Inge und Walter Jens

Katias Mutter

Das außerordentliche Leben der Hedwig Pringsheim

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Vorbemerkung

Kapitel 1 Im Hause Dohm

Kapitel 2 Herzogliches Hoftheater in Meiningen

Kapitel 3 Alfred Pringsheim aus Berlin

Kapitel 4 Im Hause Pringsheim

Kapitel 5 Familienszenen

Kapitel 6 Republikanisches Zwischenspiel

Kapitel 7 «Nichtarischer Abstammung sind …»

Anhang

Zitatnachweise

Benutzte Literatur

Konsultierte Archive

Rechenschaft und Dank

Namenregister

 

Für

Renate und Hans Thiersch

Vorbemerkung

Warum nach Frau Thomas Mann nun noch ein Buch über Katias Mutter? Genügt die Biographie über die Tochter nicht, um die Neugier nach dem Leben im Hause Mann zu befriedigen? Wir meinen: nein. Denn obwohl die engere Familie des Zauberers diesmal durchaus nicht im Zentrum steht, bereichert die bunte, widersprüchliche und facettenreiche Geschichte der Hedwig Pringsheim das Epos dieser Jahrhundertfamilie – und spiegelt zugleich ein ganz eigenständiges, ganz unverwechselbares und doch sehr zeittypisches Schicksal.

Man stelle sich vor: Ein Mädchen aus kulturell ambitioniertem, aber durch materielle Güter nicht eben gesegnetem Hause heiratet einen millionenschweren Privatdozenten der Mathematik; eine einstige Aktrice residiert in München als umschwärmte Frau von Welt, ein lebenslustiger dickbezopfter Backfisch emanzipiert sich zu einer berückenden, anmutigen und kapriziösen Schönheit; die leidenschaftliche Rezitatorin entwickelt sich – gefördert von ihrer Mutter, der Frauenrechtlerin Hedwig Dohm – zur exzellenten Stilistin, die mit den ersten Federn ihres Jahrhunderts von Gleich zu Gleich verkehrt. Politiker und Literaten, Musiker und Maler, Schauspieler und Bankiers bilden eine Zierde ihres berühmten Teetischs.

Mit Mann und Kindern radelt sie durch Europa und fährt allein nach Argentinien, als der Vater ihren Lieblingssohn dorthin verbannt. Gemeinsam mit diesem Vater besucht sie die kulturellen Attraktionen der Metropolen und die Brennpunkte internationaler Geselligkeit in Bayreuth, Wien, Konstantinopel oder Sils Maria. Sie parliert in mindestens vier Sprachen und ist eine gesuchte Gastgeberin. Aber ihre größte Begabung ist das Briefeschreiben. Ihre witzig-präzisen, je nach Stimmung und Weltlage elegisch-anrührenden oder süffisant-gegenläufigen Charakterisierungen von Menschen und Konstellationen stellen nicht selten sogar die Schreibkünste ihres «Schwiegertommy» in den Schatten.

Hedwig Pringsheim war Schauspielerin gewesen – wie ihr Freund und großes Vorbild Maximilian Harden, dem sie, nachdem er in die Publizistik gewechselt und Herausgeber der Zukunft geworden war und ihre eigenen Kinder das Elternhaus verlassen hatten, hunderte von leidenschaftlichen, klugen, besonnenen und schwärmerischen Briefen schrieb – unbekümmert um die Prominenz des Freundes, der bereits in ihrem Elternhaus ein und aus gegangen und im ersten Dezennium des neuen Jahrhunderts – nach weltweitem Urteil – der neben Kaiser Wilhelm II. berühmteste Deutsche war.

Und bei alldem blieb sie rücksichtsvoll und zeigte Empathie für die Bedrängnisse und Sorgen ihrer Mitmenschen. Sie bemühte sich um Großzügigkeit und Toleranz und zeigte sich nachsichtig, ja verständnisvoll gegenüber den Eskapaden ihres Mannes, dem sie sich gleichberechtigt fühlte, obwohl es sein Reichtum war, der ihr den Rahmen bot, in dem sie ihre Talente entfalten konnte.

Und am Ende? Nun, selbst die Nationalsozialisten konnten ihr nichts von ihrer Würde nehmen. Aber sie konnten sie demütigen und schikanieren. Systematisch schränkten sie den Lebensraum der Jüdin ein, die sich zeitlebens nicht als Jüdin gefühlt hatte und der man jetzt eine Identität aufzwang, die ihr fremd bleiben musste. Zweimal wurden die Pringsheims aus ihrem Domizil gejagt, und vor dem Lager rettete sie allein das Interesse einiger hoher und höchster Bonzen für die berühmte Majolika-Sammlung, die sie als Pfand für eine Ausreisebewilligung in die Schweiz einsetzen konnten. Doch ohne die Hilfe eines SS-Führers, der die in letzter Minute vertragswidrig verweigerten Pässe in Berlin einforderte und nach München brachte, hätten sie Deutschland nicht mehr verlassen können. So aber stand nicht Auschwitz, sondern Zürich am Ende des Lebens von Hedwig und Alfred Pringsheim.

Merkwürdigkeiten, Zufälle und Widersprüche, wohin man immer blickt bei der Betrachtung dieses Lebens: große Aufschwünge, jähe, aber souverän und mit Glück abgefangene Abstürze. Schritt für Schritt, Station für Station gilt es, in der vorliegenden Geschichte einen Weg abzumessen, der nicht zuletzt stellvertretend für Glanz und Elend des deutsch-jüdischen Großbürgertums steht.

Uns ist diese Frau ans Herz gewachsen, und wir versuchen sie zu ehren, indem wir so viel wie möglich zitieren aus den Zeugnissen, die sich – allen Schikanen des NS-Regimes zum Trotz – von dieser Schauspielerin, Publizistin, politisch wachsamen Frau, Familienmutter, Weltreisenden und Epistolographin erhalten haben.

 

Tübingen, 8. Mai 2005

Inge und Walter Jens

 

PS: Die ausgelassenen Dehnungs-h gehören zu Hedwig Pringsheims orthographischen Eigenarten. Sie wurden um der Authentizität willen nicht korrigiert.

