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INHALT

GRUNDLAGEN

Neue Wege aus der Qual

Ein besseres molekulares Verständnis der Signalverarbeitung in Nervenzellen bietet neue Ansätze zur Entwicklung von Schmerzmedikamenten.

DIE GUG-INFOGRAFIK

Formen des Schmerzes

Wie entsteht die Pein? Unsere Infografik zeigt die wichtigsten Schmerztypen auf einen Blick.

CHRONISCHER SCHMERZ

Ungebetener Dauergast

Ob Sportverletzung, Kopfweh oder Magengrimmen: Manchmal halten quälende Beschwerden an, obwohl die Grunderkrankung längst kuriert ist. Offenbar können stark erregte oder verletzte Schmerzleitungen ein Eigenleben entwickeln.

Pein ohne Ende?

Forscher entdeckten einen Mitverursacher chronischer Schmerzen: Gliazellen. Manchmal nehmen diese »Hausmeister« des Gehirns ihren Job ein wenig zu ernst.

Schmerzes Bruder

Rund jeder Zehnte leidet unter andauerndem Juckreiz. Die Auslöser sind so vielfältig wie die möglichen Gegenmittel.

KOPF UND RÜCKEN

Gewitter im Schädel

Kopfweh hat jeder schon einmal, doch bei drei Prozent der Deutschen ist es chronisch. Mediziner kennen mehrere Varianten des Schmerzes – und Mittel, die dagegen helfen.

Leider keine Einbildung

Migräne gilt als wahre Volksseuche. Als Auslöser dieser rasenden Kopfschmerzen mit ihren unangenehmen Begleitsymptomen haben Forscher Erregungsdefekte im Hirnstamm ausgemacht.

Wenn die Seele aufs Kreuz schlägt

Jeden dritten Bundesbürger plagen mindestens einmal im Jahr Rückenbeschwerden. Häufig sind die Ursachen psychischer Natur, was Ärzte leider immer noch oft übersehen.

MODERNE THERAPIE

Lenke dein Gehirn!

Eine Variante der Magnetresonanztomografie stellt feinste Schwankungen der Hirndurchblutung in Echtzeit dar. Mittels dieser Technik können Patienten lernen, die Aktivität der grauen Zellen zu beeinflussen, und somit womöglich quälende Schmerzen bekämpfen.

Mit Elektroden gegen die Pein

Wenn andere Mittel versagen, lassen sich chronische Schmerzen mit elektrischen Impulsen lindern. Winzige Stromstöße stimulieren dabei Neurone im Rückenmark oder in der Großhirnrinde und dämpfen so die qualvolle Empfindung.

BEWUSSTSEIN

Blackout

Mediziner kennen heute viele Anästhetika, die das Schmerzempfinden und das Wachbewusstsein von Patienten bei einer Operation ausschalten. Was passiert während einer Vollnarkose im Gehirn?

Sichere Narkosen?

Anästhetika wirken meist zu diffus. Zielgenaue neue Wirkstoffe sollen gefährliche Nebenwirkungen verhindern.

Aus den Tiefen des Bewusstseins

Mittels bildgebender Verfahren können Wissenschaftler feststellen, ob Patienten im Wachkoma ihre Umgebung wahrnehmen. Psychologen haben mit diesen Methoden eine Reihe von Tests entwickelt, die einfachere Formen des Bewusstseins wie etwa Schmerzempfinden nachweisen.

PSYCHE

Wer’s glaubt, wird krank

Können negative Gedanken unseren Körper so beeinflussen, dass wir Schmerzen und andere Beschwerden erleiden? Und ob! Dahinter steckt der Noceboeffekt, der »böse Bruder« des Placeboeffekts.

Vom Sinn der Trauer

Eine Trennung tut weh. Doch Evolutionspsychologen sind sich sicher: Trauer und Schmerz helfen dabei, den zukünftigen Partner besser auszuwählen.

 

 

Titelmotiv: iStockphoto/Denis Kartavenko

 

 

 

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Gehirn und Geist – das Magazin für Psychologie und Hirnforschung aus dem Verlag Spektrum der Wissenschaft

 

 

Herausgeber:
Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Chefredakteur: Prof. Dr. phil. Dipl. Phys. Carsten Koenneker M.A.
Verantwortlicher Redakteur: Dr. Andreas Jahn
Slevogtstr. 3-5, 69126 Heidelberg
www.spektrum.de

EDITORIAL

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Andreas Jahn ist Redakteur bei GuG.
jahn@gehirn-und-geist.de

Schmerz lass nach!

