Michael Nast

Der bessere Berliner

Großstadtgeschichten

Da fragte ich mich: Was für eine Kälte

Muß über die Leute gekommen sein!

Wer schlägt da so auf sie ein

Daß sie jetzt so durch und durch erkaltet?

So helfet ihnen doch! Und tut es in Bälde!

Sonst passiert euch etwas, was ihr nicht für möglich haltet!

 

Bertolt Brecht, Oh Fallada, die du hangest!

HÖFLICH, GUT ERZOGEN UND DURCHAUS VERLETZLICH

Ein Vorwort

Ich werde oft gebeten, meine Texte zu erklären. Das fällt mir zugegebenermaßen nicht unbedingt leicht. Wenn ich es doch mal versuche, wirke ich vermutlich wie jemand mit nicht unerheblichen Wortfindungsstörungen. Wie ein Mensch, den man an die Hand nehmen möchte, aus Mitleid. Werde ich gebeten, meine Texte zu erklären, muss ich oft an Marcel Reich-Ranicki denken, der in seiner Autobiographie Mein Leben geschrieben hat, dass es, jetzt mal sehr zurückhaltend formuliert, in den meisten Fällen vorteilhaft wäre, wenn sich Autoren zu ihren Texten lieber nicht äußern würden. Und wenn ich daran denke, wie hilflos ich auf Fragen wie «Was wollen Sie mit Ihren Texten eigentlich sagen?» reagiere, erscheinen mir Reich-Ranickis Erfahrungswerte überaus schlüssig.

Ich habe mir natürlich häufig die Frage gestellt, warum mir das solche Probleme bereitet. Vielleicht liegt es daran, dass ich als Autor einfach zu nah an meinen Texten bin. Vielleicht fehlt mir der nötige Abstand, um mich objektiv zu ihnen zu äußern. Es klingt eigentlich immer besser, wenn sich andere zu meinen Texten äußern, irgendwie gehaltvoller. Vor allem, wenn diejenigen im Verlagswesen tätig sind. Solche Ausführungen schmeicheln natürlich meiner Eitelkeit. Das ist nicht unangenehm. Oft habe ich jedoch das Gefühl, sie reden gar nicht über mich oder meine Texte.

Das liegt sicherlich auch daran, dass man anders liest als schreibt. Als Leser interpretiert man. Als Leser kann man eine Botschaft formulieren.

Also habe ich mich, als meine Lektorin vor einigen Monaten freundlich andeutete, dass ich doch daran denken sollte, mein Vorwort zu schreiben, nach dem Abgabetermin erkundigt und das Schreiben dieses Textes erst mal verschoben. Dann habe ich überlegt, den Journalisten Alexander Osang zu fragen, ob er mir ein Vorwort schreibt, verwarf den Gedanken jedoch wieder, bevor ich Alexander überhaupt gefragt hatte. Irgendwie wollte ich es dann doch lieber selbst machen. Der Abgabetermin rückte näher. Die freundlichen Andeutungen meiner Lektorin wurden immer häufiger. Die Erinnerung an das Vorwort wurde gewissermaßen zu einem festen Bestandteil unserer Verabschiedungen. Es würde wohl wieder ein Text werden, den ich auf den letzten Drücker schrieb. Ich schaffte es dann doch nicht ganz, denn am Montag vergangener Woche hätte ich ihn abgeben müssen. Der Druck hatte sich mal wieder erhöht.

Und ehrlich gesagt war er generell schon ziemlich hoch, vor allem weil ein Vorwort ja den Anspruch hat, den großen Zusammenhang zu fassen. Es beschreibt die Brücke, die die Texte dieses Buches verbindet. Den übergreifenden Gedanken, der meine Texte zusammenhält. Das ist schon eine nicht unwesentliche Herausforderung. Dazu kam noch, dass mir kürzlich eine Schriftstellerin erzählte, ihrer Auffassung nach hätten es ihre Bücher vor allem wegen des Vorworts in die Spiegel-Bestsellerlisten geschafft. Als sie ihre Ausführungen beendet hatte, nickte ich ihr zustimmend zu und dachte: Ach du Scheiße!

