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Anja Glunz

Magisches Erbe 1

Die Verbindung des Blutes


Meiner Familie Anna, Rolf und Merci, die mich fördert, fordert, aushält und sein lässt.


BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Intro

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

„Zu sein, wer wir sind, und zu werden, dessen wir fähig sind zu werden, das ist das Ziel des Lebens!“

Robert Stevenson

Prolog

Cornwall, 18.Jahrhundert

Dunkle Wolken zogen bedrohlich und unaufhaltsam näher. Er stand hoch oben auf den Zinnen seiner Burg, getrieben von einer Vorahnung, die ihn bis ins Mark zu erschüttern begann. Schon erhob sich ein starker Wind, zerrte an seinem Umhang und ließ sein schulterlanges blondes Haar wie eine Fahne wehen. Sein Blick glitt über das Land, sein Land, und seine blauen Augen taten es dem Himmel gleich und verdunkelten sich.

Schon seit einigen Wochen suchten ihn erschreckende Träume heim. Normalerweise brachte ihn nichts aus der Ruhe, Unsicherheit war ihm unbekannt und Angst hatten nur die anderen, meistens vor ihm.

Oh ja, einst war er ein Schwächling gewesen, ein Niemand. Doch seit er den Pakt geschlossen hatte, war diese Angst auch mehr als berechtigt. Seine Kräfte waren heute mit nichts zu vergleichen, und er wurde immer mächtiger, je mehr Zeit verging. Zeit!

Während Zeit für die gewöhnlichen Menschen bedeutete, älter zu werden und den Verlust von Kraft und Vitalität, konnte sie ihm nichts anhaben. Ganz im Gegenteil. Zeit war ein Verbündeter an seiner Seite im Kampf um die absolute Macht. Er, Cathbad, war der größte und mächtigste Druide aller Zeiten. Mehr noch, ja, er würde sogar sagen, fast sei er Gott gleich. Doch eines hatte er Gott sogar voraus. Er schränkte sich, seine Handlungen und Entscheidungen nicht durch etwas so Lästiges und Banales wie ein Gewissen oder Moral ein.

Und doch begann seine Welt sich zu verändern. „Niemals“, brüllte er, die Hände zu Fäusten geballt, sodass die Knöchel weiß hervortraten. Seine Stimme grollte donnergleich über das Land und wie zur Antwort fuhr ein greller Blitz aus dem mittlerweile schwarzen Himmel. Regen peitschte ihm ins Gesicht und durchnässte ihn bis auf die Haut. Donner und Blitz kamen jetzt so schnell aufeinander, als lieferten sie sich ein Wettrennen. Doch er stand unbeeindruckt da. Wer oder was wagte, ihm zu drohen, wagte, seine Macht auf die Probe zu stellen?

Gerüchte gingen um. Gerüchte von einem Mädchen, das mit dem Wind und den Tieren sprach. Eine, der die Träume Geheimnisse verrieten, welche sonst kein Sterblicher jemals gehört hatte. Ein Mädchen mit außergewöhnlichen Gaben und Fähigkeiten.

Tief in seinem Inneren wusste er, dass sie eine Bedrohung für ihn war, doch wie sollte das möglich sein? Niemand hatte es je gewagt, sich ihm in den Weg zu stellen oder es überlebt, kein noch so furchterregender Mann.

„Ein Mädchen, ein Wurm“, murmelte Cathbad abfällig. Er würde sich dieses Wunderkind mal ansehen und sollte sie auch nur falsch atmen, so würde er sie aus dem Weg räumen. Jemanden zu beseitigen, ohne dass auch nur der geringste Verdacht auf ihn fallen würde, bedurfte keiner großen Anstrengung. Ein hämisches Lächeln zog sich bei diesem Gedanken über sein Gesicht. Mit dem Gerede über dieses seltsame Mädchen hatten seine Probleme begonnen und mit ihrem Tod würden sie enden, dessen war er sich plötzlich ganz gewiss.

In seiner unendlichen Arroganz und Selbstverliebtheit erkannte weder Cathbad noch sein Verbündeter, um wen es sich hier handeln konnte. Das konnte ihren Untergang bedeuten.

Kapitel 1

Schottland, 2010

 

Mortimer hatte eine kurze Nacht hinter sich. Zögerlich kämpfte sich das erste Licht durch die Dunkelheit, da stand er schon mit einer Tasse Tee in der Hand vor seiner Haustür und blickte über den See. Ein Ziehen im Rücken und eine allgemeine Steifheit erinnerten ihn daran, dass es an der Zeit war, die Dinge ins Reine zu bringen.

