Ralf-Peter Märtin
Pontius Pilatus
Römer, Ritter, Richter
Fischer e-books
Ralf-Peter Märtin, geb. 1951 in Eisenach, hat an der TU Berlin Alte Geschichte und Germanistik studiert, Promotion 1982. Seine Bücher über den historischen Dracula, den rumänischen Fürsten Vlad Tepes und seine Kulturgeschichte des Himalaya-Bergsteigens »Nanga Parbat. Wahrheit und Wahn des Alpinismus« gelten als Standardwerke. Sein letztes Buch »Varusschlacht. Rom und die Germanen« stand 22 Wochen auf der Bestsellerliste des SPIEGEL. Er lebt in Frankfurt am Main
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Covergestaltung: bürosüd°, München
Coverabbildung: Mihaly Munkacsy,»Christ Before Pilate«, 1881 ©Bridgeman Art Library, Berlin
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
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ISBN 978-3-10-401428-9
Für Barbara †
»Ich bitte Sie«, antwortete der Professor und lächelte nachsichtig. »Sie müssten doch am besten wissen, dass nichts, aber auch gar nichts von dem, was im Evangelium steht, tatsächlich passiert ist, und wenn wir anfangen wollen, das Evangelium als historische Quelle zu betrachten …«
Michail Bulgakow, Der Meister und Margarita
Zu der Zeit, in der unsere Geschichte spielt, 26 bis 36n.Chr., gliederte sich das Römische Reich in 34 Provinzen, jeweils verwaltet von einem Statthalter. Als Präfekt von Judäa war Pontius Pilatus einer von ihnen, ein hoher Verwaltungsbeamter mit weitreichenden Vollmachten, handelnd an des Kaisers Statt, unzweifelhaft den obersten Rängen der Hierarchie des Reiches zugehörig.
Dennoch – und obwohl er, im Gegensatz zu vielen seiner Amtskollegen, immerhin Lokalgeschichte gemacht hat – wäre er nie aus dem sanften Dämmerlicht der wissenschaftlichen Fachpublizistik herausgetreten, hätte ihn nicht die Kreuzigung des Jesus von Nazareth hineingerückt in einen welt- und heilsgeschichtlichen Zusammenhang, der den, sagen wir es offen, mittelmäßigen Beamten geraden Weges in die Unsterblichkeit beförderte.
Aber selbst seine entscheidende Rolle bei der Passion Christi hätte ihm vielleicht nicht mehr als die bloße Aufnahme ins Credo eingebracht, wären nicht zwei Problemkreise mit seiner Person verknüpft, ein religionsgeschichtlicher und ein psychologischer, die seit 2000 Jahren nicht aufgehört haben, die abendländische Menschheit zu beschäftigen.
Beginnen wir mit dem religionsgeschichtlichen, der Frage, wer denn eigentlich schuld sei an Jesu Tod. Heute hat ihre Beantwortung rein akademischen Charakter, in den vergangenen Jahrhunderten freilich, die mit stupender Regelmäßigkeit die Schuld den Juden zuschoben, lieferte sie die wohlfeile Begründung für manchen Pogrom. Schließlich, so die Darstellung in den Evangelien, waren es die Juden, die Jesus verhafteten, anklagten und dem sich sträubenden Pilatus das Todesurteil gleichsam abzwangen.
Diese Sicht der Dinge ist öfter kritisiert worden. Man hat darauf hingewiesen, dass so, wie die Evangelien den Ablauf der Ereignisse schildern, er keinesfalls gewesen sein könne: Weder entspreche der Prozess vor dem Hohen Rat jüdischen Rechtsvorschriften, noch sei es denkbar, dass es eine Amnestieregelung gegeben habe, wie sie Pilatus auf Jesus anwenden wollte. Weiter sei es unwahrscheinlich, dass der römische Statthalter sich eines jüdischen Rituals, der Handwaschung, bedient habe, um sich symbolisch von der Schuld am Tode Jesu zu entlasten. Wahrhaft lächerlich aber sei es, sich vorzustellen, dass der Vertreter des Kaisers mit Ecce-homo-Rufen das Volk um Begnadigung des Angeklagten gebeten habe.