KAPITEL 1

Im Hause Dohm

Es war mit Sicherheit eine der interessantesten – man könnte auch sagen: kuriosesten – Familien der preußischen Metropole, in die Hedwig Pringsheim am 13. Juli 1855 hineingeboren wurde. Ihr Vater, Ernst Dohm, Spross einer armen jüdischen Familie, war bereits als Kind getauft und von einer frommen Mutter sowie einer pietistischen Gönnerin zum Theologen bestimmt worden. Nach erfolgreich absolvierten Examenspredigten hatte er jedoch Talar und Beffchen an den Nagel gehängt und sich als Hauslehrer und Übersetzer durchgeschlagen, ehe er 1848 mit der Gründung der politisch-satirischen Zeitschrift Kladderadatsch endgültig ins literarisch-journalistische Genre wechselte. Sein profundes Wissen, sein ebenso stil- wie treffsicherer Witz und seine unterhaltlichen Fähigkeiten sowie eine offenbar beachtliche poetische Begabung verhalfen ihm schnell zu Ansehen und Beliebtheit.

Auch Hedwigs Mutter, deren Vornamen das Neugeborene erhielt, hatte in ihrer Ehe begonnen, sich als Schriftstellerin zu profilieren. Sie schrieb Novellen, Dramen und Gedichte, später auch Romane. Vor allem aber zog sie in öffentlichen Stellungnahmen und Essays gegen die These von der angeblich naturgegebenen Ungleichheit von Männern und Frauen zu Felde und wurde in den späten sechziger und siebziger Jahren, nachdem sie vier Kinder großgezogen hatte, zu einer der bekanntesten Kämpferinnen für die Zulassung der Frau zu allen berufsqualifizierenden Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten.

«Kämpferin»? Zumindest Hedwig, die älteste ihrer vier Töchter, sah die Mutter anders: «Schön war sie und reizend; klein und zierlich von Gestalt, mit großen, grünlich-braunen Augen und schwarzen Haaren, die sie auf Jugendbildnissen noch in schlichten Scheiteln aufgesteckt trug, später aber abgeschnitten hatte, und die dann halblang und gewellt ihr wunderbares Gesicht umrahmten. Zart war sie, schüchtern, empfindsam, ängstlich. Wer sie nur aus ihren Kampfschriften kannte und ein Mannweib zu finden erwartete, wollte seinen Augen nicht trauen, wenn ihm das holde, liebliche und zaghafte kleine Wesen entgegentrat. Aber ein Gott hat ihr gegeben, zu sagen, was sie gelitten, was sie in Zukunft ihren Geschlechts-Schwestern ersparen wollte.»

Der Roman Schicksal einer Seele vom Beginn des neuen Jahrhunderts oder die noch ein Dezennium später entstandenen Erinnerungen einer alten Berlinerin zeigen, dass Hedwig Dohms Einsatz für ihre Geschlechtsgenossinnen seine Wurzeln in den Leiden ihrer eigenen traurigen und glücklosen Kindheit hatte.

Zwischen einem «indolenten» Vater und einer Mutter «von unbeschreiblicher Verständnislosigkeit und engherziger Borniertheit» war sie im Kreis von ursprünglich 18 Geschwistern aufgewachsen, von denen acht Buben und acht Mädchen überlebten. Dem stets in seiner Fabrik beschäftigten Vater fehlten offenbar Zeit und Bildung, um die Bedürfnisse der sensiblen Tochter wahrzunehmen. Zwar sei er, wie Hedwig Dohm später betonte, künstlerisch nicht unbegabt gewesen, habe aber sein «erstaunliches» Zeichentalent, den milieuspezifischen Vorurteilen der Zeit folgend, nicht ausbilden dürfen. Auch seine Schulzeit sei auf das Minimum reduziert gewesen: «Mit vierzehn Jahren saß er bereits im Kontor der väterlichen Fabrik»: «ein stiller ergebener Herr», ein «Sonntagsvater», der seinen Kindern, wie die Tochter betont, niemals «einen Schlag gegeben» habe. Und doch: «Wir wußten nichts von ihm, er wußte nichts von uns.» – Als Kaufmann aber muss er erfolgreich gewesen sein, und dass er seine Braut erst nach der Geburt des zehnten Kindes heiratete, hatte mit Sicherheit keine ökonomischen Gründe.

In den Augen der Tochter wurde das Leben der Kinder ausschließlich durch die Mutter bestimmt; sie sei der «Herr im Hause» gewesen: eine robuste, aufbrausende und herrschsüchtige Frau, tüchtig im Haushalt, aber ohne jedes geistige Interesse und unfähig, Wärme und Zuneigung zu zeigen. Doch habe auch sie über eine künstlerische Begabung: Musikalität und eine schöne Stimme, verfügt.

Hätte man Vater und Mutter erlaubt, ihre Talente zu entwickeln, mutmaßte die lebenserfahrene Frauenrechtlerin 1912, das Familienleben im Hause Schleh «hätte sich wahrscheinlich ganz anders gestaltet» – ohne jene hierarchischen Maximen von der Herrschaft des Mannes über die Frau, der Eltern über die Kinder, der Hausfrau über ihre Dienstboten, die sich auch in der Erziehung niederschlugen. Was den Knaben selbstverständlich gewährt wurde: Bildung oder zumindest doch Ausbildung, körperliches Training, Rudern, Reiten, Schwimmen, blieb den Mädchen mit der gleichen Selbstverständlichkeit versagt. Ja, selbst das Lesen galt als schädlicher Müßiggang, der hinter Haus- und Handarbeiten zurückzustehen hatte. Allein die Schulpflicht wurde akzeptiert, wenn auch weniger als Chance, den Wissensdurst zu befriedigen, denn als gesetzlich verordneter Luxus, der zum erstmöglichen Zeitpunkt zu beenden war.

Nur mit Schaudern hat Hedwig Dohm später jener Zeit gedacht, da sie, statt lernen und lesen zu dürfen, gehalten war, in der «grünen Plüschstube» der «spießbürgerlichen Wohnung» nahe dem Halleschen Tor, «häßliche Teppiche» mit «großen, knalligen Blumen zu verzieren», «die nach einem Muster abgestickt» werden mussten, sodass sie sich gefragt habe, warum denn Mütter das Recht hätten, ihren Kindern so viel Herzeleid anzutun, und warum selbst sie, die doch «Kind wohlhabender Leute war», gezwungen wurde, «wie ein Sträfling» widrige Arbeiten verrichten zu müssen: «Warum mußte ich heimlich, als wär’s ein Verbrechen, lesen? Warum durfte ich nichts lernen? Meine Brüder wollten und mochten nichts lernen und wurden dazu gezwungen.»

