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Gregor Maria Hoff
Ein anderer Atheismus

topos taschenbücher, Band 1020

Eine Produktion des Verlags Friedrich Pustet

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Verlagsgemeinschaft topos plus

Eine Initiative der

www.topos-taschenbuecher.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8367-1020-6

E-Book (PDF): ISBN 978-3-8367-5016-5

E-Pub: ISBN 978-3-8367-6016-4

2015 Verlagsgemeinschaft topos plus, Kevelaer

Das © und die inhaltliche Verantwortung liegen beim

Verlag Friedrich Pustet, Regensburg

Umschlagabbildung: © BeneA / photocase.de

Einband- und Reihengestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart

Satz: SATZstudio Josef Pieper, Bedburg-Hau

Herstellung: Friedrich Pustet, Regensburg

Printed in Germany

Inhalt

Vorwort

Einblendung: Ein anderer Atheismus?

Erste Blende: Der Atheismus im 21. Jahrhundert – ein Zeichen der Zeit?

Theologische Relevanz des Atheismus?

Der Atheismus und die „Zeichen der Zeit“

Der Weg nach draußen …

Zweite Blende: Säkularisierung im Übergang

„Säkularisierung“ – zur politischen Semantik eines Kampfbegriffs

Eine Rekonstruktion der säkularen Moderne: genealogische Motive in Charles Taylors „A Secular Age“

Zur erzähltechnischen Aufhebung des Säkularisierungsnarrativs

Dritte Blende: Religionen in der Moderne: gegenläufige Transformationsgeschichten

Narrativ des Verlustes: Peter Sloterdijks christentumsgeschichtliche Anti-Genealogie der Moderne

Narrativ der Leere: Graham Wards theologische Bestimmung der entleerten Moderne

Vierte Blende: Religion ohne Gott? A/theistische Übergänge

Thomas Nagel: Die Irreduzibilität des Geistes – Atheismus jenseits des szientifischen Naturalismus

Ronald Dworkin: Atheistische Religion, objektiver Glaube

Fünfte Blende: Nachpolemische Modelle atheistischer Religionsbestimmung

Tastender Atheismus: Bruno Latour

Atheistische Religionsinventur: Alain de Botton

Spiritualität jenseits von Gott: André Comte-Sponville

Im melancholischen Abstand: Frommer Atheismus?

Sechste Blende: Atheistische Religionslektüre: Jean-Luc Nancys „Dekonstruktion des Christentums“

Die Unabschließbarkeit der Vernunft

Eine Transformation der Religion

Auferstehung – atheistisch

Noli me tangere …

Siebte Blende: Literarische Übergänge: Motive des Gottvermissens

Gott – zum Vermissen?

Agnostisches Gottvermissen?

Der „Galgen der Sehnsucht“ (David Grossman) – tödliche Abschiede

Die „gelegentlichen Abwesenheiten Gottes“ (Colum McCann) – eine literarische Regie des Vermissens

„Das Spiel mit dieser Unmöglichkeit“ (Martin Walser) – Theologie angesichts der Leere?

Achte Blende: Gottvermissen? Theologischer Anschluss

Topologische Grammatik des Vermissens – im Raum der Schrift

Spuren des vermissten Gottes – biblische Ortsangaben

Orte der Post/Moderne – jenseits des Gottvermissens?