Sicher ist, dass die synoptischen Evangelien, gegen Ende des 1. Jahrhunderts abgefasst, durchaus mit antijüdischer Tendenz geschrieben sind. Sie entstanden in einer Phase, in der sich jüdische Synagoge und christliche Gemeinde in einem ausgesprochenen Konkurrenzverhältnis befanden. Nahmen die einen in dieser Zeit die Verfluchung der Christen in das Achtzehnbittengebet auf, so waren die anderen davon überzeugt, das neue Gottesvolk zu sein. Die Juden jedenfalls hätten versagt, zuletzt bei der Hinrichtung Jesu, und die Zerstörung ihres berühmten Tempels durch den römischen Feldherrn Titus im Jahre 70 sei der sichtbare Ausdruck des göttlichen Zorns gewesen.
Angesichts dieser Befangenheit der Evangelien hat es nicht wenige Versuche gegeben, die Alleinschuld am Tode Jesu den Römern aufzubürden. Der zu diesem Zweck aufgewandte Scharfsinn krankt indes daran, dass er zwar ein Bild davon übermittelt, wie es gewesen sein soll, aber nicht den Beweis antritt, dass es wirklich so gewesen ist. Aufgrund der dürftigen Quellenlage ist das auch nicht möglich.
Es ist auch nicht nötig, denn wenn der jüdisch-christliche Dialog wirklich dieser Entlastung bedürfte, wäre es schlecht um ihn bestellt. Der Leser wird es bemerkt haben: Ich halte die Frage nach der Schuld am Tode Jesu in der Tat für überholt und überflüssig.
Ganz anders verhält es sich mit dem zweiten Problemkreis, dem psychologischen. Was die Verfasser der Evangelien mit der Person des Pilatus geschaffen haben, ist nichts weniger als eine paradigmatische Figur von zeitloser Aktualität: ein Mensch, dem die Dinge außer Kontrolle geraten, der zu spontan reagiert, mühsam improvisiert, es mit einem System von Aushilfen versucht, der aber, verstrickt in seine selbstgeschaffenen Abhängigkeiten, scheitert.
War das der historische Pilatus? Handelte so ein römischer Politiker, der durch die hohe Schule der Legionen gegangen war und Durchsetzungskraft und Härte doch wohl verinnerlicht haben musste? Die Frage stellte sich erst später. Der urchristlichen Gemeinde war der Sachverhalt klar. Der Statthalter wurde schließlich nicht mit irgendwem, sondern mit Gottes Sohn konfrontiert. Wie hätte ihn das unbeeindruckt lassen sollen?
Jeder, der die Passionsgeschichte in den Evangelien nachliest, leidet unter der nämlichen Schwierigkeit: Man erfährt, was sich ereignet, weiß aber nicht, warum. Nur in seltenen Fällen bemühen sich die Verfasser um die psychologischen und sachlichen Erklärungen, deren es zum Verständnis der geschilderten Vorgänge bedürfte, und oft erscheinen die Handlungen des Pilatus so widersinnig, dass man vollends geneigt ist, das ganze Geschehen außerhalb der Gesetze der Logik anzusiedeln.
Ich behaupte: Es gibt eine innere Übereinstimmung aller vier Evangelien – trotz ihrer unterschiedlichen Entstehungszeit – in der Frage des Charakters des Pilatus. Dementsprechend lassen sich die im Matthäus-, Markus-, Lukas- und Johannesevangelium überlieferten Pilatusstellen ordnen. Die Aufgabe besteht darin, eine Charakterdisposition zu entwickeln, die fähig ist, dem Ablauf der Ereignisse psychologisch und sachlich Sinn zu geben.
Das Ergebnis meiner Bemühungen ist der zweite Teil dieses Buches, der »Richter«. Gemäß der subjektiven Vorgehensweise ist er in der Form eines inneren Monologs des Pilatus abgefasst. Die Handlungszeit ist auf einen Tag zusammengedrängt, eben jenen, an dem sich die Passion Christi zutrug.
Dem »Richter« vorangestellt und damit der erste Teil des Buches ist der »Römer und Ritter«. In ihm werden Pilatus und sein historisches Umfeld vorgeführt. Rom, der Kaiserhof des Tiberius, sein Stand, dann seine Rolle als »Lokalpolitiker«, wie ihn uns Flavius Josephus, der Historiker, und Philo von Alexandrien, der Philosoph, geschildert haben. Diese bedeutendsten jüdischen Schriftsteller des 1. Jahrhunderts sind die Einzigen, die die Amtszeit des Pilatus ausführlich abhandeln. Bezeichnenderweise hat ihn die römische Geschichtsschreibung, sieht man von einem einzigen Satz bei Tacitus ab (Tac., Ann. XV44), vollständig ignoriert.