Einen Ausweg aus dieser Misere versprach allenfalls die Ehe. Und so erwies es sich denn als glückliche Fügung, dass Freunde dem wohlhabenden jüdischen Fabrikanten Gustav Schlesinger – seit seiner Taufe Gustav Schleh – den «entgleisten Theologen» Ernst Dohm für die Rolle eines Sprachlehrers empfahlen, als Frau und Tochter Hedwig sich zum Besuch eines in Spanien verheirateten Sohnes und Bruders rüsteten. Obwohl der junge Mann nach eigenem Bekunden kein Wort Spanisch beherrschte, setzte er durch die Art seines Unterrichts die Damen des Hauses offenbar ausreichend instand, die Reise mit Gewinn zu absolvieren. Gewinn in doppelter Hinsicht: Ein Jahr nach der Rückkehr der Familie aus Spanien hielt der Hauslehrer – inzwischen angesehener, wenn auch schlecht besoldeter Chefredakteur des Kladderadatsch – um die Hand von Tochter Hedwig an, ein Unterfangen, dem, wie die Familiensaga berichtet, Fabrikant Schleh nur ungern und nach langem Zögern seine Zustimmung gab. Er hätte sich – so fast ein Jahrhundert später die Interpretation seiner Enkelin Hedwig Pringsheim – einen solideren Schwiegersohn gewünscht.

Ernst und Hedwig Dohm heirateten 1852. Zumindest die ersten Ehejahre brachten der jungen Frau jedoch nicht die Erfüllung ihrer Träume: «Kümmerlich und bescheiden» sei es zugegangen in der jungen Wirtschaft, berichtete Tochter Hedwig später, innerhalb weniger Jahre hätten sich fünf Kinder eingestellt: zunächst ein Junge, der jedoch mit zwölf Jahren an Scharlachfieber gestorben sei, dann «Jahr um Jahr ein Töchterchen, vier hübsche, vielversprechende Mädchen». Für eine sich derart vergrößernde Familie aber habe das knappe Gehalt nie gereicht, und da zusätzlich noch Mutter und Schwester zu versorgen gewesen wären, habe der Vater Schulden machen müssen: «Und wie es dann so geht mit Schulden, sie wachsen lawinengleich an, bis sie den schuldlos Schuldigen eines Tages verschütten.»

Die Mär vom schuldlos Schuldigen war indes nur ein Teil der Wahrheit. Zeitgenossen – auch jene, die Ernst Dohm wohl wollten – sahen die Sache anders: Zwar billigten auch sie ihrem Kollegen zu, dass er – was ihn selbst anging – nicht verschwenderisch war, sondern auch noch als Familienvater den Wert des Geldes nicht kannte und deshalb stets freigebiger war, als es seine Verhältnisse zuließen. In der Tat war stadtbekannt, dass Ernst Dohm immer mehr gab, als nötig war, und selbst notorischen «Schnorrern» auch dann keine Bitte abschlug, wenn er sicher wusste, dass er selber am nächsten Tage sich etwas borgen musste. Aber der eigentliche Grund der ständigen Geldmisere sei seine «Leidenschaft zum Glücks-Spiel» gewesen, eine Sucht, der Ernst Dohm offenbar viele Jahre lang verfallen war.

Davon allerdings ist in den Feuilletons, die Tochter Hedwig als alte Frau zwischen 1928 und 1932 für die Vossische Zeitung schrieb, nichts zu lesen. Im Gegenteil: Sie hat niemals aufgehört, ihren «überaus zärtlichen Vater» vehement gegen den Vorwurf der Schuldenmacherei zu verteidigen, und die gravierenden Folgen, die seine Schwäche zeitweilig für die Familie hatte, poetisch zu verklären: «Ich erinnere  mich aus meiner frühesten Kindheit, daß immer so komische kleine geheimnisvolle Zettel an versteckten Stellen unserer Möbel klebten, manchmal verschwanden die Möbel sogar, manchmal kamen sie wieder; es war eine unseriöse und spannende Angelegenheit. Sehr deutlich entsinne ich mich des Tages, an dem unser Klavier abgeholt wurde, denn da waren wir schon größere Mädchen mit Musikunterricht. Während die in der Etage unter uns lebenden Freundinnen und frommen Beschützerinnen der Familie ihr Haupt verhüllten und bitterlich weinten, führten wir Kinder einen wilden Indianer- und Freudentanz um das arme kleine Piano herum auf, weil wir nun keine Klavierstunden mehr zu nehmen brauchten.»

Doch wie romantisch auch immer die Kinder ihre familiäre Situation empfunden haben mögen – ohne die Freunde, die sich viele Jahre lang nach besten Kräften bemühten, die Folgen der Dohm’schen Schuldenmacherei so weit irgend möglich im Rahmen des gesellschaftlich gerade noch Erträglichen zu halten, hätte die Spielleidenschaft des Vaters die Familie in den Ruin getrieben. Aber auch die selbstloseste Unterstützung konnte nicht verhindern, dass zumindest einmal, im Winter 1869/​70, der Haushalt kurzerhand aufgelöst werden und die Familie das preußische Staatsgebiet verlassen musste. Doch selbst diese Episode scheint den Kindern – oder doch zumindest der ältesten Tochter – eher als kurzweiliges Abenteuer denn als schreckliches Drama in Erinnerung geblieben zu sein: «Vater ging für den Winter nach Weimar, Mutter zu ihrer Malerin-Schwester nach Rom, meine drei jüngeren Schwestern kamen nach Eisenach in eine Pension; nur ich als fanatische Berlinerin von 14 Jahren blieb bei den Großeltern in der Tiergartenstraße.» Im Sommer aber habe sie den Schwestern in das Pensionat folgen sollen, und die Gelegenheit, ihre Reise in Weimar zu unterbrechen, benutzt, um dem Vater einen jedenfalls kurzen Besuch abzustatten.

