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Titel

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ISBN 978-3-7751-7229-5 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-5543-4 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:
Satz & Medien Wieser, Stolberg

© der deutschen Ausgabe 2014
SCM Hänssler im SCM-Verlag GmbH & Co. KG · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-haenssler.de · E-Mail: info@scm-haenssler.de

Copyright© 2013 by DeAnna Julie Dodson
Originally published in English under the title Rules of Murder
by Bethany House, a division of Baker Publishing Group,
Grand Rapids, Michigan, 49516, U.S.A.
All rights reserved.

Die Zehn Regeln für einen fairen Kriminalroman (Father Knox’s Decalogue) werden zitiert nach Wikipedia. Die freie Enzyklopädie. 10.03.2014
<http://de.wikipedia.org/wiki/Zehn_Regeln_f%C3%BCr_einen_fairen_Kriminalroman>

Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:
Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung
2006,© 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart

Übersetzung: Doris C. Leisering
Umschlaggestaltung: Kathrin Spiegelberg, Weil im Schönbuch
Titelbild: Tonya Sides Photography









Für den Einen, der alles neu macht

Inhalt

Zehn Regeln für einen fairen Kriminalroman

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Anmerkung der Autorin

Danke …

Über die Autorin

Anmerkungen

Zehn Regeln
für einen fairen Kriminalroman

(Father Knox’s Decalogue, 1929)

  1. Der Verbrecher muss bereits zu Beginn der Geschichte Erwähnung finden, aber es darf niemand sein, dessen Gedanken der Leser folgen kann.
  2. Übernatürliche Kräfte oder Mächte sind selbstverständlich untersagt.
  3. Es darf nur eine Geheimkammer respektive nicht mehr als ein Geheimgang verwendet werden, und dies auch nur dann, wenn sich die geschilderte Umgebung dazu eignet.
  4. Weder sind bis jetzt unbekannte Gifte gestattet noch irgendeine Art der Verabreichung, die am Ende eine lange wissenschaftliche Erklärung erfordert.
  5. Chinesen haben in der Geschichte nichts zu suchen.
  6. Weder darf der Zufall dem Detektiv zu Hilfe eilen, noch darf er unerklärliche Eingebungen haben, die sich als richtig herausstellen.
  7. Der Detektiv darf das Verbrechen nicht selbst begehen.
  8. Alle Spuren, auf die der Detektiv stößt, müssen dem Leser unverzüglich vor Augen geführt werden.
  9. Der beschränkte Freund des Detektivs, sein Watson, darf keinen seiner Gedankengänge verschweigen; sein Intelligenzquotient muss leicht, aber nur ganz leicht, unter dem des durchschnittlichen Lesers liegen.
  10. Zwillinge und Doppelgänger dürfen erst auftreten, nachdem wir gebührend auf sie vorbereitet worden sind.

Kapitel 1

Tief in dem Eichenwäldchen am Ende der langen kurvigen Zufahrt lag Farthering Place, wie eh und je halb verborgen vor der Hauptstraße und neugierigen Blicken. Das alte Herrenhaus schmiegte sich in die Landschaft von Hampshire ein, strahlte dabei aber eher Achtbarkeit und Beständigkeit als besondere Schönheit aus. Dennoch besaß es eine gewisse angenehme Symmetrie, die verhinderte, dass es gänzlich plump wirkte.

Selbst jetzt, da es kaum mehr als ein Schatten in der Dunkelheit war, hatte es würdevolle, anmutige Züge. Vielleicht zu dieser nächtlichen Stunde umso mehr, da die Lichter, die alles unpassende Verhalten sichtbar gemacht hätten, gelöscht waren, und selbst die ausdauerndsten Zecher sich zu guter Letzt torkelnd in ihre Nachtlager zurückgezogen hatten.

Ein nachtblauer 1932er Rolls Royce rollte langsam die Zufahrt hinunter, bis er zum Stehen kam. Hinter dem Lenkrad nahm Drew Farthering sich einen Augenblick Zeit, um seinen Blick über das Gelände streifen zu lassen und sich zu wappnen, bevor er zum Haus ging.

Bevor er nach Hause ging. Die Anzahl der Wagen in der Zufahrt ließ vermuten, dass seine Abwesenheit Constance nicht davon abgehalten hatte, eine ihrer rauschenden Wochenendpartys zu veranstalten. Er hatte niemandem gesagt, man solle mit ihm rechnen.

Regungslos betrachtete er die Szene ein Weilchen. Dann stupste er die Gestalt an, die sich schlafend auf dem Sitz neben ihm ausgestreckt hatte.

»Wir sind da.« Er wusste nicht, warum er flüsterte.

Sein Begleiter bemühte sich um eine etwas würdevollere Haltung und ließ eine Hand durch das rotblonde Haar gleiten. Nun stand es noch mehr ab als vorher.

»Es ist noch da, oder, Drew?«, fragte er gähnend, und Drew nickte ernst.

»Farthering ist noch da, Nick. Es ist immer da.«

Einen Moment später standen sie vor der Haustür und dann in der spärlich beleuchteten Eingangshalle. Dennison hatte prompt auf das Läuten reagiert. Wie immer sah er perfekt gepflegt und angemessen ernst aus, und sein einziges Zugeständnis an die späte Stunde waren der Morgenmantel und die Pantoffeln, die seinen üblichen formalen Aufzug ersetzten. Irgendwie gelang es ihm, selbst diese Garderobe würdevoll und angemessen aussehen zu lassen.

»Uns war nicht bekannt, dass wir Sie erwarten sollten, Sir. Kommen Sie doch herein aus der feuchten Luft.«

Er nahm Drews Hut, und Drew ergriff seine Hand. »Wie geht es Ihnen, Denny? Sie sehen fantastisch aus.«

»Sehr gut, Sir, vielen Dank. Ich gehe davon aus, dass Nicholas nicht vergessen hat, welchen Platz er an Ihrer Seite einzunehmen hat?«

Nick grinste.

»Sein Platz ist immer da, wo ich gerade wieder Unfug angestellt habe«, erwiderte Drew. »Das vergisst er nie.«

Nick schlang einen Arm um die Schultern des Butlers und drückte kräftig zu.

»Benimm dich!«, rügte ihn Dennison.

»Schön dich zu sehen, Dad«, erwiderte Nick mit ungetrübter guter Laune. »Wie steht’s um das alte Haus?«

»Jetzt, wo du da bist, ist seine Sicherheit deutlich gefährdeter. Das kann ich dir sagen.«

Die beiden jungen Männer lachten.