Flavius Josephus, der im jüdischen Aufstand die galiläische Festung Jotapata gegen die Römer verteidigte und sich 67 Vespasian ergab, hat uns in den Jüdischen Altertümern und im Jüdischen Krieg ein genaues Bild Judäas im 1. Jahrhundert vermittelt. Interessanterweise wird weder bei ihm noch in anderen jüdischen Quellen der gegen Jesus geführte Prozess erwähnt (der als Gegenbeweis seit dem 4. Jahrhundert zitierte Abschnitt in den Jüdischen Altertümern XVIII, 3,3 das sogenannte Testimonium Flavianum, wurde von einem christlichen Redakteur nachträglich eingefügt, zumindest aber stark überarbeitet). Die Schlussfolgerung, dass die Zeitgenossen, so sie nicht Anhänger Christi waren, die Hinrichtung eines falschen Propheten oder eines politischen Unruhestifters nicht besonders berichtenswert fanden, liegt nahe. Insofern folge ich im ersten Teil der Interpretation von Anatole France, der seinen längst pensionierten Pilatus auf eine dementsprechende Frage antworten lässt: »Jesus? Jesus, der Nazaräer? Nie gehört.«
Für die Zeit vor und nach Pilatus’ Präfektenamt sind wir vollkommen auf Spekulationen angewiesen. Quellen über seine Jugend und sein Alter existieren nicht. Die Ämterlaufbahn des Pilatus bis 26, wie sie andeutungsweise in beiden Teilen des Buches erscheint, ist also nicht authentisch, sondern von mir konstruiert, allerdings so, wie sie für einen römischen Ritter denkbar gewesen wäre.
Offengelassen habe ich die vieldiskutierte Frage, ob denn Pilatus ein Parteigänger des Prätorianerpräfekten Sejan gewesen sei oder nicht. Wie so viele Fragen lässt sich auch diese nach den Quellen nicht beantworten. Die als positiver Beleg gern angeführte Stelle in der Kirchengeschichte des Eusebios von Cäsarea (II5, 7) ist nachweislich untauglich, kombiniert sie doch zwei bei Philo getrennte Textstellen zu einem neuen Sinnzusammenhang. In meiner Darstellung lasse ich Pilatus dort Parteigänger des Sejan sein, wo der Ablauf der Ereignisse dieses nahezulegen scheint, im »Richter«, wohingegen im »Römer und Ritter« eine Verbindung Pilatus – Sejan nicht hergestellt wird.
Die bisherigen Abhandlungen über Pontius Pilatus haben versucht, sämtliche Quellen, sowohl die christlichen als auch die jüdischen, in eine Gesamtdarstellung einzubringen. Das konnte nicht gelingen, denn der Pilatus der Evangelien, der Richter Jesu, hat mit dem Pilatus der jüdischen Quellen, dem Römer und Ritter, nur den Namen gemein. Flavius Josephus, als Freigelassener des Vespasian vorsichtiger im Urteil, hauptsächlich aber Philo von Alexandrien haben an dem Präfekten vieles auszusetzen, vor allem dies, dass er es nie für wichtig hielt, die Eigenarten Judäas, speziell die jüdische Religion, zu berücksichtigen. Dabei bringt Josephus dem Statthalter mehr Verständnis entgegen als Philo, der ihn gnadenlos als korruptes und brutales Scheusal zeichnet. Diesen Pilatus und seine zehnjährige Amtszeit kennen die Evangelisten nicht, da sie ausschließlich auf die Person Jesu bezogen sind, nicht Geschichte schreiben, sondern das Heil verkünden wollen.
Was also lag näher, als das Unvereinbare als wenig nützlich aufzugeben und statt dessen die Figur des Präfekten in ihrer überkommenen Dualität zu belassen?
Einzigartig war die Stadt. Die Krone der Welt, der Nabel des Erdkreises. Breit hingelagert am Ufer des Tiber krochen die Mietskasernen und Prachtbauten die sieben Hügel hinauf, bedeckten sie ganz und wucherten weiter.
In seinem Rechenschaftsbericht, in dem der nunmehr göttliche Augustus seine Taten rühmte, hatte er’s geschrieben: Verwandelt habe er Rom; aus einer Lehmstadt habe er eine marmorne geschaffen (Suet., Aug. 28).
Der Baulust, die schon den gleichfalls vergöttlichten Julius Cäsar auszeichnete, hatte er sich mit Genuss und beeindruckendem Erfolg, von seinem Jugendfreund Agrippa nachdrücklich unterstützt, ergeben. Capitol und Palatin, das Forum Julium und sein eigenes, das augusteische, das Marsfeld wie das Theater des Marcellus kündeten von dem Bemühen, Rom wetteifern zu lassen mit den schönsten Städten der Ökumene.
