image

image

Stiftungen und Teilhabe von Kindern und Jugendlichen

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

V.i.S.d.P.:

Prof. Dr. Hans Fleisch, Generalsekretär des
Bundesverbandes Deutscher Stiftungen

Herausgeber:

Bundesverband Deutscher Stiftungen

Mauerstraße 93 | 10117 Berlin

Telefon (030) 89 79 47-0 | Fax -10

www.stiftungen.org

post@stiftungen.org

Gefördert von:

Bundesministerium für Arbeit und Soziales | Wilhelmstraße 49 | 10117 Berlin

Autorinnen und Autoren:

Antje Bischoff, Sebastian Bühner, Burkhard Küstermann,

Andrea Lassalle, Miriam Rummel

© Bundesverband Deutscher Stiftungen e. V.

Berlin, Januar 2012

Gestaltung: Jörg Scholz, Köln (www.traktorimnetz.de)

Titelbild: Jörg Scholz

Druck: Gebrüder Kopp GmbH & Co. KG, Köln

Dieses Produkt wurde klimaneutral gedruckt. Die durch die Herstellung verursachten Treibhausemissionen wurden kompensiert durch Investitionen in ein Klimaprojekt nach Gold Standard. Das verwendete Papier für den Innenteil ist RecyStar Polar, hergestellt aus 100 % wiederaufbereiteten Fasern – FSC-zertifiziert.

ISBN 978-3-941368-19-4

image

Bildung und Teilhabe gehören zum Existenzminimum. Das legte das Bundesverfassungsgericht in seinem wegweisenden Urteil zu den Hartz IV-Sätzen im Februar 2010 fest. Der Gesetzgeber reagierte und verabschiedete das „Bildungs- und Teilhabepaket“. Um mehr Chancengerechtigkeit zu erreichen, erhalten junge Menschen nun materielle Leistungen. Auch zivilgesellschaftliche Akteure fördern Bildung und Teilhabe – darunter zahlreiche Stiftungen, die mit ihren Angeboten die Chancen von Kindern und Jugendlichen verbessern wollen.

Die Studie geht deshalb den Fragen nach: Inwiefern können Stiftungen und staatliche Einrichtungen kooperieren? Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein? Was können Staat und Stiftungen voneinander lernen? Auf Grundlage einer großen Stiftungsumfrage und von Interviews mit Experten wurden sechs Empfehlungen an Stiftungen und Politik für das weitere Vorgehen erarbeitet.

Für die Erarbeitung der Empfehlungen geht ein besonderer Dank an den wissenschaftlichen Beirat des Bundesverbandes Deutscher Stiftungen, namentlich Frau Prof. Dr. Berit Sandberg, Herrn Prof. Dr. Karl-Heinz Paqué, Herrn Prof. Dr. Sebastian Braun und Herrn Prof. Dr. Rainer Hüttemann. Frau Conny Feist sei vor allem für die Erstellung des Umfrageverteilers gedankt. Einen herzlichen Dank auch an die teilnehmenden Stiftungen der Online-Befragung sowie an die Stiftungsvertreterinnen und -vertreter, die mit ihrem Expertenwissen zur Qualität dieser Studie beigetragen haben.

Inhalt

1 Einleitung

Inhalt und Aufbau der Studie

Zentrale Begriffe

2 Status quo: Stiftungsengagement für Teilhabe in Deutschland

Bundesländerporträts

Best-Practice-Beispiele

3 Ergebnisse der Stiftungsbefragungen

Ergebnisse der Online-Befragung

Ergebnisse der Expertenbefragung

Zusammenfassung der bisherigen Erkenntnisse

4 Empfehlungen

Anhang

Angaben zur Datenerhebung und -auswertung

Quellen und Anmerkungen

1 – Einleitung

In Anbetracht dieser Zahlen steht die Politik unter Handlungsdruck. Zumal das Bundesverfassungsgericht die Ermittlung der Hartz IV-Bezüge im Februar 2010 für verfassungswidrig erklärt und die Regierung aufgefordert hatte, binnen Jahresfrist die Hartz IV-Gesetzgebung zu überprüfen. Herausgekommen ist das Bildungs- und Teilhabepaket. Anstatt jedem Kind monatlich mehr Geld zuzusprechen, erhalten bedürftige Kinder und Jugendliche Leistungen, die ihnen die soziale und kulturelle Teilhabe ermöglichen sollen. Viele dieser Leistungen, seien es kostenlose Nachhilfe, warme Mittagessen oder Zuschüsse zum Schulbedarf, werden an vielen Orten in Deutschland bereits von anderen Organisationen erbracht; unbürokratisch, ohne Anträge und Bedürftigkeitsprüfung. Damit stellt sich die Frage, ob Staat und Stiftungen nicht stärker zusammenarbeiten müssen, um Kindern und Jugendlichen bessere Lebens- und Entwicklungschancen zu bieten. Wo können Staat und Stiftungen voneinander lernen? Wo lassen sich Synergien nutzen?

