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Für Simon – einen kleinen Engel,
der viel zu kurz auf dieser Erde weilte.

HONIGTOT

Einst ein Volk rührig schmatzend,

nimmersatt Blüten schatzend.

Im Bund mit der Natur,

süß und bernsteingolden, Beute pur.

 

Dem Himmelsgott die Freude lacht,

über allem die stolze Königin wacht.

Deborah, der Majestäten Name war,

schön und klug und unnahbar,

ungerührt von der Sonne Glanz,

verfolgt sie der Scharen munteren Tanz.

 

Plötzlich, dort: ein fremder Duft,

welch zwielicht' Geschöpf kündet die Gruft?

Mensch, Henker der Natur, der alles entleibt,

– der goldene Schwarm auf immer schweigt.

 

Allein die Königin der Metzelei entkam,

sinnenwirr auf Rache sann.

Feindes Werk sie vollendet ohne Not

und wählt' für sich den bitt'ren Tod.

 

Bis heute dunkle Schatten ragen,

die verlorenen Himmel von einst beklagen.

Einst hoffnungsfrohes Volk – entseelt und starr,

wem Vergeltung mehr gilt als das Leben – der ist ein Narr.

 

Raffael Valeriani

 

Anfangs ist der böse Trieb wie ein Vorübergehender,

dann wie ein Gast und zuletzt wie ein Hausherr.

 

Talmud Bavli Sukka 52

Prolog

Es heißt, dass die Last der Wahrheit mehr wiegt, als Gott selbst je zu tragen vermag.

Dabei folgt die Wahrheit stets ihrer eigenen Physik. Wenn man es am allerwenigsten erwartet, steigt sie wie eine Wasserblase an die Oberfläche und klagt uns an.

Meiner Familie widerfuhr dies, als meine Großmutter starb und meine Mutter am selben Tag spurlos verschwand.

Ausgelöst wurden die Geschehnisse durch den vergilbten Inhalt einer vergessenen Schachtel.

Die Vergangenheit hatte uns eingeholt.

TEIL 1

Felicity

Gegenwart

Kapitel 1

Seattle,Washington, USA, Mai 2012

»Und du bist dir wirklich sicher, dass du das Richtige tust?«, fragte Olivia ihre Freundin. Es war das gefühlt hundertste Mal innerhalb der letzten Stunde. Inzwischen hatte sich der Ton ihrer Entrüstung etwas abgenutzt. Ebenso wie das Interesse ihrer Freundin Felicity, darauf zu reagieren.

Felicity konzentrierte sich stattdessen, einen Koffer von biblischen Ausmaßen – ein Geschenk ihrer so weltfremden wie unpraktischen Mutter – mit ihren Habseligkeiten zu füllen.

Olivia lag bäuchlings auf dem Bett und knabberte an einem Apfel, während sie das Tun ihrer Freundin mit finsterer Miene verfolgte.

Felicity ahnte, dass Olivia nicht lockerlassen würde. Und richtig: »Ich kann es einfach nicht fassen, dass du mir das antust. Und das Ganze auch noch heimlich hinter meinem Rücken einzufädeln! Was hast du dir bloß dabei gedacht?«

Das also war der eigentliche Knackpunkt. Felicity unterdrückte ein Lächeln. Nicht was sie tat, ärgerte Olivia, sondern dass sie es geschafft hatte, es vor ihr, ihrer besten Freundin und nebenbei dem neugierigsten Menschen auf diesem Planeten, geheim zu halten.

Felicity ignorierte den Einwand wie alle anderen zuvor und rief: »Fertig!« Schwungvoll schloss sie den Koffer. Das Geräusch des zufallenden Deckels hatte etwas Endgültiges. Ende der Diskussion.

Nicht für Olivia. »Hast du eigentlich auch nur eine Minute lang an Richard gedacht?«, holte sie nun ihren Trumpf hervor.

Felicity fuhr herum. Damit hatte Olivia tatsächlich an ihren wunden Punkt gerührt. Richard. Verlässlich, begabt, mit glänzenden Aussichten und auch noch gut aussehend. Olivias Bruder war zehn Jahre älter als sie und bereits ein anerkannter Chirurg, während die Tinte auf dem Diplom der beiden frischgebackenen Ärztinnen noch kaum getrocknet war.

Die gesamte weibliche Belegschaft des Seattle Children's Hospital lag ihm zu Füßen. Und sie, Felicity, war gerade dabei, ihn zu verlassen und einen ganzen Kontinent zwischen ihn und sich zu bringen.

»Er liebt dich wirklich, weißt du?« Olivia klang jetzt ganz sanft.

»Ich weiß.« Er hatte es ihr gesagt. Gestern, als sie sich von ihm verabschiedet hatte. Richard wollte nicht, dass sie ging. Er hatte alles versucht, sie zum Bleiben zu bewegen, hatte ihr sogar einen Antrag gemacht. Sie konnte und wollte jetzt nicht an sein trauriges Gesicht denken, an die Enttäuschung in seinen Augen, als sie abgelehnt hatte. Die Trennung von ihm zerriss ihr beinahe das Herz. Es fühlte sich an, als schlüge seit gestern ein unförmiger Klumpen in ihrer Brust. Sie verstand sich selbst nicht, und doch konnte sie nicht anders.

So war es schon immer gewesen. Eine innere Rastlosigkeit trieb sie stetig weiter. Mittlerweile zweifelte sie daran, dass sich das je ändern würde. Sie hatte gehofft, diesem inneren Zwang zu entkommen, wenn sie ihr großes Ziel, Ärztin zu werden, erst einmal erreicht hatte. Doch je näher das Ende des Studiums und die Prüfungen gerückt waren, umso stärker war der Drang geworden, wieder eine neue Richtung einzuschlagen, auszubrechen aus ihrem geregelten Leben.

Dabei wünschte sie sich nichts sehnlicher, als irgendwo anzukommen und sich einen festen Platz im Leben zu erobern. Und doch agierte sie stets entgegengesetzt, einer zwanghaften Unruhe unterworfen, die direkt aus ihrer Seele zu kommen schien. Es war, als wünsche sie sich zwar das eine Leben, müsse aber ein anderes führen, gefangen in der ewigen Zwiesprache mit sich selbst. Sie hatte versucht, es Richard zu erklären. Aber wie konnte man etwas erklären, das man selbst nicht richtig verstand? Sie war kläglich gescheitert und Richard schließlich gegangen.