Und wirklich war ihm das im innern Kern der Stadt geglückt. Mit mächtigem Pronaos, ehrfurchtgebietend, lag der Tempel des höchsten Staatsgottes, des Jupiter, auf dem capitolinischen Hügel; daneben, auf dem Palatin, erstreckte sich der kaiserliche Palast. In den Schatten gestellt war der alte Versammlungsort der Bürgerschaft, das Forum Romanum. Die neuangelegten Kaiserforen übertrafen es an Ausdehnung und Pracht bei weitem.
Da Capitol und Palatin in fester Hand, blieb der römischen Aristokratie, den Senatoren und den reichen Rittern, nur übrig, den Nachbarhügel zu besetzen. Der Esquilin beherbergte ihre Villen und Paläste; wer’s kleiner und bescheidener nur wollte, ließ sich an seinem Rand im Viertel der Carinae nieder. Pompejus, Drusus, selbst Tiberius hatten hier zu wohnen nicht verschmäht.
Das Quartier gewährte einen weiteren Vorteil, grenzte es doch an die Subura, wo sich die Demimonde ein Stelldichein zu geben pflegte. Wer Anschluss, gleich welchen Geschlechts, suchte, hier fand er ihn und einen passablen Wein zum guten Essen in einer der tausend Schänken auch. Die Nacht war eigentlich die beste Tageszeit des Viertels, das noch dem ausgefallensten Geschmack Befriedigung verhieß. Der Sog der Subura war groß, und mancher vielversprechende Jüngling zog ihre Verlockungen der staatlichen Karriere vor.
Fünf Straßen weiter ging es geordneter zu. Im tuscischen und argiletischen Viertel blühten Handel und Gewerbe, und jede Weltgegend bemühte sich, ihre Produkte anzuliefern. Kein Fisch, kein Obst, kein Vogel war so ungewöhnlich, dass ihn zu kosten dem verwöhnten Römergaumen nicht gelang. Salben, Weihrauch und Gewürze, kostbare Seidenstoffe, Sand vom Nil … Für den, der zahlen konnte, lag hier die ganze Fülle der bewohnten Welt bereit.
In Rom sein, das war Leben. Die Millionenstadt drängte ihre Bewohner zusammen in der qualvollen Enge ihrer Straßenschluchten. Gut, es gab Gärten auf dem Quirinal, die, einst von Sallustius angelegt, nunmehr dem ganzen Volke offenstanden, und rechts des Tiber auf dem Hügel des Janiculus erstreckten sich die großzügig bemessenen Gärten Cäsars; im überwiegenden Teil der Stadt jedoch, auf Viminalis, Caelius und Aventin war jeder Quadratfuß Boden ausgenutzt. Den knapp 2000domus, städtischen Villen der Aristokraten, standen 50000insulae gegenüber, Mietskasernen, 21 Meter hoch, in sieben Stockwerke geteilt und durch geringen Zwischenraum geschieden voneinander. Man sparte an allem, billigte den Außenmauern höchstens 45 Zentimeter Dicke zu, berechnete die tragenden Balken derart schwach, dass die Gefahr des Einsturzes, zumal bei den häufigen Überschwemmungen des Tiber, beständig drohte.
Das Wohnen in den insulae war überdies so komfortabel nicht. Zwar war das Aquäduktsystem der Stadt berühmt, das über Hunderte von Kilometern das reine Wasser zu den Römern führte, doch gab es fließend Wasser allenfalls im Erdgeschoss der Häuser, wo eine Zapfstelle allen Mietern zur Verfügung stand.
Die Notdurft verrichtete man in Töpfe, die man am Morgen, so man ordentlich, in eigens zu diesem Zwecke an den Treppenabsätzen aufgestellte Behältnisse entleerte; der Rücksichtslose aber, diese Mühe scheuend, goss den Inhalt seines Hafens einfach aus dem Fenster. Die vielgerühmte Kanalisation der Hauptstadt beseitigte nur das Regenwasser, die Abwässer der allerdings zahlreichen öffentlichen Gebäude und einiger Privathäuser. Der Löwenanteil der sonstigen Abfälle und Fäkalien wurde in Senkgruben und auf Müllplätzen im Stadtgebiet oder an dessen Rand deponiert.