Heterotopien des Vermissens

Theologisches Vermissen – jenseits von Projektionen

Abspann: Vom anderen Ort her, in einer anderen Zeit …

Erstveröffentlichungen

Anmerkungen

Vorwort

Das vorliegende Buch greift Entwicklungen in den laufenden religionskritischen Debatten auf. Es kartographiert Positionen, beobachtet Verschiebungen und bestimmt sie unter dem Kennwort eines anderen Atheismus, der die entschiedene Absage an theistische Überzeugungen mit einem Interesse an religiösen, näherhin spirituellen Intuitionen verbindet. Eine Reflexionsform setzt sich fest: das Bewusstsein für etwas, das fehlt.1 Ein Nebenmotiv bildet, längst nicht überall, aber doch mehr als nur nebensächlich verstreut, die Bezeichnung einer Leere. Es handelt sich um eine Erfahrung, die das Zentrum religiöser Existenz und christlicher Gottesbestimmung berührt. Sie setzt, ausdrucksstark in Literaturen der Gegenwart, den Gedanken eines Vermissens frei, das sich unterschiedlich artikuliert und eine theologische Auffassung erfordert. Es geht dabei nicht um Fremdbeanspruchung und nachträgliche Einholbewegungen; das verbietet sich aus Respekt gegenüber entschieden begründetem Abstand. Das theologische Interesse zielt auf nüchterne Bestandsaufnahme und kritische Durchmusterung, ruft aber auch die kulturwissenschaftlich informierte Darstellungsleistung des Glaubens ab.

Als Fortsetzung der vorhergehenden Bände zur „Religionskritik der Gegenwart“ (2004; 2. Auflage 2012) und zu den „Neuen Atheismen“ (2009) ergibt sich mit diesem Buch eine kleine Trilogie. Dass sie in der Regie des Pustet-Verlages in der Topos-Reihe erscheint, ist der guten Zusammenarbeit mit Dr. Rudolf Zwank geschuldet, dem ich mich dankbar verpflichtet weiß.

Dank gilt auch Andrea Kraller für ihre Assistenz und Jakob Reichenberger für die Zusammenarbeit beim Projekt „Religionskritiken der Gegenwart“, das für das Kardinal-König-Institut der Europäischen Akademie der Wissenschaften entsteht.

Gewidmet ist das Buch meinem Wiener Kollegen Ulrich H. J. Körtner – in ökumenischer Verbundenheit und mehr als nur theologischer Freundschaft.

Gregor Maria Hoff, Salzburg, am 30. September 2014

Einblendung: Ein anderer Atheismus?

„Was noch übrig bleibt, nach der vernunftgemäßen Erledigung aller und jeder äußeren Religion, das ist für uns, die wir letzten Fragen nicht ausweichen und deren Beantwortung von den nächsten bis vorletzten Wissenschaften nicht erwarten, das Weltgefühl, das Einsgefühl der gottlosen Mystik, das man gern ein ‚religiöses‘ Gefühl nennen mag, weil ein Gefühl zuletzt nur geschwiegen werden kann, nicht in harten Worten ausgedrückt.“ Fritz Mauthner ließ 1923 seine vierbändige Geschichte des Atheismus mit diesen Überlegungen zu einer „gottlosen Mystik“ auslaufen.2 Nach den rabiaten Auftritten des New Atheism finden sich in letzter Zeit vermehrt Stimmen, die ein nuancierteres Verhältnis zu den Einsichten und Lebenseinstellungen anklingen lassen, für die religiöse Traditionen stehen. Es scheint fast so, als habe der Brachialatheismus à la Dawkins, Hitchens und Co. einen anderen atheistischen Diskurs über Religion herausgefordert. Dafür gibt es eine Reihe von Beispielen, die zugleich das Farbenspektrum erweitern, mit dem religiöse Wirklichkeiten und Diskurse gezeichnet werden. Der grobe Strich in Sachen atheistischer Religionskritik verliert jedenfalls an Plausibilität.

Das hängt u. a. mit einer Kritik des wissenschaftlichen Naturalismus zusammen, den anders schon Mauthner ins Visier nahm.3 Der Positivismus vermag keine Antworten auf jene Fragen zu geben, die sich mit der geistigen Existenz des Menschen aufzwingen. Der Philosoph Thomas Nagel rekonstruiert eine erstaunliche geistige Grunddimension unserer Wirklichkeit, die Ordnungsmuster aufweist. Man kann das als einfaches Faktum hinnehmen – aber die Frage nach ihren Möglichkeitsbedingungen führt über jede Tatsachenfeststellung hinaus.

