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Guido Dieckmann

Die Stadt der schwarzen Schwestern

Historischer Roman

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Über Guido Dieckmann

Guido Dieckmann, geboren 1969 in Heidelberg, arbeitete nach dem Studium der Geschichte und Anglistik als Übersetzer und Wirtschaftshistoriker. Heute zählt er als freier Schriftsteller mit seinen historischen Romanen, u.a. dem Bestseller «Luther» (2003), zu den bekanntesten deutschen Autoren dieses Genres. Guido Dieckmann lebt mit seiner Familie in Haßloch in der Pfalz.

 

Weitere Veröffentlichungen:

Die Jungfrau mit dem Bogen

Die Meisterin der schwarzen Kunst

Die Königin der Gaukler

Herrin über Licht und Schatten

Über dieses Buch

Sieben Frauen hüten ein gefährliches Geheimnis.

 

Flandern, 1582: Der König von Spanien sendet Truppen in die aufständischen Niederlande. Auch das Tuchweberstädtchen Oudenaarde wird von den Spaniern eingenommen. Ein Schock für die junge Witwe Griet, die darum kämpft, ein freies, unabhängiges Leben zu führen. Dabei begegnet sie immer wieder dem rätselhaften jungen Spanier Don Luis, der ein auffallendes Interesse an ihr und ihrer Herkunft zeigt. Griet findet Unterschlupf im verlassenen Ordenshaus der schwarzen Schwestern, die nach Jahren des Exils in die Stadt zurückkehren sollen. Aber die sieben Nonnen verschwinden auf ihrer Reise durch die Ardennen spurlos. Gemeinsam mit Don Luis stellt Griet Nachforschungen an. Sie stoßen auf ein Buch – und auf ein tödliches Geheimnis.

Impressum

Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, April 2013

Copyright © 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt

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ISBN Buchausgabe 978-3-499-25937-1 (1. Auflage 2013)

ISBN Digitalbuch 978-3-644-48851-9

www.rowohlt-digitalbuch.de

ISBN 978-3-644-48851-9

Für Philippa

Kapitel 1

Oudenaarde in Flandern, Juli 1582

Dicht gedrängt standen die Menschen vor ihrem Rathaus und sahen zu, wie eine Gruppe Gefangener durch die engen Gassen auf den Grote Markt getrieben wurde. Einigen der Männer und Frauen hatte man die Hände gefesselt, unsicher stapften sie durch den Matsch und rutschten auf den glatten Pflastersteinen aus. In ihrem Rücken blitzte der Stahl spanischer Lanzen auf, mit denen die Kriegsknechte die Schritte der Gefangenen lenkten.

Die ganze Stadt trug Ketten. Alle Tore waren besetzt, über die Mauern liefen fremde Soldaten. Über Nacht waren die Bürger der alten flämischen Tuchweberstadt Oudenaarde zu Gefangenen geworden, die voller Angst einem ungewissen Schicksal entgegensahen. Einige von ihnen trugen Bündel mit Habseligkeiten bei sich, weil sie fürchteten, aus der Stadt vertrieben zu werden, aber die meisten hatten aus Resignation oder Angst ihren Besitz zurückgelassen. Während sich der Gefangenenzug auf das Rathaus zu bewegte, wurde es immer finsterer. Es schüttete bereits seit dem Morgengrauen, der Himmel war bedeckt. Das Laub der Bäume, die vor den Arkaden der hohen Bürgerhäuser standen, rauschte, ansonsten war nicht viel zu hören. Dort, wo normalerweise das Leben pulsierte, wo die Leute Handel trieben oder in ihren Werkstätten beschäftigt waren, war an diesem Tag alles verwaist. Man hatte den Eindruck, als lauere ein Raubtier, das nur darauf wartete, sich auf alles zu stürzen, was sich an jenem trübseligen Vormittag in Oudenaarde regte.

Die Stadt schien den Atem anzuhalten.

Stunden vergingen. Als die Rathaustür endlich aufging, trat eine Handvoll Spanier, die meisten von ihnen im Harnisch, ins Freie. Kurz darauf wurde ein Mann grob über die Schwelle gestoßen. Es handelte sich um Vitus Osterlamm, den abgesetzten Bürgermeister. Während man ihn für gewöhnlich im reichverzierten Brokatmantel durch die Stadt stolzieren sah, trug er jetzt einen einfachen Schnürkittel aus grobem Leinen. Die goldene Amtskette mit dem Siegel der Stadt schleifte hinter ihm her; offensichtlich hatte der Statthalter ihm nicht erlaubt, sie noch einmal anzulegen. Auch eine Kopfbedeckung war ihm verboten worden. Wind und Regen fuhren durch sein schütteres, ergrautes Haar, wirbelten es auf wie das Gefieder einer Krähe. In dem Blick, mit dem er die Menge nach Verbündeten absuchte, lag jedoch noch immer ein Ausdruck von Stolz. Er schien nicht wahrhaben zu wollen, dass sein Amt unwiederbringlich verloren war. Nicht einmal, als er von bewaffneten Söldnern auf ein überdachtes Podest gezerrt wurde, ließ er davon ab, den Statthalter und den König mit Schimpfworten zu belegen. Die Bürger hielten erschrocken den Atem an. Wie konnte er es wagen, in seiner Lage so unvorsichtig zu sein? Hatte er völlig den Verstand verloren? Die Männer im Gefolge des Statthalters lachten über den Tobenden, sie hielten ihn für einen Hanswurst, einen Possenreißer. Erst als der Bürgermeister anfing, wild um sich zu schlagen, zog einer der Waffenknechte seine Peitsche durch Osterlamms Gesicht. Osterlamm schrie auf, Blut spritzte ihm über die Wangen. Dann verstummte er abrupt.

Herzog Alessandro Farnese, der Statthalter des Königs, strahlte neben dem Bürgermeister Ehrfurcht aus. Farnese ging auf die vierzig zu, hatte sich aber Haltung und Auftreten eines jungen Mannes bewahrt. Er war hochgewachsen und stark, weder sein Haupt- noch sein Barthaar wiesen auch nur im Ansatz graue Stellen auf. In seinen schwarzen Augen lag ein Ausdruck von Schläue, der verkniffene Zug um den Mund verlieh ihm etwas Männliches, Entschlossenes. Mit strenger Miene blickte er von dem Podest auf die verängstigten Männer, Frauen und Kinder hinab, die zu seinen Füßen kauerten und darauf warteten, dass er das Wort an sie richtete. Farnese stand im Ruf, ein harter, unerbittlicher Soldat zu sein, Besiegten aber Achtung zu erweisen, wenn er sie der Milde für würdig hielt. Sein Verhältnis zu König Philipp II. von Spanien, seinem Onkel, war bis zu Beginn seines Feldzugs unterkühlt gewesen, doch Farnese war klug genug einzusehen, dass er Spanien brauchte, um seinen Widersacher zu besiegen. Prinz Wilhelm von Oranien hatte sich ein Jahr zuvor zum Statthalter der nördlichen Provinzen der Niederlande erhoben. Da Philipp II. Wert darauf legte, dass Farnese alle Städte unterwarf, die es wagten, dem Habsburger den Gehorsam zu verweigern, war davon auszugehen, dass er Oudenaarde nicht ungeschoren davonkommen lassen würde.