Dann sagte sie: «Und am besten beginnst du mit einem möglichst polarisierenden Satz. Ja, der erste Satz. Der erste Satz muss provozieren!»

Aha. Möglichst provokant also. Auch wenn ich es ungern zugab, ergab das irgendwie einen Sinn. Ein polarisierender erster Satz lädt schließlich zum Weiterlesen ein. Ich dachte kurz darüber nach. Minderjährige nymphomanische Top-Models, fiel mir da ein, obwohl das ja eigentlich kein Satz ist. Das klang schon mal ziemlich provozierend. Oder Frauen sind Nutten. Oder irgendetwas mit Adolf Hitler? Oder der CDU? Aber wie bekam man dann möglichst elegant die Überleitung zum eigentlichen Thema? Und generell stellte sich natürlich die Frage: Inwieweit war das nah an meinen Texten? Ich überlegte. Spiegel-Bestsellerliste klang ja nicht schlecht. Aber irgendwie sträube ich mich, meine Texte unter marketingtheoretischen Gesichtspunkten zu verfassen.

Unter die Überschrift dieses Textes habe ich ganz bewusst Ein Vorwort geschrieben. Ein Vorwort klingt nicht so endgültig. Eher wie Eine Möglichkeit. Oder – noch besser – Ein Versuch. Und mit diesem Gefühl begann ich auch, es zu schreiben. Denn man kann nur versuchen, den großen Zusammenhang zu fassen. Man kann ihn nur skizzieren. Und vielleicht beschreibt das meine Texte am besten. Sie sind Details. Kleine gesellschaftliche Skizzen, durch die sich nicht nur ein roter Faden zieht, sondern viele. Wie Bruchstücke eines allgemeingültigen Puzzles, das sich wohl am treffendsten mit dem schönen Begriff Comédie humaine beschreiben lässt. Bruchstücke, die sich immer mal wieder und oft auch an sehr überraschenden Stellen zusammenfügen und irgendwie ein folgerichtiges Ganzes ergeben, oder es zumindest erahnen lassen. Momente, in denen man das Gefühl hat, dass sich die Dinge zusammenfügen. Ich stelle oft fest, dass ich auf der Suche nach solchen Momenten bin. Nach Augenblicken, in denen alles zu passen scheint. Vielleicht hat man nur in solchen Momenten das Gefühl zu leben. Aber vielleicht ist es gar nicht so. Vielleicht würde ich es nur gern so sehen, weil mir diese Gedanken nicht fremd sind. Der große Zusammenhang. Ich werde ihn möglicherweise nie verstehen. Wäre ich Gott, sähe das anders aus. Aber Gott bin ich ja nun mal nicht.

Mir wird oft gesagt, dass meine Texte amüsant wären. Auf meinen Lesungen wird viel gelacht. Ich finde eher, dass in ihnen die Tragik überwiegt. In diesem Buch werden Sie keine Geschichten finden, die ein Happy End haben. Es sind traurige Texte.

Nicht wenige meiner Leser haben mir geschrieben, dass sie sich in meinen Texten wiederfinden. Das würde manchmal so weit gehen, dass sie sich bei der Lektüre geradezu ertappt fühlten. Da liegt für manche der Schluss nah, dass sie sich mit dem Autor ausgezeichnet verstehen würden. Das ist ein Missverständnis.