»Guter alter Denny«, sagte Drew. »Ohne Sie wäre Farthering kein Zuhause!«

Nick griff nach den Taschen, die sie vom Auto mit hereingebracht hatten. »Ich befördere die mal hoch in unsere Zimmer, ja, Dad? Geh wieder schlafen.«

Dennison wandte sich zu Drew um, und in seinem Gesicht stand ein ungewohnter Ausdruck von Unbehagen. Er räusperte sich. »Wie gesagt, Sir, uns wurde nicht mitgeteilt, dass wir Sie erwarten. Madams Gäste sind für das ganze Wochenende hier, und –«

»Und Sie mussten jemanden in Nicks Zimmer unterbringen. Das macht nichts. Er kann auf dem Sofa in meinem Studierzimmer schlafen, nicht wahr, Nick?«

Nick grinste. »Es geht nicht nur um mein Zimmer, richtig, Dad?«

»Ich bedaure sehr, Sir, aber Madam –«

»Sie hat jemanden in meinem Zimmer untergebracht?« Drews Gesichtsausdruck verfinsterte sich merklich. »Und darf ich fragen –«

»Dennison? Was ist das für ein Lärm da unten?«

Drew schaute die elegant geschwungene Treppe hinauf. Constance Farthering Parker blinzelte zu ihm herunter und bemühte sich, auch ohne die Brille, die sie aus Eitelkeit nie trug, etwas zu erkennen.

»Der Master ist heimgekommen, Madam«, informierte Dennison sie.

Sie zog ihren rosa Satinmorgenmantel fester um ihren hochgewachsenen Körper und glitt mit majestätischem Hochmut zur Eingangshalle hinab. Ihren über fünfzig Jahren zum Trotz sah sie bei schmeichelhaftem Licht immer noch jung und ziemlich hübsch aus.

»Wir haben dich nicht erwartet, Schätzchen.«

»Das habe ich gehört«, erwiderte Drew und streifte mit den Lippen die mit Rouge verzierte Wange, die sie ihm hinhielt. »Mir war nicht bewusst, dass eine Reservierung erforderlich ist.«

»Natürlich nicht. Es ist nur so, dass wir kein Zimmer für dich frei haben, und auch nicht für –«, sie spähte in Nicks Richtung, der sie über Drews Schulter hinweg anstrahlte, »– den jungen Dennison.«

»Ich dachte, wir hätten vereinbart, dass mein Zimmer tabu ist, Mutter. Besonders nach dem letzten Mal.«

»Aber Schätzchen, Honoria konnte nichts dafür, dass ihr unwohl war.«

»Vielleicht wäre ihr nicht unwohl gewesen, wenn sie an dem Abend etwas weniger als eine ganze Flasche Gin getrunken hätte.«

Nick kicherte, ließ es aber schnell in ein Hüsteln übergehen, als Constance ihm einen bösen Blick zuwarf.

»Und wen hast du dieses Mal in mein Zimmer gesteckt?«, beharrte Drew.

»Einen Freund von Mason.« Constance senkte den Blick und schaute dann wieder zu ihrem Sohn, die Augen groß und unschuldig. »Wirklich, Ellison, wir wussten nicht, dass du dieses Wochenende kommst, und alle Zimmer sind bis übermorgen voll belegt.«

Drew machte ein finsteres Gesicht. Seine Mutter war die Einzige, die es sich erlaubte, ihn Ellison zu nennen. Das wagte niemand sonst. »Ich nehme an, dass meine Wünsche wie üblich nicht zu berücksichtigen waren.«

»Also wirklich, Schätzchen. Könntest du nicht –?«

»Man möchte doch meinen, dass du deinen Gast bei all den Räumen, die es in diesem Haus gibt, anderswo hättest unterbringen können und nicht ausgerechnet in meinem Zimmer. Das ist sicher nicht zu viel verlangt, in Anbetracht dessen –«

»In Anbetracht dessen, dass du der Herr des Hauses bist und ich hier nur von deinen Almosen lebe?« Ihre Stimme überschlug sich in plötzlicher Wut, und Drew widerstand dem Impuls, ihr eine heftige Antwort entgegenzuschleudern.

»In Anbetracht dessen, dass es mein Zimmer ist, wollte ich sagen, Mutter. Wer ist es überhaupt?«

»Ich sagte doch, ein Freund von Mason.« Wieder wandte sie den Blick ab.

»Wer?«

»Er bleibt nur übers Wochenende.«

»Wer ist es?«

»Das spielt keine Rolle«, entgegnete sie und hob trotzig das Kinn.

Drew wandte sich dem Butler zu. »Wer ist es, Denny?«

»Ein gewisser Mr Lincoln, Sir«, antwortete Dennison in seinem distanziertesten Ton.

»Lincoln!« Drew starrte seine Mutter ungläubig an. »Ich schwöre dir, dass ich ihn nicht in meinem Haus dulden werde, geschweige denn in meinem eigenen Zimmer!«

Er nahm zwei Stufen auf einmal, taub für die Forderung seiner Mutter, zurückzukommen und sich zusammenzunehmen. Er hatte die Gerüchte gehört, was angeblich vor zwei Jahren in Monte Carlo zwischen seiner Mutter und Lincoln passiert war. Etwas Derartiges würde er in seinem eigenen Haus nicht dulden, direkt unter den Augen seines Stiefvaters.

Er stieß die Tür zu seinem Zimmer auf und ein Lichtstreifen vom Flur fiel auf das schwere Himmelbett. Drew konnte den schlafenden Lincoln deutlich erkennen – groß, kräftig gebaut, das blonde Haar über der breiten, aristokratischen Stirn streng zurückgekämmt. Ein protziger Rubinring funkelte an seiner rechten Hand. Drew hasste ihn von Herzen und bereute es, ihn je kennengelernt zu haben.

Er ging zum Bett, packte den muskulösen Arm, der über dem Laken lag, und zerrte Lincoln auf den Perserteppich. Polternd und fluchend sprang der Mann auf die Beine, aber Drew gab ihm keine Gelegenheit zu protestieren.

»Packen Sie Ihre Sachen«, sagte er, die Stimme gepresst und leise. »Ich will, dass Sie in fünf Minuten weg sind.«

»Nun hören Sie mal gut zu, Farthering –«

»Fünf Minuten, und keine Sekunde länger.«

Lincoln machte einen Schritt auf Drew zu, der ihn nur mit kühler Verachtung musterte.

»Drew, bitte.« Mason Parker betrat den Raum und strahlte wie immer eine ruhige Vernunft aus. »Ich bin mir sicher, dass Mr Lincoln nichts Böses im Sinn hatte.«

Als er Mason sah, schlug Lincolns Gesichtsausdruck abrupt von Wut in gutmütige Verwirrung um. »Ich glaube, es war eher ein Missverständnis –«

»Wohl kaum!«, fauchte Drew.