„Tja, du bist eben keine dreißig mehr, Mortimer Fraser“, murmelte er in seine Tasse. Es war Zeit, sie anzurufen, ja es war Zeit. Wie gerne wäre er noch einmal fünfzig, nicht für ihn, nein, für sie. Damals war sie gerade drei Jahre alt gewesen und er weit entfernt von der Bürde, die er ihr nun auferlegen musste. Doch die Zeichen nahmen zu, waren nicht mehr zu ignorieren. Schon bald würde sich ihr ihre Gabe deutlich zu erkennen geben, denn die Gier des Einen war unersättlich geworden. Wie hieß es doch so schön in einem alten Western: ‚Leichen pflasterten seinen Weg‘. Nun, er war noch nie ein großer Westernfan und auf das, was jetzt kam, hätte er nur allzu gern verzichtet. Aber so war das nun mal: jeder hatte sein Schicksal und das seine war mit dem ihren verknüpft.

„Los, alter Mann, sei nicht so feige!“, sagte er zu sich und gönnte sich einen letzten langen Blick über den See. Mortimer ging hinein, und da es ihn fröstelte, beschloss er, erst einmal Feuer im Kamin zu machen. Während er die Holzscheite im Ofen übereinander schichtete, schweiften seine Gedanken in die Vergangenheit. Was

hatte er nicht alles erlebt in seinen 75 Jahren. Schönes und Trauriges, Liebe aber auch tiefen Hass und Zorn. Und Kim war in sein Leben getreten. Ihre Großmutter war einst seine große Liebe und ihre Mutter für ihn wie eine Tochter gewesen. Nach deren beider Tod hatte er sich um die kleine Kim gekümmert, die sein Leben immer mit Sonne erfüllt hatte. Als ein Autounfall die beiden ihm liebsten Menschen so plötzlich aus seinem Leben riss, breitete sich in ihm eine Taubheit und Leere aus, sodass ihm ein Weiterleben unmöglich erschien. Doch da war dieses kleine Mädchen, einem Wirbelwind gleich, und sie hatte nur noch ihn.

„Mein Gott“, dachte er, „25 Jahre ist das jetzt schon her. Wo ist nur die Zeit geblieben?“ So war er zu einer Enkeltochter gekommen. Durch tragische Umstände, sicherlich, aber dennoch hatte sie sein Leben unendlich bereichert. Ja, man könnte sagen, sie hatte ihn gerettet. Er könnte sie nicht mehr lieben, wäre sie von seinem Blut und nun war es an ihm, sie zu retten. Gut, genug gegrübelt, jetzt mussten Taten folgen. Also anrufen. Mittlerweile war es 7.30 Uhr, noch eine halbe Stunde, dann würde er sie aus den Federn schmeißen.



Deutschland, Nähe von Nürnberg

 

Die Sonne schien und es roch herrlich nach Frühling. Kim war froh, heute so früh aufgestanden zu sein. Sechs Uhr war normalerweise nicht so ganz ihre Zeit, doch sie hatte nicht gut schlafen können und sich deshalb zu körperlicher Ertüchtigung aufgerafft. Das Laufen durch den Wald tat ihr gut, die frische Frühlingsluft vertrieb Müdigkeit und Abgeschlagenheit im Nu. Der frühe Morgen hatte etwas Magisches, alles war so still und friedlich, als würde nichts Schreckliches existieren. Kim nahm sich vor, jetzt des Öfteren früher aufzustehen, um ein Teil dieses Zaubers zu sein. Als ihr kleines Häuschen am Rand der fränkischen Schweiz in Sichtweite kam, war es bereits halb acht. Sie blieb kurz stehen und betrachtete vom Waldrand aus ihr Reich, welches sie von ihrer Großmutter geerbt hatte. Es lag abgelegen, ohne direkte Nachbarn und sah mit den kleinen Fenstern und dem verwunschenen Garten aus wie ein Hexenhaus. Die Büsche und Bäume bekamen ihre ersten Blüten, Wiesenblumen reckten sich der so lange entbehrten Sonne entgegen, Vögel lärmten umher, kurz, es war wie ein riesiges Erwachen, ein Durchatmen. Diese Zeit des Jahres gab ihr immer das Gefühl: Alles ist möglich. Mit neuer Energie lief sie über die Wiese nach Hause. Dort angekommen, sprang Kim unter die Dusche, zog sich eine Jeans und einen Pulli über, schlüpfte in ihre Ugg-Boots und machte sich einen Tee. Mit der Tasse in der Hand schlenderte sie nach draußen und genoss die Morgensonne. Jetzt, Mitte April, hatte sie schon richtig Kraft und wärmte nach dem langen Winter nicht nur den Körper, sondern auch die Seele. Wie sie so da stand und die Ruhe genoss, machte sich plötzlich in ihrem Kopf ein merkwürdiges Summen breit. Irritiert schüttelte sie selbigen, und fuhr sich mit den Fingern durch ihr kurzes dunkelbraunes Haar. Doch das Summen wollte nicht verschwinden, ganz im Gegenteil, es nahm an Intensität sogar noch zu. Sie drückte die Hände an ihre Schläfen, so als könnte sie das Geräusch aus dem Kopf herauspressen. Dann war es verschwunden. Genauso unvermittelt wie es aufgetaucht war.

