit)16. Die meisten Forscher hielten sich weiter heraus und gaben nicht zu erkennen, ob sie mehr mit Jensen oder mit seinen Gegnern sympathisierten. Die Gegner begannen, Gegenbücher zu veröffentlichen. Besonderen Einfluss hatte das des Harvard-Paläontologen Stephen J. Gould, das die Schädelvermessungen des 19. Jahrhunderts ridikülisierte und es schon vom Ansatz her für einen reaktionären Irrtum hielt, das geistige Vermögen eines Menschen messen und mit einer einzigen Zahl belegen zu wollen – alle diese pseudowissenschaftlichen Machenschaften dienten nur dazu, der Oberschicht zu bescheinigen, dass alle anderen minderwertig seien.17 Großen Einfluss hatte auch der Sammelband von Dworkin und Block18, der zwei Dutzend Wissenschaftlern verschiedener Provenienz Gelegenheit bot, Erblichkeitsschätzungen unisono für zweifelhaft oder unsinnig zu erklären, ohne zu verraten, welche Daten die Verhaltensgenetik eigentlich zu ihren Schlüssen geführt hatten. Ein Philosoph, der die Logik des Bandes dreißig Jahre später sezierte, ist der Meinung, von dort aus sei diese Haltung in die Sozialwissenschaften auf aller Welt durchgesickert.19

Einer der führenden heutigen Verhaltensgenetiker, der die Jensen-Krise als Student miterlebt hatte, Robert Plomin, schildert die damalige Lage in der Rückschau so: «Jensens Monographie in der Harvard Educational Review brachte 1969 die ganze Disziplin fast zum Stillstand, weil er angedeutet hatte, dass ethnische Unterschiede mit genetischen Unterschieden zu tun haben könnten … Der Sturm, den Jensens Aufsatz auslöste, führte zu vernichtender Kritik an der gesamten verhaltensgenetischen Forschung, aber vor allem an der verhaltensgenetischen Intelligenzforschung. Diese Kritik hatte den positiven Effekt, etwa ein Dutzend bessere und größere verhaltensgenetische Studien hervorzubringen, durch die weit mehr Daten zur Genetik der Intelligenz auf den Tisch kamen als in den vorhergehenden 50 Jahren zusammen.»20

Die Verhaltensgenetik war in Grund und Boden kritisiert worden, aber nicht widerlegt. Die Verhaltensgenetiker forschten weiter, noch leiser, noch unauffälliger als bisher. Das Gros der Psychologen verhielt sich still. Die Kontroverse konnte ja jederzeit wieder aufflammen, und eine Parteinahme hätte sie vielleicht ihre Forschungsgelder und ihre Anstellung gekostet. Nicht jede Universitätsverwaltung war so standhaft wie die der Universität Minnesota, die Thomas Bouchards Zwillingsprojekt, das heute ihr Stolz ist, in Schutz nahm, als an den Wänden Graffiti wie «nazism» und «racism» erschienen und der Geschichtsprofessor und marxistische Aktivist Barry Mehler durchs Land, durch die Medien und Talkshows tourte, um Wissenschaftler als Rassisten, Antisemiten, Nazis anzuschwärzen.21

Es traf sich günstig, dass 1990 eine umfassende Metaanalyse aller vorliegenden Verwandtenstudien publiziert wurde22, die Daten für die Erblichkeitsberechnung hergaben. Sie endete mit der Zahl 0.51: 51 Prozent der Intelligenzunterschiede seien auf genetische Unterschiede zurückzuführen. Das sollte nicht das letzte Wort bleiben (Näheres dazu in Kapitel 8), aber für den Augenblick wirkte es überzeugend und beruhigend. So schien sich in der Fachwelt gegen Ende der 1980er Jahre ein Konsens anzubahnen: dass die individuellen IQ-Unterschiede zu etwa 50 Prozent erbbedingt seien, so wie die meisten anderen mentalen Merkmale, die daraufhin untersucht worden waren. Die Kontroverse schien beilegbar: 50 zu 50, halbe-halbe, sah das nicht nach Frieden aus? Beide Seiten hätten gewonnen, könnten ihren Streit begraben und sich endlich gemeinsam auf jene Suche machen, bei der sie nur zusammen fündig werden können, die Suche nach jenen Umweltfaktoren, die unliebsame Differenzen verringern, genetisch Benachteiligten helfen würden. Ein Tabu aber blieb: ethnische Unterschiede und ihre Ursachen.

Bei den Medien jedoch kam die Chance für einen Friedensschluss nicht an. Halbe-halbe-Lösungen sind für sie bekanntermaßen reizlos. Sie setzten die Kontroverse unverwandt fort, mit den gleichen Schurken, den gleichen Helden. Wer beides verfolgte, Fachjournale und Publikumsmedien, konnte den Eindruck gewinnen, Fachmeinung und öffentliche Meinung stammten aus verschiedenen Welten. Dass das kein bloßer Eindruck war, belegte 1988 ein Buch, The IQ Controversy von Mark Snyderman und Stanley Rothman, der eine Psychologe, der andere Politologe. Sie hatten einerseits über tausend Experten an Universitäten und Akademien zu ihren Meinungen über den Begriff der biometrischen – also der messbaren und gemessenen – Intelligenz, die Verwendung von IQ-Tests und die vorliegenden Erblichkeitsschätzungen befragt (und 661 Antworten erhalten), andererseits für den Zeitraum von 1969 bis 1983 die einflussreichsten überregionalen Tageszeitungen, Nachrichtenmagazine und Fernsehsender ausgewertet und darin 479 Artikel und 65 Sendungen zum Thema gefunden und analysiert.