Nachdem Farnese die Leute auf dem Platz eine Weile beobachtet hatte, hob er die Hand. Ein blonder Mann, der für ihn übersetzen sollte, trat zu ihm, aber Farnese schickte ihn mit einer Kopfbewegung fort. Er konnte genug Flämisch, um direkt zu den Bürgern der besiegten Stadt zu sprechen.

«Ihr Leute von Oudenaarde, hört mir zu», erschallte kurz darauf seine Stimme. «Die Stadt ist wieder in der Hand eures rechtmäßigen Königs. Den Schöffenrat, der euch zum Ungehorsam gegen die Krone verführte, erkläre ich für abgesetzt. Vom heutigen Tag an werden keine Ketzergottesdienste mehr innerhalb der Stadtgrenzen geduldet. Die Kirchen werden wieder für die heilige Messe nach römischem Ritus geweiht. Orden, die vor den Gräueln der ketzerischen Geusen geflohen sind, erhalten Gebäude und Privilegien zurück. Eure Zünfte, Bruderschaften und Gilden werden als Buße mit ihrem Vermögen dafür bürgen. Andernfalls sollen sie laut königlichem Erlass aufgelöst und ihre Angehörigen mit dem Tode bestraft werden.»

Einige Männer, die den vornehmeren Familien der Stadt angehörten, fingen an zu murren. Ein scharfer Blick aus Farneses dunklen Augen ließ sie verstummen. Farnese atmete tief durch, dann fuhr er fort zu sprechen. Seine Miene blieb dabei gleichmütig, während sein Ton an Schärfe zunahm.

«Offensichtlich waren die Verfahren der heiligen Inquisition und die Strafgerichte meines Vorgängers Herzog von Alba nicht das Richtige, um euch Niederländern, Gehorsam beizubringen. Aber glaubt mir, ihr werdet wieder lernen, treue Untertanen König Philipps zu sein! Ich habe Mittel und Wege, euch zu zeigen, wem Achtung gebührt und wem sie versagt bleiben muss.» Ein kaltes Lächeln trat auf sein Gesicht. «Diese Medizin schmeckt bitter, aber sie wirkt.»

Ein irres Gelächter unterbrach ihn. Es kam von Osterlamm, der sich die Amtskette über die Handgelenke gelegt hatte und damit rasselte. «Verflucht sei jeder, der sich der spanischen Gewalt beugt», brüllte er mit zornrotem Gesicht. «Soll doch der König von Spanien über sein eigenes Land herrschen, uns hat er nichts mehr zu sagen. Und der Teufel in Rom auch nicht. Wir werden der Union von Utrecht treu bleiben, bis uns Prinz Wilhelm von Oranien zu Hilfe kommt. Er wird dich und deine Truppen in die Nordsee treiben, wo ihr hingehört.»

Osterlamm hatte schnell gesprochen, doch Farnese hatte ihn sehr wohl verstanden. Eine Zornfalte erschien auf seiner Stirn. Rasch flüsterte er seinem Schreiber, einem hageren Burschen, der eine wurmstichige Aktentruhe unter dem Arm trug, etwas ins Ohr, woraufhin der Mann ein Papier ausrollte und mit lauter Stimme Namen aufzurufen begann: «Lodewijk Helinck, Antoon de Moor, Karel Verleyen», hallte es weit über den Platz.

Die Genannten, vornehmlich Ratsherren und einflussreiche Kaufleute, erbleichten. Unruhe ergriff die Menge. Köpfe wurden geschüttelt, Verwünschungen ausgestoßen. Nur zögerlich setzten sich die Männer in Bewegung, um vor den Statthalter zu treten. In der Nähe des Podests wurden ihnen Fesseln angelegt. Die Männer blickten sich entsetzt um, leisteten aber keinen Widerstand. Ihre Gefangennahme konnte nichts Gutes bedeuten. Ein Blick auf den Bürgermeister, der nun ebenfalls in Ketten gelegt wurde, genügte.

«Ludovicus van Keil, Clement Dekens, Jan Cabooter», fuhr der Ausrufer fort.

Einige Bürger, die befürchteten, ebenfalls auf der Liste zu stehen, versuchten, sich heimlich davonzustehlen, doch eine Flucht war aussichtslos. Das Gewirr kleiner Gässchen, das sich hinter dem alten Boudewijnturm auftat, lud zwar dazu ein, unterzutauchen, wurde aber zu gut bewacht. Die spanischen Soldaten hatten Absperrungen errichtet und trieben jeden Stadtbewohner, der zu entkommen versuchte, mit Schlägen und Tritten auf den Rathausplatz zurück. Dort wurden sie von ihren Nachbarn beschimpft. Sollte ein Blutbad vermieden werden, musste das Volk dem Statthalter gehorchen.

 

Griet Marx stand weit hinten im Gedränge. Eingepfercht zwischen schwitzenden Leibern, bekam sie kaum Luft. Neben ihr stand ihr Schwiegervater Frans, der krank war und sich nur mit Mühe auf den Beinen hielt. Sooft der Schreiber den Mund aufmachte, um einen Namen in die Menge zu rufen, bemerkte sie, wie der Alte erschrocken zusammenfuhr. Die Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben.

Griet sprach ihm leise Mut zu, fühlte sich aber selbst vollkommen hilflos. Frans Marx war Teppichweber, über viele Jahre war er allerdings auch Ratsherr der Stadt gewesen. Mittlerweile war er ein alter, gebrechlicher Mann. Griet konnte sich nicht vorstellen, dass die Spanier von ihm etwas wollten.

Griet zog sich mit dem alten Mann zusammen vorsichtig unter das Vordach des Brunnens zurück, wo sie Schutz vor dem Regen zu finden hoffte. Griets Schwiegermutter Hanna hatte sich hier bereits einen Platz erkämpft. Bei ihr befanden sich Griets kleiner Sohn Basse sowie dessen Kinderfrau Beelken. Sie sahen mitgenommen aus. Kurz vor Tagesanbruch hatten vier Soldaten sie aus dem Haus gezerrt und unter Flüchen und Drohungen durch die Gassen gejagt. Die Söldner hatten sie nicht beraubt, waren aber auch keineswegs sanft mit ihnen und ihrer Habe umgesprungen. Frans Marx hatte einen Stiefeltritt in den Bauch abbekommen, weil er nicht schnell genug aufgestanden war, und Beelken, die es gewagt hatte, Basses Milchkrug hinter ihrem Rücken zu verstecken, hatten die Kriegsknechte das dünne Unterkleid mit dem Degen zerfetzt, bis Blut über ihren Bauch gelaufen war. Griet hatte in dem Durcheinander nur noch Zeit gefunden, ihre Witwenhaube vom Haken zu reißen und ihr langes, kupferrotes Haar darunter zu verbergen, bevor einer der Söldner auf sie aufmerksam werden konnte.