„Mann“, murmelte sie, „was war das denn?“ So was konnte sie im Moment gar nicht gebrauchen. Okay, derlei Dinge kamen nie gelegen, aber heute war ungelegen gar kein Ausdruck. Morgen früh ging ihr Flug nach London und zu Ende gepackt hatte sie auch noch nicht. Sechs Wochen London, und das gegen gute Bezahlung, was hatte sie für einen tollen Job. Als Übersetzerin, Kim beherrschte fünf Sprachen fließend, arbeitete sie oft im Ausland, aber England war immer etwas ganz Besonderes. Und sie liebte London. Krank werden ging jetzt einfach nicht, Ende. Mal sehen, keine Schmerzen, nein, auch nicht wenn sie den Kopf schüttelte. Noch einmal angestrengt in sich hineingehorcht, nichts mehr da. Na also, dann hinein und überlegt, was noch alles in den Koffer gehörte, man wollte ja gut vorbereitet sein. Außer ihrem Job nachzugehen, spielte sie an ein paar Abenden Saxofon im Jazz Club, und da musste Frau gut aussehen. Es stand gerade die Entscheidung zwischen roten Samtwedges oder Tiger-Highheels an, als das Telefon schellte.

„Kim Beck“, schnaufte sie in den Hörer, als er nach einem Treppenanstieg mit anschließender Suche nach dem Telefon endlich in ihrer Hand lag.

„Hast du einen Marathonlauf hinter dir, oder nur wieder das Telefon nicht gefunden?“

„Scotty“, rief Kim hocherfreut, „du kennst mich einfach zu gut. Ich weiß, das klingt jetzt blöd, doch ich wollte dich heute auch noch anrufen. Ab morgen bin ich für sechs Wochen in London und dachte, wir könnten uns treffen.“

„Das ist ja ausgezeichnet, deshalb rufe ich nämlich an. Es sind ein paar Dinge geschehen, über die ich gerne mit dir reden würde“, antwortete Mortimer, von ihr ob seiner Herkunft liebevoll Scotty genannt.

„Was ist los, geht’s dir nicht gut? Bist du krank, ich buche um und komme sofort zu dir!“

„Nein, nein, mir geht’s gut, ich wollte einfach nur über das ein oder andere mit dir reden. Ist schon etwas her seit unserem letzten Treffen.“

„Mann, erschrecke mich doch nicht so, sonst kriege ich irgendwann noch einen Herzinfarkt. Heute Morgen war schon was, das mir echt Angst gemacht hat.“

„Was war denn?“ Kim berichtete über das seltsame Summen in ihrem Kopf und Mortimer ahnte, dass die Zeit drängte.

„Schätze, dass ich so in zwei bis drei Wochen zu dir kommen kann. Lass uns die Tage noch mal telefonieren, bin so ’n bisschen in Zeitdruck heute.“

„Gut, Süße, pass auf dich auf!“ Ein ungutes Gefühl beschlich ihn, hatte er zu lange gewartet? Konnte er sie jetzt so schnell auf all das vorbereiten, was auf sie zukommen würde? Nun, er hatte wohl keine Wahl, und sie auch nicht.