„Mir scheint, dass man die wissenschaftliche Weltsicht nicht wirklich verstehen kann, wenn man nicht annimmt, dass die Intelligibilität der Welt, wie sie mit den von der Wissenschaft aufgedeckten Gesetzen beschrieben wird, selbst ein Bestandteil der tiefschürfendsten Erklärung ist, warum die Dinge so sind, wie sie sind.“4

Nagel argumentiert in doppelter Stoßrichtung: gegen eine materialistische Reduktion des Geistes, also gegen rein naturalistische Erklärungen, und für ein neues Bewusstsein der Unableitbarkeit eines geistimprägnierten Kosmos. Dabei spricht er sich weder für eine neue Form von Metaphysik aus, noch setzt er sich religiös ins Zeug. Er enthält sich vielmehr als jemand, der sich nicht religiös versteht, eines klaren atheistischen Bekenntnisses und nähert sich damit einer agnostischen Position an. Sie erweist sich für jene Fragen sensibel, die theistische Debatten befeuern. Skepsis gegenüber religiösen Systemabschlüssen bleibt – und das verbindet Nagel mit den Atheismen, die sich kritisch auf der Schwelle zwischen „Glaube“ und „Unglaube“ bewegen. Nagels Einspruch gegen naturalistische Eindimensionalität im Bereich der Philosophie des Geistes spiegelt sich in verwandten atheistischen Stellungnahmen wider: im Plädoyer des Philosophen Franz-Josef Wetz für mehr existenziellen Ernst im atheistischen Gespräch mit Religionen; in der Nachdenklichkeit eines Kurt Flasch, der sich gelassen zu seinem Atheismus verhält, um religiösen Traditionen eine ästhetische Bedeutsamkeit zu bescheinigen5; in den literarischen Versuchsanordnungen eines Martin Walser, der sich in seinem Spätwerk immer wieder mit der Gottesfrage auseinandersetzt.

„Natürlich kann man schwerlich, also auch ich nicht, ohne die Vorstellung von Gott leben. Das ist ein viel zu wichtiges Wort im ganzen Leben. Ich könnte niemals, ich kann das kaum in den Mund nehmen – also: Atheist werden … Ich kann nur so sagen: Gott kommt immer wieder vor bei mir. In allen Jahrzehnten, in allen Romanen, in allen Manuskripten kommt er vor, weil er von Kindheit an vorgekommen ist, und ich habe ihn nie abstrakt, rational abschaffen können.“6

Damit verbindet sich ein zweiter Aspekt in der Transformation des gegenwärtigen Atheismus. Er korrespondiert mit Verschiebungen des religiösen Diskurses und seiner Lebenswelten. Eine neue Aufmerksamkeit für die spirituellen Ressourcen von Religionen macht sich bemerkbar, für ihre Widerstandskraft gegen eine Welt, die mehr ist, als ihre globalen Ökonomien verbürgen. Auf dieser Linie bewegen sich einige jener Atheismen, die die naturalistischen Blankoschecks des New Atheism platzen lassen. Schon Peter Sloterdijk schmeckte die Suppe nicht, die Dawkins noch einmal aufbrühte. Seine eigene Anthropotechnik ist hinreichend religionskritisch gewürzt, um keine theistischen Missverständnisse aufkommen zu lassen. Aber auch Sloterdijk entwickelt mit seinem Sphären-Projekt eine eigene Form des spirituellen Blicks auf die Wirklichkeit, auf die Exerzitien einer Ko-Immunität, der Verbindung mit allen Menschen und der ganzen Welt.7

Diese spirituelle Wahrnehmungsform zeigt sich exemplarisch in André Comte-Sponvilles Buch „L’esprit de l’athéisme“8, das 2006 erschien und in dem sich aufheizenden atheistischen Diskurs einen anderen Ton setzte. Eine „Spiritualität ohne Gott“ steht hier zur Diskussion, die mit einer Wertschätzung religiöser Traditionen einhergeht. Comte-Sponville versteht sich dabei als christlicher Atheist, der in der Tradition der katholischen Kirche erzogen wurde, ihren Glauben aus der Innensicht kennt, aber als junger Mensch verlor.