Sie musste an ihren Mann Willem denken. Willem, einer der begabtesten Teppichweber Flanderns, hatte innerhalb seiner vier Wände zu heftigen Wutausbrüchen geneigt. Wäre er noch bei ihnen gewesen, hätte er sich den Kriegsknechten nicht kampflos ergeben. Mit bloßen Fäusten hätte er sich auf die Männer gestürzt, hätte auf sie eingeprügelt und somit das Todesurteil für die gesamte Familie unterschrieben. Zeit seines Lebens war er gedankenlos gewesen. Stark wie ein Bär und geschickt bei allem, was er anfasste, aber gedankenlos. Griet wusste nicht, ob sie dem Himmel dafür danken oder ihm zürnen sollte, dass er ihr in dieser Zeit der Not, des Krieges und Aufruhrs den Ehemann genommen und sie mit dem kleinen Basse allein zurückgelassen hatte. Und mit Frans Marx, der sich dicht an sie drängte. Auf Frans konnte sie nicht zählen; der Kummer um den Verlust seines einzigen Sohnes hatte ihn krank gemacht.

Griet blickte sich um. Ihre Anverwandten standen zitternd beisammen und starrten sie an, als erwarteten sie ausgerechnet von ihr Trost. Warum von ihr? Sie war immer für schwach und kränklich gehalten worden, die Freunde ihres Mannes hatten sie als Edelfrau verspottet, die nicht zupacken konnte und daher als Meisterin in einer Manufaktur ungeeignet war. Weder Frans noch sein Sohn hatten ihr nach der Geburt des Kindes erlaubt, sich mit dem Handwerk zu befassen, obwohl sie mehr von der Kunst der Teppichweberei und dem Handel mit Verdüren verstand als die meisten Zunftgenossen. Auch ihrer Schwiegermutter war sie immer nur im Weg gestanden. Erst als Willem mit anderen jungen Männern auf die Stadtmauer geschickt worden war, hatte Frans ihr erlaubt, in den Auftragsbüchern nach dem Rechten zu sehen und sich bei den Webstühlen um alles zu kümmern, sodass die Produktion weitergehen konnte.

Mit Begeisterung hatte sie sich in die Arbeit gestürzt. Seit sie als kleines Mädchen zum ersten Mal eine Manufaktur betreten hatte, liebte sie die Vielzahl bunter Garne, die Seide und die feinen Gewebe, die zur Herstellung von Wandbehängen verwendet wurden. Dann war Willem verletzt nach Hause gebracht worden, ein feindliches Geschoss hatte ihn am Kopf getroffen. Eine Weile hatte er noch gegen das Wundfieber gekämpft, doch nachdem der Priester gegangen war, der das Sakrament der letzten Ölung gespendet hatte, war Griet klar geworden, dass Willem sterben würde. Kurz nach seinem Tod fiel auch die Stadt. Den abschließenden Kampf um die Brücke, die Sprengung des Haupttores und den nur wenig später aufbrausenden Lärm vor ihren vernagelten Fenstern hatte Griet wie einen bösen Traum wahrgenommen. Während ihre Angehörigen durcheinandergeschrien hatten, war sie an Willems Sterbebett sitzen geblieben und hatte das blasse Licht der Totenkerze angestarrt. Es war von Anfang an töricht gewesen, auf den Bürgermeister zu vertrauen, der geglaubt hatte, die spanischen Truppen vertreiben zu können. Natürlich gab es noch einige Städte in Flandern und Brabant, die dem König Widerstand leisteten, aber diese verfügten über erfahrenes Kriegsvolk, Waffen und starke Befestigungsanlagen. In Oudenaarde verstand man sich auf Tuchmacherei und Kunsthandwerk, wie man Stadtmauern verteidigte, wusste niemand im Schöffenrat.

Gegen Abend zündeten die Spanier Öllampen und Fackeln an, mit denen sie ihre Gefangenen in Schach hielten. Ihr Schein tauchte den Platz und das hohe, stolze Rathaus in ein mildes Licht. Einige aus der Gruppe begannen zu schwanken, sie konnten sich nicht mehr auf den Beinen halten. Doch sobald jemand auf das Pflaster sank, war ein Soldat zur Stelle, der ihn mit Lanzenstößen zwang, wieder aufzustehen.

Griet presste die Lippen aufeinander. Wann immer die Wachen gerade wegschauten, schöpfte sie eine Handvoll Wasser aus dem Brunnen, um Basse trinken zu lassen. Wie so oft, wenn Griet unruhig wurde, spürte sie auch an diesem Abend ein unheilvolles Ziehen und Brennen in ihrem rechten Arm. Er hing schlaff an ihrem Körper herab, als gehörte er nicht zu ihr. Kein Wundarzt hatte ihr je erklären können, warum sie in ihm keine Kraft hatte. Nach ihrer Hochzeit war sie im ganzen Land umhergereist, um sich von gelehrten Männern untersuchen zu lassen, und war doch nur jedes Mal bitter enttäuscht nach Hause zurückgekehrt. Dann hatte Willem ihr verboten, weitere Heilkundige aufzusuchen. Er befahl ihr, sich damit abzufinden, dass ihr Arm verkrüppelt war. Also fügte sie sich in ihr Schicksal. Bei der Hausarbeit gingen ihr Mägde zur Hand, und ihre Pflichten im Ehebett konnte sie auch mit einem Arm erfüllen. Insgeheim war Griet jedoch die Befürchtung nie ganz losgeworden, Willem könnte sie wegen ihrer Behinderung nicht als vollwertige Frau ansehen, sondern lediglich als liebgewonnenen Gegenstand dulden.

Bei dem Gedanken an Willem ließ Griet die Hand ihres Schwiegervaters los. Trotz ihres eigenen Unwohlseins entging ihr nicht, wie die Aufregung ihres Schwiegervaters wuchs. Sie musste an die zehn Männer denken, die ins Rathaus geschleppt worden waren. Dies war nun schon Stunden her. Offenbar waren sie als Geiseln ausgewählt worden, um der stolzen Bürgerschaft beizubringen, wer von nun an in Oudenaarde das Sagen hatte. Oder um mitzuteilen, wie hoch das Lösegeld war, das Farnese aus der Stadt herauszupressen gedachte. Reichte es Farnese, um seine Soldaten bezahlen zu können, kam die Stadt vielleicht glimpflich davon. Vorausgesetzt, die Ratsherren unterwarfen sich und benahmen sich nicht so verstockt wie Osterlamm. Als Griet diese Vermutung ihrem Schwiegervater zuflüsterte, traf sie ein leichter Rippenstoß, der sie gegen ihre Schwiegermutter prallen ließ.