»Er ist immerhin unser Hausgast, Drew«, sagte Mason. »Ich bin mir sicher, dass du ihn als einen solchen behandeln wirst.«

»Sir«, protestierte Drew, hin und her gerissen zwischen Achtung für seinen Stiefvater und Wut auf Lincoln. »Dieser Mann –«

»Drew.« Mason legte seinem Stiefsohn den Arm um die Schultern und nahm ihn beiseite. »Deine Mutter hat mir erzählt, was du über Monte Carlo gehört hast, und ich kann dir versichern, dass nichts davon wahr ist. Mr Lincoln und ich haben uns um einige geschäftliche Dinge zu kümmern, und ich habe ihn gebeten, zusammen mit den anderen übers Wochenende zu bleiben. Ich hoffe, dass dir das nicht allzu viele Unannehmlichkeiten bereitet.«

Drew presste die Lippen aufeinander und zählte innerlich bis zehn. »Bitte hör mir zu.« Er senkte die Stimme, als er sah, dass Nick, Dennison und Constance zusammen in der Tür standen und sie beobachteten. »Ich will nicht, dass dich jemand hintergeht, besonders nicht in deinem eigenen –«

»Drew!« Sein Stiefvater war so dicht davor, wütend zu werden, wie Drew es noch nie erlebt hatte, doch auch er hielt die Stimme gesenkt. »Lass uns jetzt nicht streiten. Ich weigere mich, auf unbestätigtes Geschwätz zu hören, und ich hoffe, dass du das auch nicht tust. Natürlich hast du das Recht, jeden aus deinem Haus zu werfen, den du nicht dort haben willst. Aber ich hoffe, dass du dich um deiner Mutter und meiner willen besinnst und ein wenig Gastfreundschaft zeigst, solange Mr Lincoln hier bei uns ist. Bitte.«

Wieder zählte Drew bis zehn. Dieses Mal dehnte und streckte er jede Zahl, bevor er zur nächsten überging. »Ich will mein Zimmer zurück«, sagte er schließlich. »Und Nicks.«

Mason lächelte und wandte sich Lincoln zu. »Ich bitte um Entschuldigung für das Missverständnis.«

»Aber nicht doch. Nicht doch. Ich hatte keine Ahnung, dass ich jemandem zur Last falle«, sagte Lincoln und lächelte verlegen. »Das Ganze ist ein bisschen peinlich.«

»Ich hoffe, Sie können den Vorfall vergessen und bleiben bis zur Party bei uns. Dennison wird Ihnen ein anderes Zimmer geben.«

»Danke, Mr Parker.« Lincoln zog einen Morgenmantel über seinen Seidenpyjama. »Kein Problem.«

Mason tätschelte Constances Hand. »Siehst du, Liebes: kein Problem.«

»Ich bin so froh, Liebling«, erwiderte sie. Mit sanfter, bewundernder Miene hielt sie sich am Arm ihres Mannes fest. »Gute Nacht, Mr Lincoln.«

»Mrs Parker«, sagte Lincoln mit einer formalen Verbeugung.

Mason führte Constance weg, und Dennison betrat das Zimmer, um Lincolns Sachen einzusammeln. »Hier entlang, Sir«, sagte er einen Augenblick später. »Es ist nur hier durch die Tür und die Treppe hinauf.«

Drew stand in der Nähe der Tür, die Arme vor der Brust verschränkt, und ärgerte sich über jede Minute, die der andere Mann noch in seinem Zimmer verweilte.

»Gute Nacht, Farthering«, sagte Lincoln, als er Dennison hinaus in den Flur folgte. Der hässliche Ausdruck in seinem Gesicht strafte seine milden Worte Lügen. »Das dürfte ein reizendes Wochenende werden, nicht?«

»Ganz reizend«, erwiderte Drew und rang sich ein kühles, sprödes Lächeln ab. »Wie schön, dass Sie hier sind. Sie müssen bald einmal wiederkommen.«

Leise in sich hineinlachend zog Lincoln ab, und Drew schlug die Tür so heftig hinter ihm zu, dass die alten Bleiglasfenster in ihren Rahmen klirrten.

»Ganz ruhig, mein Freund«, sagte Nick und grinste. »Es geht doch nichts über das eigene Zuhause, hm?«

Drew konnte nur lachen.

Ornament

Am nächsten Morgen frühstückte Drew zusammen mit seinem Stiefvater draußen auf der Terrasse. Es war ein herrlicher Junimorgen, lau und grün, doch der Dunst hing noch in Schwaden über dem Boden. Noch hatte die Sonne ihn nicht von der hügeligen Wiese hinterm Haus vertrieben, und die Zecher der letzten Nacht hatten ihre Betten noch nicht verlassen.

Drew lächelte Mason an. Der Mann war das beste Beispiel für eine Person in den mittleren, entspannten Jahren: Auf dem Kopf wurde er dünner, um den Bauch herum dafür fülliger, freundliche Lachfältchen zeigten sich in den Winkeln seiner sorglosen Augen – er war in einem Alter, in dem man nichts weiter ausstrahlte als Ruhe und Liebenswürdigkeit.

»Ich möchte mich für gestern Nacht entschuldigen, Sir«, sagte Drew und rührte Honig in seinen Tee. »Aber ich hatte nicht damit gerechnet, dass ausgerechnet –«

»Lass uns nicht wieder davon anfangen«, entgegnete Mason forsch. »Erzähl mir, wie es am Meer war! Du und der junge Nick, ihr scheint in Höchstform zu sein.«

»Ich hoffe, ich klinge nicht zu verwöhnt, aber langsam wird es mir langweilig. Die Leute dort haben nichts zu tun als herumzusitzen und zu trinken und über den neuesten Skandal zu tratschen. Das heißt, wenn sie nicht gerade einen neuen anzetteln.«

»Und natürlich seid ihr beiden jungen Kerle nie an etwas beteiligt gewesen.«

Drew erwiderte das gutmütige Lächeln seines Stiefvaters mit einem Schulterzucken und einem schelmischen Grinsen. »Ich kann nicht behaupten, dass Nick und ich nicht ein- oder zweimal über die Stränge geschlagen haben, Sir. Nur hin und wieder.«

Mason lachte. »Und es gibt keine junge Dame, die du gern mit nach Hause gebracht hättest?«

»Was, bei der Auswahl?« Drew verzog das Gesicht.