Seit einiger Zeit schreibt mir ein Mann aus Hamburg beunruhigend lange E-Mails, der sich – sagen wir mal – auf seine Art in meinen Texten wiederfindet. In seinen umfangreichen E-Mails stellt er in immer wieder neuen abenteuerlichen Variationen die Theorie auf, ich würde zu Recherchezwecken seinen Bekanntenkreis infiltrieren, um ausschließlich sein Leben zu beschreiben. Das ist dann schon irgendwie beängstigend. Ich habe nie darauf reagiert. Trotzdem schreibt er immer wieder. Und seine E-Mails werden immer länger. Er hat mir auch schon einige Male vorgeschlagen, dass wir uns doch mal zu einem klärenden Gespräch treffen sollten. Auch weil wir uns ja sicherlich wunderbar verstehen würden. Allerdings beunruhigt mich der Gedanke, dass für jemanden mit seinen psychischen Anlagen der Schluss so nah liegt, wir würden uns ausgezeichnet verstehen.

Er macht den Fehler, den nicht wenige machen. Er trennt mich nicht von der Figur, aus deren Sicht diese Texte geschrieben sind. Er verwechselt mich mit ihr. Das ist ein Missverständnis, das ganz natürlich ist. Das große Missverständnis zwischen Autor und Leser.

Ich selbst würde meine Figur am ehesten als höflich, gut erzogen und durchaus verletzlich beschreiben. Und sicherlich mache ich damit ebenfalls den Fehler, meine Figur mit mir zu verwechseln. Sie so zu beschreiben, wie ich mich vielleicht selbst gern sehen würde. Aber ich kann das wohl am schlechtesten einschätzen. Die eigene Außenwirkung schätzt man ja in den seltensten Fällen angemessen ein.

Natürlich gibt es auch Leser, die meine Figur für einen arroganten, neurotischen Misanthropen halten. Einen untragbaren Schnösel, der seine Texte erfolgreich nutzt, um sein Sozialleben zu dekonstruieren. Nicht unbedingt ein Sympathieträger. Eine Person, die beobachtet, belächelt, weder sich noch andere verändert, nichts bewegt, nichts bewirkt und gerade dadurch tragisches Format gewinnt. Diese Leser halten mich für einen ziemlichen Arsch.

Das große Missverständnis zwischen Autor und Leser. William Somerset Maugham hat das in seinem Buch Die halbe Wahrheit ziemlich gut formuliert: Der Autor findet seine Erfüllung im Schaffensprozess. Er hat keine Botschaft. Generell ist es ja so, dass Kunst sich selbst genügt. Die Botschaft ist für den Künstler nur ein Nebenprodukt. Geht es dem Künstler darum, zu belehren, ist die Kunst ein Nebenprodukt. Der Leser wiederum sucht nach einer Botschaft, was ganz natürlich ist. Und er beurteilt den Text nach dem ästhetischen Wert, den diese Botschaft für ihn selbst darstellt. Er interpretiert den Text in das Leben, in dem er sich selbst bewegt. Nach den Schlüssen, zu denen er durch die Erfahrungen, die er im Leben machte, gekommen ist. Und nach dem Wert dieser Botschaft beurteilt er den Autor. Das hat allerdings nichts mit dem Autor zu tun.

Der Schriftsteller Fjodor Dostojewski ist da ein sehr gutes Beispiel. Ich habe seinen Roman Schuld und Sühne sechsmal gelesen. Wenn man mich nach meinem Lieblingsbuch fragen würde, würde ich wohl am ehesten diesen Roman nennen. Ich habe mich in Schuld und Sühne wiedergefunden. Das Buch hat mich berührt. Obwohl Dostojewski ein ziemlicher Arsch gewesen sein muss. Der Mann hat bei gesellschaftlichen Anlässen häufig erzählt, dass er in einer öffentlichen Badeanstalt ein zwölfjähriges Mädchen vergewaltigt hat. Das muss man sich mal vorstellen! Nur um irgendwie Aufmerksamkeit zu erregen. Ohne Rücksicht auf Verluste. Peinlich. Außerordentlich peinlich. Und auch überaus unangenehm. Solche Menschen wünscht man sich nicht unbedingt in seinem Bekanntenkreis. Aber er hat einen Roman geschrieben, der mich berührt, wenn nicht sogar geprägt hat. Vor allem – man wagt kaum, es hier aufzuschreiben – in ethischer Hinsicht.