Doch aus den geplanten paar Stunden sei unversehens eine volle Woche geworden, da der stolze Vater vor der anlässlich der gerade beginnenden Beethoven-Zentenarfeierlichkeiten angereisten europäischen Musikprominenz «mit seiner hübschen Tochter gerne etwas prunken wollte»– was offensichtlich niemandem Probleme bereitete. Die einzige Schwierigkeit sei gewesen, in der überfüllten Stadt ein Unterkommen für das Kind zu finden, aber Franz Liszt, «der dort Allmächtige», habe einfach bestimmt, dass sie bei seiner damaligen Geliebten, einer «pikanten, zierlichen kleinen Polin» namens Janina, nächtigen würde. Das natürlich sofort einsetzende «berechtigte Kopfschütteln» der «ehrwürdigen Bonzen von Weimar» habe weder den «göttlichen Liszt» noch den «göttlichen Vater» gestört, und für sie, das neugierige Kind, sei die unverhoffte Begegnung mit «all den Berühmtheiten wie Frau Viardot, Saint Saëns, Franz Liszt, Turgenjew und wie sie alle hießen» ein unverhofftes Glück und eine große Bereicherung gewesen.

Der kurz nach diesem Ereignis ausbrechende Deutsch-Französische Krieg machte die Rückkehr Ernst Dohms nach Berlin unumgänglich. Es scheint, dass dieses vaterländische Ereignis die alten Unannehmlichkeiten und drohenden Strafen mit einem Schlage hinfällig gemacht habe: «Im Herbst 1870 fand sich die ganze Familie wieder in der neu eingerichteten Wohnung in der Magdeburger Straße zusammen, die Gehälter der ‹Gelehrten des Kladderadatsch›, die offenbar zu einer Art Teilhaber aufgestiegen waren, «wurden wesentlich aufgebessert», und von da ab lebte die Familie «in ziemlich rangierten Zuständen, ganz gesellig und angenehm».

Mag sich die Geschichte in der Rückschau der Tochter ein wenig verklärt ausnehmen: Auch Berichte von Zeitzeugen zeigen, dass jene spektakuläre Wohnungsauflösung und Berlinflucht aller Familienmitglieder tatsächlich der Reputation des Hauses Dohm kaum geschadet haben – ebenso wenig wie einige Jahre zuvor ein Gefängnisaufenthalt des Vaters, der im Herbst des Jahres 1864 wegen angeblicher Beleidigung einer Prinzessin arretiert worden war. Auch diese Geschichte fand ein versöhnliches Ende. Der Beginn allerdings muss dramatisch gewesen sein. In einer ihrer feuilletonistischen Retrospektiven erinnerte sich Tochter Hedwig des familiären Entsetzens, als es eines Tages hieß: «Vater kommt ins Gefängnis»: «Wir Kinder heulten wie die Schloßhunde; denn wir führten ein zärtliches Familienleben, und Vater war einfach himmlisch. Und dann: wie sollten wir uns in der Schule blicken lassen, das war doch grauenhaft, mit Vater im Gefängnis! Andererseits fiel aber doch auch etwas vom Glorienschein seiner Märtyrerkrone auf uns Kinder, wir waren gewissermaßen geweiht durch ein außerordentliches Schicksal. Die Sache hatte ihre zwei Seiten: Wir waren gezeichnet, aber doch auch ausgezeichnet.»

Und dann die Enttäuschung über das zivile Ambiente, in dem der Delinquent beim ersten Familienbesuch «vorgeführt» wurde. Der Gefängnisdirektor hatte – «vermutlich gegen seine Instruktionen», wie die Schreiberin betonte – angeordnet, «daß der Schwerverbrecher seine Familie in seiner Privatwohnung empfangen dürfe». Zudem stand der Vertreter der Obrigkeit während des ganzen Besuchs «mit dem Rücken gegen uns» unentwegt aus dem Fenster auf die Straße schauend – und bemerkte offenbar überhaupt nicht, «daß die Kinder seinem Gefangenen eine Wurst, eine Flasche Rotwein und ein Töpfchen Gänseschmalz in die Taschen seines Röckchens applizierten».

Nun, der Vater wurde vorzeitig entlassen. Bismarck selbst hatte, eine gute Stunde beim Kaiser nutzend, die Verkürzung der Strafe erwirkt. Das Selbstwertgefühl der Familie blieb ganz offensichtlich unangetastet, und die Kinder waren um ein aufregendes Erlebnis reicher.

Wie aber empfand die Mutter ihr Leben inmitten all dieser nervenaufreibenden Bedrohungen und Geschehnisse? Vieles spricht dafür, dass sie sich trotz aller Schwierigkeiten nicht in die Welt ihrer Kindheit zurückgesehnt hat.

Genaues wissen wir nicht. Von ihren offenbar zahlreichen Briefen haben sich nur ganz wenige erhalten, und ihre Schriften geben allenfalls bedingt Auskunft. Einige Zeitgenossinnen behaupten, die Ehe sei unglücklich gewesen. Wir sind dessen nicht so sicher. Hedwig Pringsheim schreibt, dass ihr Vater die Mutter nicht ermutigt, aber auch nicht gehindert habe, sich als Schriftstellerin zu versuchen. Ob ihr jemand anders half? Es gibt Gerüchte, dass Hedwig Dohm mit Ferdinand Lassalle eine intensive, ja intime Freundschaft verbunden habe. Unstrittig ist, dass beide Partner ihre offenbar umfangreiche Korrespondenz in gegenseitigem Einverständnis vernichteten. Unstrittig ist ferner, dass Hedwig Dohm ihr volles schriftstellerisches Talent erst nach dem Tod ihres Mannes entfaltete, der ihr – auch das ist offenbar unstrittig – von Anfang an untreu war. Aber muss ihr Leben deswegen unglücklich gewesen sein?

Die Jugenderinnerungen von Tochter Hedwig sprechen dagegen. Sie erzählen fast durchgehend vom Leben in einer intakten Familie, in der es zwar oft ärmlich und sehr unkonventionell zuging, die Kinder sich aber nicht nur akzeptiert, sondern geistig gefördert und emotional geborgen fühlen konnten. Das ist bei Kindern «unglücklicher» Mütter selten der Fall. «Als Mutter war sie ein Märchen», urteilte Hedwig Pringsheim zu einem Zeitpunkt, da sie selbst Mutter erwachsener Kinder war. «Eine süße Zärtlichkeit, eine aufopferungsvolle Liebe, ein stetes Sinnen und Trachten, ihre Kinder glücklich zu machen, sie zu freien, selbständigen Menschen zu erziehen, erfüllte sie bis zu ihrem Tode. Gewiß war sie ein Mensch, hatte ihre kleinen menschlichen Schwächen und Fehler neben ihren reichen Gaben: aber als Mutter war sie vollkommen.»