Ohne ergründen zu können, woher der melancholische Satz kam, dachte sie: Ich werde das Land der Liebe niemals betreten. Er hinterließ in ihr ein Gefühl der Verlorenheit und den schalen Geschmack von Angst.

»Was hast du gerade gesagt?« Olivia sah ihre Freundin verblüfft an.

Felicity war nicht klar gewesen, dass sie die Worte offenbar laut ausgesprochen hatte. Plötzlich wusste sie, was, oder besser, wer sie ihr eingegeben hatte. Ihre Großmutter hatte sie vor vielen Jahren zu ihr gesagt, kurz bevor sie an Alzheimer erkrankt war. Eigenartig, dass der Satz ihr gerade jetzt in den Sinn gekommen war. Andererseits auch wieder nicht: Ihre Großmutter war vor sechs Tagen im Alter von siebenundachtzig Jahren gestorben. Ihr Tod war nicht nur für die Erkrankte, sondern auch für die ganze Familie eine Erlösung gewesen.

Wegen der Beerdigung hatte Felicity ihren Flug nach Kabul verschoben, wo sie für die Hilfsorganisation »Doctors for the World« arbeiten würde.

Felicitys Handy klingelte. Das musste ihre Mutter Martha sein. Eigentlich hätte sie schon längst hier sein sollen. Ihre Mutter hatte darauf bestanden, ihre Tochter persönlich zum Flughafen zu fahren.

Felicity seufzte. Ihr graute bereits vor der knapp einstündigen Fahrt, die ihre Mutter garantiert für einen neuerlichen Versuch nutzen würde, ihr das Vorhaben auszureden. »Lieber Gott, ausgerechnet Afghanistan! Du musst verrückt sein, Felicity, wirklich. Hast du so lange studiert, nur um anschließend am Ende der Welt mit einem Schleier herumzulaufen? Wie kannst du nur! Ganz zu schweigen davon, dass sich die Taliban da ständig in die Luft sprengen. Furchtbar!«

Am Telefon war nicht ihre Mutter, sondern ihr Vater. Seit einem Schlaganfall vor einem Jahr saß er im Rollstuhl. Doch er hatte sich inzwischen gut erholt und würde bald nicht mehr darauf angewiesen sein. »Hallo, Kleines«, begrüßte er sie. »Sag, ist Mom bei dir?«

»Hi, Dad. Nein, eigentlich wollte ich gerade bei euch anrufen und fragen, wo Mom so lange bleibt. Wann ist sie denn losgefahren?«

»Das ist ja das Merkwürdige. Sie scheint heute Nacht gar nicht nach Hause gekommen zu sein. Das hat sie noch nie gemacht. Ich hatte eigentlich gehofft, dass sie bei dir wäre.«

»Wie bitte? Mom ist nicht nach Hause gekommen?« Felicity konnte es nicht glauben. Ihre Mutter mochte ihre Schwächen haben, aber sie war die Zuverlässigkeit in Person und würde ihren Vater ganz sicher nicht über Nacht allein lassen, erst recht nicht seit seinem Schlaganfall.

»Könnte sie dich angerufen haben, und du hast es vielleicht nicht gehört?«

»Nein, ich habe den Anrufbeantworter abgehört. Kein Anruf, keine Nachricht. Und ihr Mobiltelefon hat sie auch ausgeschaltet. Wo kann sie nur sein?«

»Wo wollte sie denn gestern hin? Vielleicht zu einer Komitee-Sitzung? Dort kann man doch sicher anrufen?« Ihre Mutter war in mehreren Wohltätigkeitsvereinen aktiv, es war ihr Lebensinhalt, sich um andere zu kümmern. Nur nicht um ihre eigene Familie, schoss es Felicity durch den Kopf. Halt, sei nicht ungerecht, schalt sie sich sofort. In den letzten Jahren war es sehr viel besser mit ihr geworden.

»Nein, sie war auf keiner Sitzung. Deine Mutter hat gestern Mittag einen Anruf aus dem Pflegeheim erhalten. Sie haben sie gebeten zu kommen, um das Zimmer deiner Großmutter zu räumen. Es würde dringend für den nächsten Patienten gebraucht werden, hieß es.«

»Hast du dort schon angerufen?«

»Natürlich. Sie sagten mir, sie wäre höchstens eine halbe Stunde am Nachmittag da gewesen und dann wieder gegangen. Ein Pfleger will sie dabei beobachtet haben, wie sie mit einer Schachtel unter dem Arm davongestürmt ist.«

»Davongestürmt? Mom? Ehrlich, das klingt nicht nach ihr.«

»Nein, und es sieht ihr auch gar nicht ähnlich, dass sie sich nicht meldet. Meinst du, es ist ihr etwas passiert? Ein Autounfall vielleicht?«

Felicity hörte die Ängstlichkeit in der Stimme ihres Vaters.

»Dann hätten wir ganz sicher schon davon erfahren. Weißt du was, Dad? Ich komme zu dir rüber. Dann rufen wir erst mal die Mitglieder der verschiedenen Komitees an. Sicher gibt es eine harmlose Erklärung. Vielleicht ist sie wieder einmal in einem ihrer Buß- und Betmarathons versunken und hat dabei alles um sich herum vergessen.« Oder das ist Moms neuester Trick, um mich vom Abflug nach Kabul abzuhalten 

»Aber was ist mit deinem Flug?«, fragte ihr Vater prompt.

»Kein Problem, den kann ich noch mal verschieben. Mein Dienst beginnt erst in einer Woche. In einer halben Stunde bin ich da. Du kannst inzwischen ja weiter versuchen, Mom mobil zu erreichen. Bis gleich, Dad.«

»Habe ich das gerade richtig verstanden? Deine Mutter ist verschwunden?«, fragte Olivia ungläubig.

»Ja, anscheinend schon seit gestern Nachmittag. Jedenfalls hat sie sich seitdem nicht mehr bei Vater gemeldet. Die beiden schlafen seit seinem Schlaganfall in getrennten Zimmern. Mein Vater geht oft sehr früh ins Bett. Die vielen Medikamente, die er nehmen muss, machen ihn müde. Darum hat er ihre Abwesenheit wohl erst heute Morgen bemerkt.«

Olivia sprang vom Bett auf und entsorgte den angebissenen Apfel. »Komm, ich fahre dich rüber. Jetzt bin ich auch neugierig geworden, was mit deiner Mutter los ist.«

Unterwegs sagte Olivia nachdenklich: »Du hast vorhin Marthas Buß-Marathons erwähnt. Fürchtest du, es geht wieder los?« Die beiden Freundinnen kannten sich seit dem Kindergarten, daher wusste Olivia schon seit vielen Jahren, was es mit den eigenartigen Frömmigkeitsanfällen von Felicitys Mutter auf sich hatte. »Sag, wann genau war denn das letzte Mal? Das ist doch schon länger her, oder?«, erkundigte sich Olivia weiter.