«Was soll das?», beschwerte sie sich bei der Frau, die sich mit ausgebreiteten Ellenbogen an ihr vorbeidrängte. «Könnt Ihr nicht aufpassen?» Die Frau mit dem groben Gesicht kam ihr bekannt vor, sie gehörte zu den Marktkrämerinnen, die vor der Lakenhalle, dem alten Gildehaus der Tuchmacher, oder am Fleischhaus Wurst auf langen Planken verkauften.

«Ihr gehört doch zu denen, nicht wahr?», zischte die Frau. «Euretwegen versauern wir hier, und Gott allein weiß, ob die Spanier uns gehen lassen oder aber niedermetzeln wie die armen Teufel in Antwerpen. Ich war dort vor sechs Jahren, mittendrin in dieser Hölle aus Feuer und Tod. Ich weiß, wovon ich rede. Man sollte Euch einen Kopf kürzer machen, weil Ihr die Tore nicht früher öffnen lassen wolltet.»

Griet holte tief Luft. Was fiel der unverschämten Frau ein? Sie wollte erwidern, dass das alles Hirngespinste seien und niemand etwas zu befürchten habe, der den Anordnungen der Spanier folgte. War es nicht ein gutes Zeichen, dass Alessandro Farnese seinen Söldnern die Erlaubnis zur Plünderung verweigert hatte, nachdem die Stadttore gefallen waren? Seither waren zwei Tage vergangen. Zwei volle Tage, in denen nicht eine Tür aufgebrochen worden war. Nachdem das spanische Fußvolk und die Reiterei das südliche Stadttor eingenommen hatten und in die Stadt eingedrungen waren, um Türme, Bastionen sowie das alte Kastell zu besetzen, hatten sie gleich darauf einen Boten losgeschickt. Er war durch die Hoogstraat, die Nederstraat und die Viertel am Hafen der Schelde gezogen, um den verunsicherten Bürgern von Oudenaarde zu verkünden, dass keinem etwas zustoßen würde, der in seiner Stube blieb. Lediglich ihre Musketen und Degen mussten sie vor die Tür werfen und sich ruhig verhalten.

«Ihr Tuchmacher werdet mit den Spaniern verhandeln und dann Euren Geldsack öffnen, damit Eure Häuser und Kornspeicher verschont bleiben», ereiferte sich die Frau. «So ist das doch schon immer gewesen. Der Dukatensack regiert das Land. Aber was wird aus uns? Uns bleibt nur der Bettelsack, wenn wir nicht bezahlen können, was die Spanier verlangen.»

Ein paar Leute, ihrer Kleidung nach Gerber aus den ärmeren Vierteln, nickten zustimmend. Erschöpft und verängstigt wandten sie sich nun gegen diejenigen, die sie für die Niederlage der Stadt verantwortlich machten. Dabei war der alte Marx stets bemüht gewesen, sich aus dem Streit der Parteien im Rat herauszuhalten. Er und seine Frau besuchten sonntags die Messe und hatten darauf bestanden, dass ihr Enkel in die Register der Sint-Walburgakerk aufgenommen worden war, obwohl sie insgeheim mit dem Glauben der Calvinisten sympathisierten. Marx hatte auch nicht dafür gestimmt, dass die Stadt dem Prinzen Farnese Widerstand leisten sollte, seinen Sohn hatte er nur widerstrebend auf die Mauern gehen lassen. Das alles schien in dieser Stunde der Not keine Rolle mehr zu spielen. Griet stockte der Atem, als zwei Soldaten sich einen Weg durch die Menge bahnten. Sie steuerten geradewegs auf Frans Marx zu und nahmen ihn fest, ohne auf Griets Protest zu achten. Jemand musste verraten haben, dass auch er zu den Ratsherren gehörte.

Lange Zeit geschah gar nichts. Die Wartenden mussten weiter auf dem Platz ausharren, nach einer Weile erlaubten die spanischen Soldaten immerhin, dass ein paar Frauen Wasser aus dem Brunnen schöpften. Dann bemerkte Griet, wie sich mehrere Karren ihren Weg durch die Menge bahnten. Sie waren mit Wandbehängen beladen, deren Seidenfäden im Licht der untergehenden Sonne grünlich schimmerten. Vor dem Eingang sprangen Diener herbei, um die kostbaren Stücke abzuladen und ins Rathaus zu schaffen. Griet hielt die Luft an, als sie auch Bordüren aus der Manufaktur ihrer Familie erkannte.

Hanna Marx stellte sich mit gefalteten Händen neben ihre Schwiegertochter. «Sie werden Frans und den anderen Herren doch nichts antun?», fragte sie ängstlich. «Der Statthalter ist ein vernünftiger Mann, das hört man doch überall. Er wird den Ratsherren ins Gewissen reden und sie dann entlassen, nicht wahr?»

Griet gab eine ausweichende Antwort, die ihre Schwiegermutter aber zu beruhigen schien. Sie stellte keine Fragen mehr, die Griet ohnehin nicht beantworten konnte. Griet war froh darüber, denn sie befürchtete, dass die Stadt doch nicht so glimpflich davonkommen würde. Um die alte Frau abzulenken, fragte sie, was es mit den Wandbehängen auf sich hatte, die ins Rathaus gebracht worden waren.

«Ich weiß es nicht», erwiderte Hanna. «Ich habe nur gehört, dass die Teppiche in der Kapelle des Spitals hinter dem Kloster St. Magdalena aufbewahrt wurden. Frans sagte, sie seien alles, was wir dem Statthalter bieten könnten. Die Verteidigung der Stadt hat den Rat mehr Geld gekostet, als wir dachten. Und Antwerpen und Gent blieben uns bis heute die versprochene Hilfe schuldig.» Ihre Augen füllten sich mit Tränen. «Ach, ich glaube, das Weib vorhin hatte nicht ganz unrecht. Hätten wir uns doch nur gleich ergeben und die Tore freiwillig geöffnet. Willem würde noch leben. Die Spanier sind zornig, weil sie so lange vergeblich gegen unsere Mauern angerannt sind und dabei viele ihrer Söldner verloren haben. Es war ein Fehler, sich gegen die spanischen Habsburger zu erheben, nur weil der Adel aus dem Norden seine alten Privilegien bedroht sah. Was haben wir mit denen zu schaffen? Wir sind nur einfache Weber und Tuchmacher.»

Griet schluckte. Jetzt konnte sie für Frans und die anderen nur hoffen, dass der Statthalter sich ebenso für Wandteppiche begeisterte wie König Philipp. Mitten in ihren düsteren Gedanken erschien der Statthalter an einem der obersten Fenster des Rathauses. Er rief der Menge etwas zu, was Griet aber nicht verstehen konnte. Als Nächstes hörte sie einen gellenden Schrei und sah, wie etwas aufblitzte. Dann schoben mehrere Hände einen zusammengerollten Teppich aus dem Fenster. Als dieser sich plötzlich bewegte, ertönten mehrere Aufschreie. Zu ihrem Entsetzen erkannte Griet, dass die Spanier einen Mann in den Wandbehang eingerollt hatten. Hilflos musste er nun ertragen, Stück um Stück über die Brüstung hinausgeschoben zu werden.