Als ich siebzehn Jahre alt und gerade ziemlich unglücklich verliebt war, gab es einen Song einer Band namens Ignite, der gewissermaßen der Soundtrack zu meiner unglücklichen Liebe war. Schmerz ist irgendwie würdevoller, wenn es einen Song darüber gibt, sagt John Cusack in dem Film High Fidelity. Und ich kann ihm nur zustimmen. Der Song, der meinem damaligen Schmerz Würde verlieh, hieß «Turn». Als ich mich einige Jahre darauf mit dem Sänger der Band unterhielt und ihn im Laufe unserer Unterhaltung auf diesen Song ansprach, stellten wir schnell fest, dass sich die eigentliche Aussage von «Turn» von meiner Interpretation nicht unerheblich unterschied. Ich fand das damals ziemlich überraschend und auch ernüchternd. Inzwischen weiß ich, dass das ganz natürlich ist. Die Intention des Künstlers ist vollkommen unwichtig. Von Bedeutung ist, was seine Kunst imstande ist, in einem auszulösen.

Es fällt vielleicht schwer, die Sichtweise meines Protagonisten als Stilmittel zu verstehen. Vielleicht sieht er die Dinge ja drastischer, um etwas deutlich zu machen. Was zählt, sind Wirkungen. Und das kann Konsequenzen haben. Diese Konsequenzen wirken sich auch auf mein Privatleben aus, gerade im zwischenmenschlichen Bereich, wenn ich beispielsweise Frauen kennenlerne, die mich interessieren.

Mein Bekannter Daniel hat das kürzlich ziemlich treffend zusammengefasst: «Ficken wird einfacher, ernsthafte Beziehungen schwerer. Weil die Frauen, an denen du ernsthaft interessiert bist, zu viele Vorbehalte haben. Du musst dich praktisch erst gegen deine Figur durchsetzen. Und wenn sie deinen Namen trägt und dann auch noch ein Foto von dir auf dem Buchcover ist, wird es noch schwerer, das zu trennen.»

Nun ja, damit hat er nicht unbedingt unrecht. Trotzdem hatte ich keine Einwände gegen das Foto auf dem Cover. Vielleicht weil es nicht unbedingt meine Eitelkeit verletzte. Vor einiger Zeit hat mir ein Bekannter gesagt: «Eigentlich hättest du ja die Anlagen, ein ausgezeichneter Autor zu werden, wenn du bloß nicht so eitel wärst.»

Ich nickte zustimmend. Was sollte man da erwidern? Ich hätte Al Pacino zitieren können, der in dem Film Im Auftrag des Teufels zu Keanu Reeves sagt: «Vanity is definitely my favourite sin.» Aber das wäre dann wohl doch ein wenig zu plakativ.

Vielleicht wäre es adäquater, es hier mal mit Thomas Mann zu sagen, der sich sicher war, wie Marcel Reich-Ranicki in Mein Leben schreibt, dass Egozentrik die Voraussetzung für seine Produktivität sei: «Nur der quäle sich (mit dem Verfassen von Texten, Anm. d. A.), der sich wichtig nehme.»

Tja. Ich will es hier mal so sagen: Da kann ich Thomas Mann nur zustimmen.

Gerade fällt mir noch einmal der betriebswirtschaftliche Rat der attraktiven Schriftstellerin ein, diesen Text möglichst provokant zu beginnen. Ich habe ihn dann doch lieber Höflich, gut erzogen und durchaus verletzlich genannt. Vielleicht weil es ein gutes Beispiel für diese Missverständnisse ist, von denen der Text handelt. Und wahrscheinlich ist es das, was meine Texte zusammenhält. Die Missverständnisse, die häufig die Entscheidungen unseres Lebens treffen, obwohl wir das natürlich nicht wahrhaben wollen.