Eine polemisch entschlackte Fassung des zeitgenössischen Atheismus präsentiert auch der Wissenssoziologe Bruno Latour. Für ihn bildet der Atheismus eine unhinterfragte Gegebenheit.9

„Die gemeinsame Textur unseres Lebens, unser Grundstoff, unser Tagesgespräch, unser unbestreitbarer Rahmen – falls wir so etwas noch haben, dann ist es die Nichtexistenz von Göttern, die unser Gebet erhören und unsere Geschichte lenken.“10

Jenseits von Glaube oder Unglaube treibt Latour die Suche nach der Vitalität dessen um, was religiöse Rede einmal leistete. Auch die profanen Übersetzungen eines Alain de Botton präparieren, was als unverzichtbar heilig in Geltung bleibt.11 Das Wort Gott entsteht atheistisch neu, jenseits von bloßer Paraphrase, banaler Wiederholung, trivialer Ersetzung, abgestumpftem Vergessen, umstandslosem Verschweigen.

Auf dieser Linie macht sich ein anderer Atheismus bemerkbar, der im Stil der Darstellung und der Linienführung seiner Argumente neue Konstellationen des a/theistischen Diskurses erschließt. Damit wird ein Blick auf die religionskulturellen Gegenwarten des frühen 21. Jahrhunderts möglich, die sich in einer religiös-säkular verschraubten Doppelperspektive präsentieren. Ihre innovativen Rekombinationen, die Übergänge zwischen religiösen Codes und gesellschaftlichen Wirklichkeiten, komplizieren den Säkularisierungsdiskurs. Religiöse Überzeugungswelten sind verwickelt in ihre atheistischen Überschreibungen, in Ersetzungsprozesse angestammter Zeichen, die kulturell auswandern – in Werbung, Politik, Kunst, Sport, Ökonomie. In religiös-säkularen Transformationen erweitern sich auch die theologischen Aufmerksamkeitsspeicher. Gefordert ist eine theologisch informierte Expertise zum Austausch religiöser Zeichen und zu ihren operativen Aneignungen in anderen Zusammenhängen, mit denen Übergänge von Welträumen entstehen.12 Die Unterscheidungslinien zwischen profan und sakral verschieben sich. Das wirkt auf die Fassbarkeit religiöser Gedanken und Lebenswelten zurück. Die Proklamation eines „religiösen Atheismus“13 enteignet theistische Traditionen, indem sie profan beerbt werden, weist ihnen aber auch ein kulturgeschichtliches Bleiberecht zu. Bekannte Transzendenzmarker treten neu auf: ökonomische Chiffren für Heiliges (Geld)14, medizinische Sinngehalte von Heil15, als worldwide net ausgebildete Realpräsenz. Damit verändert sich das Material, mit dem Theologien arbeiten, wenn sie die Bedeutung der Rede von Gott in den Zeichen der Zeit bestimmen.

Hier setzen die folgenden Überlegungen an. Im Schlagschatten eines anderen Atheismus gehen sie Transformationsprozessen religiöser Gegenwarten nach, um die interpretative Leistungsfähigkeit des (christlichen) Theismus zu erproben. Der Soziologe Armin Nassehi beschreibt gesellschaftliche Prozesse als Gegenwarten, die sich nicht einfach in einer Gesellschaft ereignen, sondern Gesellschaft als „Gesellschaft der Gegenwarten“ bestimmen lassen.16

„Es erscheint dann eine Gesellschaft, die alles, was sie tut, in je konkreten Gegenwarten mit je eigenen Anschlusslogiken und -möglichkeiten tut. Letztlich lässt sich das an allen großen gesellschaftlichen Themen beobachten.“17

Damit verschieben sich die Rahmenbedingungen gesellschaftlicher Kommunikation, zugleich aber auch die Zuschreibungen von klaren Identitäten, wie sie gerade im Horizont von religiösen wie religionskritischen Diskursen beansprucht werden. Perspektivische Übergänge zwischen theistischen und atheistischen Positionen lassen sich mit dem hohen Maß an inferenzieller Mehrdeutigkeit beschreiben, mit dem zu rechnen ist, wenn man sich z. B. als religiös bezeichnet. Die Aushandlungsprozesse, ob und inwieweit man sich im Gebrauch sprachlicher Konzepte wie dem Begriff religiös korrekt oder angemessen festlegt, sind bereits von sehr unterschiedlichen Gegenwarten unterwandert, in denen sich die gesellschaftlichen Akteure aufhalten. Nassehi hält deshalb fest,

„dass sich die moderne Gesellschaft nur als eine Gesellschaft verstehen lässt, die vor allem mit der Inkommensurabilität ihrer Perspektiven umzugehen gelernt hat. Das heißt nicht, dass Gesellschaften zerfallen oder ihre operative Basis verlieren – im Gegenteil. Sie finden ihre Form und ihre Einheit gerade darin, dass sie die Differenz ihrer Funktionen empirisch durch die Differenzierung konkreter operativer Gegenwarten bearbeiten“18.