»Wie wäre es mit Colonel Saxonbys Tochter?«, schlug Mason vor. »Oder der Pomphrey-Hughes-Tochter? Sie scheint dich zu mögen. Sicher gibt es in der höheren Gesellschaft einige anständige junge Frauen?«

Drew rührte noch mehr Honig in seinen Tee. »Natürlich gibt es die. Sie wurden mir nur bisher nicht vorgestellt. Na gut, für einen Tanz oder einen Drink oder einen Tag am Strand gibt es nichts gegen sie einzuwenden. Aber wenn ich ernsthafte Absichten bei einer jungen Frau hätte, würde ich mir lieber eine aussuchen, die noch nicht mit allen meinen Freunden ein Stelldichein hatte.«

Mason wandte den Blick ab und Drew räusperte sich. »Es tut mir leid, Sir.« Klappernd stellte er seine Teetasse zurück auf die Untertasse. »Wenn ich einmal ins Reden komme, geht es leicht mit mir durch. – Es war wirklich sehr schön an der Küste. Wunderbares Wetter. Das Meer war herrlich, und Bunny – sicher erinnerst du dich an Bunny –«

»Bitte tu das nicht.«

»Sir?«

»Bitte rede nicht nur heiße Luft mit mir. Davon bekomme ich ohnehin genug zu hören. Die Leute reden stundenlang mit mir und sagen absolut nichts.«

»Sir –«

»Und musst du immer ›Sir‹ sagen, Drew? Ich bin jetzt über zehn Jahre mit deiner Mutter verheiratet. Musst du immer ›Sir‹ sagen?«

Drew rutschte auf seinem Stuhl herum. »Ich schätze, ich wusste einfach nie, wie ich dich sonst nennen sollte«, erwiderte er in leichtem Tonfall. »›Mr Parker‹ fand ich ein bisschen viktorianisch und ›Mason‹ zu respektlos. Was schlägst du vor?«

»Ich würde mir nicht anmaßen, dich zu bitten, dass du mich ›Vater‹ nennst. Ich weiß nur zu gut, wie du deinem eigenen Vater gegenüber empfindest. Und ich weiß, dass ich dir kaum ein Vater war. Dennison hat sich die ganze Zeit um dich gekümmert. Ich weiß nicht, mein Junge. Ich denke, es liegt nur daran, dass ›Sir‹ so distanziert klingt.«

Drew schenkte ihm ein kleines, warmherziges Lächeln. »Wenn das so ist, dann war das nicht meine Absicht. Du bist einer der besten Männer, die ich kenne, und ich respektiere dich mehr als fast jeden anderen auf der Welt.«

Schon als er es aussprach, wusste Drew, dass das eine Lüge war, wenn auch eine freundliche. Er konnte keinen Mann, der sich von Constance so schikanieren ließ wie Mason, wirklich respektieren – aber trotzdem mochte Drew ihn ungemein.

»Ich schätze, du bist der einzige Sohn, den ich je haben werde«, entgegnete Mason, »und ich habe dich sehr gern. Ich weiß, dass wir uns nie besonders nahestanden, aber ich hätte gern, dass wir Freunde sind, wenn es dir recht ist.«

Drew wusste nur allzu gut, wie es sein konnte, mit Constance zusammenzuleben. Er erinnerte sich noch an die Zeit, als Mason seiner Mutter den Hof gemacht hatte. Der Mann hatte kurz zuvor seine Frau verloren, und er hatte keine Kinder, keine Familie außer einer jungen Nichte, die irgendwo in Amerika lebte – niemanden, der den leeren Platz in seinem Leben füllen konnte.

»Das wäre mir eine große Ehre, Sir«, sagte Drew schließlich und Mason drückte ihm die Schulter.

»Es ist schön, dich wieder daheim zu haben, mein Junge. Dieses alte Haus ist ohne dich einfach nicht dasselbe.«

»Ja, man kann wohl sagen, dass ich etwas Staub aufgewirbelt habe. Tut mir leid.«

»Mach dir nichts draus. Das spielt jetzt keine Rolle. Aber ich wünschte, du hättest nicht so eine falsche Vorstellung von deiner Mutter. Du weißt, wie gern die Leute tratschen, besonders diejenigen, die sonst wenig zu tun haben.«

»Eine der Gefahren, wenn man sich in der höheren Gesellschaft bewegt«, stimmte Drew ihm zu, doch dieses Mal lag ein Hauch von Bitterkeit in seinem Lächeln. »Ich kann nur nicht ertragen zu sehen, wie sie dich verletzt.«

»Ich vertraue ihr.«

Drew schwieg einen Moment und beobachtete ein Rotkehlchenpaar, das unter einem blühenden Rhododendron hervor- und wieder zurückhüpfte. »Nun, ich werde deinen Gästen keine weiteren Szenen machen«, sagte er schließlich. »Wenn du dir sicher bist, dass sie deine Gäste sind.«

»Das ist lieb von dir. Rushford kommt später, und dann siehst du es selbst.«

»Also gut. Ich werde mich einfach amüsieren und Gast in meinem eigenen Haus spielen. Das könnte Spaß machen.« Drew lehnte mit einer Handbewegung die Platte mit den Eiern ab, die sein Stiefvater ihm anbot, und nahm stattdessen eine Scheibe Toast. »Ja, das wird eine nette Abwechslung nach all dem Trinken und Tanzen und Spazierengehen am Strand. Hier können wir im Garten trinken und tanzen und spazieren gehen.« Er seufzte mit übertriebener Zufriedenheit. »Ach ja, Abwechslung ist die Würze des Lebens.«

»Vielleicht solltest du mit ins Geschäft einsteigen«, schlug Mason vor. »Farlinford hat einige fantastische Projekte im Raffineriebereich, die dich interessieren könnten. Sie könnten die ganze Branche revolutionieren. Und wir haben die Büros der Direktoren renoviert. Du solltest einmal vorbeikommen und sie dir anschauen.«

Drew lachte. »Das werde ich tun, ganz sicher, aber ich glaube, ich bin viel zu jung, um zum Vergnügen zu arbeiten, und noch längst nicht verzweifelt genug. Ach, übrigens«, setzte er hinzu und wurde etwas ernster, »ich habe letzte Woche in der Zeitung von McCutcheons Tod gelesen. Er war in der Forschung, nicht wahr?«

Mason nickte. »Eine schlimme Geschichte. Und so ein junger Mann. Aber er kannte sich im Labor gut aus, und ich begreife nicht, wie er solch einen Fehler gemacht haben soll. Ein Mann mit seiner Erfahrung! Keine schöne Art zu sterben.«

»Hatte er Familie?«

Mason schüttelte den Kopf. »Anscheinend hatte er keinen einzigen Menschen auf der Welt. Sehr traurig.«

»Ich nehme an, er war an den neuen Entwicklungen beteiligt, von denen du mir erzählt hast«, sagte Drew. »Irgendetwas besonders Bemerkenswertes?«