Felicity überlegte, dass es ungefähr acht Jahre her sein musste, dass sich die ehemalige Ordensschwester Martha Benedict zuletzt tagelang eingesperrt hatte, um Gott um Vergebung anzuflehen, weil sie ihn enttäuscht hatte. Zuvor war dies in regelmäßigen Abständen ungefähr alle sechs Monate geschehen. Zum ersten Mal kam ihr so richtig zu Bewusstsein, dass die früher geradezu fanatische Frömmigkeit ihrer Mutter von Jahr zu Jahr abgenommen hatte. Felicity runzelte die Stirn. Tatsächlich hatte die positive Entwicklung ihrer Mutter eingesetzt, als ihre Großmutter Maria wegen der fortschreitenden Alzheimer-Erkrankung ins Pflegeheim gemusst hatte. Das sagte sie Olivia jetzt und ergänzte: »Es wäre möglich, dass Großmutters Tod einen Rückfall bei ihr ausgelöst hat. Ich hoffe aber inständig, dass es nichts damit zu tun hat. Für Vater wäre das schlimm und würde nur wieder alte Wunden aufreißen. Er kommt sich dann immer vor, als hätte er Mom um ihr Leben betrogen.«

»Na ja, eigentlich hat eure Mutter doch euch um euer Leben betrogen. Mal ehrlich, ich habe dich und deinen Dad immer dafür bewundert, wie ihr ihre Marotten ausgehalten habt. Mir summt jetzt noch ihr mea culpa, mea maxima culpa im Ohr. Martha ist doch mindestens doppelt so fromm wie mein Bruder Fred. Und der ist immerhin Jesuit.« Olivia hatte noch nie ein Blatt vor den Mund genommen.

Felicity verzog das Gesicht. Es war nicht das erste Mal, dass ihre Freundin dieses Thema anschnitt. Es stimmte, ihr Vater sah ihrer Mutter alles nach, weil er sie abgöttisch liebte. Er war fünfzehn Jahre älter als sie, und die beiden hatten spät geheiratet. Felicity war ihr einziges Kind geblieben. Ihre Mutter hatte die vierzig bereits überschritten, als sich ein Baby angekündigt hatte. Mutter und Kind wären bei der Geburt beinahe gestorben, und Felicity hatte monatelang im Krankenhaus aufgepäppelt werden müssen. Auch das hatte Martha Benedict als Strafe Gottes dafür angesehen, dass sie damals aus dem Franziskanerinnen-Orden ausgetreten war, um ihren Vater Arthur zu heiraten. Felicity hoffte so sehr, dass es einen anderen Grund für das Verschwinden ihrer Mutter gab als einen Rückfall in alte Reuemuster.

Olivias betagter Peugeot bog nun in den Richmond Beach Drive ein und hielt vor dem Backsteinhaus von Felicitys Eltern. Felicity entdeckte ihren Vater in der offenen Haustür stehend. Schwer auf zwei Krücken gestützt, lehnte er am Türrahmen. Er trug keine Jacke, obwohl ein kühler Wind von der Küste her wehte und ihm durch das weiße Haar fuhr. Das Haus lag direkt am Puget Sound, den nur ein schmaler Streifen Land vom Pazifik trennte. Felicity sparte sich die Ermahnung, dass er sich so nur erkälten würde, als sie in sein sorgenvolles Gesicht sah.

Sie führte ihn ins Haus zurück, und ihr Vater brachte die beiden jungen Frauen auf den neuesten Stand, der keiner war. Felicitys Mutter hatte sich immer noch nicht gemeldet, ihr Mobiltelefon war weiter abgeschaltet, und auch die Anrufe bei den verschiedenen Komitee-Mitgliedern, die ihr Vater zwischenzeitlich unternommen hatte, hatten nichts ergeben. Felicity checkte den Anrufbeantworter ein weiteres Mal, auch er hatte nichts aufgezeichnet. Ihr Vater besaß kein Mobiltelefon.

Sie erkundigte sich selbst noch einmal im Pflegeheim Woodhill und erhielt dieselbe Auskunft wie ihr Vater: Ihre Mutter sei höchstens eine halbe Stunde da gewesen und dann gegangen, ohne sich zu verabschieden. »Dieser Pfleger, der meine Mutter gesehen hat … Könnte ich vielleicht kurz mit ihm sprechen? Vielleicht hat sie ja doch etwas zu ihm gesagt?«

»Nein«, antwortete die stellvertretende Leiterin des Heims kurz angebunden. »Mr Gonzalez ist unabkömmlich. Aber ich weiß, dass er Ihre Mutter nur deshalb bemerkt hat, weil sie ihn fast umrannte und er dabei sein Tablett fallen ließ. Was ist jetzt bitte mit dem Zimmer Ihrer Großmutter? Wenn Sie es nicht bis morgen Mittag geräumt haben, müssen wir Ihnen einen weiteren Monat berechnen.« Felicity verdrehte die Augen und bemühte sich um einen ruhigen Ton: »Es ist gut, ich kümmere mich darum.« Nachdenklich legte sie auf.

»Und jetzt? Irgendwo muss deine Mutter doch sein. Und wenn ihr doch etwas passiert ist?«, fragte ihr Vater, dessen Sorgenfalten sich immer tiefer in sein Gesicht gruben. Felicity nahm seine Hand und drückte sie.

»Ich kontaktiere jetzt die Notaufnahmen der Krankenhäuser im Umkreis. Dann haben wir Gewissheit, okay, Dad?«

»Das kann ich doch machen, Felicity. Ruf du lieber bei der Telefongesellschaft an. Die können dir sicher sagen, wo das Mobiltelefon deiner Mutter zuletzt geortet wurde«, schlug Olivia vor und machte sich sofort an die Arbeit. Olivias Nachforschungen in den diversen Krankenhäusern ergaben zum Glück, dass keine Martha Benedict eingeliefert worden war.

Felicitys Anruf bei der Telefongesellschaft war ebenfalls aufschlussreich. Nachdem sie sich mit einigem Hin und Her ausreichend legitimiert hatte, teilte man ihr zu ihrer großen Überraschung mit, dass das Handy ihrer Mutter zuletzt am Vortag am Seattle/Tacoma-Flughafen eingeloggt gewesen war. »Was macht Mom am Flughafen?«, wunderte sich Felicity und sah von Olivia zu ihrem Vater.