In den systemischen Gegenwarten post/moderner Gesellschaften löst sich mit der „Illusion … einer gesellschaftlichen Gegenwärtigkeit“19 auch die Aussicht auf eine feststehende, jederzeit abrufbare Definitionsmacht im religiösen Raum auf. Stattdessen richtet sich der Blick auf operative Gegenwarten und Codierungen religiösen Lebens, in denen Inferenzen ablaufen. Der Überblick löst sich auf, eine Vielfalt von religionsbezogenen Einstellungen und Lebensformen durchsetzt bereits vorab die eingehegten Gegenüberstellungen von Theismen und Atheismen, die dann auch religiöse Anschlüsse erlauben.

In der Nachdenklichkeit der atheistischen Modelle, die das Buch in verschiedenen Einblendungen vorstellt, gewinnt angesichts der angedeuteten Übergänge im Religionssektor ein Doppelmotiv an Bedeutung, das nicht alle, aber doch auffallend viele Texte durchzieht: der Ausblick auf eine Spiritualität ohne Gott einerseits,20 der Gedanke eines Gottvermissens andererseits. Beide Motive hängen genealogisch zusammen und schaffen lebensweltliche Übergänge. Ulrich Körtner erinnert in diesem Zusammenhang an einen „nachdenkliche(n) Atheismus mit Trauerflor“21. Die Codierung der Leerstelle, die hier auftritt, leitet das Projekt an, das diesen anderen Atheismus theologisch zu interpretieren versucht, um sich in postsäkularen Gesellschaftszusammenhängen ein Bild über die Gegenwarten religiöser Kommunikation zu machen.

Erste Blende: Der Atheismus im 21. Jahrhundert – ein Zeichen der Zeit?

Theologische Relevanz des Atheismus?

Die Zahl der Atheisten weltweit steigt.22 Auch wenn sich daraus keine eindeutige Prognose für die Zukunft der Religionen ergibt, sondern gerade weil sich ein uneinheitliches Panorama mit Momenten einer paradoxen Säkularisierung und anhaltender Religionsproduktivität abzeichnet, stellt diese Entwicklung eine Herausforderung für Theologie und Kirche dar. Umso mehr überrascht es, dass Papst Franziskus in seiner Programmschrift Evangelii gaudium den Atheismus nur am Rande aufgreift und ihm, mit dem Untertitel seines Apostolischen Schreibens, keine hohe Signifikanz für „die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute“ zuspricht. Das mag der spezifischen religiösen Situation in Lateinamerika geschuldet sein, aus deren Erfahrung der Papst spricht, veranschaulicht aber auch jenen veränderten Zusammenhang, den Atheismus und Spiritualität lebensweltlich bilden. „Mehr als im Atheismus besteht heute für uns die Herausforderung darin, in angemessener Weise auf den Durst vieler Menschen nach Gott zu antworten“ (EG 89). Für Papst Franziskus gilt es im Blick auf die Menschen des 21. Jahrhunderts, „eine Spiritualität (zu) finden, die sie heilt, sie befreit, sie mit Leben und Frieden erfüllt“ (EG 89).

Dieses Bedürfnis nach Spiritualität begegnet markant in jenen Texten, die einen religiösen Atheismus entwickeln und die Zuordnungen von theistischen und atheistischen Positionen verschieben. Das gilt lebenspraktisch, betrifft aber auch einen neuen intellektuellen Respekt gegenüber der Bedeutung religiöser Traditionen. Das anhaltende Staunen über die schiere Unendlichkeit und Unausdenkbarkeit des Universums mit seinen mathematisch rekonstruierbaren Gesetzmäßigkeiten, die Sensibilität für das Geheimnis des Lebens und die anfechtbaren, aber realen Erfahrungen von Sinn und Schönheit bestimmen zu einer Nachdenklichkeit, die sich als Wahrnehmung von Transzendenz vermittelt.