»Das weiß ich nicht«, gab Mason zu. »Er sagte, er stünde kurz vor einem ganz großen Durchbruch. Aber das hat er immer gesagt. Ich habe nie gesehen, dass wirklich irgendetwas dabei herausgekommen wäre. Ein Jammer. Er war sehr vielversprechend.«

»Nun, ich erinnere mich zwar herzlich wenig an meinen Chemieunterricht, aber ich hätte nichts dagegen zu sehen, was ihr da draußen in Farlinford macht. Vielleicht könnte ich bei deiner kleinen Revolution mithelfen. Aber nicht dieses Wochenende. Ich glaube, ich werde mich ein Weilchen unters Volk mischen und neue Leute kennenlernen. Vielleicht finde ich die junge Frau, nach der du gefragt hast.«

Mason erhob sich und klemmte sich die Morgenzeitung unter den Arm. »Da fällt mir noch etwas ein. Meine Nichte Madeline und einige ihrer Freundinnen aus Amerika kommen für ein paar Tage aus London hierher. Vielleicht gefällt dir ja eine von ihnen. Du würdest mir einen großen Gefallen tun, wenn du sie ein bisschen durch das Haus und den Garten führst und ihnen das Anwesen zeigen würdest.«

Drew hob seine Teetasse wie zu einem Trinkspruch. »Es wird mir ein Vergnügen sein.«

Als Mason gegangen war, blieb Drew allein am Tisch sitzen. Dann sah er die robuste Mrs Devon an der Terrassentür warten und stand auf. »Guten Morgen, Mrs D. Sie wollen doch nicht den Frühstückstisch abräumen, oder?«

»Wenn Sie fertig sind, Mr Drew«, erwiderte sie und eilte mit einem Tablett heran.

»Was ist mit Ivy passiert?«

»Gar nichts, mein Junge«, sagte Mrs Devon, während sie begann, die schmutzigen Teller aufeinanderzustapeln. »Ich habe ihr gesagt, dass ich heute Morgen das Abräumen übernehme. Ich wollte ganz sichergehen, dass Sie an Ihrem ersten Morgen daheim alles haben, was Sie brauchen.«

»Ja, wunderbar, Mrs D. Sie haben wieder herrliche Eier gezaubert, wie immer. Nick wird es leidtun, dass er so lange geschlafen hat.«

»O nein, Sir. Der Schlawiner war schon vor Sonnenaufgang in der Küche. Er hat sich Würstchen aus der Pfanne gemopst, kaum dass sie richtig fertig waren. Und dann war er auch schon zur Tür hinaus, um wer weiß was für Unfug anzustellen.«

»Ja, das kann man wirklich nie wissen«, erwiderte Drew lachend. Ein plötzliches Scheppern von der Vorderseite des Hauses her ließ sie beide zusammenzucken. »Das war nie und nimmer Nick.«

Drew eilte zum Terrassengeländer und schaute zum Rasen vor dem Haus hinunter. Die Zufahrt entlang kamen drei Mädchen in einem kleinen Sportwagen, der allerhöchstens für zwei Personen gedacht war. Der Wagen ruckelte und die Mädchen kicherten und quietschten so laut, dass sie fast das Geräusch des stotternden Motors übertönten. Etwa fünfzehn Meter weiter erstarb der Motor, nur um dann unter dem Johlen der Beifahrerinnen und dem halblauten Knurren der Fahrerin wieder anzuspringen. Warum es hieß, man solle einer Frau hinter dem Lenkrad eines Automobils nicht trauen, wusste Drew nicht, aber er war davon überzeugt, dass der Satz trotzdem stimmte. Als das Auto langsam rollend zum Stehen kam, bewegte er sich zur Vorderseite des Hauses und die Treppe hinunter.

Die Fahrerin winkte und lächelte ihn mit großen, blauen Augen und einem kokett auf die Seite gelegten blonden Pagenkopf an. »Wir sind da!«, rief sie mit einer hohen, kindischen Stimme, die völlig anders klang als ihr Knurren von gerade eben.

»Willkommen in Farthering Place, Miss Parker«, sagte Drew höflich zurückhaltend, während er die Wagentür für sie öffnete.

Alle drei Frauen kicherten, doch die dunkelhaarige in der Mitte wandte rasch den Blick ab und tat so, als suche sie nach etwas in ihrer Handtasche. Drew erkannte seinen Fehler, trat um den Wagen herum und öffnete die Beifahrertür.

»Miss Parker«, wiederholte er und streckte den Arm aus, um die Hand der braunhaarigen jungen Frau zu nehmen.

Sie überraschte ihn mit einem spitzbübischen Lächeln, einem festen Händedruck und einem intelligenten Blick aus lavendelblauen Augen. »Nun haben Sie mich doch noch entdeckt.«

»Hey, mich haben Sie auch entdeckt!«, protestierte die junge Frau links von ihr, die Drew gedankenlos noch mehr in die Ecke des Sitzes gedrängt hatte, als er Madeline die Hand gereicht hatte.

»Ich bitte tausendmal um Entschuldigung«, sagte er, lächelte die kleine Rothaarige an und zog sie mit vollendeter Ritterlichkeit auf die Füße. Als Nächstes half er Madeline aus dem Wagen. Die Blonde am Lenkrad blieb einfach sitzen, lächelte Drew an und streckte ihm die Hand entgegen, sobald er Madelines losgelassen hatte.

»Vergessen Sie Baby nicht«, gurrte sie.

»Hat Baby auch einen Namen?«, fragte er und verschränkte die Hände nachdenklich hinter dem Rücken. »Oder sollen wir auf Ihr Platzkärtchen beim Abendessen einfach ›Baby Girl‹ schreiben?«

Die anderen Mädchen kicherten erneut. Mit einem vielsagenden Lächeln auf den roten Lippen rutschte die blonde junge Frau zu seiner Seite des Wagens hinüber, stieg aus und schob ihren Arm durch seinen.

»Mein Name ist Brower. Muriel Brower. Aber Sie dürfen mich Baby Girl nennen. Wie schaffen Sie es nur, mit dem Wagen auf der falschen Seite zu fahren und all diese Dinge? Und bevor Sie fragen – ja, es wäre herrlich, wenn Sie mir das Anwesen zeigen würden.«

Die kleine Rothaarige verdrehte die Augen. »O Mann.«

»Sehr erfreut, Miss Brower«, entgegnete Drew und löste sich geschickt von ihrem Arm, während er sich den anderen jungen Frauen zuwandte. »Und Ihre andere Freundin, Miss Parker?«

»Carrie Holland ist diejenige, die Sie fast zerquetscht hätten.«

»Machen Sie sich nichts draus«, sagte der Rotschopf mit einem Lächeln.