Kim wendete sich wieder der Packerei zu, doch das Telefonat hatte eine merkwürdige Schwere hinterlassen. Ihr Bauch meldete sich, um anzuzeigen, dass irgendetwas nicht so ganz passte, und der hatte bisher immer Recht behalten. Bestimmt war das nur ihre vermaledeite Flugangst, denn fliegen war nicht ihre Lieblingsbeschäftigung. Wie auch immer, was auch immer, London wartete, und eine unbändige Vorfreude vertrieb alle unguten Gedanken.



London

 

Arthur Bramley sah ganz und gar nicht so aus, wie sein altehrwürdiger Name vermuten ließ. Von vornehmer Zurückhaltung bis seriös keine Spur. Er hatte ein markantes Kinn und hohe Wangenknochen. Unter den dunklen, geraden Augenbrauen waren unglaublich grüne Augen zu sehen. Seine leicht lockigen, vollen, schwarzen Haare waren immer ein bisschen zu lang, und seine Klamotten extrem lässig. Es war diese Art von Kleidung, die nicht gleich so aussah, aber alles andere als günstig war. Seine Ausdrucksweise grenzte nach Meinung seines Vaters an verbale Misshandlung, und an den Beruf seines Sohnes mochte dieser gar nicht erst denken. Art, wie sein Umfeld ihn nannte, war mit seinen 32 Jahren bereits leitender Inspektor einer Sondereinheit von Interpol, der ECU. Die "Extraordinary Cases Unit" bearbeitete jene Fälle, welche aus dem Rahmen fielen, und einer ganz besonderen Betrachtungsweise bedurften. Art kam aus so genanntem "guten Hause", doch dementsprechend benommen hatte er sich nie. Dank seiner eigenen Ansichten hatten ihn Stand und Vermögen niemals vom Charakter eines Menschen ablenken können. Klar, es war einfach Geld an zweite Stelle zu setzen, wenn man es im Überfluss besaß, doch da konnte und wollte er nicht aus seiner Haut.

Als Art an diesem Frühlingsmorgen am Fundort der Leiche ankam, war er geneigt, seinem Vater zuzustimmen, was seinen Job betraf. Der Coroner hatte bereits angefangen, die Tote zu untersuchen und Polizisten waren eifrig damit beschäftigt, den Tatort abzusperren.

„Hallo George, kannst du schon irgendwas sagen?“

„Ich kann dir sagen, dass sie zu jung war, um zu sterben. Todeszeitpunkt etwa gegen ein Uhr heute Nacht, Genaueres kann ich erst sagen, wenn ich sie auf meinem Tisch habe.“

„Sieht ganz so aus, als ob unser Freund ‚das Arschloch‘ wieder aufgetaucht ist. Scheiße, wir müssen da endlich weiterkommen.“ Art schaute auf die Leiche der jungen Frau herunter und eine tiefe Traurigkeit legte sich wie ein Tuch über seine Seele. So viele Tatorte, so viele Tote, aber gewöhnen würde er sich an diesen Anblick nie.

„Immer wieder übel, oder?“ George stöhnte während er sich aufrichtete. „Ich bin auch jedes Mal aufs Neue entsetzt, besonders bei diesen Fällen. Die Wievielte ist das jetzt?“

„Die Achte.“ Art rieb sich mit den Händen über die Augen, als könnte er so das Bild vertreiben. Das Mädchen konnte höchstens 21 sein, sah jedoch aus wie eine alte Frau. Einzelne Strähnen in den langen grauen Haaren ließen darauf schließen, dass diese einmal goldblond gewesen waren. Ihre schlanken Finger waren perfekt manikürt und ein dezenter, jedoch teurer Silberring mit einem Rubin zierte den Mittelfinger der linken Hand. Sie trug ein dunkelrotes, sehr geschmackvolles Seidenkleid mit tiefem Ausschnitt und schwarze Pumps. Alles in allem eine sehr gepflegte, schöne Erscheinung. Doch die Haut war runzelig und spannte sich wie Pergamentpapier über die eingefallenen Wangen. Die blauen Augen lagen tief in den Höhlen. Entsetzen und Unverständnis sprachen immer noch aus ihnen, so als könne sie nicht glauben, was da gerade passiert war. Es war immer das Gleiche, dachte Art. Immer junge Frauen und immer sahen sie aus, als wäre ihnen nicht nur das Leben, sondern auch die Seele geraubt worden. Vor ihnen lag eine leere, ausgemergelte Hülle, die einmal eine schöne Frau gewesen war. Doch die Tatorte waren immer unterschiedlich. Dieser war am Themseufer, unterhalb von Tower Hill.