Barmherziger Gott, dachte Griet, als ihr klar wurde, was der Statthalter sich ausgedacht hatte. Sie sah, wie ein Seil um ein Teppichende gebunden und die Schlinge an einer der beiden Fahnenstangen unterhalb der Fensterbrüstung befestigt wurde. Wenige Augenblicke später baumelte der Mann hilflos und für jedermann sichtbar an der Fassade des Rathauses. Obwohl der in den Teppich Eingerollte nicht sehen konnte, wo er sich befand, schien er zu spüren, dass er mehrere hundert Fuß über dem Pflaster in der Luft hing. Er fing sich hektisch zu bewegen an, doch damit erreichte er nur, dass die Schlinge immer näher auf das Ende der Stange zu rutschte.

Griet erschauerte, während Hanna neben ihr panisch die Hände rang. Ihre Lippen formten lautlos den Namen ihres Mannes.

Großer Gott, durchfuhr es Griet. War er es? Steckte Frans in dem Teppich?

Um sie herum begann sich Widerstand gegen das brutale Vorgehen des Statthalters zu regen. In flämischer und auch in spanischer Sprache wurden Flüche ausgestoßen. Nur wenige Schritte von Griet entfernt hoben einige junge Burschen Steine und Erdklumpen auf und warfen sie auf die Rathausfenster und die spanischen Soldaten. Griet wurde angerempelt und grob gegen den Brunnenrand gedrückt. Mit ihrem lahmen Arm hatte sie der aufgebrachten Menge wenig entgegenzusetzen. Beelken kämpfte sich mit Basse zu ihr durch, das Gesicht des Mädchens war kalkweiß. Basse schrie wie am Spieß und streckte seine Ärmchen nach Griet aus, doch sie fühlte sich zu schwach, um den Jungen auf den Arm zu nehmen.

«Stell dich hinter mich», rief sie Beelken zu. Obwohl sie wusste, dass dies im Falle einer Panik nicht viel nützen würde, schob sie die Kinderfrau näher an den Brunnen heran. Dann blickte sie wieder zu den Fenstern hinauf. In der Schöffenstube, hinter den winzigen Butzenscheiben, glaubte sie, einen hellen Feuerschein wahrzunehmen.

«Seht, sie verbrennen ihn», kreischte eine Frau vor ihr und deutete hinauf. «Gott sei seiner Seele gnädig!» Aus dem Fenster fuhr eine Faust mit einer Fackel heraus und berührte den Wandteppich, der sogleich Feuer fing. Der Mann im Innern des Teppichs stieß verzweifelte Schreie aus, die aber von dem anhaltenden Lärm auf dem Platz und einer Anzahl von Fanfarenstößen übertönt wurden. Wenige Augenblicke später riss das Seil, und der Teppich fiel auf den Platz hinunter. Kreischend sprangen die Menschen auseinander, um nicht von dem brennenden Wandbehang erschlagen zu werden.

Griet rührte sich nicht; ihre Füße schienen sich in Blei verwandelt zu haben. Erschüttert sah sie mit an, wie ein weiterer verschnürter Teppich über die Fensterbrüstung gehoben und in die Tiefe geworfen wurde, und dann noch einer und noch einer. Jeder Aufprall wurde von Entsetzensschreien aus der Menge begleitet.

Längst hatten die jungen Burschen ihren Widerstand gegen die spanischen Wachsoldaten eingestellt; statt sich weiter nach Steinen zu bücken, standen sie nun kleinlaut beisammen oder tauchten gleich ganz in der Menge unter. Griet vermochte nicht zu sagen, wie lange das Strafgericht dauerte; als der Herzog schließlich wieder am Fenster erschien und die Urteile über die aufsässigen Ratsherren für vollstreckt erklärte, war sie einer Ohnmacht nahe. Mit letzter Kraft zwang sie sich, nach ihrer Familie Ausschau zu halten. Sie fand Beelken auf die Knie gesunken, Basse fest umklammernd. Die junge Frau drückte seinen Kopf gegen ihre Brust, um den Jungen von den Geschehnissen abzuschirmen. Er wimmerte leise und versuchte, sich aus Beelkens Griff zu befreien, doch es schien ihm nichts zu fehlen. Griet beugte sich zu ihm hinunter und streichelte ihm über den Kopf.

Als die Soldaten den Familien und Freunden erlaubten, die Leichen der Ratsmitglieder auf Karren zu laden und wegzubringen, taumelte Hanna Marx schluchzend auf Griet zu. Sie wollte nicht allein zum Rathaus hinübergehen, um unter den Toten nach Frans zu suchen.

Griet musste ihre Schwiegermutter stützen, die Beine der alten Frau zitterten so stark, dass sie kaum vorwärtskam. Dabei bemühte sie sich verzweifelt, den Qualm zu ignorieren, der von den Überresten des ersten Hingerichteten aufstieg. Hastig schlug sie einen Ärmel vors Gesicht. Doch der schreckliche Gestank schien sich sofort in ihr Gewand, in ihr Haar, ja selbst in ihre Haut einzunisten. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Coen und Adam, die Söhne des Bürgermeisters, mit Hilfe eines Knechts ein Brett herbeischleppten. Vor dem verbrannten Teppich legten sie es nieder. Adam zog etwas aus dem Aschehaufen, das wie ein Ring aussah, und zeigte es seinem jüngeren Bruder Coen, der nach Luft schnappte, bevor er langsam dem Knecht zunickte. Die beiden jungen Männer, deren Leben sich, wie allseits bekannt war, bislang nur um Wirtshäuser und das weibliche Geschlecht gedreht hatte, standen wie betäubt vor den Überresten ihres Vaters. Griet erinnerte sich an den Ring, den der Bürgermeister stolz am Finger getragen hatte. Auf ihm war das Wappen der Stadt eingraviert, eine Initiale, die wie eine Brille aussah und zu Weisheit und Vorsicht mahnen sollte.

Der Anblick der trauernden Menschen, mit denen sie schon so lange in Nachbarschaft lebte, erfüllte Griets Herz mit tiefem Kummer. Wie würde Hanna es verkraften, wenn sie auf Frans stießen? Wie viele Wandbehänge würden sie aufrollen müssen, bevor sie seinen blutigen Leichnam fanden?