Nein, es kann, nach allem, was wir wissen, keinen Zweifel geben, dass die Dohm-Kinder – Geldknappheit hin, dramatische Geschehnisse her – eine glückliche Kindheit verbrachten. Beide Eltern sahen es als eine Selbstverständlichkeit an, ihre vier Mädchen auf gute Schulen zu schicken, ihnen die Möglichkeit zu geben, Fremdsprachen zu erlernen und sich lesend die Welt zu erschließen – Privilegien, von denen ihre Mutter nur hatte träumen dürfen. Und wenn Hedwig Pringsheim auch einem gewissen Fräulein Passe von der Voigt’schen Privatschule, die ihr die ersten «ach so kümmerlichen Grundlagen ihrer Höheren-Töchter-Bildung» vermittelte, keine Träne nachweinte, so bewahrte sie dem Unterricht der Hausleuthner’schen Schule am Leipziger Platz, «die damals für die feinste von Berlin galt», doch zeitlebens große Dankbarkeit.

Vor allem Herr Goldbeck hatte es ihr angetan: «ein sehr gut aussehender Mann in mittleren Jahren, mit wunderschönen tiefen blauen Augen, bestrickend weicher klangvoller Stimme und einem echten Enthusiasmus.» «Wir liebten und verehrten ihn und fühlten, daß er uns in Wahrheit förderte, uns eine höhere Welt eröffnete, uns begeisterungsfähig machte.» Um Goldbergs Lektionen über die Französische Revolution nicht zu versäumen, bewegte Tochter Hedwig die Eltern, eine schöne Sommerreise vorzeitig abzubrechen. «Ich habe es nie bereut», bekannte sie noch aus dem Abstand von mehr als sechzig Jahren. «Einen dauernden Eindruck nicht nur, sondern ich kann wohl sagen, lebenslänglichen Einfluß haben sie auf mich ausgeübt.» Die berühmte und wissenschaftlichen Kriterien offenbar durchaus entsprechende Spezialbibliothek über Napoleon und die Französische Revolution, die sich die Münchener Professorenfrau später aufbaute und bis zum Abriss ihres Hauses durch die NS-Regierung 1933 ergänzte, bezeugte noch den Enkeln die Nachhaltigkeit dieses Unterrichts, der durch den Übergang auf das gerade eröffnete Viktoria-Gymnasium ein natürliches, aber von der Chronistin «tränenden Auges» beklagtes Ende fand.

Durch Zufall hat sich ein – allerdings recht verblichenes und schwer leserliches – Zeugnis von Weihnachten 1869 erhalten, das durch seine differenzierte Leistungsbeurteilung der Schule durchaus Ehre macht:

Hedwigs Betragen sei «nicht tadellos» gewesen, ihre Aufmerksamkeit «zuweilen zerstreut und Andere zerstreuend». Am Fleiß der Schülerin («im Ganzen befriedigend») und der Heftführung («ziemlich gut») fand die Schule offenbar wenig zu monieren. Was die einzelnen Fächer anging, so waren die Leistungen in Religion «noch nicht ganz befriedigend», das Verfassen von deutschen Aufsätzen hingegen «nicht ohne Talent, in der Haltung aber noch sehr zerfahren». Auch der Vortrag sei «talentvoll, aber nicht natürlich», die Gesamtkenntnisse auf dem Gebiete der Literatur seien «befriedigend» gewesen, und auch in der Kunstgeschichte habe die Schülerin «einiges Interesse» gezeigt. In den Fremdsprachen beurteilte die Französischlehrerin die Leistungen recht freundlich «assez bien», während sich im Englischen der offenbar positiven Einschätzung von Hedwigs mündlichen Leistungen (die Beurteilung ist kaum zu entziffern) eine eher zurückhaltende Beurteilung des Schriftlichen anschloss: «written works too often carelessly» und «Literatur very unsatisfactory». Was die übrigen Fächer angeht, so schwankten die Beurteilungen zwischen «Im Ganzen befriedigend» (Geographie), «ziemlich gut» (Rechnen und Gesang) und «befriedigend» (Naturwissenschaften, Mythologie). Im Zeichenunterricht wurden «Fortschritte erwartet», und das Fach Handarbeit scheint überhaupt nicht gelehrt worden zu sein.

Nicht nur die schulische, sondern auch die körperliche Ausbildung der Töchter lag dem Ehepaar Dohm am Herzen. Sommer für Sommer zog «die schöne Mutter» mit den vier kleinen Mädchen noch vor Schulbeginn ins Askanische Bad zum Schwimmen. Das war offenbar die einzige Badeanstalt, in der, wenn auch zu getrennten Zeiten, Knaben und Mädchen zugelassen waren. «Ich glaube, es war eine abscheuliche Brühe, in der wir Najaden unser neckisches Spiel trieben. Wenn man Wasser schluckte, o du mein Herrgott, was mag man da alles mitgeschluckt haben.»

Doch solche Überlegungen haben die Vierzehnjährige vermutlich kaum bewegt. Eine wesentlich wichtigere Rolle als die Angst vor Mud und Algen spielte die Befürchtung, das Zusammentreffen mit «Papa Wrangel» zu verpassen, dem «populären guten alten» Feldherrn, einst Oberbefehlshaber der deutschen Bundestruppen, der auf seinem Morgenritt den ihm begegnenden Schulkindern Bonbons zuwarf und mit sichtlichem Vergnügen zusah, wie sich Jungen und Mädchen gleichermaßen bemühten, «möglichst viele im Fluge zu erhaschen oder auch vom Straßendreck aufzulesen». Für Hedwig Pringsheim gab es auch nach nahezu 70 Jahren keinen Zweifel daran, dass der freundliche Herr die nach dem Baden mit zum Trocknen offenen Haaren nach Hause eilenden Dohm-Mädchen besonders in sein Herz geschlossen hatte, zumal die vier Schwestern, was die Geschicklichkeit im Fangen anging, ihren männlichen Konkurrenten durchaus gleichwertig gewesen seien.