„He, Art, was liegt an?“

„Ian, hast dir ganz schön Zeit gelassen. Er ist wieder da.“ Ian Finnegan war nicht nur Arts Kollege, sondern auch sein bester Freund. Seine roten, immer etwas zerzausten Haare und hellblauen Augen ließen ihn auf den ersten Blick wie einen kleinen Jungen erscheinen. Es waren nicht wenige, die ihn deshalb oft unterschätzten. Der eine oder andere böse Bube wurde da schon schmerzhaft eines Besseren belehrt, denn Ian war ein ausgezeichneter Kämpfer. Was Art jedoch am meisten an ihm schätzte, war seine absolute Loyalität und Zuverlässigkeit. Sie konnten sich beide blind aufeinander verlassen, und das war in ihrem Job die beste Lebensversicherung.

„Ich nehme an, Spuren sind mal wieder in Hülle und Fülle vorhanden“, presste Ian zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, nachdem er sich die Tote angesehen hatte.

„Klar und seine Visitenkarte hat der werte Herr Megaarsch uns auch gleich dagelassen. Mensch Ian, so kann das doch nicht weitergehen, wir treten seit Jahren auf der Stelle. Nie Spuren, kein erkennbarer Rhythmus, immer junge, aber unterschiedlich aussehende Frauen. Mann, ich werd' noch zum Säufer.“

„Wir müssen uns noch mal auf die Todesart stürzen, das ist unsere einzige Konstante. Was sagst du dazu, George?“ George hatte sich etwas bedeckt gehalten, um seine Erschütterung nicht so zu zeigen. Normalerweise konnte er immer einen kühlen Kopf bewahren, machte seine Arbeit, so schlimm sie auch oft war, und hatte kein Problem, den nötigen Abstand zu wahren. Er hatte weiß Gott schon Entsetzliches gesehen, aber diese Fälle hatten etwas an sich, das in ihm den Wunsch aufkommen ließ, sich mit so was Irrationalem zu bewaffnen wie Weihwasser oder Kruzifixen. Die Tote war zum Abtransport bereit und George drehte sich zu Art und Ian um.

„Ich wünschte, ich könnte euch irgendetwas sagen, aber es ist auf den ersten, und ich wette auch auf den zweiten, Blick nichts zu erkennen, das euch weiterhelfen würde.“

„Lasst uns erst mal rausfinden, wer sie war, und dann sehen wir weiter. Hier ist jetzt nichts mehr zu wollen. Wenn die Kollegen der Spurensicherung was finden, werden wir es erfahren. Los komm, Art, fahren wir zur Dienststelle.“

„Fahr schon vor, Ian, ich brauch noch ’n Moment.“

„Ok, wir sehen uns dann da.“

Nachdem Ian gegangen war, stellte sich George neben Art und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Irgendwann wird er einen Fehler machen.“

„Irgendwann ist zu spät. Wie viele Mädchen müssen bis dahin noch sterben, und ich bin dafür verantwortlich?“

„Nein, Art, er ist dafür verantwortlich und nur er. Du hast dich nur dazu entschieden, Monster wie ihn aufzuhalten. Gib nicht auf, sonst hat dieses Schwein auf mehr als nur einer Ebene gewonnen.“ George drückte Arts Schulter und ging.

Art stand da und starrte auf die Themse. Irgendetwas hatten sie bis jetzt übersehen. Er hatte so ein komisches Gefühl, so als wäre es ganz einfach, wenn er nur richtig hinsehen würde. Der Himmel war strahlend blau, die Sonne herrlich warm, und das passte so gar nicht. Weder zu seiner Stimmung, noch zu dem Geschehenen. Ihm musste etwas einfallen, er war doch ein kluges Köpfchen, aber in selbigem herrschte gähnende Leere. Vielleicht sollte er heute Abend in den Jazz-Club bei sich um die Ecke gehen und Ian nötigen, mitzukommen. Es war Freitag und heute spielte eine Band mit einer Saxofonistin aus Deutschland, könnte interessant werden. Außerdem konnte so eine kleine Auszeit oft Wunder bewirken, und sollte er einen Geistesblitz haben, so hatte er ja Ian bei sich, um ihm damit auf die Nerven zu gehen, der wusste nur noch nichts davon. Noch nicht, aber das würde er jetzt ändern.