Aber machen wir uns nichts vor: Hätte ich ihn mit den Worten Minderjährige nymphomanische Top-Models begonnen – wer hätte da nicht weitergelesen?

GERADE AUFGEWACHT – BEI SANDY IN DER NEUNTEN ETAGE

Heute Morgen habe ich auf dem Alexanderplatz einen Mann beobachtet, der mit seinem vier- oder fünfjährigen Sohn um die Wette lief und ihn nicht gewinnen ließ. Zuerst nahm ich an, ich hätte mich geirrt. Möglicherweise tat der Mann ja nur so, als würde er seinen Sohn nicht gewinnen lassen, um ihn vielleicht anzuspornen. Als ich jedoch seinen angespannten und etwas zu ehrgeizigen Gesichtsausdruck sah, begriff ich, dass der Mann seinen Sohn nie gewinnen lassen würde. Der Junge hatte verloren. Schon jetzt. Sein Vater würde ihm nie eine Chance geben, denn Menschen wie er waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um Rücksicht auf andere nehmen zu können.

Ich betrachtete die beiden mit einem leicht melancholischen Gefühl. Auch wenn mir rauchende Frauen mit einem Kinderwagen auf der Straße begegnen, habe ich dieses Gefühl. Ein Gefühl, als würden solche scheinbar unerheblichen Situationen bereits die ganze Geschichte erzählen, den wesentlichen Unterschied deutlich machen. In solchen Momenten bin ich fest davon überzeugt, ein besserer Vater zu sein, obwohl der Gedanke, Vater zu sein, für mich noch immer ziemlich weit entfernt ist.

Freunde, die schon seit Jahren in einer Beziehung sind und darüber nachdenken, in der nächsten Zeit Eltern zu werden, sehen das aus irgendeinem Grund anders. Sie beziehen mich gern und häufig in ihre Geburtsplanungen ein. Sätze wie «Wenn unsere Kinder im gleichen Alter sind, können sie doch gemeinsam aufwachsen» höre ich in letzter Zeit ziemlich oft. Nun ja. Der Ansatz ist schon richtig. Allerdings vergessen meine Freunde in diesen euphorischen Momenten, den ja nicht unwesentlichen Umstand zu berücksichtigen, dass ich Single bin. Trotzdem planen sie mit mir. Vielleicht hoffen sie auf eine Vaterschaftsklage. Damit ich endlich mal in ihre Pläne passe.

Geschichten aus dem Leben meiner Freunde, die bereits Kinder haben, wirken auf mich häufig wie Geschichten aus einem parallelen und auch in gewisser Weise abstrakten Alltag. Sie sind weit weg, irgendwie schwer greifbar. Wenn ich mich mit einem Vater meines Bekanntenkreises treffe, habe ich das Gefühl, er wäre aus einer Welt zu mir herabgestiegen, die weiter ist als die Welt, in der ich mich bewege. Die Ziele haben sich verschoben. Die Väter meines Bekanntenkreises haben sich, wie soll ich sagen, verbessert. Allerdings lassen ihre müden Züge und Gesten nicht unbedingt darauf schließen, dass sie diesen Ansatz selbst ernsthaft in Erwägung ziehen würden. Sie wirken nicht glücklich. Unsere Treffen haben eher tragisches Format. Meine Bekannten nutzen sie offenbar, um noch einmal in ihre Vergangenheit zurückzukehren, als wäre ich der Spiegel, in dem sie noch einmal den Mann betrachten können, der sie früher waren. Ein Spiegel, in dem sie sehen können, wie viele Möglichkeiten ihnen einmal offenstanden. Es sind Treffen voller Nostalgie. Treffen, bei denen sehr viel getrunken wird.