Er fand das Lächeln ansteckend und erwiderte es. »Miss Holland, es ist mir ein Vergnügen.«

Muriel stellte sich neben ihn und nahm wieder seinen Arm. »Jetzt können Sie mir erst einmal Ihr Schloss zeigen, Schätzchen, und dann sehen wir weiter.«

»Vielleicht machen wir es so, dass Sie drei das Anwesen besichtigen, nachdem Sie sich eingerichtet haben«, schlug Drew vor und löste sich erneut aus dem Griff der jungen Frau. »Erst einmal hole ich am besten jemanden, der Ihr Gepäck nach oben bringt, und –«

»Onkel Mason!« Madeline eilte die Steinstufen hinauf, um ihren Onkel warmherzig in die Arme zu schließen.

»Madeline, mein Schatz, wie schön, dich wiederzusehen.« Mason drückte sie an sich und gab ihr einen liebevollen Kuss auf die Wange. »Und wie schön, dass deine Freundinnen mitgekommen sind.«

Nach einer weiteren kurzen Vorstellungsrunde traten alle ins Haus. Drew, der das Schlusslicht hinter den anderen bildete, warf unwillkürlich einen heimlichen Blick auf Madeline Parker. Sie war groß, nur wenige Zentimeter kleiner als er selbst mit seinen eins zweiundachtzig, anmutig schlank und entzückend weiblich. Er hatte eine Fotografie von ihr auf Masons Schreibtisch gesehen – eine schlaksige Bohnenstange am Strand von Atlantic City, die sich um die eigene Achse drehte und breit lächelte. Zwischen zwölf und zweiundzwanzig gab es einen himmelweiten Unterschied, das war nicht zu leugnen.

Vielleicht bestand ja doch noch Hoffnung für das Wochenende.

Kapitel 2

Mason Parker vertraute Madeline und ihre Freundinnen auf der Stelle der fähigen Mrs Devon an, und bald waren die Mädchen in einer Dreiergruppe von Zimmern im sonnigen Südflügel des Hauses untergebracht.

Madeline fand ihres besonders hübsch, mit seinem großen Erkerfenster und einem riesigen Himmelbett, das in blassblauen Damast gehüllt war. Der Raum war opulent und prunkvoll, doch gleichzeitig hell und luftig. Sie konnte es kaum erwarten, bis es so weit war, sich unter die schwere Decke und die feinen Leinenlaken zu kuscheln wie eine Prinzessin im Märchen.

»Stell dir mal vor«, maulte Muriel, als sie durch die Verbindungstür aus dem ihr zugewiesenen Zimmer platzte, ein Filmmagazin unter dem Arm, »wir sind drei und es gibt nur ein Badezimmer. Ist dein Zimmer besser als meins?«

Madeline hatte auf der gepolsterten Bank vor dem Fenster gekniet, durch die längs unterteilten Scheiben geschaut und den üppig blühenden Rosengarten bewundert. Doch nun streckte sie ihre langen Beine, drehte sich um und setzte sich auf den Rand der Bank. Sie warf ihrer Freundin einen finsteren Blick zu.

Das Zimmermädchen Anna schaute von ihrer Arbeit auf – sie legte gerade Madelines zarte Dessous aus dem Koffer in die Kommode – und fragte: »Gibt es ein Problem, Miss?«

»Hör einfach nicht hin, meine Liebe«, sagte Carrie zu ihr, und man hörte ihr einen leichten Südstaatenakzent an. »Manche Leute wären nicht einmal in einer Gouverneursvilla glücklich.«

»In Ordnung, Miss«, antwortete Anna und erhob sich. »Ich werde mich darum kümmern, dass Ihre Sachen ausgepackt werden, nachdem das Mittagessen serviert worden ist.«

»Wir haben Glück, dass es hier nicht nur ein Badezimmer für die ganze Etage gibt«, bemerkte Madeline, sobald das Zimmermädchen gegangen war. »Es ist ja nicht so, als wären in diesen alten Häusern ursprünglich überhaupt Badezimmer eingebaut worden, weißt du?«

»Und was passt dir nicht an den Zimmern?«, wollte Carrie wissen. »Sie sehen genau so aus, wie man es in einem alten Herrenhaus erwartet. Samtvorhänge und überladene alte Tapeten und handgeschnitzte Möbel, die seit Hunderten von Jahren hier stehen. Mein Zimmer ist herrlich. Und hast du die Aussicht zum Wald hinüber gesehen? Einfach traumhaft.«

»Ich sag dir, was traumhaft ist«, sagte Muriel in vertraulichem Ton zu Madeline. »Dein Cousin. Mr Farthering.«

Carrie hauchte ein leises, zustimmendes »Ooooh ja«.

Madeline lachte. Muriel machte sich immer an den bestaussehenden Mann heran, der gerade zu haben war. Dieses Mal hatte Madeline jedoch nicht im Geringsten die Absicht, tatenlos zuzusehen. Neben dem dichten dunklen Haar, den faszinierenden grauen Augen und dem unleugbar gut aussehenden Gesicht hatte Drew Farthering etwas Besonderes an sich. Ein genauerer Blick würde sich auf jeden Fall lohnen.

»Ach, ist er attraktiv? Das habe ich gar nicht bemerkt.«

»Soso, du hast es nicht bemerkt«, murmelte Muriel mit einem Grinsen.

»Außerdem«, setzte Madeline hinzu, »ist er nicht mein richtiger Cousin. Onkel Mason ist nur sein Stiefvater.«

»Warum hast du uns nicht früher von ihm erzählt?«, fragte Carrie.

»Ich bin ihm bis jetzt noch nie persönlich begegnet.«

Muriel hob eine ihrer fein nachgezogenen Augenbrauen und zündete sich eine Zigarette an. »Ich würde sagen, wenn ich jemals froh darüber wäre, dass ein Mann nicht mein Cousin ist, dann wäre es bei diesem. Er ist hinreißend. Wie nennen sie ihn? Drew?«

Madeline nickte. »Eine Abkürzung für Andrew, glaube ich. Aber sein erster Vorname ist anders, irgendein langweiliger Familienname, den er nicht leiden kann.«

»Drew, das gefällt mir«, sagte Muriel. »Der hinreißende Drew. Ein echter englischer Gentleman, wie er im Buche steht.«

»Wahrscheinlich ist er wie alle anderen Männer hier und daheim«, erwiderte Madeline mit einer nachlässigen Handbewegung. »Nichts als heiße Luft und Mus im Kopf.«

»Wer ist dieses Mal auf der Titelseite?«, fragte Carrie und schnappte sich Muriels Zeitschrift. »Oh, Lucy Lucette. Die nehmen aber auch jede auf den Titel.«

»Wie wahr«, erwiderte Muriel. »Wie man hört, tut die liebe Lucy alles, damit ihr Name in einer Zeitung erscheint.«

»Bald kommt doch ein neuer Film von ihr heraus, oder? Die Bordsteinschwalbe.«

»Nein, der ist erst mal zurückgestellt, weil sie keinen Geldgeber finden konnten. Dieser Film ist irgendetwas über einen Käfig.« Muriel eroberte ihre Zeitschrift zurück und blätterte darin, bis sie fand, was sie suchte. »Arabellas goldener Käfig. Klingt dekadent.«

Kopfschüttelnd ging Madeline zum Kleiderschrank, zog eines der darin hängenden Abendkleider hervor und drapierte es übers Bett.