Migräne kenne ich zum Glück nicht aus eigener Erfahrung. Gehört habe ich davon zuerst als Kind, als ich Erich Kästners Roman »Pünktchen und Anton« las: »Nach dem Mittagessen kriegte Frau Direktor Pogge Migräne. Migräne sind Kopfschmerzen, auch wenn man gar keine hat.« Der Kinderbuchautor karikierte das Leiden als zum guten Ton der feinen Gesellschaft gehörig. Tatsächlich stoßen viele Betroffene auch heute noch auf Unverständnis, das die stunden- oder tagelang anhaltenden rasenden Kopfschmerzen vielleicht sogar verschlimmert. Migräne – eines der wohl am meisten bagatellisierten Leiden der Menschheit – ist »leider keine Einbildung«, wie die US-Mediziner David Dodick und Jay Gargus in unserem Dossier klarstellen. Es bündelt die wichtigsten Artikel zum Thema Schmerz aus GuG sowie unserer Schwesterzeitschrift »Spektrum der Wissenschaft«.

Dabei hat Schmerz durchaus sein Gutes. Die Natur warnt uns damit vor den Gefahren des Alltags. Selbst aus dem tiefen Seelenschmerz, der uns trifft, wenn uns ein geliebter Partner verlässt, kann neuer Lebensmut wachsen.

Wie entstehen Schmerzen? Welche physiologischen und psychologischen Mechanismen liegen ihnen zu Grunde? Eine wesentliche Erkenntnis: Das wichtigste Organ hierfür sitzt im Kopf. Wie das Gehirn, obwohl selbst gar nicht schmerzempfindlich, Schmerz verarbeitet, zeigt unsere Infografik auf.

Im Schnitt schluckt jeder Deutsche etwa 50 Schmerztabletten pro Jahr. Ärzte testen aber auch ungewöhnliche Alternativen, wie etwa Reizstrom. Hirnscans können ebenfalls helfen, chronische Schmerzen zu bekämpfen, da sich die Aktivität unserer grauen Zellen per Neurofeedback beeinflussen lässt. GuG-Redakteur Joachim Retzbach hat die Technik ausprobiert.

Beide Methoden gelten als viel versprechend; die Schmerztablette wird aber wohl noch lange das Mittel der Wahl bleiben. Eine Selbsttherapie à la »Viel hilft viel« dürfte jedoch kontraproduktiv sein. Denn die bunten Pillen können das Leiden, das sie bekämpfen sollen, selbst auslösen! Mediziner wie der Kopfschmerzspezialist Hans-Christoph Diener kreierten hierfür eine eigene Kategorie: den »medikamenteninduzierten Kopfschmerz«. Statt dem schnellen Griff zur Hausapotheke empfiehlt er den Gang zum Arzt.

Mitunter steckt aber auch tatsächlich Einbildung hinter mancher Schmerzempfindung, wie der Noceboeffekt offenbart: Es genügt, fest davon überzeugt zu sein, dass ein Medikament schädliche Nebenwirkungen hat – und schon treten sie ein. Und so wurzelte vielleicht auch Frau Direktor Pogges regelmäßige Migräne in ihrer Psyche.

Eine anregende Lektüre wünscht Ihr

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GRUNDLAGEN NEUROCHEMIE

Neue Wege aus der Qual

Dank einem besseren Verständnis der molekularen Schmerzsignale bieten sich nun neue Ansatzpunkte zur Entwicklung von Medikamenten – selbst gegen bislang oft schlecht bekämpfbare Formen von Schmerz.

VON ALLAN I. BASBAUM UND DAVID JULIUS

AUF EINEN BLICK

Botschafter der Pein

1 Spezialisierte schmerzempfindliche Nervenzellen sprechen auf schädliche Reize an. Ihre Signale leiten sie ans Gehirn weiter – dieses wertet sie dann als Schmerz.

2 Entlang der gesamten Schmerzbahn sind jeweils unterschiedliche Moleküle an der Signalweiterleitung beteiligt.

3 Diese Substanzen bieten Ansatzpunkte für die Entwicklung neuer Wirkstoffe, die Schmerz vielleicht mit weniger Nebenwirkungen und besser bekämpfen als heute verfügbare Medikamente.