»Vielleicht hat sie etwas verwechselt und dachte, du wärst schon gestern geflogen?«, meinte ihr Vater. Dabei schüttelte er den Kopf, als wollte er selbst nicht daran glauben.

»Das kann ich mir kaum vorstellen. Außerdem ergibt das keinen Sinn. Sie wollte mich ja abholen und hinbringen.«

»Vielleicht hat sie sich zu einer spontanen Reise entschlossen?« Das kam von Olivia.

»Aber sie hat doch nur ihre Handtasche mitgenommen. Wer verreist denn ohne Gepäck?«, warf Felicitys Vater ein.

»Du würdest dich wundern, Onkel Arthur«, erwiderte Olivia, die ihn seit jeher Onkel nannte. »Aber ich habe eine Idee: Wie wäre es mit der Kreditkartenabrechnung? Follow the money!«

»Wie bitte? Was heißt das?« Er sah sie verwirrt an.

»Das heißt, dass Olivia zu viele Krimis im Fernsehen gesehen hat«, sagte Felicity. »Aber sie hat recht. Einen Versuch ist es wert. Ich rufe die Kreditkartengesellschaft an. Vielleicht hat Mutter ihre Karte kürzlich benutzt.« Es folgte neuerliches Legitimierungs-Hickhack, aber da Felicitys Vater die Antwort auf die Sicherheitsfrage wusste, erhielt Felicity schließlich die gewünschte Information. Ihre Mutter hatte doch tatsächlich gestern am späten Nachmittag einen Flug nach Rom-Fiumicino gebucht.

»Na also. Wen kennt deine Mutter in Italien?«, fragte Olivia.

»Niemanden«, antworteten Felicity und ihr Vater wie aus einem Mund. Sie sahen sich erstaunt an.

»Dann doch ein Rückfall?«

»Wie kommst du darauf?«

»Rom, Papst, Oberhaupt der katholischen Kirche. Na, klingelt es bei dir? Mea culpa? Hatte das deine Mutter nicht schon mal vor, direkt vor der höchsten irdischen Instanz um Vergebung zu bitten?«

»Oh mein Gott«, entfuhr es Felicity und ihrem Vater wieder gleichzeitig.

»Amen«, ergänzte Olivia trocken.

Am nächsten Mittag stand Felicity in der Abflughalle des Flughafens Seattle/Tacoma. Statt eines Tickets nach Kabul hielt sie nun eins nach Rom in der Hand.

Inzwischen wusste sie, dass ihre Mutter keinen Reue-Rückfall gehabt hatte. Nein, Martha Benedict hatte eine Reise in die Vergangenheit ihrer verstorbenen Mutter angetreten.

Felicity war nach dem Besuch bei ihrem Vater mit Olivia nach Woodhill gefahren. Irgendetwas hatte sie dorthin gezogen und ihr gesagt, dass sie dort Antworten finden würde.

Olivia und sie hatten das Zimmer ihrer Großmutter nochmals gründlich durchsucht und nichts gefunden. Mehr und mehr kreisten Felicitys Gedanken um die geheimnisvolle Schachtel, mit der ihre Mutter das Pflegeheim angeblich so überstürzt verlassen hatte. Hatte der Inhalt der Schachtel etwas mit dem rätselhaften Verschwinden ihrer Mutter zu tun? Später hatte sie auch noch kurz mit dem Pfleger sprechen können, einem älteren Mexikaner.

Seine Schilderung hatte nicht zu ihrer Beruhigung beigetragen. Ihre Mutter habe ausgesehen, als sei der Leibhaftige persönlich hinter ihr her gewesen, erzählte der Pfleger und zog ein zerknülltes Stück Papier aus seinem Kittel. »Hier, das hat Ihre Großmutter in der Hand gehalten, als sie starb. Ich wollte es gestern schon Ihrer Mutter geben, aber es war ja keine Gelegenheit mehr dazu.«

Felicity strich das Papier glatt, das sich als Zeitungsausschnitt entpuppte. Es zeigte eine Szene in einem Gerichtssaal, offenbar den Angeklagten. Leider war das Foto ohne die Bildunterschrift ausgeschnitten worden. Dabei war es weniger der Mann, der Felicity interessierte, als vielmehr die Frau im Hintergrund des Fotos. Sie hatte in ihr ihre Großmutter erkannt. Sie saß in der ersten Zuschauerreihe und hielt den Blick starr auf den Angeklagten gerichtet. Felicity hatte noch nie so viel tödlichen Hass in einem Gesicht gesehen. Der Kleidung des Mannes und dem Alter ihrer Großmutter nach zu urteilen, musste der Ausschnitt aus den 60er-Jahren stammen. Wer war der Mann? Warum hatte sich ihre Großmutter für ihn interessiert? Aus der Rückseite der Abbildung wurde sie auch nicht schlau. Der Zeitungsausschnitt schien Teil einer Todesanzeige zu sein. Allerdings verfasst in einer Sprache aus Zeichen, die sie nicht kannte. Sie vermutete, dass es Hebräisch war. Wenn das stimmte, wie war ihre Großmutter dann auf ein Bild in einer israelischen Zeitung geraten?

Felicity wusste, dass es wenig Sinn hatte, sich an die Polizei zu wenden. Ihre Mutter war eine erwachsene Frau und konnte reisen, wohin sie wollte und wann sie wollte. Ohne lange zu zögern, hatte sie daher beschlossen, ihr zu folgen und sie selbst zu suchen. Natürlich sorgte sie sich um ihre Mutter, aber ebenso grollte sie ihr, weil sie ihren Vater einfach im Stich gelassen hatte und ohne ein Wort verschwunden war. Ihr Vater würde keine ruhige Minute mehr haben, bis er nicht von ihr oder ihrer Mutter gehört hatte. Olivia hatte Felicity versprochen, sich während ihrer Abwesenheit um ihn zu kümmern. Die Reise nach Kabul um einige Tage zu verschieben war kein Problem gewesen.

»Warte, Felicity!«, hörte sie jetzt jemanden nach ihr rufen. Sie drehte sich um und sah, wie Richard, ihr Beinahe-Verlobter, mit schnellen Schritten auf sie zukam.