Am liebsten wäre Griet fortgelaufen und in der Nacht untergetaucht, aber sie konnte Hanna unmöglich allein lassen. Warum bei allen Heiligen hatte Alessandro Farnese die Männer so hart bestraft? Gewiss, Osterlamm war kein angenehmer Mensch gewesen. Als eifernder Calvinist hatte er zugelassen, dass Kirchen und Klöster entweiht, Kunstwerke von großem Wert zerstört und missliebige Ordensleute aus der Stadt vertrieben worden waren. Kaum drei Jahre war es her, dass Osterlamm und seine Söhne bewaffneten Rebellen aus Gent die Stadttore geöffnet hatten. Diese hatten den alten Schöffenrat, der mehrheitlich aus Katholiken bestand, davongejagt und einen neuen eingesetzt, der jeder Entscheidung zustimmte, die Osterlamm traf. Ebenso hatte er das verhängnisvolle Bündnis mit den sieben nördlichen Provinzen und den Truppen des Rebellen Wilhelm von Oranien vorangetrieben. In den Augen des spanischen Königs galt das als unerhörter Verrat, der nun grausam bestraft worden war. Dennoch empfand Griet es als geradezu teuflisch, den gesamten Rat aus den Fenstern des eigenen Rathauses zu Tode stürzen zu lassen. In Wandteppichen, die aus den Manufakturen der Verurteilten stammten. Griet zitterte, als sie sich das listige Lächeln des neuen Statthalters in Erinnerung rief.

Farnese war ein herzloses Ungeheuer, keine Frage. Er und seine Soldaten waren ebenso für Willems Tod verantwortlich wie für den der Ratsherren, und nun hatte er ihr auch noch den Schwiegervater genommen. Ohne ihn würde die Teppichweberei den nächsten Winter nicht überstehen.

«Lass uns weitersuchen», bat Hanna Marx, die Griets Zögern bemerkt hatte. «Frans war mir viele Jahre lang ein guter Mann. Er verdient es, dass wir ihm die letzte Ehre erweisen.» Hanna hatte kaum zu Ende gesprochen, als sie sich mit einem Schrei an den Hals griff. Dann stürzte sie auf eine Gestalt zu, die bleich, aber unversehrt aus der Rathaustür trat, und fiel ihr laut weinend um den Hals.

Es war Frans Marx. Er lebte.

Kapitel 2

Obwohl es schon weit nach Mitternacht war, brannten in der Wohnstube des Teppichwebers Marx noch alle Lampen. Griet und ihre Schwiegereltern hatten sich um den Eichentisch versammelt, an dem sonst nur sonntags oder an Feiertagen der Weberzunft gespeist wurde. Schweigend blickten sie auf die Schüssel mit kaltem Hammelfleisch, aber keiner rührte das Essen an. Zu tief saß allen der Schreck in den Gliedern. Hanna griff immer wieder nach der faltigen Hand ihres Mannes, als müsse sie sich davon überzeugen, dass sie auch kein Gespenst mit nach Hause genommen hatte. Wie alle war sie davon ausgegangen, dass Frans mit den anderen Ratsmitgliedern aus dem Fenster geworfen worden war. Von den Verurteilten hatte nur ein einziger, der Gewandschneider Hendryk van Porten, den Todessturz überlebt. Mit vielfach gebrochenen Gliedern war er in einer Karre fortgebracht worden; niemand wusste, wohin.

«Ich bin zu müde, ich kann nicht mehr denken!» Sooft jemand die Sprache auf das Strafgericht brachte, wehrte Frans ab. Griet wollte den alten Mann keineswegs quälen, dennoch fiel es ihr schwer, ihre Neugier zu zügeln. Was mochte den Statthalter bewogen haben, Frans Marx zu verschonen? Hatte er mit ihm geredet? Oder eine Forderung gestellt?

Eine Weile später, Hanna wollte schon aufstehen, um ihrem Mann in die Schlafkammer zu helfen, fing Frans doch noch zu sprechen an.

«Zunächst dachte ich, der Statthalter wollte verhandeln», sagte er leise. «Er erkundigte sich nach unseren Geschäften und Familien, wollte wissen, wie lange wir in der Stadt ansässig seien und ob wir bereit wären, wieder die Messe zu hören. Aber damit konnte er mich nicht täuschen. Mir war klar, dass er den Schöffenrat vernichten würde. Und dann fing Osterlamm wieder an, herumzuschreien und auf Farnese loszugehen. Man hätte ihn nicht nur fesseln, sondern auch knebeln sollen. Ich habe nie zuvor einen Menschen so wüten gesehen. Als wäre der Leibhaftige persönlich in ihn gefahren. Wäre Osterlamm nicht gewesen, hätten die anderen Ratsherren vielleicht eine Chance gehabt, mit dem Leben davonzukommen. Aber der Wahnsinnige riss sie mit ins Verderben. Er verriet Farnese, wer die Urkunde unterschrieben hatte, in der sich die Stadt der Utrechter Union unterstellt. Anschließend beschimpfte und bedrohte er Farnese von neuem. Er sei ein verdammter Papist, der zur Hölle fahren würde, und habe sich das Amt des königlichen Statthalters mit Lug und Trug erschlichen. Die eigene Mutter würde er wie eine Gefangene in Namur festhalten, aber die sei schließlich auch nur eine Höllenhure, kaum besser als er selbst. Und Farneses Großmutter sei ein armseliges Dienstmädchen gewesen, das den Kaiser verhext habe, um nicht in einem öden Loch versauern zu müssen. Mir wurde ganz anders, als ich ihn so viel Gift versprühen hörte.»

Frans holte tief Luft, bevor er weitersprach. «Nachdem er den Statthalter beleidigt hatte, erklärte er, dass die Spanier verschwinden sollten und dass König Philipp seine alten Rechte an den Provinzen Flandern, Holland und Brabant längst eingebüßt hätte. Einige der Ratsherren versuchten vergeblich, Osterlamm zu beschwichtigen, aber es war zu spät.» Frans schob die Schüssel mit Eintopf zur Seite, ließ es aber zu, dass Griet ihm den Becher mit dunklem Bier füllte. Gierig trank er, als gelänge es ihm auf diese Weise, die furchtbaren Erinnerungen fortzuspülen. Ein dünnes Rinnsal lief über sein stoppeliges Kinn.

«Der Statthalter gab sich zunächst unbeeindruckt. Er beachtete Osterlamm gar nicht. Aber ich bemerkte, wie der Mann innerlich kochte. Von einem Kerl wie Osterlamm lässt sich der Herzog von Parma und Neffe des spanischen Königs nicht angreifen.»

«Ein Heuchler ist er», platzte es aus Griet heraus. Verbittert stellte sie den Bierkrug auf ein Regal über der großen Truhe. «Farnese hatte sein Urteil gesprochen, noch bevor sein Schreiber die Ratsherren aufrief, zu ihm ins Rathaus zu kommen. Er ist ein Tyrann vom Schlag seines Vorgängers Alba. Nein, schlimmer. Herzog von Alba kam in die Niederlande, um uns in die Knie zu zwingen, das hat auch Willem immer gesagt. Seine Gerichte schickten Tausende aufs Schafott. Wenigstens gab er sich nicht den Anschein eines gerechten Richters und spielte mit uns.»