Pochend, hämmernd, ziehend, juckend, brennend, bohrend, stechend, schneidend – Schmerz hat viele Gesichter. Die Gepeinigten wollen nur noch eines: dass er endlich aufhört.

Die beiden bekanntesten Schmerzmittel entstammen letztlich der traditionellen Volksmedizin. Sie nutzte jahrhundertelang den getrockneten Milchsaft des Schlafmohns mit seinen Opiaten wie Morphin, daneben unter anderem den Extrakt von Weidenrinde mit einem ähnlichen Wirkstoff wie in Aspirin. So hilfreich die modernen Versionen auch sein können, jede hat ihre Nachteile und Grenzen. Bei schwersten Schmerzen versagen Azetylsalizylsäure, der Aspirinwirkstoff, und andere Substanzen dieser Kategorie. Selbst Opiate, als allgemein stärkste Mittel, schlagen nicht immer an. Zudem können hier Gewöhnungseffekte auftreten, die immer höhere Dosen zur Schmerzlinderung erfordern. Dann drohen schwere Nebenwirkungen.

In den letzten zwei Jahrzehnten haben Neurowissenschaftler viel über die Signalübertragung bei Schmerz, die beteiligten Schaltkreise und Moleküle, herausgefunden. Daraus ergeben sich neue Ansätze, ihn mit weniger Nebenwirkungen besser zu bekämpfen. Erforscht werden derzeit sogar mehr solcher Strategien, als wir hier vorstellen können.

Im 17. Jahrhundert entwickelte der französische Philosoph, Mathematiker und Naturforscher René Descartes eine mechanistische Theorie zur Schmerzwahrnehmung. Ein Schlag oder Stich zog, so seine Vorstellung, im Prinzip an einem Nervenfaden, der im Gehirn eine Alarmglocke schrillen ließ. Und verbrannte man sich etwa einen Zeh, führten »sich schnell bewegende Feuerteilchen« zu Störungen, die »sich entlang von Nervenfasern fortpflanzen, bis sie schließlich das Gehirn erreichen«.

Descartes lag nicht einmal so weit daneben. Denn Schmerz – oder genauer: das als solcher empfundene Signal – beginnt in der Regel im Bereich des peripheren Nervensystems, etwa in der Haut oder den inneren Organen. Stößt man sich den Zeh oder fasst an eine heiße Herdplatte, werden spezialisierte Nervenzellen aktiviert. Ihre freien Nervenendigungen reagieren auf potenziell schädliche Reize, wie etwa hohen mechanischen Druck oder starke Hitze, aber auch auf Substanzen, die der Körper selbst bei Verletzungen und Entzündungen erzeugt.

Schmerz wird interpretiert

Die »Schmerzzellen« werden fachlich Nozizeptoren genannt (nach lateinisch »noxa«, Schaden, Verderben). Ihr Zellkörper liegt dicht am Rückenmark der Wirbelsäule und besitzt eine Art Stielchen mit zwei Ausläufern: Der eine detektiert im innervierten Gewebebereich entsprechende Reize, der andere erstreckt sich ins Rückenmark und macht dort Meldung. Biologischer ausgedrückt: Sprechen spezielle Detektormoleküle in den Nervenendigungen der Haut oder einem Organ an, so wird ein Nervenimpuls ausgelöst, der ins so genannte Hinterhorn des Rückenmarks läuft. Die dort endende Faser setzt Überträgerstoffe frei, die nachgeschaltete Nervenzellen im Rückenmark veranlassen, das Alarmsignal ins Gehirn weiterzuleiten. Erst hier wird es als Schmerz interpretiert. Dann entfährt uns vielleicht ein »Autsch«. Somit ist es eigentlich falsch, die Nozizeptoren – wie oft üblich – als Schmerzrezeptoren oder schmerzempfindliche Neuronen zu bezeichnen. Sie melden nur die Anwesenheit potenziell schädlicher Reize, fachlich als Noxen bezeichnet.