IQ-Tests seien untauglich zur Messung der Intelligenz? Die Experten stimmten zu 96 bis 99 Prozent darin überein, dass zu dem, was IQ-Tests messen, und zwar zutreffend, «abstraktes Denken und Schlussfolgern», «Problemlösungsfähigkeit» und die «Fähigkeit zum Wissenserwerb» gehören; zu 86 bis 89 Prozent meinten sie, dass IQ-Tests «Allgemeinwissen», «mathematische Kompetenz», Denkgeschwindigkeit und «sprachliche Kompetenz» richtig mäßen; 80 Prozent hielten sie auch für ein brauchbares Maß der «Fähigkeit zu abstraktem Denken» (aber kaum einer zum Beispiel für Kreativität und Motivation).23 66 Prozent befürworteten den g-Faktor (die kognitive Grundfähigkeit, wie sie hier heißen soll), das heißt, sie hielten ihn für ein nützliches und aussagekräftiges Konstrukt, und nur 13 Prozent meinten, Intelligenz sei ein Kompositum aus vielen separaten geistigen Kompetenzen. Über 84 Prozent fanden, dass Untersuchungen an getrennt aufgewachsenen eineiigen Zwillingen (MZA) am überzeugendsten demonstrieren würden, wie viel die Gene zu den vorhandenen IQ-Unterschieden beitragen.

Der IQ sei ein Produkt der Umwelt und nicht auch der Gene? Nur die Hälfte der Befragten hielten eine genaue Erblichkeitsberechnung anhand des damals vorliegenden Datenmaterials für möglich. Die andere Hälfte schätzte sie auf etwa 60 Prozent.24 Der Psychologe Leon Kamin blieb allein mit seiner Meinung, die Erblichkeit könne auch null betragen: «Was auch immer die ‹Experten› meinen, es gibt keinen zwingenden Beweis, dass sie 80, 50 oder auch nur 20 Prozent beträgt. Es gibt nicht einmal ausreichende Gründe für die Verwerfung der Hypothese, dass die Erblichkeit des IQ null beträgt.»25

So weit die befragten Experten. In den Medien blieb die Mehrheit der Beiträge neutral, aber wo sie sich mit einer Meinung hervorwagten, waren mehr negativ als positiv. Für erblich zum Beispiel hielten die IQ-Unterschiede 16, 62 hielten sie nicht für erblich. In den Leitartikeln, Feuilletons und Leserbriefen zum Thema fiel die Abneigung gegen den Nativismus noch deutlicher aus. Bei den Buchrezensionen sagten 14 nein, 9 blieben neutral, keine einzige sagte ja.26

Die Autoren resümierten: «Die Medienberichterstattung über die Kontroverse war wenig präzise. Die Journalisten überbetonten die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Experten; gaben wissenschaftliche Diskussionen technischer Fragen fehlerhaft wieder; … ebenso die Ansichten der relevanten Wissenschaftler zur Interaktion zwischen genetischen und nicht genetischen Faktoren».27 Die schiefe, parteiische Berichterstattung war zur Normalität geworden.

Diese prekäre Ruhe wurde 1994 plötzlich aufgestört. Ein neuer Eklat war da: das Buch The Bell Curve («Die Glockenkurve») von Richard J. Herrnstein und Charles Murray. Es entflammte die öffentliche Meinung auf der Stelle, aber nicht eigentlich darum, weil es der biometrischen Intelligenz eine substanzielle Erblichkeit nachsagte, sondern weil es allerlei soziale Missstände und Übel – Armut, Schulversagen, Arbeitslosigkeit, Sozialhilfebedürftigkeit, Arbeitsunfälle, uneheliche Geburten, Kindervernachlässigung, Kriminalität – in gesetzten Worten und gestützt auf viele statistische Graphiken hauptsächlich auf einen unterdurchschnittlichen IQ zurückführte und sogleich die politische Nutzanwendung zog. Sie bestand in dem Appell, die erhöhte Vermehrungsrate der Minderintelligenten zu bremsen, um jene Übel einzudämmen. Und er zielte dabei ausdrücklich auf die afroamerikanische Bevölkerung. Der Wälzer benutzte eine Menge solider objektiver Wissenschaft für die Propagierung einer subjektiven Interpretation, lieferte eine eindimensionale Erklärung für viele komplexe Übel und forderte zu eugenischen Konsequenzen auf. «845 Seiten Provokation mit Fußnoten», schrieb Time. Als der schottische Psychologe Chris Brand zwei Jahre später ein gleichgesinntes Buch verfasste, war das Tabu noch strikter geworden, der Verlag zog es noch vor der Auslieferung zurück, und nach einer Weile feuerte die Universität Edinburgh den Autor.