«Alessandro Farnese hat seinen Soldaten bei schwerer Strafe verboten, Oudenaarde zu plündern», gab Frans Marx leise zu bedenken. «Dies hätte Alba niemals getan, der ließ seine Männer wie die Teufel hausen. Vergiss nicht, dass Farneses Mutter in Oudenaarde zur Welt kam. Das verbindet ihn mit uns Flamen auf ewig. Es gibt ein paar Familien, die sich noch an Margarethe erinnern, und obwohl der Statthalter durch und durch Italiener ist, könnte seine Herkunft für uns von Bedeutung sein. Er wird schon aus taktischen Gründen nicht zulassen, dass die Heimat seiner Vorfahren wirtschaftlich weit hinter Antwerpen oder Amsterdam im Norden zurückfällt.» Frans atmete schwer. Sein Gesicht nahm einen gequälten Ausdruck an, der Griet nicht gefiel. Ihr entging nicht, wie oft die linke Hand des Teppichwebers zum Herzen wanderte. Farnese mochte sein Leben geschont haben, innerlich aber war Frans Marx gebrochen. Ein Greis. Unruhig blickte Griet zu den hohen, gerundeten Fenstern, die ein Knecht sofort nach ihrer Rückkehr mit Brettern vernagelt hatte. Unter anderen Umständen hätte sie nach einem Arzt geschickt, damit er nach Frans sah, aber dem einzigen Mann, dem sie solchen Mut zutraute, mitten in der Nacht durch eine von Kriegsvolk besetzte Stadt zu laufen, war der alte Karel Bloemhuis aus Leiden, und der lebte am anderen Ufer der Schelde, bei der Kirche von Pamele.

«Vielleicht hat der Statthalter mich laufen lassen, weil ich der Älteste war», murmelte Frans Marx. «Ein gebrechlicher Greis, dessen einziger Sohn schon auf dem Friedhof liegt, kann den Spaniern kaum gefährlich werden.» Er lächelte schwach. «Als die Reihe an mir war, flüsterte ein junger Spanier dem Statthalter etwas zu, worauf dieser mich kurz musterte, dann aber in den Raum nach nebenan schickte. Dort wartete ich, bis der junge Mann kam und mir sagte, ich könnte nach Hause gehen. Es wäre mir sehr viel wohler, wenn ich wüsste, warum ich verschont wurde.»

«Wer war dieser Spanier?», fragte Griet nachdenklich.

«Hör endlich auf, dir den Kopf darüber zu zerbrechen!» Hanna Marx warf Griet einen Blick zu, der sie warnte, sich in Männerangelegenheiten einzumischen. Frans war verschont worden, er war bei ihnen und konnte, sobald es ihm besser ging, wieder in der Manufaktur arbeiten. Das allein zählte, war es da noch wichtig zu erfahren, warum der Statthalter ihn hatte laufen lassen? Schon morgen früh, wenn die Sonne aufging, würde das alte Haus wieder zu atmen anfangen. Wie ein Kind freute sich Hanna darauf, in aller Frühe aufzustehen, um in der Speise- und Wäschekammer für Ordnung zu sorgen. Vermutlich würde Alessandro Farnese die Bürger zu Einquartierungen zwingen. Wenn sie keine Vorräte anlegten, würden ihnen die Spanier bis zum Winter die Haare vom Kopf fressen.

Nachdem Hanna ihrem Mann geholfen hatte, sich ins Bett zu legen, rief sie Beelken und eine ältere Dienstmagd aus ihren Kammern, damit sie ihr trotz der späten Stunde halfen, die Stube aufzuräumen. Nichts sollte mehr an die vergangenen Stunden voller Angst und Schrecken erinnern. Hanna beschloss, diesen Tag einfach aus ihrem Kopf zu verbannen, als habe es ihn nie gegeben.

Als Griet bemerkte, dass die junge Beelken sich kaum noch auf den Beinen halten konnte, nahm sie ihr kurz entschlossen den Besen aus der Hand, schickte sie zu Bett und fegte die Scherben zerbrochener Schalen und Tiegel, welche die Eindringlinge rücksichtslos zu Boden geworfen hatten, allein auf. Niemandem war geholfen, wenn das Mädchen krank wurde, nur weil Hanna beschlossen hatte, die Augen vor der Wirklichkeit zu verschließen.

Beelken lächelte sie an. «Aber Frau Griet, schmerzt Euer Arm nicht zu sehr?», erkundigte sie sich mitfühlend. Griet schüttelte den Kopf. Der Anflug von Schmerz, den sie auf dem Marktplatz im Arm gespürt hatte, war längst vorbei. Nun fühlte er sich wieder taub und nutzlos an wie sonst auch. Doch zum Fegen genügte auch die linke Hand. Energisch fuhr der Besen über den Dielenboden. Beelken wünschte eine gute Nacht und verschwand in ihrem Zimmerchen, einer Abseite hinter der Küche, die sie mit Basse teilte. Der Junge schlief längst. Vor Erschöpfung waren ihm die Augen zugefallen, kaum dass Griet ihn ins Bett gelegt hatte.

Als es im Haus endlich still war, zog sich auch Griet zur Nachtruhe zurück. Nachdenklich sah sie sich in den beiden Räumen mit den niedrigen, buntbemalten Holzdecken um, die sie gleich nach ihrer Hochzeit mit Willem bezogen hatte. Oft waren sie hier nicht allein gewesen. Solange Willem noch gelebt hatte, hatten sich bei Tagesanbruch Weber und Freunde, Dienstboten und Familienangehörige in der Stube eingefunden, um an langen Bänken ein gemeinsames Frühstück einzunehmen. Hier war gelacht und geschimpft, beratschlagt und sogar gefeiert worden. Basse hatte nach Milch geschrien, seine Großmutter über teures Fleisch, faules Gemüse und freche Krämerinnen geklagt. Zuweilen hatte Willem hier seinen Arm um Griets Taille gelegt und ihr versprochen, eines Tages ein eigenes Haus zu bauen oder vielleicht sogar in eine andere Stadt mit ihr zu ziehen. Nach Antwerpen oder Brügge, wo die Teppichweber auch nicht schlecht lebten. Griet schluckte bei dem Gedanken, so weitermachen zu müssen wie bisher und keinen Mann mehr an ihrer Seite zu haben, der ihr eine Zukunft versprach. Es graute ihr davor, morgen früh aufzustehen und festzustellen, dass alle ihr Leben weiterlebten.