Nicht jeder Schmerz gibt gleich Anlass zur Sorge. So hat die akute Reaktion auf eine kleine Gewebsverletzung, ob Abschürfung, Verstauchung oder Brandfleck, eine Schutzfunktion. Sie lehrt, vorsichtiger zu sein, und hilft durch das Zurückzucken, weiter gehende Schäden zu vermeiden. Ein solcher Schmerz lässt gewöhnlich nach und verschwindet dann wieder völlig.

Eine hohe Belastung für Patient und auch Arzt stellen Schmerzformen dar, die langfristig anhalten und schwer zu behandeln sind. Vielfach schwinden sie nicht, weil ihr Auslöser – irgendein schädlicher Reiz – weiterbesteht. Bei Arthritis etwa ist das eine chronische Entzündung der Gelenke. Und die Qualen bei einem invasiv wachsenden Tumor werden großenteils von den resultierenden Gewebsverletzungen und Entzündungen geschürt.

In anderen Fällen ist anhaltender Schmerz neuropathischer Natur, rührt also von einer Schädigung der Nervenzellen selbst her. Das kann im Zentralnervensystem – Gehirn und Rückenmark – sein, beispielsweise bei multipler Sklerose (hier greift das Immunsystem die Schutzisolierungen der Nervenfasern an), nach einem Hirnschlag oder einer Rückenmarksverletzung. Das Problem kann aber auch ursprünglich vom peripheren Nervensystem ausgehen (oft wird der Begriff Neuropathie darauf eingeengt). So verspüren manche Amputierte Schmerzen in Gliedmaßen, die längst nicht mehr existieren – so genannte Phantomschmerzen. Und nach einer Gürtelrose (ausgelöst durch ein Herpes-Virus) brennt der Hautbereich manchmal noch Jahre nach dem Abklingen der Erkrankung. Mediziner sprechen von einer postherpetischen Neuralgie. Halten derartige Schmerzen an, so ist dies kein Symptom für ein fortbestehendes ursächliches Alarmsignal. Vielmehr handelt es sich dann um eine Erkrankung des schmerzleitenden und -verarbeitenden Systems selbst, die eine Behandlung durch den Spezialisten erfordert.

Menschen, die hartnäckiger Schmerz peinigt, entwickeln oft eine Überempfindlichkeit gegenüber schmerzhaften Reizen. Fachleute sprechen von Hyperalgesie. Im Extremfall – einer Allodynie – können bereits harmlose Reize wie etwa der sanfte Druck der Kleidung auf die Haut oder das Beugen eines Gelenks unerträglich werden.

Wie Forscher inzwischen wissen, beruht die erhöhte Empfindlichkeit, die Sensitivierung, auf molekularen oder strukturellen Veränderungen der Nervenzellen. In der Körperperipherie beispielsweise können entzündungsfördernde Moleküle die Schmerzsensoren dazu bringen, sensibler auf die vorhandenen Noxen zu reagieren – und schließlich sogar dazu, grundlos zu »feuern«. Eine Sensitivierung kann auch auf Veränderungen im Zentralnervensystem zurückgehen, die unter Umständen lange bestehen bleiben und »Schmerzbahnen« überaktiv machen. Zur verstärkten Weiterleitung von Schmerzsignalen kommt es dort beispielsweise, wenn die den Nozizeptoren unmittelbar nachgeschalteten Zellen mehr molekulare Antennen als sonst für die zu empfangende Botschaft tragen. Denkbar ist sogar eine neuronale Umverdrahtung oder der Verlust von Nervenzellen, die normalerweise die Signalgebung in der Schmerzbahn hemmen.

Welcher Prozess auch jeweils Schuld haben mag – wenn Schmerz anhält, kann er zu einer Sensitivierung führen und somit die Beschwerden verschärfen und verlängern. Auf der Jagd nach neuen Analgetika haben daher viele Forscher in erster Linie Mittel gegen Hyperalgesie und Allodynie im Visier. Doch bis dahin sollten Patienten eines beherzigen: Chronische Schmerzen stoisch zu ertragen, ist gerade das Verkehrte; vielmehr bedarf es einer aggressiven Behandlung mit bereits verfügbaren Möglichkeiten, um einer weiteren Sensitivierung Einhalt zu gebieten.