„Viele Millionen Menschen, die sich als Atheisten verstehen, machen Erfahrungen und hängen Überzeugungen an, die denen, welche Gläubige als ‚religiös‘ bezeichnen, ähneln und ebenso tiefschürfend sind. Sie sagen, dass sie, obschon sie nicht an einen ‚personalen‘ Gott glauben, nichtsdestotrotz davon überzeugt sind, dass es im Universum eine ‚Macht‘ gibt, die ‚größer‘ ist als ‚wir‘. Sie verspüren die unausweichliche Verantwortung, ihr Leben auf gute Weise zu führen und die Leben anderer Menschen entsprechend zu achten.“23

Die Bezeichnung dieser Transzendenzerfahrung als theistisch oder atheistisch wird von Ronald Dworkin in den umfassenderen Referenzrahmen religiöser Erfahrung überführt. Die Übergänge zwischen den Deutungsmustern reflexer Bekenntnisse vollziehen sich in den Biografien der a/theistischen Akteure mit ihren Selbstinterpretationen und entlang religionskulturell eingespielter Interpretamente (wie Wunder, Macht, Natur). Damit kommen Verschiebungen in den Blick, die nicht nur, aber auch deshalb theologisch signifikant erscheinen, weil sie eine wachsende Zahl von Menschen betreffen. Dabei zeigen die Interpretationen dritter Ordnung (neben dem gemeinschaftsbezogenen Bekenntnis und der Selbstdeutung), die Zuschreibungen von a/theistischen Überzeugungen vollziehen, bereits religiöse Transformationsprozesse an. Die Pluralisierung des religiösen Feldes setzt sich im Modus vielfältiger religiöser Gegenwarten durch, die einfache Zuweisungen von religionskulturellen Akteuren übersteigen (theistisch – atheistisch).

Damit rücken Codierungsformen in den Blick. Sie bezeichnen Gegenwarten, in denen wir leben. Im Gebrauch der Codes, mit denen religiöse Wirklichkeiten hergestellt werden, ergeben sich zeitdiagnostisch aufschlussreiche Bezüge. Ein Beispiel liefert die Freilegung spiritueller Ressourcen und ihrer Deutung als religiöser Atheismus, ein anderes die Anknüpfung an religiöse Formulare und ihre Rückholaktionen, wie sie Alain de Botton vorschlägt:

„Die Weisheit der Religionen gehört der gesamten Menschheit, auch den Rationalsten unter uns, und sie hat es verdient, auch von den größten Gegnern alles Übernatürlichen selektiv neu aufgegriffen zu werden. Religionen sind insgesamt gesehen zu nützlich, effektiv und intelligent, um sie allein den Gläubigen zu überlassen.“24

In Form von Aneignungen und Überschreibungen, Ersetzungen und Umformungen, aber auch kreativen Fortführungen erreicht die Frage nach den a/theistischen Konstellationen des 21. Jahrhunderts theologisches Terrain. Sie liefern nicht nur Material für eine kritische Auseinandersetzung und notwendige Klarstellungen, sondern bestimmen auch den Herausforderungswert für eine veränderte Selbstbestimmung. Was unverstanden bleibt, was anders aufgefasst und befremdend aufgegriffen wird, setzt Theologie nicht einfach unter Anpassungsdruck, zwingt aber zu Reflexionsleistungen, die an der gesellschaftlichen Reichweite und kulturellen Ausstrahlung religiöser Zeichen ihr Maß finden.