»Wie schön, dass ich dich noch erwische, Felicity.« Er umarmte und küsste sie ausgiebig zur Begrüßung, als hätten sie sich gestern nicht getrennt. Dann ließ er sie los und bedachte sie mit dem Lächeln, das sie so sehr an ihm liebte. »Entschuldige, alte Gewohnheit.« Richard schien wegen des Kusses nicht im Geringsten verlegen, im Gegensatz zu Felicity. Sie hatte ihn spontan erwidert. Dabei hatte sie sich doch fest vorgenommen, ihm keine weiteren Hoffnungen zu machen! Richard sollte frei sein für eine neue Liebe. Wie es schien, war ihr Herz weit weniger konsequent als ihr Verstand. Warum war er hier? Sie fühlte sich nicht stark genug für eine Wiederholung der Szene vom Abend zuvor.

Richards Anwesenheit erklärte sich mit dem nächsten Satz: »Olivia hat mir gestern noch alles erzählt. Sie meinte, deine Mutter hätte eine Art Midlife-Crisis und wäre tatsächlich ohne ein Wort nach Rom verschwunden? Einfach so? Merkwürdig, Spontaneität ist nichts, was ich mit Martha Benedict je in Verbindung gebracht hätte. Und du hast beschlossen, ihr hinterherzureisen?«

Gott sei Dank, dachte Felicity erleichtert. Richard war hier wegen ihrer Mutter, nicht, um sie zurückzuhalten, weil er dachte, sie flöge nach Kabul. »Ja, ich mache mir Sorgen um sie. Du weißt ja, wie sie sein kann. Sie war noch nie in Europa, spricht kein Italienisch, höchstens ein wenig Latein, und soviel ich weiß, kennt sie dort auch keine Menschenseele.«

»Und was hast du jetzt vor? Wie willst du sie finden? Rom ist groß.«

»Ehrlich gesagt habe ich keinen blassen Schimmer. Obwohl es wahrscheinlich wenig nutzen wird, werde ich mich zuerst einmal an die italienische Polizei wenden. Mehr Hoffnungen setze ich aber auf die Bank und die Kreditkartengesellschaft meiner Mutter. Die haben sich nämlich bisher als sehr entgegenkommend erwiesen. Daher weiß ich, dass Mutter noch am Flughafen in Rom Geld abgehoben hat. Das ist wenigstens eine Spur. Es bedeutet ja vor allem, dass sie sicher dort angekommen ist. Sobald sie das nächste Mal ihre Kreditkarte benutzt, werde ich informiert.«

»Hier, ich habe etwas für dich, einen Namen und eine Telefonnummer in Rom!« Richard drückte ihr einen Zettel in die Hand. »Ich habe heute früh mit meinem jüngeren Bruder Fred gesprochen, und er hat mir einen Pater namens Lukas von Stetten genannt. Fred hat vier Semester mit dem Mann in München studiert. Pater Lukas ist Jesuit und lebt seit einigen Monaten in Rom. Ich habe gestern Abend mit ihm telefoniert.«

»Gestern Abend? Dann hast du den armen Mann mitten in der Nacht aus dem Bett geholt?« Wie um sich zu vergewissern, sah Felicity auf ihre Uhr.

Richard lächelte wieder sein unwiderstehliches Lächeln. »Bruder Fred sagte, das sei schon in Ordnung. Priester seien vierundzwanzig Stunden im Gottes-Einsatz. Und Pater von Stetten hat tatsächlich zugesagt, dich in Rom vom Flughafen abzuholen. Er wird dich bei deiner Suche unterstützen.«

»Danke, ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll. Du beschämst mich. Du bist so ein Schatz, und ich …« Sie führte den Satz nicht zu Ende. Im Grunde war alles gesagt, und es gab nichts, was sie noch hätte hinzufügen können, was es einfacher für sie beide machen würde. Stattdessen hob sie sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange. »Grüß Fred von mir.«

Richard hielt sie einen Moment fest und drückte sie an sich. Dann ließ er sie abrupt los. »Viel Glück, und melde dich, ja?«

»Natürlich.« Sie ging. Dann drehte sie sich noch einmal um. »Wie erkenne ich Pater von Stetten?«

»Ganz einfach«, Richard grinste. »Halte einfach nach dem attraktivsten Mann weit und breit Ausschau.«

Kapitel 2

Rom, Italien

Dreizehn Stunden später landete das Flugzeug in Fiumicino.

Es war später Vormittag, und Italien zeigte sich von seiner besten Seite: Die Sonne strahlte, der Himmel leuchtete postkartenblau.

Da Felicity nur mit Handgepäck reiste, verließ sie die Gepäckhalle als eine der Ersten. Der Airbus war ausgebucht gewesen, und eine große Menschenmenge erwartete die Passagiere hinter der Absperrung im Ankunftsterminal. Felicity suchte die Gesichter der männlichen Wartenden ab. Die einzig gut Aussehenden waren zu jung, und eine Soutane trug auch niemand. Ihr fiel ein, dass sie Richards Bruder Fred selten in seiner Soutane gesehen hatten. Trugen Jesuiten in Rom Soutane? Sie wusste es nicht. Warum hatte sie nicht gefragt?

Dann sah sie doch noch einen sehr gut aussehenden jungen Mann, der sich durch die Menge nach vorn drängte. Doch dann entdeckte sie, dass er rechts und links jeweils ein kleines Kind an der Hand hielt. Ihm auf dem Fuße folgte ein dicker Mann in schreiend bunter Kleidung. Felicity musste beim Anblick seiner grünen Shorts und des rosa Hemds spontan an Richards letztes Halloween-Kostüm denken. Er hatte sich als Wassermelone verkleidet. Hör endlich auf, ständig an Richard zu denken!, ermahnte sie sich selbst.

Sie angelte nach dem Zettel mit der Telefonnummer, den er ihr gegeben hatte. Sie würde noch ein wenig warten und Pater von Stetten dann anrufen. Sicher war er aufgehalten worden. Plötzlich bemerkte sie, dass der Wassermelonen-Mann versuchte, ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Er winkte mit einem Taschentuch, mit dem er sich eben noch über die Stirn gewischt hatte. Felicity sah sich um, ob er auch wirklich sie meinte. Er winkte wieder. Ohne Zweifel, er meinte sie. Sie ging auf ihn zu.

»Sind Sie Signora Felicity Benedict?«, fragte er in etwas unsicherem Englisch.

»Äh, ja? Sind Sie Pater von Stetten?« Sie starrte in sein rotes Gesicht. Da hatte sich Richard aber einen netten Scherz mit ihr erlaubt.