Große Anstrengungen galten und gelten der Entwicklung neuer Analgetika, die dort ansetzen, wo Schmerzsignale im typischen Fall ihren Anfang nehmen: außerhalb des zentralen Nervensystems. Manche der Moleküle, mit denen Nozizeptoren einen schädlichen Reiz detektieren, kommen auf kaum einem anderen Zelltyp vor. Mit ihrer Blockade ließe sich voraussichtlich der Start der neuronalen Signalkaskade verhindern, ohne andere physiologische Prozesse groß zu stören. Somit unterblieben problematische Nebenwirkungen.

Die heute populärsten Schmerzmittel sind die Azetylsalizylsäure und andere so genannte nichtsteroidale Entzündungshemmer, auch nichtsteroidale Antirheumatika genannt (NSAR). Sie entfalten ihre Wirkung hauptsächlich im Bereich des peripheren Nervensystems. Bei einer Gewebsverletzung geben eine Reihe von Zelltypen Prostaglandine ab. Diese körpereigenen Moleküle steigern, wenn sie auf die sensorischen Endigungen der Nozizeptoren einwirken, deren Empfindlichkeit. NSARs blockieren die Synthese von Prostaglandinen, indem sie die dafür zuständige Enzymfamilie der Cyclooxygenasen hemmen. Dies tun die herkömmlichen Mittel allerdings auch dort, wo sie es nicht sollten, und verursachen auf diese Weise oft Nebenwirkungen wie Durchfall, Magenschmerzen und -geschwüre. So hilfreich die Medikamente bei Alltagsbeschwerden sind – solche Komplikationen stehen einem Langzeiteinsatz im Weg und begrenzen die verabreichbaren Dosen.

Scharfe Reize zur Schmerzlinderung

Um die Probleme im Magen-Darm-Trakt zu reduzieren, entwickelten Pharmafirmen eine Familie von Wirkstoffen, die sich speziell gegen die Cyclooxygenase 2 (COX-2) richten. Weil diese Enzymvariante dort normalerweise nicht aktiv ist, sollten derartige Mittel nicht die gleichen Nebenwirkungen wie die traditionellen NSARs hervorrufen. Ob COX-2-Hemmer tatsächlich magenschonender sind, muss sich noch zeigen. Mittlerweile droht ihnen ein anderes Problem. Den Wirkstoff Rofecoxib (Handelsname Vioxx), der gegen rheumatische Gelenkschmerzen verschrieben wurde, nahm die Herstellerfirma vom Markt, als sich zeigte, dass er das Risiko für Herzinfarkt und Hirnschlag erhöht. Andere COX-2-Hemmer werden gründlich auf ihr Nebenwirkungsprofil hin untersucht.

Die Entdeckung von Molekülen, die fast nur auf den als Nozizeptoren arbeitenden Nervenzellen vorkommen, erweitert das Repertoire möglicher Angriffsziele und bietet die Chance, neue, selektive Wirkstoffe zu entwickeln. Für solche molekularen Antennen ist ebenfalls der Begriff Rezeptor gebräuchlich.

Besonders aussichtsreich erscheint hier der Capsaicin-Rezeptor, ein Ionenkanal in der Membran vieler Schmerzzellen. Anders als der Name suggeriert, spricht er nicht nur auf Capsaicin an, die scharfe Komponente in Chilischoten, sondern auch auf Wärme über 43 Grad Celsius sowie auf »Säure«, genauer auf Wasserstoffionen (Protonen), die in entzündetem Gewebe in ungewöhnlich hoher Konzentration vorkommen. In Gegenwart solcher Reize öffnet sich der Kanal, so dass Natrium- und Kalziumionen aus dem Umfeld in die Schmerzzellen einströmen (siehe Kasten »Wer spürt den Schmerz«). Dadurch wird eine Signalkette angeworfen, deren Ergebnis dann in uns das brennende Gefühl hervorruft, das wir bei Hitze, Entzündungen oder auch beim Verzehr scharfer Speisen verspüren.

Substanzen, die den Rezeptor besetzen, ohne ihn anzuregen, sollten daher entzündlichen Schmerz dämpfen. Tatsächlich vermochten solche »Antagonisten« bei Labortieren schwerste Schmerzen zu lindern, die von Krebsmetastasen in Knochen ausgingen. In dem umliegenden zerstörten Gewebe ist das Milieu extrem sauer. Viele Pharmafirmen wetteifern derzeit darum, Medikamente auf dieser Basis zu entwickeln.