Treffen dieser Art werden zeitlich oft sehr umfangreich geplant. Sie haben mindestens vierzehn Tage Vorlaufzeit. Wenn wir uns verabreden, fallen häufig Sätze wie «Das muss ich erst mit der Obrigkeit abklären» oder «Ich muss meinen Urlaubsantrag erst einmal genehmigen lassen». Solche Sätze werden natürlich in einem scherzhaften Ton geäußert. Wenn man einen Scherz macht, lacht man. Allerdings mischt sich in das Lachen meiner Bekannten eine Verzweiflung, die mich schon ziemlich beunruhigt.

Ich bin vor einigen Wochen 34 Jahre alt geworden. In diesem Alter ist man eigentlich ein Mann. Man sieht aus wie ein Mann, man verhält sich wie ein Mann. Nun ja, zugegebenermaßen entspreche ich ja leider nicht unbedingt diesem Bild. Ich begreife mein Alter nicht unbedingt in meinem Alltag. Ich begreife es eher, wenn ich mich mit Frauen treffe, die so alt sind wie ich. Wenn ich Frauen in meinem Alter begegne, vergesse ich oft, dass sie ja in den vergangenen dreißig Jahren – formulieren wir es hier mal ein wenig prätentiöser – ähnlich reich mit Schicksal ausgestattet wurden wie man selbst. Auch verdränge ich häufig, dass es natürlich nicht ungewöhnlich ist, wenn Frauen in meinem Alter bereits Kinder haben. Das ist ganz verständlich, denn Schwangerschaften ab fünfunddreißig gelten ja schließlich bereits als Risikoschwangerschaften. Insofern kommt es schon mal vor, dass ich mich mit Frauen in meinem Alter verabrede, die in eher unpassenden Momenten zu eher verspäteten Geständnissen neigen. Als ich beispielsweise im letzten Herbst Marie kennenlernte, ließ sie bei unserer dritten Verabredung leichthin eine unscheinbare Bemerkung fallen – zumindest ließ der Tonfall, in dem sie sie formulierte, darauf schließen.

Sie sagte: «Ich hatte doch erwähnt, dass ich einen Sohn habe?»

Marie kleidete diese eigentlich gar nicht so unwesentliche Information sehr klug in eine harmlose rhetorische Frage. Rhetorische Fragen müssen nicht beantwortet werden, weil die Antwort ja schon feststeht. In diesem Fall beantwortete ich sie dann doch. Vorsichtshalber.

«Nein, bisher noch nicht», sagte ich mit einem leicht angespannten, höflichen Lächeln. «Wie alt ist er denn?»

«Elf.»

«Ach? Elf? Interessant.»

Ich weiß nicht. Bei solchen Geständnissen habe ich das Bild einer ausgelassenen Familiensituation vor Augen, vielleicht an einem sonnenbeschienenen Frühlingsnachmittag. Ich sehe mich mit einer Frau und einem kleinen Jungen durch den Park laufen. Wir sehen glücklich aus. Und dann, mitten in dieser vollkommenen Familienidylle, ruft die Frau dem Jungen zu: «Und? Wer ist der beste Papa der Welt?»

«Onkel Michael!», entgegnet der Junge mit strahlenden Augen.

Onkel Michael! Eine Vorstellung, die mich schon ein wenig zurückschrecken lässt.

Kürzlich traf ich mich mit einer Frau, mit der ich mich sehr gut verstand. Auch sie war in meinem Alter. Wir hatten einige Dates und telefonierten auch hin und wieder. Und dann gab es da diesen Moment. Den Moment nach unserem ersten Kuss. In diesem schönen und auch sehr sensiblen Augenblick sagte sie einen Satz, der irgendwie nicht so richtig zu dieser schönen und sensiblen Stimmung passte, in der ich mich gerade befand. Sie sagte: «Michael, ich muss dir etwas gestehen.»