Kein Zweifel, die hübschen, geistig und körperlich gleich gewandten Töchter hatten von früh auf gelernt, sich ohne Scheu in den verschiedenen Milieus, die ihnen nicht zuletzt durch die Beziehungen des Vaters geboten wurden, zu bewegen. Hedwig jedenfalls erinnerte sich noch im hohen Alter an Wohltätigkeitsveranstaltungen und Basare, bei denen die Veranstalter offenbar gern auf die anstelligen Dohm-Kinder zurückgriffen. Besonderen Eindruck hinterließ ihr eine Veranstaltung der dem Vater «sehr befreundeten», «liebenswürdigen» Gattin des preußischen Hausministers von Schleinitz zugunsten des Berliner Richard-Wagner-Fonds, bei der die Achtzehnjährige Lose verkaufen durfte – ein Amt, das sie nach eigener Aussage «keck» und mit gutem Erfolg versah: der «alte Kaiser» nahm ihr gleich zehn Stück ab, und die Entourage folgte dem Beispiel des Herrn.

Auch Kronprinz und Kronprinzessin zeigten sich spendabel – was das junge Mädchen jedoch nicht besonders beeindruckte, denn mit dem Kronprinzen stand sie ohnehin «innerlich förmlich auf du und du». Kein Wunder, hatte sie doch kurz zuvor der malenden Kronprinzessin Modell gesessen und deshalb acht Tage lang im Kronprinzenpalais ein und aus gehen dürfen: eine – nach eigenem Bekunden – «hochinteressante, wenn auch etwas enttäuschende Erfahrung»: «Die Räume waren ja fürstlich, aber eigentlich ging es da recht bürgerlich zu, fast wie bei uns. Heimliche Kronen schien niemand zu tragen (außer vielleicht den Lakaien). Der Kronprinz kam während der Sitzung herein, begrüßte mich freundlich und sagte, wie ein guter Ehemann zu seiner Frau: ‹Vicki, ich geh jetzt herüber zu den Eltern, bin ich zum Frühstück nicht rechtzeitig zurück, so warte nicht auf mich, ich esse dann drüben.› Dann kamen die beiden Prinzen Wilhelm und Heinrich, sich vorm Spaziergang von der Mutter verabschiedend. (Und die beiden Prinzen haben mich dann jahrelang auf der Straße nett und zuvorkommend zuerst gegrüßt, und keines Herzens Schlag verriet mir, daß der höfliche junge Mensch, etwa zwei Jahre jünger als ich, gar bald der mächtige, vielumstrittene Kaiser Wilhelm II sein würde!)»

Doch dann geschah etwas, das sich dem halbwüchsigen Mädchen offenbar tiefer einprägte als alle kaiserlichen Freundlichkeiten und die Illusion des «Hier geht es ja zu wie bei uns» gründlich zerstörte: «Nach etwa einer Stunde öffnete sich die Tür, und ein Lakai schob ein sich auf Rollen bewegendes Tischchen herein, auf dem ein sehr leckeres kleines Frühstück, köstliche belegte Brote, Bouillon, Süßwaren angerichtet war. Die Kronprinzessin erhob sich und sagte, ‹wir machen jetzt eine kleine Pause.› Nun wurde ich nicht etwa in ein anderes Zimmer verabschiedet: nein, ich durfte zusehen, wie ihre Kaiserliche Hoheit sich stärkte, mir wurde auch nicht die kleinste Erquickung angeboten. Ich schämte mich. Mir war es wahrhaftig nicht um die feinen Leckerbissen zu tun, obwohl sie natürlich weit appetitlicher lockten als unsere häuslichen Butterstullen. Nein, ich schämte mich für die hohe Frau. Ich kannte ja wohl höfische Sitten nicht, aber mein bürgerliches Anstandsgefühl lehnte sich dagegen auf.»

Nein, korrumpierbar war Hedwig Pringsheim nicht. Dennoch blickte sie als alte Frau mit Freude und Stolz auf ihre einstige Vertrautheit mit der adligen Gesellschaft von Berlin zurück und sprach gern von dem Eindruck, den sie als junges Mädchen auf die tonangebende Schicht der Politiker, Bankiers und Künstler gemacht hatte.

Doch auch im eigenen Elternhaus wurden ihr Anregungen genug geboten. Nach der Rückkehr der Familie aus dem Exil hatten Ernst und Hedwig Dohm ihren halbwüchsigen Kindern erlaubt, jugendlichen Freunden zu sagen, «man wäre in den nächsten sechs Wochen jeden Montag Abend zu Hause». Das jedoch durchaus nicht, um – wie ein «boshaftwitziger Kollege» lästerte – «den Laden aufzumachen» (es war offenbar die landläufige Meinung, daß, «wo heiratsfähige Töchter waren, eben ‹der Laden› aufgemacht werden musste»), sondern wirklich nur um des Vergnügens willen. Und diese «nette, harmlose und gemütliche» Sache fand Anklang: «Bald kamen einzelne Eltern mit, und die brachten wieder neue Gäste angeschleppt», und binnen kürzester Zeit entwickelten sich die Dohm’schen Abende zu einer «Sache der Berliner Gesellschaft». Man drängte sich zu diesen Montagen; «alle Kreise und Altersstufen waren vertreten», und als kolportiert wurde, eines Abends sei – wegen allzu großer Überfülle – sogar ein Gast zum Fenster herausgefallen, «wurde das Gerücht mit dem beifälligen Kommentar aufgenommen: ‹Gott sei Dank, dann ist ein Stuhl freigeworden.›»

In der Tat: viel Platz gab es nicht in der Dohm’schen Wohnung im dritten Stock eines Hauses der Potsdamer Straße. In der halben Etage hatte man – außer den Schlafzimmern – «für Gesellschaften drei mittelgroße Räume» zur Verfügung: das Arbeitszimmer des Vaters, den so genannten Salon und das Berliner Zimmer als Esszimmer. Gelegentlich allerdings seien die Gäste durch den hinteren Korridor einfach in die Küche «gequollen», wo man dann über die «Saucitzchen» – die kleinen Würstchen – hergefallen sei, die den Höhepunkt kulinarischer Genüsse dargestellt hätten.

Der Bankier Carl Fürstenberg, einer der regelmäßigen Besucher des Dohm’schen jour, hat in seinen Erinnerungen das Milieu dieser Abende anschaulich beschrieben: «Einer der amüsantesten Menschen, die Berlin beherbergte, war zweifellos der immer witzige und niemals zahlungsfähige Ernst Dohm. Er bewohnte mit seiner hochbegabten Frau Hedwig eine ziemlich bescheidene Wohnung, in der seine vier reizenden Töchter mehr geistige Anregungen als Licht und Sonnenschein genießen konnten.» Große Diners hätte in der Dohm’schen Wohnung keiner der Besucher erwartet – «Wenn an zwei Stellen gleichzeitig Frankfurter Würstchen serviert wurden, so war damit der leiblichen Pflege genuggetan. Umso reichlicher war aber hier gewöhnlich die geistige Kost. Die Abende pflegten in angeregter Plauderei zu verlaufen. Man sprach über die jüngste Première, die letzte Kunstausstellung, wohl auch über eine neue Wendung Bismarckscher Politik und fühlte damals noch nicht das Bedürfnis, die Stunden des geselligen Beisammenseins durch Bridgespielen totzuschlagen.»