Die Möglichkeiten, am Capsaicin-Rezeptor anzusetzen, sind damit aber längst nicht erschöpft. Paradoxerweise wirkt unter bestimmten Umständen auch dessen gezielte Aktivierung schmerzlindernd. So werden Salben mit Capsaicin gegen die unangenehmen Empfindungen beim Heilen von Operationswunden und bei Nervenschädigungen durch Diabetes, Herpes oder den Aidserreger HIV verschrieben: Wie die Mittel das Jucken, Stechen und Brennen dabei lindern, ist im Detail noch unklar. Niedrige, aber über längere Zeit verabreichte Dosen machen den Rezeptor vielleicht unempfindlicher gegen sonst wirksame Reize. Möglicherweise kommen die Sensorzellen auch nicht mehr mit der Bereitstellung ihrer Neurotransmitter nach, die sie als Botenstoffe an den Schaltstellen im Rückenmark ausschütten.

Blockierte Kanäle

Ein weiteres Molekül an den freien Endigungen der Sensorzellen ist ebenfalls als Angriffsziel von Interesse. Alle Neurone besitzen zumindest einen Typ Natriumkanal, der seine Schleusen öffnet, wenn sich die elektrische Spannung zwischen Innen- und Außenseite der Zellmembran in bestimmter Weise ändert. Durch den Einstrom von Natriumionen entstehen die Nervenimpulse, die sich rasch über eine Nervenfaser fortpflanzen. Lokalanästhetika, die diese Kanäle zeitweise lahmlegen, werden gegen eine Vielzahl von Schmerzen eingesetzt, häufig auch bei Zahnbehandlungen. Doch sie sind eben nur lokal anwendbar. Denn Natriumkanäle im gesamten Nervensystem zu blockieren kann tödlich sein.

Nun gibt es jedoch auf Schmerzzellen einen Typ spannungsgesteuerter Natriumkanäle, der nicht in Gehirn und Rückenmark vorkommt. Selektive »Blocker« dieses so genannten TTX-resistenten Typs sollten sich ohne schädliche Nebenwirkungen systemisch – also im ganzen Körper – anwenden lassen. Studien deuten überdies darauf hin, dass solche Wirkstoffe auch gut die überschießende Aktivität verletzter peripherer Nerven dämpfen könnten und somit manche neuropathischen Schmerzen lindern dürften. Leider ist es der pharmazeutischen Industrie bisher nicht gelungen, einen Arzneistoff zu entwickeln, der ausschließlich diese Kanäle blockiert – unter anderem, weil sie zu sehr der überall im Nervensystem vorkommenden TTX-empfindlichen Variante ähneln.

Vielleicht kann aber ein recht neuer Trick verhindern, dass die problematischen Kanäle überhaupt gebildet werden: Bei der Methode der RNA-Interferenz werden in die Zellen ganz kurze RNA-Moleküle eingeschleust, die sich an die Abschrift des Gens für den Bau eines unerwünschten Proteins anlagern und so deren Zerstörung einleiten (das Kürzel RNA steht für Ribonukleinsäure). Mit diesem Verfahren versucht man, Patienten mit bestimmten krankhaften Netzhautveränderungen zu behandeln. Doch RNA-Interferenz in ein Werkzeug gegen Schmerz umzumünzen, stellt eine zusätzliche Herausforderung dar. Denn um die RNA-Schnipsel in die richtigen Zellen zu bringen, bedarf es wahrscheinlich – ähnlich wie bei der Gentherapie – Viren als Vehikel, was Sicherheitsbedenken aufwirft. Ob ein solcher schmerztherapeutischer Ansatz praktikabel ist, muss die Zeit zeigen; bis dahin bleibt er eine interessante Option.

Einmal angenommen, es gelänge tatsächlich, Analgetika zu entwickeln, die wie die Zauberkugeln des Freischütz ganz genau ins Ziel treffen – die gezielt und wirksam eines der kritischen Moleküle auf Schmerzzellen außer Gefecht setzen. Würde das die Gepeinigten wirklich von hartnäckigen Schmerzen befreien? Wohl nicht. Denn es dürfte nicht reichen, nur eine Eintrittspforte zur Schmerzbahn zu schließen.