Wenn Atheisten religiös sprachfähig werden, was bedeutet das umgekehrt? Handelt es sich bei diesen a/theistischen Inversionen vielleicht doch um „Zeichen der Zeit“ (GS 4), weil die Kommunikabilität des christlichen Glaubens auf dem Spiel steht? Für Papst Franziskus scheint dies nicht der Fall zu sein. Von daher empfiehlt sich eine kritische Vergewisserung. Sie hält auf die Grundfrage zu, wie sich die Theologie der Gegenwart auf den Atheismus einzustellen hat – und was er für sie spezifisch theologisch bedeutet.25

Der Atheismus und die „Zeichen der Zeit“

Das 2. Vatikanische Konzil hat die kirchliche Einschätzung und Bearbeitung des Atheismus auf einen radikal neuen Boden gestellt. Die Genealogie des Atheismus wurde gegenüber dem Vorgängerkonzil gründlich überarbeitet und nicht länger auf eine abwertend erfasste Emanzipationsgeschichte des aufgeklärten Subjekts in modernen Freiheitsgesellschaften reduziert, sondern mit sehr unterschiedlichen atheistischen Einstellungen und Praktiken verbunden.

Für die Auseinandersetzung des Konzils mit dem Atheismus sind die Nummern 19 bis 21 aus der Pastoralkonstitution Gaudium et spes einschlägig. Sie stehen im Zusammenhang des gesamten ersten Kapitels, das bei der „Würde der menschlichen Person“ einsetzt, um die Bedeutung der Kirche in der Welt von heute bestimmen zu können. Sie erschließt sich in der Fähigkeit, das Evangelium in den „Zeichen der Zeit“ (GS 4) zu kommunizieren. „Schließlich ringen in den Zeichen der Zeit Menschen um die gesellschaftliche, kulturelle, politische, religiöse Anerkennung ihrer Würde.“26 Die damit verbundene anthropologische Perspektivierung der Pastoralkonstitution vollzieht sich im Raum gesellschaftlicher Umbrüche, mit denen sich das Wissen vom Menschen und seine Stellung in der Welt verändern (GS 4–10). Diese Transformationsprozesse werden nicht vom Subjekt her entwickelt, sondern mit Blick auf die Menschheit (GS 5) qualifiziert, indem die Kirche „Wandlungen von Denkweisen und Strukturen“ (GS 7) zur Diskussion stellt. Sie markieren Anfragen, von denen sich die Kirche zu Antworten herausfordern lassen muss, denn „die neuen Bedingungen wirken sich schließlich auch auf das religiöse Leben selbst aus“ (GS 7). Aus der zeitanalytischen Expertise wird ein dialogischer Vorgang, indem die Kirche den Einfluss gesellschaftlicher Prozesse auf die Darstellung des Glaubens anerkennt.

Damit ist der erkenntnistheologische Rahmen aufgespannt. Er setzt sich in der metaphorischen Regie des Textes durch und bestimmt die Ausführungen zum Atheismus:

1. Das Innen und das Außen der Kirche werden neu verortet, ineinander verschoben und in einen kommunikativen Modus von Wechselwirkungen überführt.

2. Er wird im komplexen Metaphernfeld der Communio als entscheidendes bildgebendes Verfahren festgelegt.

3. Auf diese Weise wird der Text organisiert und erhält er seine besondere kommunikative Dynamik.27 Sie hängt wiederum mit der pastoralen Wucht der Zeichen der Zeit zusammen, die von der anfechtbaren Würde des Menschen in der Welt von heute imprägniert sind.

Im Zuge der metaphorischen Analyse erschließt sich eine spezifische Bestimmung des Atheismus. Das Konzil nimmt sie im Horizont einer pastoralen Grammatik der Kirche in den Zeichen der Zeit vor. Von daher gilt dem Bildkonzept von GS 19 bis 21 im Folgenden die besondere Aufmerksamkeit.

Die Würde des Menschen begründet Gaudium et spes im Zuge eines Bild-metaphorischen Verfahrens. Der Mensch ist nach dem „Bild Gottes“ (GS 12) geschaffen. Es wird schöpfungstheologisch über die Adam-Typologie entwickelt und christologisch entfaltet (GS 22). Adam ist als erster Mensch „Vorausbild“ des zukünftigen Menschen: Jesus Christus. Dieser ist „Bild des unsichtbaren Gottes“ (Kol 1,15), und der Christ wird zum „Bild des Sohnes“. Von der Sünde, dem Tod, führt der Weg zur integralen Identität des Menschen, zum Leben. Das erste Kapitel setzt mit der Metapher vom Bild