So, liebe Leser, natürlich haben wir schon eine ungefähre Vorstellung davon, was da jetzt auf uns zukommt. Eine «Ich habe ein Kind, aber bisher gab es irgendwie noch nicht den passenden Moment, es dir zu sagen»-Situation. Wir stellen uns also schon mal ganz vorsichtig darauf ein und werfen ihr einen abwartenden Blick zu.

Dann sagte sie: «Ich bin verheiratet und habe zwei Kinder.»

Die volle Breitseite. Ich löste mich von ihr und warf ihr einen bestürzten Blick zu. Die Leichtigkeit einer gerade erblühenden ersten Verliebtheit war nicht mehr da. Sie war durch dieses Geständnis gewissermaßen zusammengeschossen worden, mit einer AK-47 vielleicht. Und eine AK-47 schafft 600 Schuss in einer Minute, damit man mal eine Vorstellung hat.

Würde ich die Welt mit den Augen meines ehemaligen Kollegen Matthias sehen, wären mir solche Empfindungen fremd. Das folgende Erlebnis skizziert seine, wie soll ich sagen, kulturellen Befindlichkeiten, schon sehr aufschlussreich. Wir trafen uns an einem milden Mittwochabend in einem Biergarten. Weil ja der nächste Tag ein Arbeitstag war, würden wir ein oder zwei Weizen trinken und uns gegen Mitternacht verabschieden und nach Hause fahren. Das war der Plan. Nun ja, dieser Plan ging nicht unbedingt auf. Gegen vier Uhr morgens leerte ich in einer Bar namens Kaffee Burger meinen fünften Wodka des Abends und ließ Matthias und die beiden Frauen, mit denen er gerade in ein angeregtes Gespräch vertieft war, auf mich wirken. Als Matthias sie angesprochen hatte, hatte er sich offensichtlich auf seinen Geschmack verlassen, der sich nicht unbedingt auf ihr Aussehen bezog – eher darauf, welche am ehesten ja sagen würden. Und die beiden sahen aus, als würden sie sofort ja sagen. Ich setzte mich nicht dazu, weil diese Frauen nicht nur scheiße aussahen, sondern für meine Begriffe auch ziemliche Scheiße von sich gaben, obwohl das ja auch irgendwie konsequent war. Ich sah auf die Uhr. Es war wohl besser, schnell zu gehen. Wenn ich jetzt ein Taxi nahm, konnte ich wenigstens noch vier Stunden schlafen. Viel war das nicht, aber es würde ausreichen. Es musste ausreichen.

Am nächsten Morgen war ich dann trotz meines Zustands relativ pünktlich im Büro.

Matthias meldete sich krank. Er schickte mir um 11 Uhr 35 eine schon sehr bezeichnende Nachricht auf mein Handy: «Gerade aufgewacht bei Sandy in der 9. Etage. Ich sag nur: 2 Kinder, 32, aber geile Titten. Gruß Matthias.»

Geile Titten also. Der Mann hatte seine Prioritäten gesetzt.

Vor einigen Wochen fand ich mich auf einer Party in einer sehr eindrucksvollen Gesprächsrunde wieder, die Matthias sicherlich gefallen hätte. Als Ansatz gewissermaßen. Ich unterhielt mich mit fünf Müttern in meinem Alter, oder, um das noch ein wenig zu präzisieren, mit fünf Single-Müttern. Nicht ungefährlich, liebe Leser, nicht ungefährlich. Single-Mütter in den Mittdreißigern haben einen Blick, der mich beunruhigt. Einen Blick, der mich irgendwie in die Enge treibt. Und auch die Theorien, die im Laufe unserer Unterhaltung entwickelt wurden, um irgendwelche Argumente herauszuarbeiten, aus welchen Gründen diese Frauen keine Männer mehr abbekamen, trieben mich irgendwie in die Enge.