Minderjährige Kinder 2010 nach überwiegendem Lebensunterhalt der Eltern und Familienform (in Prozent)

image

Quelle: Statistisches Bundesamt, Mikrozensus

„Kinder sind unsere Zukunft“, heißt es; „Kein Kind darf verloren gehen“, heißt es; „Bildung ist unsere wichtigste Ressource“, heißt es. Doch tut die Gesellschaft alles, um diesen Aussagen gerecht zu werden? Mitnichten. Ein Blick in die Statistik zeigt: In Deutschland ist das Risiko gerade für Kinder besonders groß, sozial benachteiligt zu werden. Sind im bundesdeutschen Durchschnitt 15,6 Prozent der Bevölkerung armutsgefährdet, ist die Gefahr bei den unter 18-Jährigen mit 17,5 Prozent nochmals höher.1 Zu Beginn des Jahres 2011 wachsen knapp 1,8 Millionen Kinder in Haushalten mit SGB II-Bezug auf.2 Demnach lebt jedes sechste Kind von Sozialgeld. In den neuen Bundesländern fällt das Bild noch drastischer aus: Mit 30,7 Prozent stammt fast jedes dritte Kind in Ostdeutschland aus einem einkommensarmen Haushalt.3

Inhalt und Aufbau der Studie

Die vorliegende Studie setzt sich unter Berücksichtigung der Handlungslogiken von Stiftungen mit diesen Fragen auseinander und sucht Ansatzpunkte für eine Zusammenarbeit von Staat und Stiftungen. Denn Stiftungen sind nicht nur eine starke Säule der Zivilgesellschaft, sondern mit ihren mannigfaltigen Angeboten oft auch näher an den sozial benachteiligten Kindern und Jugendlichen als der Staat. Sie verfügen über vielerlei Erfahrungen in Bezug auf die Förderung von jungen Menschen und den Ausgleich von Benachteiligungen. Stiftungen sind vor Ort präsent, pflegen langjährige Kontakte zu Kindern und Jugendlichen, zu Lehrern und Schulen, Sozialarbeitern und Kommunen. Was sie auszeichnet, ist ihr sprichwörtlicher langer Atem, genauso wie die Möglichkeit schnell und flexibel auf bestimmte Entwicklungen zu reagieren. Außerdem können Stiftungen mutig neue Wege einschlagen und mit Pilotprojekten neue Ansätze auf ihre Tauglichkeit prüfen. Und schließlich lautete eine Schlussfolgerung im Dritten Armuts- und Reichtumsbericht: „Auf Grund der föderalen Struktur Deutschlands wird die nachhaltige Vermeidung von Armut und das Ziel der sozialen Integration jedoch nur durch gemeinsame Aktivitäten auf allen staatlichen Ebenen und gemeinsam mit allen Akteuren der Zivilgesellschaft zu erreichen sein.“4 Ziel der vorliegenden Studie ist es also, die Erfahrungen der Stiftungen zu bündeln, um daraus Empfehlungen für den weiteren Umgang mit dem Bildungs- und Teilhabepaket abzuleiten.

Armutsrisikoquote nach Sozialleistungen 2008 in Deutschland (in Prozent)

Personen in Haushalten von Alleinerziehenden*

image

Quelle: Statistisches Bundesamt, EU-SILC

* Als Kind zählen Kinder unter 18 Jahren sowie Personen zwischen 18 und 24 Jahren, die nicht erwerbstätig sind und mit mindestens einem Elternteil zusammenleben.

Vier Schritte führen durch die Studie: Im ersten Teil werden die in diesem Zusammenhang relevanten Begriffe erörtert und gesellschaftliche Entwicklungen aufgezeigt. Es wird geklärt, was das Bildungs- und Teilhabepaket charakterisiert und warum sich das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) für diese Form der Mittelzuteilung entschieden hat. Der zweite Schritt bietet einen Überblick über die Angebote von Stiftungen für Kinder und Jugendliche. Diese Best- Practice-Beispiele sind zwar nur eine Kostprobe stifterischen Engagements, machen aber doch deutlich, mit welchem Ideenreichtum die Gesellschaft auf die drängenden Herausforderungen bezüglich der Entwicklungschancen von jungen Menschen reagiert. Kern der Studie sind die im dritten Schritt vorgestellten Ergebnisse einer Online-Befragung unter mehr als 550 Stiftungen aus dem sozialen und Bildungsbereich, die Kinder und Jugendliche fördern. Die Ergebnisse einer qualitativen Befragung von 22 Bildungsexperten aus Stiftungen flankieren die quantitative Erhebung. Im vierten Schritt werden schließlich die Empfehlungen des wissenschaftlichen Beirats vorgelegt, der anhand der Einschätzungen, Kritikpunkte und Vorschläge seitens der Stiftungen zehn Empfehlungen für Kooperationen zwischen Staat und Stiftungen formuliert hat.