Gerade das Mediengetümmel um The Bell Curve sollte dann aber das Ende der wissenschaftlichen Kontroverse einleiten. In den Medien ging wieder alles drunter und drüber, was sich in der Wissenschaft gerade zu klären begonnen hatte. Der Sinn und Nutzen der IQ-Tests wurde erneut in Abrede gestellt, der g-Faktor – die kognitive Grundfähigkeit – für Unsinn erklärt, die erhebliche Erblichkeit der individuellen IQ-Unterschiede abgestritten, die Korrelation zwischen IQ und Schichtzugehörigkeit desgleichen, die ganze Verhaltensgenetik angeschwärzt. Angesichts dieser verwirrten Empörung entschloss sich die APA (die American Psychological Association, der Fachverband der akademischen Psychologen, eine Organisation mit 150 000 Mitgliedern) schon im Herbst 1994 zu einem beispiellosen Schritt. Inmitten all des wissenschaftlichen Streits und der öffentlichen Ignoranz wollte sie eine Bestandsaufnahme, die klarstellte, was denn nun Sache sei, worüber in der Fachwelt Konsens bestehe und worüber nicht. Zu diesem Zweck setzte sie eine Kommission, eine Task Force ein, mit dem Auftrag, ein Gutachten zur Intelligenzforschung zu erarbeiten, das Spreu und Weizen trennte, bloße Mutmaßungen und Spekulationen von gesicherten Erkenntnissen. Die elfköpfige Kommission war hochkarätig und vielseitig besetzt. Den Vorsitz hatte Ulric Neisser, der Doyen der kognitiven Psychologie; zu ihren Mitgliedern zählten Thomas Bouchard, Nathan Brody, Stephen Ceci, John Loehlin und Robert Sternberg, alle zur Creme der amerikanischen Psychologie gehörig und nicht alle von vornherein der gleichen Meinung. Die Hauptexponenten der zurückliegenden Kontroverse, Arthur Jensen, Richard Herrnstein und Leon Kamin, waren nicht dabei.

Keine zwei Jahre später legte die Task Force ihren Bericht vor28. Er deckte die gesamte Thematik ab, den Intelligenzbegriff, den IQ-Test, die individuellen und die Gruppenunterschiede im IQ, wog vorsichtig ab, benannte Schwachstellen, verbleibende Meinungsverschiedenheiten und Forschungslücken, war also eine Art kritisches Fazit aus fast hundert Jahren Intelligenzforschung. Ein Paper zudem, das auch Laien und Journalisten verstehen und Wissenschaftler sich fortan hinter den Spiegel stecken konnten. In der zentralen Frage, der Erblichkeit der IQ-Unterschiede, ließ es keinen Zweifel: «Über alle normalen Umwelten in den modernen westlichen Gesellschaften hinweg hängt die Variation der Intelligenztestergebnisse zu einem beträchtlichen Teil mit individuellen genetischen Unterschieden zusammen.»29 Es nannte dafür auch Zahlen: Die Erblichkeit der IQ-Unterschiede betrage in der Kindheit 45, im Erwachsenenalter 75 Prozent – jedenfalls in den untersuchten Populationen (in denen die Unterschicht unterrepräsentiert ist).30 Das Gutachten wurde einstimmig verabschiedet, und keiner der anschließenden Kollegenkommentare widersprach.

Nur einige der alten, nach europäischen Maßstäben linksorientierten Kämpen aus den früheren Debatten blieben unverwandt dabei, Tests und «g» und die Erblichkeitsberechnung seien nichts als reaktionärer Unfug, allen voran in Amerika Stephen J. Gould, Leon Kamin und Richard Lewontin und in England Steven Rose. Von den Medien wurden sie weiterhin dringend gebraucht, als sachverständige Zeugen, wann immer es eine neue Zumutung der Nativisten zurückzuweisen gab.

Davon abgesehen aber herrschte spätestens ab 1996 Klarheit: Die individuellen Unterschiede in der abstrakt-analytischen Intelligenz sind überwiegend erbbedingt. Seither wäre eigentlich auch die Allgemeinheit nicht mehr frei, die Frage für offen zu halten. Auch nicht für ewig unlösbar. Sie ist gelöst. Wissenschaftlich ist der Sachverhalt so gesichert, wie etwas nur gesichert sein kann, auch wenn weiterhin Bücher wie Jay Josephs Die Gen-Illusion geschrieben wurden. Dass die Kontroverse mit einem so eindeutigen Ergebnis enden konnte, war mehreren großen, in den Resultaten übereinstimmenden Zwillings- und Adoptionsprojekten zu verdanken – ganz besonders aber einem entscheidenden Experiment nicht der Natur, sondern der Gesellschaft mit der Natur: eineiigen Zwillingen, die in verschiedenen Familien aufgewachsen waren.