»Leider nein. Pater von Stetten wurde heute Morgen in einer dringenden Angelegenheit vom Bischof nach Bamberg beordert. Er hat mich stattdessen geschickt. Ich bin Pater Simone Olivieri. Willkommen in Rom, Signora Benedict.« Er streckte ihr die Hand entgegen.

Felicity ergriff verwirrt seine verschwitzte Rechte. »Vielen Dank. Aber woher wussten Sie, dass ich es bin?«

»Pater Lukas meinte, Ihr Verlobter habe Sie ihm sehr eindeutig beschrieben: Ich solle nach der schönsten Frau am Flughafen Ausschau halten. Sie sehen, kein Hexenwerk.« Pater Simone lächelte sie verschmitzt an.

Felicity lächelte zurück. Ihr gefiel der dicke Pater. »Das ist wirklich nett von Ihnen, dass Sie mich abholen.«

»Aber gerne. Ist das alles an Gepäck, was Sie haben?« Er sah erstaunt auf ihren kleinen Rollkoffer. Offenbar hatte er noch nie eine reisende Frau mit so wenig Gepäck gesehen. Felicity konnte nicht ahnen, dass der Pater mit fünf Schwestern gesegnet war, deren Gepäckumfang bei ihren Besuchen in Rom dem eines mittleren Umzugs gleichkam.

»Ja, ich hoffe darauf, meine Mutter bald zu finden. Wenn ich mehr Zeit benötigen sollte, kann ich immer noch etwas besorgen.«

»Gut, dann fahren wir zunächst zu Ihrem Hotel und checken Sie ein. Haben Sie sich schon überlegt, was Sie als Erstes unternehmen möchten?«, fragte er, während sie das Terminal verließen und in die warme Maisonne hinaustraten.

»Ja, ich dachte, ich könnte bei der Polizei vorsprechen. Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, eine Anfrage in den römischen Hotels zu starten. Irgendwo muss meine Mutter ja heute Nacht geschlafen haben. Sie ist gestern Mittag hier angekommen.«

»Gut, wie heißt Ihr Hotel?«

»Hotel Visconti.« Felicity wollte ihre Hotelbuchung hervorziehen, aber Pater Simone meinte: »Lassen Sie ruhig, ich kenne es. Es befindet sich im Centro Storico, in der Nähe der Piazza del Popolo.«

Nachdem Felicity eingecheckt hatte, fuhr Pater Simone sie zur nächsten Polizeistation auf der Piazza Trinità dei Pellegrini.

Der Polizist war sehr verständnisvoll und freundlich, sah sich aber außerstande, eine Anfrage an alle römischen Hotels zu stellen. »Tut mir leid, Signora«, übersetzte ihr Pater Simone, »aber Ihre Mutter gilt nicht als vermisst. Eine Anzeige liegt auch nicht vor, und Sie sagten ja selbst, dass Sie keinen Grund hätten, von einem Verbrechen auszugehen. Warten Sie doch einfach, bis Ihre Mutter sich von selbst bei Ihnen meldet, Signora. Ansonsten würde ich Ihnen raten, sich an die amerikanische Botschaft in der Via Veneto zu wenden. Arrivederci.«

»So habe ich mir das gedacht«, kommentierte Pater Simone und fuhr sich erneut mit dem Taschentuch über die Stirn. »Römische Beamte. Bloß keine Verantwortung übernehmen und die Arbeit möglichst delegieren. So wird das nichts mit Forza Italia

»Und was machen wir jetzt?« Felicity verharrte unschlüssig auf der Treppe der Polizeistation.

»Jetzt gehen wir erst einmal etwas essen, und dann besprechen wir unser weiteres Vorgehen. Ich habe da eine Idee. Aber kommen Sie, wir gehen in die Trattoria da Gino. Es ist zu Fuß nicht weit.«

Felicity verspürte wenig Appetit, aber der Pater hatte das Essen derart enthusiastisch angekündigt, dass sie nicht das Herz hatte, es ihm abzuschlagen. Der Wirt, Gino, hatte Pater Simone wie einen alten Freund begrüßt und sich vor Freude fast überschlagen, dass Pater Simone eine bella signorina mitgebracht hatte. Gefühlt alle fünf Minuten tänzelte er um ihren Tisch herum und fragte Felicity, ob es ihr schmecke.

Felicity bemühte sich, von allem wenigstens die Hälfte zu essen, während Pater Simone mit gutem Appetit zugriff und auch der Flasche Rotwein reichlich zusprach. Felicity nippte nur an ihrem Glas. Sie spürte, dass sich eine Migräne ankündigte, Rotwein am Mittag würde es sicher verschlimmern. Bereits bei der Pasta e fagioli, die als Primo serviert wurde, konnte Felicity ihre Ungeduld nicht mehr zügeln und fragte Pater Simone nach seiner Idee. Der stopfte sich eben umständlich die Serviette in den Hemdausschnitt. Nun sah er sie an. »Pater von Stetten hat mich darüber informiert, dass Ihre Mutter sehr fromm ist und viel Zeit im Gebet verbringt. Falls sie dazu eine Kirche aufsucht, habe ich mir Folgendes ausgedacht: Wenn Sie ein Foto Ihrer Mutter hätten, könnte ich es vervielfältigen lassen und an meine Brüder in den Kirchen verteilen, damit sie nach Ihrer Mutter Ausschau halten.«

»Das ist eine hervorragende Idee. Natürlich habe ich ein Foto.«

Pater Simone griff nach seinem Löffel. »Und jetzt probieren Sie. Gino macht die beste Pasta e fagioli von Rom. Und machen Sie sich keine Sorgen, Signorina Benedict. Wir finden Ihre Mutter.«

Kapitel 3

 

Das Foto zu vervielfältigen war dann gar nicht mehr nötig.

Noch während Gino die Espressi servierte, meldete sich die Kreditkartengesellschaft bei Felicity und gab ihr den Namen des Hotels durch, in dem ihre Mutter abgestiegen war. Pater Simone und Felicity machten sich sofort auf den Weg zur genannten Adresse in die Via della Conciliazione.

Am Empfang wies sich Felicity als Tochter von Martha Benedict aus. Laut Rezeptionistin befand sich ihre Mutter auf ihrem Zimmer, denn die Schlüsselkarte, die für die elektrische Versorgung benötigt wurde, war aktiviert. Allerdings reagierte Martha nicht auf den Anruf. »Es könnte sein, dass Signora Benedict gerade duscht oder sich die Haare föhnt und das Klingeln nicht hört«, meinte die Hotelangestellte dazu.