Carrie machte erneut »Ooooh!« und ließ die Hand über den blassgrünen Satinstoff gleiten. »Das ist doch nicht das von Giselle, oder? Oh, du hast doch nicht –«

»Doch, hab ich.«

»Ich dachte, du sagtest, es sei zu –«

»Ich hab es mir anders überlegt.«

Muriel trat hinzu, um das Kleidungsstück zu inspizieren. »Ziemlich flott, wenn du mich fragst. Etwas zu gewagt für dich, oder, Süße?« Sie hielt es vor sich hin, wobei es eine Menge Zigarettenrauch abbekam. »An mir wäre es natürlich tress schick. Und die Männer kämen nur so gelaufen.«

»Très chic«, korrigierte Madeline und nahm ihr die schillernde Kreation aus der Hand. »Und warum sollte das an mir nicht schick aussehen? Immerhin hat Onkel Mason es extra für mich von Madame Giselle entwerfen lassen.«

»Versteh mich nicht falsch, Madeline, Schätzchen«, sagte Muriel. »Natürlich hast du die Figur dazu. Aber du bist mehr der Typ für Batist.« Sie verschränkte die Hände vor dem Körper und brachte es irgendwie fertig, sittsam auszusehen. »Weißer Batist mit kleinen Puffärmeln und einem Veilchenstrauß an der Taille.«

»Vielleicht vor vierzig Jahren«, protestierte Madeline mit einem Lachen. Dann hielt sie das gewagte Kleid vor ihr Spiegelbild und fragte sich, was Tante Ruth wohl denken würde, wenn sie sie darin sehen könnte. »Es ist wirklich hübsch, oder?«

»Hübsch genug, dass unser hinreißender Drew seine steifen englischen Manieren vergisst und dich im Sturm erobert.« Muriel grinste. »Es sei denn, ich erwische ihn zuerst.«

»Der arme Junge«, sagte Carrie.

Ornament

Das Mittagessen wurde als Büfett auf der Terrasse serviert. Madeline hatte gehofft, dass sie und ihre Freundinnen einige Gäste ihres Onkels kennenlernen würden, doch neben den drei Frauen waren nur wenige zu Tisch gekommen. Die anderen, die erst spät gefrühstückt hatten, hatten offenbar beschlossen, den leichten Mittagsimbiss zugunsten eines üppigeren Abendessens auszulassen.

»Ihr Onkel trifft sich am Nachmittag mit seinen Geschäftspartnern«, erklärte Drew Madeline. »Meine Mutter ist zusammen mit Mrs Chesterton und Mrs Laney mit dem Wagen unterwegs. Sie wollen in Winchester einige Einkäufe machen.«

»Ach, ich hatte gehofft, sie jetzt gleich kennenzulernen.«

»Sie sollte rechtzeitig vor der Party heute Abend wieder hier sein.« Er holte am Serviertisch einen Teller für sie, und sie bemerkte unwillkürlich, wie schön seine Hände waren – gut gepflegt, aber mit nicht zu viel Aufwand. So wie seine Kleidung: stilvoll, aber selbstbewusst maskulin.

»Mögen Sie Niere?«, fragte er. »Kalbfleisch? Hackfleisch?«

Sie zögerte einen Moment. Sie wusste nicht, welches Fleisch für das Hack verwendet wurde, und den Gedanken, Nieren zu essen, fand sie widerlich. »Das Kalbfleisch, bitte«, antwortete sie schließlich. »Und etwas von diesem herrlichen Brot und dem Käse.«

»Eine ausgezeichnete Wahl«, erwiderte er und legte das Fleisch auf ihren Teller. »Und welchen Käse hätten Sie gern? Red Leicester? Wensleydale? Cheddar?«

»Den Lancashire.« Ein sympathischer junger Mann mit rotblondem Haar tauchte neben ihnen auf und nahm sich, nachdem er seinen Paperback-Roman unter den Arm geklemmt hatte, ein großes Stück blassgelben Käse. »Wenn ich drei Jahre lang auf einer einsamen Insel gestrandet wäre, Miss Parker, würde ich den hier wohl am meisten vermissen.«

Sie starrte ihn einen Augenblick lang an, als hätte er den Verstand verloren, und fing dann an zu lachen. »Die Schatzinsel! Wenn das so ist, muss ich auch etwas davon nehmen.«

Drew schüttelte den Kopf und legte eine Portion der gewünschten Käsesorte auf ihren Teller, zusammen mit einer Scheibe des kernigen braunen Brotes. »Ich bedaure, Miss Parker, dass ich Ihnen nicht Mr Stevensons berühmten Matrosen Ben Gunn präsentieren kann. Im Moment haben wir nur den ebenso unausgeglichenen Nick Dennison. Mr Dennison, Miss Madeline Parker.«

Nick nahm Madelines ausgestreckte Hand und verbeugte sich schwungvoll. »Sehr erfreut, Miss Parker. Und bevor Sie fragen: Ja, der unerschütterliche Dennison, Butler von Farthering Place, hat die Ehre, mein Vater zu sein.«

Er sagte es mit einem Lächeln, doch in seinen haselnussbraunen Augen glomm ein Funke der Herausforderung. Er wartete auf ihre Reaktion. Und Drew Farthering offenbar ebenso.

»Es ist immer ein Vergnügen, einen belesenen Mann kennenzulernen«, sagte sie und drückte seine Hand. Sein Lächeln wurde deutlich wärmer. »Lesen Sie da gerade einen Stevenson?«, fragte sie dann.

»Das? O nein.« Nick begann, sich an den warmen Gerichten zu bedienen. »Mögen Sie Kriminalromane?«

»Sagen Sie’s nicht weiter«, erwiderte sie mit gesenkter Stimme, »aber ich liebe Krimis.«

»Wunderbar!« Nick zeigte ihr das Buch, das er bei sich hatte: Fußspuren an der Schleuse. »Haben Sie schon einmal etwas von Ronald Knox gelesen? Das hier habe ich gerade erst angefangen.«

»Ich habe noch nie von ihm gehört«, gestand Madeline.