Zum Kochen und zum Heizen bediente man sich der Kohlenpfanne. Die Brandgefahr wurde dadurch sehr erhöht. Glasfenster sich zu leisten waren nur die reichen Aristokraten imstande, die Bewohner der insulae benutzten Holzläden.
Die mächtigen Wohnblocks standen an Straßen, die diesen Namen kaum verdienten. Nur zwei davon, die Via Tuscus und die Via Jugarius, waren mit 4,5 bzw. 5,5 Metern breit genug, zwei Wagen nebeneinander Raum zu bieten, die übrigen teilten sich in actus, die knapp das Passieren eines Wagens ermöglichten, und eine große Zahl itinera, Fußgängergassen, die gerade eine Breite von 2,9 Metern aufwiesen.
Durch diese engen, dunklen Schluchten wälzte sich ein beständiger Passantenstrom, der im Fortkommen noch zusätzlich behindert wurde, zumal Krämer und Barbiere, Wirte und Metzger mit ihren schnell aufgebauten Buden und Verkaufsständen die Straße auf einen schmalen Pfad einengten.
Verantwortlich für die Reinigung der Straßen waren die Anwohner. Eine Aufgabe, die dadurch erleichtert wurde, dass sämtliche Straßen und Bürgersteige gepflastert waren, der man sich dennoch nur mit Murren unterzog. Die Pflasterung hatte zudem einen gravierenden Nachteil. Da es nämlich strikt verboten war, tagsüber mit Wagen in die Stadt zu fahren – denn wie hätten sonst noch die Fußgänger ihre Ziele erreichen können? –, rollten die Transporte mit ihren eisenbeschlagenen Rädern unter lautem Gepolter nachts durch Rom.
Überhaupt empfahl es sich nicht, in der Nacht durch Rom zu schlendern. In den stockfinsteren Straßen, Beleuchtung existierte nicht, trieb allerlei Gesindel sein Unwesen. Häuser und Tavernen waren verschlossen, der späte Wanderer tastete sich mühsam, meist im Schein eines trüben Talglichts, nach Hause und wurde nicht selten das Opfer fröhlicher Saufkumpane, die das bedauernswerte Objekt ihrer rohen Scherze nach Soldatenmanier auf einem ausgespannten Mantel prellten, bis der ausgegossene Nachttopf eines gestörten Anwohners dem Spuk ein Ende machte.
Der allgegenwärtige Geruch der Garküchen verband sich mit dem Rauch der Kohlenbecken und mit der Ausdünstung der tierischen und menschlichen Exkremente. Die Luft in Rom war schlecht, eine ungesunde Blässe darum die gewöhnliche Gesichtsfarbe. Wer’s konnte, zog sich in den Sommermonaten aus der Stadt zurück. Besonders im August und September grassierte die Malaria. Epidemien waren häufig.
Doch wenn auch eine einfache Wohnung in Rom an jährlicher Miete einen Betrag verschlang, für den man in Italien einen Bauernhof erstehen konnte, war keiner ihrer Einwohner willens, die Stadt freiwillig zu verlassen.
»Die Stadt, mein Rufus«, hatte schon Cicero seinen Freund Caelius ermahnt, »die Stadt halte hoch und freue Dich Deines Lebens in ihrem Glanze! Alles Leben in der Fremde ist dunkel und bedrückend für jeden, der in Rom mit seiner Tatkraft glänzen kann. Das wusste ich ganz genau; ach wäre ich doch nicht von meiner Überzeugung abgegangen!« (Cic., Ad fam. 2,14) Nicht Klage eines Exilierten war das, keines Ovid, der im weit abgelegenen Tomi kärglich hauste, nein, als der große Rhetor diese Zeilen schrieb, bekleidete er das wichtige und hochdotierte Amt des römischen Statthalters von Kilikien.
Erstaunt es dann, wenn auch das städtische Proletariat aufs Leben in der Metropole nicht verzichten wollte, dass jene Legion, die, um die Verluste aus der Varusschlacht auszugleichen, aus der Bevölkerung der Hauptstadt zwangsweise gepresst zum öden Militärdienst in Germanien, sofort beim Tode des Augustus meuterte, fordernd, dass man ungesäumt nun sie entlasse, zurück sie führe zu den Wundern Roms?