Eine solche Pforte ist der molekulare Rezeptor für das »Mini-Protein« Bradykinin: Es wird bei peripheren Entzündungen erzeugt und reizt Schmerzzellen sehr stark. Ein Wirkstoff, der den Rezeptor blockiert, würde sicherlich diesen Aktivierungsweg versperren. Doch die Nervenzellen würden weiterhin auf andere Substanzen ansprechen, die der Körper bei Verletzungen oder Entzündungen bildet, etwa Protonen und Prostaglandine. Und was eine Blockade des Capsaicin-Rezeptors anbelangt, so dürfte die nicht einmal jeglichen von Protonen ausgelösten Schmerz lindern. Denn diese Ionen aktivieren unter bestimmten Bedingungen auch einen anderen Typ von Detektoren auf den Schmerzzellen: nämlich »säuresensitive Ionenkanäle« (kurz ASICs, nach dem englischen Begriff dafür). Einen Ausweg böte ein Cocktail von Hemmstoffen, der auf mehrere Schmerzmechanismen vor Ort zielt.

Alternativ ließen sich aber auch Moleküle im Bereich der ersten Synapse (Umschaltstelle) der Schmerzbahn anvisieren. Das würde die Nozizeptoren daran hindern, ihre Signale an ein Neuron des Rückenmarks zu übermitteln – unabhängig davon, durch welche Reize diese ursprünglich ausgelöst wurden. Unter anderem dort setzen auch Opiate wie Morphin an. Indem sie spezielle Hemmrezeptoren seitlich der Synapse der Schmerzzellen im Rückenmark aktivieren, blockieren sie die Abgabe von Neurotransmittern, die sonst das Signal übermitteln (siehe Kasten »Zielmoleküle im Rückenmark«). Gleichzeitig setzen sie die Ansprechbarkeit der Empfängerneuronen im Hinterhorn herab. Weil Opiate wie gewünscht im Rückenmark ihre Wirkung entfalten, sollten sie theoretisch alle Arten von Schmerz dämpfen. Praktisch helfen sie jedoch gewöhnlich am besten gegen entzündungsbedingte Formen.

Leider kommen Opioid-Rezeptoren auf Nervenzellen im ganzen Körper vor, darunter im Gehirn und Magen-Darm-Trakt. Das erklärt auch die breite Palette unerwünschter Nebenwirkungen von Morphin und seinen Verwandten, wie etwa schwere Verstopfung und Atemlähmung. Derartige Komplikationen schränken den Einsatz hoher Dosen ein. Hinzu kommt, dass viele Ärzte nur zögerlich Opiate verschreiben aus Sorge, ihre Patienten könnten davon psychisch abhängig werden. Sucht tritt indes nur selten bei einer sorgfältigen Schmerztherapie auf. Um einige der Nebenwirkungen zu vermeiden, aber auch aus anderen Gründen werden Opiate häufig intrathekal, also gleich in den flüssigkeitsgefüllten Raum um das Rückenmark verabreicht. Bei chronischen Schmerzen kann der Patient sie über eine implantierbare Pumpe erhalten, zur akuten Schmerzbehandlung nach einer Operation jedoch per Spritze.

Alternativen zu Opiaten gibt es inzwischen. So blockieren Wirkstoffe, die Kalziumkanäle hemmen, auch die Freisetzung von Neurotransmittern an der ersten Schaltstelle im Rückenmark. Ein Beispiel ist das Antiepileptikum Gabapentin (Handelsname Neurontin); es bekämpft zugleich neuropathische Schmerzen, wohl weil es sich an ein bestimmtes Modul von Kalziumkanälen heftet.

Ein relativ neuer Arzneistoff namens Ziconotid (Handelsname Prialt) aus dem Gift einer südpazifischen Meeresschnecke hemmt Kalziumkanäle des so genannten N-Typs. Diese Sorte kommt genau wie die Opioid-Rezeptoren überall im Nervensystem vor. Würde man Ziconotid systemisch einsetzen, käme es zu einem drastischen Abfall des Blutdrucks. Deshalb wird es ebenfalls nur intrathekal verabreicht. Da es von dort auch das Gehirn erreicht, treten unerfreuliche Nebenwirkungen wie Schwindel, Übelkeit, Kopfweh und Verwirrung auf. Ziconotid ist deshalb Tumorpatienten im Spätstadium vorbehalten, wenn alle anderen Mittel versagen.