Als die «Woran liegt es eigentlich, dass es als alleinstehende Mutter so schwierig ist, Männer kennenzulernen?»-Frage im Raum stand, hätte ich ihnen natürlich die Wahrheit sagen können. Ich hätte ihnen sagen können, dass es Männern lieber ist, gemeinsam mit einer Frau ein Kind zu bekommen, selber Vater zu sein, als sich plötzlich in irgendwelchen Strukturen wiederzufinden, die auf den ersten Blick eher im problembeladenen Bereich anzusiedeln sind. Da machen Männer dann doch lieber einen Rückzieher. Sie lassen Gefühle nicht zu. Es sei denn, sie sind verzweifelt und befürchten, selbst keine Frau mehr abzukriegen.

Bevor ich jedoch etwas Entsprechendes erwidern konnte, sagte eine der Frauen: «Vielleicht liegt es daran, dass man, nun ja, als Mutter, sozusagen durch die Geburt, den Männern, wie soll man sagen, zu ausgeleiert ist. Verstehst du, was ich meine?»

Um ehrlich zu sein, verstand ich anfangs nicht, was sie meinte. Ich dachte eher an die gängigen Probleme junger Mütter, nach der Geburt wieder auf das Gewicht vor ihrer Schwangerschaft zu kommen. Aber das meinte sie nicht. Und dann – o ja – dann begriff ich für meine Begriffe sogar ein wenig zu schnell, was sie meinte.

«Moment, meinst du das im sexuellen Sinn?», fragte ich ein wenig entsetzt. Sie nickte schnell, als hätte ich ihren Gedankengang mit dieser Frage bestätigt. Dann sagte sie: «Ich hätte vielleicht doch lieber einen Kaiserschnitt machen lassen sollen.»

Ausgeleiert? Kaiserschnitt? Das klang nicht appetitlich. Scheiße! Vorsichtshalber richtete ich erst mal einen nötigen Sicherheitsabstand ein und machte eine beruhigende Geste, die wohl vor allem mich selbst beruhigen sollte. Dann lächelte ich, glaube ich, irgendwie durch sie hindurch. Meine Gedanken waren bereits woanders. Sozusagen auf dem Heimweg.

Wenn man länger mit einer Frau zusammen ist, spricht man natürlich auch hin und wieder über Kinder. In solchen Gesprächen hat mir eine meiner Exfreundinnen oft vorgeworfen, dass sie ihre Rolle in unserem Familienleben schon jetzt sehr deutlich vor sich sehen würde. «Ich wäre doch immer die Herzlose», betonte sie immer wieder scharf. «Ihr würdet doch ständig zusammenhalten. Alles, was ich unserem Kind verbieten würde, würdest du ihm erlauben. Ich würde immer allein stehen.»

Das ist natürlich etwas dramatisch formuliert, aber vielleicht hat sie recht.

Ich habe meinen Zivildienst in einem Kindergarten gemacht. Nach nur wenigen Wochen haben mich alle Kinder geliebt. Der Preis dieser Liebe war jedoch der Hass der Kindergärtnerinnen. Ich glaube, sie haben mich wirklich gehasst. Ich war ihnen wohl zu sehr auf der Seite der Kinder. Vielleicht hatten sie das Gefühl, durch mich die Kontrolle abzugeben. Und Kontrolle ist in deutschen Kindergärten ja sehr wichtig.

Auch wenn das jetzt vielleicht merkwürdig klingt, bestätigt mich der Hass dieser Frauen in meiner Überzeugung, ein guter Vater zu sein, irgendwann in einem Park mit meinem vier- oder fünfjährigen Sohn um die Wette zu laufen – und ihn gewinnen zu lassen. Nachdem er gewonnen hätte, würde er mich erschöpft und mit leuchtenden Augen ansehen. Ich würde ihm mit einem anerkennenden Lächeln durch die Haare streifen.

Dann würde ich sagen: «Ausgezeichnet, Michael, das hast du richtig gut gemacht.»