Felicity zügelte ihre Ungeduld. »Gut, dann warten wir zehn Minuten und versuchen es noch einmal. Wenn sich meine Mutter dann immer noch nicht meldet, könnten wir dann vielleicht nachsehen? Nur um sicherzugehen, dass alles in Ordnung ist?«

»Natürlich.«

In diesem Moment öffnete sich die Aufzugstür, und eine ältere Asiatin im Reinigungskittel schob ihren Servicewagen zur Rezeption. Sie sprach mit der jungen Frau, und es entspann sich eine kurze Diskussion, aus der Felicity nur den Namen ihrer Mutter heraushörte. Fragend sah sie Pater Simone an.

»Wie es scheint, hängt das Schild ›Bitte nicht stören‹ schon seit gestern Abend an der Zimmertür Ihrer Mutter.« Er wandte sich an die Dame am Empfang und sagte bestimmt: »Ich denke doch, dass wir gleich nachsehen sollten. Vielleicht ist die Dame krank und benötigt einen Arzt?«

Die Hotelangestellte nickte, rief eine Kollegin aus dem Büro, damit sie für sie übernähme, und führte sie zum Fahrstuhl.

Kurz darauf standen sie vor der Tür mit der Nummer 212 und klopften. Keine Reaktion. Felicity rief nach ihr. Nichts. »Bitte, machen Sie uns die Tür auf?« Felicity wurde ungeduldig.

Die Angestellte zögerte nun nicht mehr, sondern öffnete mit der Generalschlüsselkarte die Tür. Felicity betrat das Zimmer als Erste und starrte auf das unerwartete Chaos, das sich ihren Augen bot. Jede erdenkliche Fläche des Zimmers war mit Zeitungsartikeln und Papierschnipseln übersät. Das meiste war zerrissen und einiges auch wieder zusammengeklebt worden. Es sah aus wie ein riesiges Puzzle. Ihre Mutter kniete auf dem Bett, das ebenfalls mit Papierschnipseln bedeckt war, und blätterte in einem kleinen Notizbuch. Die Haare hingen ihr wirr ins Gesicht, sie wirkte völlig abwesend. Sie hatte nicht einmal bemerkt, dass jemand ihr Zimmer betreten hatte, und reagierte erst, als ihre Tochter sie am Arm berührte. Sie stieß einen erschrockenen Schrei aus.

»Mom! Ich bin es, Felicity!«

Martha starrte ihre Tochter an, als wäre sie eine Fremde. Dann seufzte sie und fuhr sich mit beiden Händen müde durchs Gesicht. Schließlich sagte sie leise: »Was machst du hier, Felicity?«

»Dich suchen. Dad und ich haben uns furchtbare Sorgen um dich gemacht. Du bist einfach so verschwunden. Was hast du dir nur dabei gedacht? Warum hast du Vater nicht wenigstens angerufen? Und was machst du hier überhaupt? Was sind das für Papiere?« Obwohl Felicity erleichtert war, ihre Mutter so schnell gefunden zu haben, schlich sich bereits ein Vorwurf in ihre Stimme.

Ihre Mutter sah sich um, als würde sie das Chaos um sich herum erst jetzt wahrnehmen. Statt Felicitys Frage zu beantworten, strich sie sich durch ihr unordentliches Haar: »Ich muss furchtbar aussehen.«

»Das ist doch jetzt nicht wichtig. Hauptsache, es geht dir gut. Es geht dir doch gut?«

»Natürlich.« Felicitys Mutter schwang sich schwerfällig vom Bett. Sie machte ein, zwei unsichere Schritte, schwankte und wäre beinahe gestürzt. Pater Simone fing sie auf und half ihr, sich wieder auf das Bett zu setzen. Felicity griff nach dem Handgelenk ihrer Mutter, fühlte und sagte: »Dein Puls ist viel zu niedrig. Wann hast du das letzte Mal etwas gegessen, Mom?«

»Ich weiß nicht«, kam die unsichere Antwort. »Gestern Morgen vielleicht?«

Pater Simone hatte bereits fürsorglich ein Glas mit Wasser gefüllt und reichte es Felicitys Mutter.

Die Rezeptionistin stand unschlüssig im Raum.

»Wäre es möglich, meiner Mutter eine leichte Mahlzeit aufs Zimmer zu bringen? Eine Suppe oder ein Omelett?«, wandte sich Felicity nun an sie. Die Hotelangestellte nickte und ging eilig hinaus.

Pater Simone überflog inzwischen die im Raum verteilten Zeitungsausschnitte. Auf die Schnelle konnte er nicht viel erkennen, aber sie schienen ihm zum Teil sehr alt zu sein. Der Kleidung auf einem der zusammengeklebten Bilder nach zu urteilen, stammte es eventuell aus den Zwanzigerjahren. Auf einem Sessel entdeckte er noch eine grüne Papiermappe mit einem Aktenzeichen darauf. Prozessakten? Dann fiel sein Blick auf das Notizbuch, in dem die Signora geblättert hatte, als sie den Raum betreten hatten. Es war auf den Boden gerutscht, als sie vorhin versucht hatte aufzustehen. Es lag nun auf der letzten Seite aufgeschlagen auf dem Teppich. Er hob es auf und erkannte die Schrift. Hebräisch?, wunderte er sich. Am Ende stand nur ein Wort. MET. Das hebräische Wort für tot. Was hatte das zu bedeuten?

»Können Sie das lesen?« Felicitys Mutter fixierte ihn. Plötzlich war wieder Leben in ihren Augen.

»Äh, ja. Es ist Hebräisch.«

»Können Sie Hebräisch?«

»Ja, ich habe es studiert.«

»Können Sie es für mich übersetzen, bitte?«

»Es ist ein wenig viel auf einmal.« Pater Simone blätterte das Buch rasch durch.

»Bitte, es ist sehr wichtig. Ich muss wissen, was da drinsteht.«

»Wer hat das geschrieben?«, wollte Felicity wissen, die dem Wortwechsel gefolgt war.