Empfänglich für Marihuana

In jüngster Zeit wurden Substanzen klinisch getestet, die auf Cannabinoid-Rezeptoren wirken – die gleichen, die auch auf Marihuana ansprechen. Diese Arzneistoffe scheinen Schmerz zu lindern, indem sie an mehreren Stellen im Körper eingreifen. Unter anderem stören sie die Kommunikation an der Schaltstelle im Rückenmark und zügeln gleichzeitig Entzündungszellen.

Manche Forscher konzentrieren sich auf die Blockade von Nervenzellen des Rückenmarks. Diese sollen daran gehindert werden, auf die von den Schmerzzellen freigesetzten Neurotransmitter zu antworten – insbesondere auf Glutamat als Hauptüberträger der Schmerzbotschaft. Die Aminosäure aktiviert diverse Rezeptoren in der Hinterhornregion des Rückenmarks – darunter so genannte NMDA-Rezeptoren, die an der Sensitivierung im Zentralnervensystem beteiligt und daher ein logischer molekularer Ansatzpunkt für neue Analgetika sind.

Jede Nervenzelle im Körper trägt irgendeine Variante dieser Rezeptoren. Die Hemmung aller Typen hätte Erinnerungsverlust, Anfälle, Lähmungen und andere Katastrophen zur Folge. Daher versuchen Wissenschaftler speziell die Varianten zu bremsen, die überwiegend im Hinterhorn vorkommen. Dazu gehören die Rezeptoren mit einer so genannten NR2B-Untereinheit. Dort andockende Wirkstoffe erwiesen sich im Tierversuch als viel versprechend. So waren Mäuse, die zuvor einen NR2B-Inhibitor direkt in die Rückenmarksflüssigkeit gespritzt bekamen, weniger schmerzempfindlich als unbehandelte Tiere. Zudem machte der Hemmstoff eine Allodynie bei Mäusen mit einer peripheren Nervenverletzung wieder rückgängig.

Eine Reihe von Schmerzzellen nutzt als Botenstoffe auch Mini-Proteine (korrekter Peptide genannt), wie etwa »Substanz P« und das »Calcitonin-Genverwandte Peptid« (CGRP, nach dem englischen Begriff). Diese aktivieren nachgeschaltete Neuronen im Rückenmark, indem sie an bestimmte Rezeptoren andocken. Hier die Interaktion zu unterbinden, sollte eigentlich hilfreich sein.

Leider hat aber die selektive Blockade des Ziels von Substanz P – es handelt sich um den Neurokinin-1-Rezeptor – in klinischen Studien versagt. Vielleicht reicht es nicht aus, nur ihn auszuschalten. Ob ein Eingriff in die Signalübertragung durch CGRP im Rückenmark wirklich Schmerzen ausschalten kann, ist noch nicht bekannt. Die Pharmaindustrie entwickelt zumindest Wirkstoffe, welche die Bindung von CGRP an Blutgefäße der Hirnoberfläche verhindern sollen – in der Hoffnung, die Qualen bei Migräne zu lindern.

Schlagen alle Versuche der Schmerzbekämpfung fehl, ist zu erwägen, den Überbringer der Botschaft selbst zu töten. Doch wie erwähnt, kann die Durchtrennung von Nervenfasern genau zum Gegenteil führen und noch hartnäckigere Beschwerden auslösen. Früher war die so genannte Cordotomie, bei der zum Gehirn führende Bahnen des Rückenmarks gekappt werden, ein gängiges Mittel zur Schmerzbekämpfung. Doch heute bleibt sie Krebspatienten im Endstadium vorbehalten, sofern alles andere versagt. Die Methode ist deshalb so problematisch, weil der Chirurg dabei nicht nur die »Schmerzkabel«, sondern auch andere Leitungsbahnen kappt.

Daher weckt ein im Tierexperiment getesteter Ansatz erhebliches Interesse: Er zielt auf eine Untergruppe von Rückenmarksneuronen, die Input von Schmerzzellen erhält. Dazu wurde das Zellgift Saporin an Substanz P gekoppelt. Die Zielzelle nimmt den an ihr andockenden Neurotransmitter auf – und mit ihm das sich abspaltende Gift. Weil das trojanische Pferd nur in Zellen mit einem Neurokinin-1-Rezeptor gelangen kann, sollten sich Nebenwirkungen in Grenzen halten.