Wie immer es gewesen sein mag – die Gesellschaft, die im eher bescheidenen Ambiente der Dohms allwöchentlich zusammentraf, konnte sich sehen lassen:

Ferdinand Lassalle und die Gräfin Hatzfeld, die Literaten Ludwig Pietsch und Rudolf Kalisch, die Schriftsteller Spielhagen, Auerbach, Rodenberg und Frenzel, der Wippchen-Erfinder Julius Stettenheim, der Theatermann L’Arronge und der Dirigent Hans von Bülow, aber auch liberale Politiker wie Eduard Lasker oder Ludwig Bamberger waren zu Gast. Kein Zweifel, es war die geistige und künstlerische Elite Berlins, die sich – fasziniert vom Esprit, der Offenheit und dem weit gespannten Interesse der Gastgeber – im Haus des Kladderadatsch-Redakteurs ein Stelldichein gab. Die Kunst des Konversierens, des gepflegten und interessanten Salongesprächs, stand hoch im Kurs – und die Kinder des Hauses profitierten von ihr. Alle vier Mädchen haben nach ihrer Verheiratung die Tradition des Elternhauses – mutatis mutandis – in ihren neuen Kreisen fortgesetzt: Else als Frau des Fürstenberg befreundeten Bankiers Hermann Rosenberg, Marie mit Hilfe des italienischen Journalisten Ernesto Gagliardi und Eva, in erster Ehe mit dem Bildhauer Max Klein verheiratet, nach dessen Tod als Frau des George-Verlegers Georg Bondi.

Allein der Ältesten aber, Hedwig, gelang es, ihre noch von den Enkeln bestaunte und in München berühmte Kunstfertigkeit im Parlieren auch in kleinen Feuilletons zu demonstrieren, dank derer wir in der Lage sind, nicht nur einige der ihre Jugend prägenden Erlebnisse zu rekonstruieren, sondern auch ihre ungewöhnliche, wenngleich kurze Karriere als Schauspielerin in Meiningen bis zur Heirat mit dem reichen Mathematikdozenten Alfred Pringsheim hin zu dokumentieren.

Ein junges Mädchen aus so genanntem «guten Hause» am Theater – wie ging das zu? Hedwig Pringsheim selbst bekannte in ihrem Essay Wie ich nach Meiningen kam mit großem Freimut, dass sie nie an eine Bühnenkarriere gedacht habe, obwohl sie von Kindesbeinen an «eine wahre Passion für das Aufsagen der längsten Gedichte gehabt und kein Alter und kein Geschlecht mit ihren Deklamationen verschont» hätte. Der Beruf der Schauspielerin aber war für die Tochter einer gesellschaftlich angesehenen Familie selbst in einem so unkonventionellen Lebenskreis wie dem der Dohms nahezu undenkbar. Was also musste zusammenkommen, um sich über alle Vorurteile hinwegzusetzen?

Die Protagonistin erzählt, die Geschichte habe am 1. Mai des Jahres 1874 begonnen, als vor ausverkauftem Haus des Friedrich-Wilhelmstädtischen Theaters – das an der Stelle des heutigen Deutschen Theaters in der Reinhardtstraße zu denken ist – das erste Berliner Gastspiel des «Herzoglichen Hoftheaters in Meiningen» stattfand: der damals interessantesten Bühne Europas. Das Schlagwort «die Meininger kommen» versetzte die Theaterenthusiasten der Metropolen nicht nur in Berlin, Wien oder Dresden, sondern gleichermaßen in Budapest, London oder New York in Begeisterung. Das berühmte Theater agierte unter der persönlichen Leitung des Landesfürsten Herzog Georg II.

Die Meininger und ihr Herzog: Das waren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf dem Gebiet des Theaters nicht anders als auf dem der Musik Synonyma für höchsten Kunstverstand und größtmögliche Perfektion. Kainz und Barnay auf der Bühne, Bülow, Brahms, Reger oder Strauss am Pult der Hofkapelle: Fixsterne am Himmel über einem Duodez-Fürstentum, in dessen Mitte der Herzog Georg II. von Sachsen-Meiningen stand. Er war Mäzen und Rechner – die sonst übliche Hofoper wurde um des Theaters und des Orchesters willen abgeschafft –, Intendant und Dramaturg, Bühnen- und Kostümbildner, Zeichner von Rang und Organisator des gesamten Ausstattungswesens. Ein Mann mit vorzüglicher Bildung, Kenner der europäischen Theaterszene, ein Vielgereister, der wusste, wie man in London mit Hilfe der Heraldik, Numismatik und Archäologie einen ebenso stilgerechten wie interessanten Shakespeare inszenierte; dazu ein Verehrer von Felix Mendelssohn und mit seiner zweiten Frau, Helene Freifrau von Heldburg, alias Schauspielerin Ellen Frantz, ein gern gesehener Gast im Hause Liszt/​Wagner.

Die – wie Hedwig Pringsheim formulierte – «rechtmäßige, wenngleich linkshändige Gattin des Herzogs» war von ihrer Jugendfreundin Cosima Liszt/​von Bülow/​Wagner fürs Theater begeistert und aufgrund der Fürsprache Franz Liszts an der Hofbühne Coburg/​Gotha engagiert worden. Danach hatte sie sich an vielen Bühnen zwischen Thüringen, Oldenburg, Stettin und Mannheim umgesehen und suchte nun, nach ihrer Heirat mit Georg, im Meininger Schauspiel-Ensemble jene «höchste Reinheit der Aussprache» durchzusetzen, die um die gleiche Zeit Richard Wagner vom dramatischen Sänger verlangte.

Eine interessante Frau an der Seite eines interessanten Mannes, eines Fürsten, der sich von europäischen Berühmtheiten beraten ließ, wenn es um den Realismus der szenischen Darstellung ging, und mit seinem Autor Ibsen über die Frage korrespondierte, wie das Interieur norwegischer Bürgerhäuser adäquat wiederzugeben wäre, denn die Reputation der Meininger Inszenierungen beruhte in erster Linie auf dem historisch getreuen Ambiente von Bühnenbild und Kostümen, die Georg in allen Details stets eigenhändig – nicht selten unter Verwendung besonders wertvoller Requisiten aus seinem Privatbesitz – entwarf.