In Rom nur war man wirklich Römer. Die freien Bürger, sie hatten ihr Geschäft gemacht mit der neuen Ordnung des Prinzipats und er mit ihnen. Was abgeflossen an politischer Souveränität, ersetzte der Princeps ihnen durch panem et circenses, Brot und Spiele. Getreide, das Grundnahrungsmittel, stand der römischen Plebs, wohl an die 300 000 Münder, kostenlos zu. Eigene Flotten beeilten sich, aus den Provinzen Ägypten und Africa das für die Ruhe in der Hauptstadt nötige Korn pünktlich heranzuschaffen. Der Princeps ließ es damit nicht bewenden, spendete dazu Öl, nicht selten auch ein Geldgeschenk, war überhaupt bemüht, durch Großzügigkeit die Stimmung der hauptstädtischen Massen in seinem Sinne zu beeinflussen.
War derart für die materielle Notdurft gesorgt, blieb genügend Zeit zu Muße und Vergnügen. Die Stadt selber bot sich als ständiges Theater, als Versammlungsort der bewohnten Erde an. Zu schauen gab es immer: Die prachtvolle numidische Gesandtschaft, die Kamele und drei Löwen mit sich führte, Gallier, die durch ihre Hosentracht Verwunderung und gutmütigen Spott hervorriefen, schmalgliedrige Ägypter standen neben Hünen aus dem Norden, der flinke Grieche neben einer Gruppe buntbemützter Phryger. Man strebte zu den Thermen, die mit ihrer verschwenderischen Ausstattung, den kalten und warmen und heißen Bädern, die in den insulae nicht vorhandenen sanitären Einrichtungen kompensierten, ließ sich massieren, tauschte Neuigkeiten aus und traf Verabredungen für den Abend und die Nacht.
Daneben eröffneten Circus und Theater andere Möglichkeiten, sich zu amüsieren. Komödien und obszöne Schwänke, die Pantomime und die Dichterlesung – die Zeit sich zu vertreiben fiel nicht schwer. Den Höhepunkt des angenehmen Treibens bildeten die 182 Festtage und die an ihnen zu Ehren der Götter, irgendeines Sieges oder des Geburtstags des Princeps veranstalteten Spiele, die an Pracht und Aufwand alles übertrafen, was in den Provinzen inszeniert wurde. Tausende von Gladiatoren, auch weibliche darunter, hieben aufeinander ein, Löwen und Bären, Elefanten und Rhinozerosse, wilde Büffel und Schweine hetzte man in unterschiedlichen Kombinationen in die Arena, ließ sie auf Fechtergruppen losgehen oder angekettete Verbrecher zerfleischen. Augustus hob, um eine neue Attraktion bemüht, ein großes Wasserbecken aus und bot das Schauspiel zweier Flotten, die, als Athener und als Perser angetan, die Seeschlacht von Salamis in blutiger Anschaulichkeit auskämpften. Das riesige Rechteck des Circus Maximus, gebaut für 350 000 Zuschauer, war Schauplatz der nicht minder beliebten Wagenrennen. Die Rennställe der Weißen, Roten, Grünen, Blauen schickten ihre Wagenlenker auf die Bahn, die oft genug unter den mit Eisennägeln gespickten Rädern ihres Konkurrenten zu Tode kamen. Die Anhänger des einen nahmen das regelmäßig zum Anlass, den Parteigängern des vermeintlich unverdienten Siegers eine wüste Straßenschlacht zu liefern.
Die Aristokratie, die Senatoren und die Ritter, war selbstverständlicher noch als alle anderen zu Hause in ihrem Rom. Die Widrigkeiten dieser Stadt, sie gingen die feinen Herrn in ihren purpurgesäumten Togen mitnichten an. Die repräsentablen Villen auf dem Esquilin, die reizenden kleinen Häuser der Carinae lagen so hoch am Hang, so abgewandt dem Muff der proletarischen Viertel, dass es des Räucherwerkes, des beliebten, kaum bedurfte, die Zimmer auszulüften. Der kleine Garten, das private Bad, Gesinde, Frauen, Schreiberknechte, es war gesorgt dafür, dass man in aller Ruhe an der Politik und, wenn man’s wünschte, an der Literatur Gefallen und in ihr Erfüllung finden konnte.
Nachts aber, wenn der Biedermann, so er gesündigt, ängstlich heimwärts schlich, war der Senator oder Ritter niemals allein den Straßenräubern ausgeliefert. Wie’s ihm gebührte, schützte das Gefolge ihn vor Mord und Raub. Und selbst wenn es ihn lockte, die Rollen zu vertauschen, selbst Räuber, selbst Belästiger zu sein – der Spass war bestens abgesichert, die treue Begleitung half dabei.
Warum sollte der Ritter Pontius Pilatus dieser wundervollen Stadt den Rücken kehren?