»Ich vermute, dass es von deiner Großmutter stammt.«

»Großmutter konnte Hebräisch?«

»Offensichtlich.«

»Hast du das gewusst?«

»Nein, sie hat es nie erwähnt. Außerdem war sie keine Italienerin, sondern Deutsche, und ist erst nach dem Krieg nach Rom gekommen. Darum bin ich hier. Sie hat mich und Vater ihr Leben lang belogen und betrogen. Sie hat ihn damit in den Tod getrieben. Ich weiß es.«

»Was?« Entsetzt sah Felicity ihre Mutter an. »Bist du verrückt geworden? Was erzählst du denn da?«

»Weil es wahr ist. Mutter ist schuld am Tod deines Großvaters.«

»Aber es hieß doch immer, Großvater hätte 1960 einen Autounfall gehabt!«

»Ja, aber nur, weil sie sich kurz vorher mit ihm gestritten und ihn dann aus dem Haus geworfen hat. Er ist in sein Auto gestiegen und gegen einen Baum gefahren. Ich glaube, er hat es mit Absicht getan.«

»Wie kannst du nur so etwas sagen, Mutter! Und woher willst du das wissen? Du warst doch damals noch ein Kind!«

»Ich war vierzehn, alt genug! Ich habe mich erst wieder richtig an die Geschehnisse am Todestag deines Großvaters erinnert, als ich die Schachtel mit dem Gedicht in Großmutters Zimmer fand. Vermutlich hatte ich das alles verdrängt. Aber in dem Moment, als ich sein Gedicht für sie gelesen habe, war plötzlich alles wieder da. Hier«, ihre Mutter kramte ein klein gefaltetes Stück Papier aus ihrer Handtasche, »lies das. Es ist auf der Rückseite datiert. Dein Großvater hat es zwei Tage vor seinem Tod geschrieben.«

»Honigtot«, murmelte Felicity, nachdem sie das Gedicht zu Ende gelesen hatte. »Es klingt melancholisch und sehr traurig.«

»Das ist es auch. Dieser Streit damals war nicht ihr erster, das ging schon seit mehreren Tagen so. Dabei hat dein Großvater nie geschrien. Er war ein sanfter Mann, und bis dahin hatte ich nie erlebt, dass er seine Stimme gegen Mutter erhoben hätte. Er hat sie angebetet und wie eine Königin behandelt, so nannte er sie auch, ›meine Bienenkönigin‹. Es ging damals immer wieder um dieselbe Sache. Sie schrie ihn an, er habe sie belogen und der Mann sei damals gar nicht gestorben und er habe sie um ihre Rache betrogen. Sie war völlig hysterisch deshalb. Vater wehrte sich, sagte immer wieder, er habe damals zuerst an das Kind denken müssen. Vor allem wollte er partout nicht, dass Mutter nach Israel flog. Ich erinnere mich noch, dass es um einen Prozess ging, bei dem sie unbedingt dabei sein und aussagen wollte. Vater hingegen hat behauptet, dass es ihr nicht um eine Aussage ginge, sondern nur darum, den Mann zu töten.«

»Welchen Mann?«

»Ich weiß es nicht. Aber ich bin hier, um es herauszufinden.«

Erschüttert sank Felicity neben ihrer Mutter aufs Bett. Ihre Großmutter hatte vorgehabt, jemanden zu töten, und ihr Großvater hatte sie daran hindern wollen? Das alles ergab für sie keinen Sinn. »Und was macht dich so sicher, dass du gerade hier in Italien Antworten auf deine Fragen bekommst?«

»Weil in Rom alles angefangen hat. Hier haben sich dein Großvater und deine Großmutter kurz nach dem Krieg kennengelernt. Nicht in Seattle, wie sie immer behauptet haben. Eine weitere Lüge.«

Felicity sah ihre Mutter ungläubig an. »Woher weißt du das? Und warum hätten sie uns deshalb anlügen sollen?«

»In der Schachtel lag auch meine italienische Geburtsurkunde! So viel Latein kann ich, dass ich verstehe, was ein Certificato di nascita ist. Entgegen Mutters Behauptung wurde ich nicht in den Staaten geboren, sondern in Rom, in einem Gefängnis! Sie muss sich den amerikanischen Taufschein in den Nachkriegswirren erschlichen haben.«

»Großmutter soll dich in einem italienischen Gefängnis geboren haben?« Es wurde immer verrückter. Hilfesuchend blickte Felicity zu Pater Simone. Der hatte die Augenbrauen hochgezogen und sah genauso ratlos aus wie sie.

»Allerdings«, beteuerte Felicitys Mutter. »Ich bin gleich gestern zu der Adresse gefahren, die auf der Urkunde vermerkt ist, aber da steht jetzt ein Wohnblock. Das Gefängnis wurde längst abgerissen. Mutter muss Großvater dort begegnet sein, er hat da gearbeitet, jedenfalls taucht sein Name auf einer Angestelltenliste im Stadtarchiv von 1944 auf. Und er war offenbar nicht nur Arzt, sondern auch Priester.« Martha Benedict klang erschüttert, als könne sie vor allem Letzteres noch immer nicht fassen.

»Woher in Gottes Namen willst du dies denn alles so genau wissen, Mom?«

»Von einer eifrigen Studentin, die sehr gut Englisch spricht und im Stadtarchiv ein Praktikum macht. Leider konnte sie mir nicht sagen, warum Mutter im Gefängnis war, nur, dass sie ein Verbrechen innerhalb der Vatikanischen Mauern verübt haben soll. Darum hatte sie auch keine Akten hierzu, weil die sich im Vatikanischen Archiv befinden. Man muss einen Antrag stellen, um sie einzusehen. Das habe ich gleich morgen vor. Die junge Frau hat aber herausfinden können, dass der richtige Name deines Großvaters Raffael Valeriani lautete und nicht Ralph Valerian. Auf meiner italienischen Geburtsurkunde steht ›Vater unbekannt‹. Das bedeutet, dass der Mann, den ich bisher als meinen Vater angesehen habe, gar nicht mein Vater gewesen ist. Sie haben mich beide belogen. Ich muss herausfinden, wer mein richtiger Vater ist. Er ist der Grund, warum meine Mutter mich nie geliebt hat, ich weiß es. Mir ist natürlich klar, dass ich nicht so überstürzt hätte abreisen dürfen. Aber ich war völlig durcheinander und konnte nicht mehr klar denken.«

Felicity sah ihre Mutter fassungslos an. Plötzlich fiel ihr der Zeitungsausschnitt ein, den ihr der Pfleger gegeben hatte und den sie in ihrer Handtasche verwahrte. Handelte es sich bei dem Angeklagten auf dem Bild um den Mann, den ihre Großmutter 1960 laut ihrem Großvater hatte töten wollen? Hatte sie es womöglich sogar vorher schon einmal versucht? Ein furchtbarer Verdacht ergriff Besitz von ihr, und Felicity überlegte, ob sie den Ausschnitt hervorholen und ihrer Mutter zeigen sollte.

Sommernachtstraum.Va bene?