Griet fing an zu weinen. Es sah alles so trostlos aus. Frans würde neue Wandbehänge weben lassen, und Basse würde, so Gott ihn am Leben ließ, eines Tages das Handwerk erlernen und die Geschäfte übernehmen. Sie freute sich für ihn, gewiss. Aber sollte das alles sein, was ihr vom Leben blieb? Sich für andere zu freuen? Oder um andere zu zittern? War sie denn kein Mensch mehr mit Wünschen und Gefühlen? Die drückende Enge schnürte ihr die Kehle zu. Sie versuchte sich zusammenzunehmen, aber die Tränen wollten einfach nicht aufhören, über ihre Wangen zu laufen. Griet bemerkte, dass sie noch immer das trübselige Witwengewand trug, das nach Rauch und Aufruhr roch. Mitten in der Stube schlüpfte sie aus Kleid, Mieder und Strümpfen und stopfte alles ohne zu überlegen in das Ofenloch. Das Feuer war fast heruntergebrannt, flammte aber schnell hoch auf. Nackt von Kopf bis Fuß, das lange Haar offen über den Schultern, sah sie zu, wie ihr Kleid verbrannte. Dabei ließ sie die Hand über ihren Körper wandern, und als sie die verbotenen Stellen fand, schloss sie die Augen. Ihr Vater hatte sie früher immer als Schönheit bezeichnet, und sie hatte nicht daran gezweifelt, bis die Sache mit ihrem Arm geschah. Wirklich eitel war sie nie gewesen, obwohl sie sich wie alle Mädchen über hübsche Kleider und Schmuck gefreut hatte. Seit sie jedoch kein Gefühl mehr im Arm hatte, kam sie sich plump und hässlich vor. Willems seltene Zärtlichkeiten hatten sie nicht vom Gegenteil überzeugt.

Erneut blickte sie auf den Feuerschein auf ihrem Körper. Ihr dichtes Haar leuchtete rot wie Kupfer. Ihr Bauch und ihre Schenkel waren auch nach Basses Geburt noch straff, ebenso ihre Brüste. Ob sich noch einmal ein Mann fand, der es mit ihr versuchen mochte? Vielleicht war eine erneute Heirat der Ausweg aus der bedrückenden Enge dieses Hauses? Sie war noch jung, galt in der Stadt als ehrsam und hatte bewiesen, dass sie in der Lage war, Söhne zu gebären. Bestimmt gab es den einen oder anderen Handwerksmeister in Oudenaarde, der nur darauf wartete, sich mit der Familie Marx zu verbinden.

Die Sache hatte nur einen Haken, genauer gesagt drei. Zum einen gehörte Griet nur durch ihre Heirat mit Willem zur angesehenen Familie Marx. In Zukunft würde sie lediglich im Haus geduldet sein, weil sie Basses Mutter war. Zum zweiten durfte sich kein Heiratskandidat Hoffnungen auf eine reiche Mitgift machen. Frans Marx war bestimmt nicht bereit, ihr das Brautgeld, das ihr Vater nach ihrer Übersiedelung aus Brüssel gezahlt hatte, zurückzuerstatten. Doch der dritte Punkt wog für Griet am schwersten. Sie konnte es sich nicht vorstellen, noch einmal mit einem Mann glücklich zu werden. Wie wollte sie da heiraten?

Kapitel 3

In dieser Nacht fand Griet keine Ruhe. Zweimal schreckte sie aus Albträumen auf, in denen Hände aus brennenden Wandteppichen nach ihr griffen. Ihr Kopf fühlte sich schwer wie ein Tonkrug an, als sie im Morgengrauen die Treppe herunterkam. In der Küche traf sie Hanna, die vor ihr aufgestanden war, um mit einer Magd zusammen das Frühstück zuzubereiten.

«Frans fühlt sich nicht wohl», verkündete die alte Frau mit fester Stimme. «Er wird heute nicht vor die Tür gehen. Vermutlich ist es auch besser, wenn er sich in den nächsten Tagen nicht auf der Straße blicken lässt.»

Griet stimmte ihrer Schwiegermutter zu. Welcher Laune Frans sein Leben auch verdanken mochte, sicher war er in der besetzten Stadt deswegen noch lange nicht. Griet dachte sogar darüber nach, ob es nicht angebracht war, ihn eine Zeitlang aufs Land zu bringen. Oder nach Brüssel, wo er im Haus ihres Vaters abwarten konnte, bis sich die Wogen etwas geglättet hatten. Doch als sie wenig später mit ihrem Schwiegervater darüber sprach, lehnte er ihren Vorschlag ab. «Was soll aus der Weberei werden, wenn ich einfach davonlaufe?», erklärte er. «Außerdem weißt du, dass dein Vater und ich es nicht lange in einem Raum miteinander aushalten, ohne dass es Streit gibt. Wir sind zu verschieden.»

Griet lächelte widerwillig. Oh ja, dieser Umstand war ihr sehr wohl bekannt. Ihr Vater Sinter van den Dijcke gehörte der geachteten Brabanter Rechnungskammer an, hatte aber in den letzten Jahren immer weniger Interesse an seinem Amt gezeigt. Früh verwitwet, galt Sinters Interesse mehr schönen Frauen, dem Würfelspiel und der Musik als trockenen Akten. Er verbrachte seine Abende damit, seinen häufig wechselnden Geliebten Verse vorzulesen oder für sie auf der Laute zu spielen. Um den Krieg, der in Flandern und Brabant tobte, kümmerte Sinter sich nicht, der ging ihn nichts an. Griet hatte ihn seit ihrer Hochzeit, welcher er nur widerwillig zugestimmt hatte, nicht oft gesehen. Es gab nicht viele Gemeinsamkeiten zwischen Vater und Tochter, immerhin schrieben sie einander hin und wieder. Mit der Handwerkerfamilie, bei der seine Tochter lebte, verstand sich Sinter van den Dijcke dagegen überhaupt nicht.

«Bevor ich Sinters Haus betrete, lasse ich mich auch noch in einen Teppich rollen und aus dem Fenster werfen», pflichtete Hanna Marx ihrem Mann bei. «Tut mir leid, mein Kind, ich will dich nicht beleidigen. Aber dieser Mensch ist einfach unmöglich. Ein Kerl in seinem Alter, der singt und Lieder dichtet wie ein verliebter Jüngling und sich in Tavernen die Nächte um die Ohren schlägt, sollte sich einfach schämen. Außerdem hat er es immer mit dem König und dessen Statthaltern gehalten.»

Griet senkte den Kopf. Es traf sie, wie Hanna über ihren Vater sprach, auch wenn sie den Grund für deren Abneigung genau kannte. Sinter van den Dijcke hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass er die Begeisterung seiner Tochter für die Kunst des Teppichwirkens nicht teilte und viel lieber einen anderen Ehemann an ihrer Seite gesehen hätte. Möglichst einen aus altem Brabanter Adel.

Gegen Mittag holte Hanna ihr Schultertuch und verkündete, den trauernden Angehörigen des Bürgermeisters einen Besuch abstatten zu wollen. Sie bat Griet, sie zum Haus der Familie Osterlamm zu begleiten. Griet fühlte sich unwohl dabei, wusste aber, dass sie sich dieser nachbarschaftlichen Pflicht nicht verweigern durfte.

«Ruf Beelken», sagte Hanna. «Sie soll mit uns kommen.»

Die Kinderfrau folgte Griet nur zögerlich. Sie war bleich und zitterte, während ihre Augen die menschenleere Gasse nach Spaniern absuchten. Vermutlich war die Erinnerung daran, wie sie grob durch die Straßen Oudenaardes getrieben worden war, noch zu frisch. Hanna hatte die Kratzer auf Beelkens Brust noch in der Nacht mit einer Salbe aus Schmalz und Ringelblumen behandelt. Die äußeren Wunden würden bald heilen.