Zentrale Begriffe

Teilhabe

Der Begriff der Teilhabe hat verschiedene Facetten. In der Vergangenheit vor allem in der Debatte um die bessere Integration von Menschen mit Behinderungen verwendet, spielt er heute in weit mehr Zusammenhängen eine Rolle: im Hinblick auf Erwerbsarbeit, Bildung, kulturelle Aktivitäten, Freizeitverhalten oder in Bezug auf die Sprachkompetenz. Am gesellschaftlichen und kulturellen Leben nicht aktiv teilnehmen zu können, mindert die Lebensqualität und -chancen und ist zudem politisch verheerend. Demokratien leben von der Teilhabe ihrer Bürgerinnen und Bürger. Die Bevölkerung ist nicht nur aufgefordert, sich an Wahlen zu beteiligen; in pluralistischen Gesellschaften geht es auch darum, den unterschiedlichen Interessen der verschiedenen gesellschaftlichen Strömungen Ausdruck zu verleihen.

Soziale Ausgrenzung indes führt zu Desinteresse und Resignation. Eine solche Haltung ist in manchen Teilen der Gesellschaft bereits unübersehbar. Schlimmer noch: Häufig wird sie „vererbt“. Wenn die Eltern kein Interesse an Politik und gesellschaftlichen Fragen haben, „die Politik“ gar verachten, ist die Gefahr groß, dass auch die staatsbürgerschaftlichen Tugenden des Nachwuchses allenfalls schwach ausgeprägt sind. Dabei muss es sich nicht einmal um eine bewusste Entscheidung der Eltern handeln, dem Staat den Rücken zu kehren. In bestimmten Milieus fehlt es schlicht an der Kompetenz und am Wissen, dass und vor allem wie man sich überhaupt einbringen könnte. Wenn zudem armutsrisikobedingt existenzielle Fragen den Alltag dominieren, ist ein Streben nach politischer Teilhabe kaum zu erwarten. Dennoch wird dem demokratischen Staatswesen so seine bedeutsamste Ressource entzogen: die Beteiligung seiner Bürgerinnen und Bürger und die von ihnen verliehene Legitimität. Wenn sich ganze Teile der Gesellschaft nicht mehr in den Prozess der Interessenbildung einbringen, entstehen blinde Flecken, die das gesellschaftliche Miteinander dauerhaft gefährden. Obendrein finden die Interessen dieser Gruppen noch weniger Berücksichtigung.

Dass der Begriff der Teilhabe in der öffentlichen Diskussion zunehmend Verwendung findet, deutet darauf hin, dass die Probleme, die sich aus mangelnder Teilhabe ergeben, mittlerweile erkannt worden sind. So ist es vielen Familien nicht möglich, Tätigkeiten nachzugehen, die für die Mehrheitsgesellschaft normal sind. Besonders Kinder erleben diese Exklusion – etwa wenn ihre Schulkameradinnen und -kameraden in ihrer Freizeit etwas unternehmen, was Geld kostet. Darüber hinaus werden sie daran gehindert, wichtige Erfahrungen zu sammeln.

Teilhabechancen von Kindern

Die Erfahrungen aus Kindheit und Jugend prägen den weiteren Lebensweg. Sie bestimmen, welche Kompetenzen sich ein Mensch aneignet, wie viel Selbstbewusstsein und Toleranz er mitbringt, wie vielfältig die persönlichen Interessen sind. Diese für das individuelle Vorankommen entscheidenden Schlüsselkompetenzen erwerben Kinder und Jugendliche nicht nur in der Schule, sondern auch durch ihr privates Umfeld. Dort sind die Rahmenbedingungen aber höchst unterschiedlich. Interessierte, informierte, kompetente Eltern finden sich im Dschungel der Angebote zurecht und haben oft genaue Vorstellungen, welche Qualifikationen ihren Kindern nützen. Sie zeigen ihnen ein Spektrum auf, so dass die Kinder eine Wahl haben, Freizeitaktivitäten nachzugehen, die ihren Vorlieben, Neigungen und Talenten entsprechen.

Ein ungünstiges Umfeld raubt Kindern unter Umständen wertvolle Lebenschancen und -perspektiven. Im schlechtesten Fall verkümmern Antrieb, Neugier und Motivation, bringen ablehnende Erfahrungen und Zurückweisungen Kinder dazu, sich einzuigeln, anstatt sich neuen Herausforderungen zu stellen. In vielen Fällen wissen Kinder gar nicht von den vielfältigen Möglichkeiten, die sich ihnen bieten. Natürlich sind diese Kinder im Nachteil – unabhängig von ihren kognitiven Fähigkeiten. Im Wesentlichen gibt es dafür zwei Gründe: Es mangelt an Kompetenzen oder an den finanziellen Möglichkeiten.5 So sind viele Freizeitbeschäftigungen mit Kosten verbunden: Bei Vereinsmitgliedschaften werden Beiträge fällig, viele Sportarten erfordern eine Grundausstattung, Schulausflüge oder Landheimaufenthalte sind teuer, ebenso wie der Nachhilfeunterricht. Kinder und Jugendliche aus einem sozial schwachen Umfeld müssen daher auf vieles verzichten.