«Jedes Kostüm wurde von ihm skizziert und bis auf die geringsten Verzierungen durchgebildet. Die Freifrau überwachte die Ausführung der Arbeiten und prüfte Ton und Faltenwurf der Stoffe. Da ward vom frühen Morgen bis in die sinkende Nacht hinein unverdrossen probiert, abgetönt und verbessert; und wenn der Raum im Theater nicht ausreichte, dann richtete man Zimmer des Schlosses zu Werkstätten her. Die fertigen Kostüme wurden bei der vorgeschriebenen Szenenbeleuchtung in Harmonie gebracht mit der Farbenstimmung der Dekoration. Der Herzog stand unten im Parkett und prüfte sorgfältig die malerische Wirkung jeder Gruppe.» Jeder Auftritt, jeder Gang und jede Geste wurden in genauester Absprache mit dem Regisseur Ludwig Chronegk unter Beachtung des historisch und psychologisch Überzeugenden festgelegt, die Regieanweisungen mit den modernsten technischen Mitteln durch die berühmtesten Bühnen- und Pyrotechniker der Zeit minutiös ausgeführt.

Kein Wunder also, dass man gerade in der Reichshauptstadt das erste Auftreten der Meininger mit großer Spannung erwartete, zumal «eine geschickte Presse-Propaganda» «Stimmung für das große Ereignis gemacht» hatte. Als «angesehenem Kladderadatsch-Redakteur» und, wie die Tochter nicht ohne Stolz betonte, «persönlichem Freund der Frau von Heldburg» war es Ernst Dohm «natürlich» gelungen, zwei «Freikarten für gute Plätze» zu bekommen. Auf diese Weise durfte auch Hedwig das Ereignis miterleben. Man spielte Shakespeares Julius Caesar. Die ersten beiden Akte ließen das junge Mädchen offenbar kalt: «Das also waren die vielgerühmten Meininger? Anständige Mittelmäßigkeiten, so etwas hatten wir Berliner schließlich auch, und in den Einzelleistungen entschieden Besseres.» Aber dann kam Cäsars Ermordung, «die Reden auf dem Forum, die Volksszenen: da stand einem der Atem still». «Die große Szene, in der Marc Anton mit unglaublicher Geschicklichkeit und Seelenkenntnis die feindliche Stimmung des Volkes in ihr Gegenteil zu wandeln versteht, und beim dritten ‹Brutus ist ein ehrenwerter Mann› die Menge deutlich umschlägt» – nein: das hatte man denn doch noch nicht erlebt, «das war neu, nie dagewesen, hinreißend und großartig. Als der Vorhang fiel, brach unendlicher Jubel los, die Schlacht war gewonnen, der Sieg unbestritten.»

Nun, ganz so unbestritten, wie Hedwig Pringsheim glaubte, war der Sieg nicht. Die ganz auf Bewegung, Massenszenen und Ensemblespiel setzende Inszenierung stieß bei einem Teil der Berliner Kritik auf scharfe Ablehnung. Die Enttäuschung, die das junge Mädchen während der ersten zwei Akte empfunden hatte, stimmte also immerhin mit dem Urteil einiger gestandener Berliner Feuilletonisten überein, welche von der Meininger Truppe als einem Ensemble höchstens mittelmäßiger Schauspieler sprachen, das sich ihren einzig überragenden Akteur aus Dresden habe «borgen» müssen.

Dennoch: Die Aufführungen der Meininger, die einen vollen Monat mit verschiedenen Inszenierungen vor fast immer ausverkauftem Haus und «bei meist geräumtem Orchester» spielten, waren – zumindest beim Publikum, aber auch bei einem Teil der maßgebenden Kritik – für den Herzog und sein Theater ein wirklicher Durchbruch.

Hedwig Pringsheim berichtet, dass wenig später, «um die Konjunktur auszunutzen», auch Helene von Heldburg nach Berlin gekommen sei. Bei dieser Gelegenheit habe sie Ernst Dohm einen Besuch gemacht, mit dem sie sich vor vielen Jahren, als sie noch die «sehr feine und beliebte Schauspielerin» Ellen Frantz war, im Hause Bülow angefreundet hatte. Während der Plauderei im Familienkreis lernte sie die älteste Tochter des Hauses kennen, deren Anmut und sicheres Auftreten sie so beeindruckte, dass sie «den überraschten und noch mehr erschreckten Eltern» vorschlug, das Mädchen als junge Naive zu ihr nach Meiningen zu schicken.

Das Angebot war offenbar zunächst für die ganze Familie ein rechter Schock: «Vater kannte aus höchst persönlichen Erfahrungen das lockere Theatervölkchen, und die Vorstellung, seinen Liebling in diesen Sündenpfuhl zu schicken, erfüllte ihn mit Grausen. Doch war er andererseits der Mann, der niemals ‹nein› sagen konnte.» Und so war denn, als kurz darauf ein Brief des Herzogs den Vorschlag der Freifrau ausdrücklich unterstützte und Regisseur Chronegk zu persönlichen Verhandlungen nach Berlin geschickt wurde, das Schicksal von Tochter Hedwig besiegelt. «Meine Frau schreibt morgen an die Dohm wegen der Louise», ließ der Herzog am 18. Dezember 1874 Ludwig Chronegk wissen. Die alte Hedwig Pringsheim erinnerte sich also genau, als sie im Rückblick erzählte: «Man übersandte mir die Rolle der Luise in Kabale und Liebe, mit dem ausdrücklichen Befehl, sie auswendig zu lernen, aber unter keinen Umständen mit irgend jemandem zu studieren.»

So geschah’s. – Nachdem sie einen Schminkkasten nebst zwei Frisiermänteln erstanden und ihre Garderobe – die private sowie die damals von der Schauspielerin selbst aufzubringende Grundausstattung an Bühnenkostümen – bescheiden aufgebessert hatte, fuhr die frisch engagierte Elevin am 1. Januar 1875, «vom Vater, den ängstlichen Wünschen der Mutter und dem stillen Neid der drei jüngeren Schwestern begleitet, ins Abenteuer nach Meiningen».