»Er ist eigentlich Priester, schreibt aber auch Kriminalromane. Ich habe gerade erst Die drei Gashähne gelesen. Er ist ein hervorragender Erzähler, dieser Pater Knox. Er hat sogar eine Liste – er nennt sie die ›Zehn Regeln‹ –, was eine anständige Detektivgeschichte beinhalten sollte und was nicht. Und ich finde, er hat recht.«

Madeline nahm ihm das Buch aus der Hand und studierte es. »Lesen Sie auch, Mr Farthering?«

»Ich schaffe es, die meisten Worte zu entziffern«, erwiderte Drew, reichte ihr ihren Teller und begann, seinen eigenen zu füllen.

Madeline schürzte die Lippen und unterdrückte ein Lächeln. »Ich meine, lesen Sie Kriminalromane? Haben Sie schon einmal etwas von Knox gelesen?«

Er überlegte einen Moment lang, während er sich eine Scheibe Brot abschnitt. »Der erste Stoß der Posaune gegen das monströse Regiment der Frauen

Sie versuchte, ernst dreinzuschauen, doch es gelang ihr nicht, und sie lachte auf. »Nicht John Knox. Ronald Knox. Sagen Sie nie etwas ernst Gemeintes?«

»Ganz im Gegenteil«, erwiderte er. »Ich bin ein ziemlich ernster Mensch.«

»Monumental ernst«, warf Nick ein, schnappte sich sein Buch und steckte es in die Jackentasche.

»Darf ich sagen todernst?«, fragte Drew mit nachdenklichem Gesichtsausdruck.

»Ich meine, du könntest so weit gehen, todernst zu sagen«, bestätigte Nick, »vorausgesetzt, du gehst nicht darüber hinaus und sagst trübselig

»Sehen Sie!«, wandte sich Drew triumphierend an Madeline. »Was sollte ein so verdrießlicher Kerl wie ich daran finden, etwas so Frivoles wie einen Kriminalroman zu lesen?«

Nick schaute Madeline an, tippte sich vielsagend seitlich an die Nase und sagte in hörbarem Flüstern: »Ich weiß aus allerbester Quelle, dass Mr Farthering einen kompletten Satz Arthur Conan Doyle in seinem Studierzimmer hat, mehrere von Agatha Christies Romanen in seiner Golftasche und einen ganzen Stapel von dieser Dorothy Sayers in seinem Kofferraum.«

»Solche groben Unwahrheiten kann ich nicht dulden!«, protestierte Drew. »Ich habe nur Mord auf dem Golfplatz in meiner Golftasche. Der Rest der Christies und alle Exemplare von Sayers befinden sich in meinem Studierzimmer.«

»Oh, wie wundervoll!«, rief Madeline aus. »Ich liebe Lord Peter. Ich war mir sicher, dass Harriet am Ende von Geheimnisvolles Gift nachgibt und ihn heiratet.«

»Nicht verzagen«, sagte Drew. »Ich habe gehört, dass Miss Vane in Lord Peters neuem Abenteuer zurückkehren wird, also ist noch nicht alle Hoffnung verloren.«

»Sollen wir uns setzen?«, fragte Nick. »Ich glaube, Miss Parkers Freundinnen vermissen Sie.«

»Ich würde sie Ihnen gern vorstellen, Mr Dennison«, sagte Madeline.

»Ja, tun Sie das«, ermunterte sie Drew und wirkte leicht abgelenkt. Der Butler stand unheilvoll an der Terrassentür und wartete offenbar darauf, ihn sprechen zu können. »Wenn Sie mich bitte entschuldigen, ich bin gleich zurück.«

Madeline schaute ihm nach. »Sie und Mr Farthering kennen sich schon lange, nicht wahr?«, fragte sie Nick.

»Unser ganzes Leben. Meine Mutter war hier Zimmermädchen, als ich geboren wurde. Als sie starb, war Drews Vater so freundlich und hat mich mit in Drews Kinderzimmer untergebracht. Dann hat er dafür gesorgt, dass ich mit ihm zur Schule gehen konnte – sogar bis zum Studium in Oxford. Das kann ich den beiden niemals vergelten. Ich weiß, dass mein Vater hier nie weggehen wird, und ich nehme an, ich werde auch bleiben.«

»Ach, wirklich?«

Der junge Mann nickte. »Mr Padgett, der Gutsverwalter, lässt mich sozusagen bei ihm in die Lehre gehen. Rechnungen zusammenzählen, Mieten kassieren, solche Sachen. Wenn er irgendwann beschließt, das Ganze an den Nagel zu hängen, bin ich der Nächste in der Reihe. Das ist das Wenigste, was ich für dieses Anwesen tun kann, und mein Wirtschaftsstudium kommt dabei auch ganz gut zum Einsatz, oder?«

»Und Mr Farthering –?«

»Freudige Botschaft«, erklärte Drew und eilte zurück zu ihnen. »Denny teilte mir gerade mit, dass Minerva glückliche Mutter geworden ist.«

»Hurra!«, rief Nick aus. »Tönt die Posaune und lasst das Himmelsgewölbe hallen! Ich wollte ihr heute Morgen ein paar Würste bringen und habe mich schon gefragt, wo sie abgeblieben ist.«

»Minerva?« Madeline schaute zwischen den beiden hin und her. Sie fragte sich, wer diese Minerva sein könnte und warum Dennison die Nachricht ausgerechnet Drew mitgeteilt hatte.

»Minerva«, informierte Drew sie, »ist die Haus- und Hofkatze von Farthering Place.«

»Eine Katze?«, lachte Madeline. »Dennison schien schrecklich ernst zu sein, als er Ihnen die Nachricht überbrachte.«

»War er. Zutiefst ernst.«

»Es geht ihr doch gut, oder?«

»O ja«, sagte Drew und fügte seinem Teller einen letzten Löffel grüne Erbsen hinzu. »Es geht ihr wunderbar, ebenso wie ihren fünf Kleinen.«

»Warum war er dann so besorgt?«

»Offenbar hat sie sich den Schrank in meinem Ankleidezimmer zum Kreißsaal erkoren.«

»O weh«, seufzte Nick.

Madeline warf ihm einen kurzen Blick zu und schaute dann wieder zu Drew. »Ist das so schrecklich?«

»Ich fürchte, für Denny ist es nichts weniger als eine Tragödie«, erklärte Drew. »Offenbar war Minerva der Ansicht, dass als Decke für ihre Neugeborenen nichts besser geeignet war als meine neue Hose von Cheviot.«

»Was für eine Schande«, murmelte Nick und schob sich ein Stück Käse in den Mund.

»Ja, scheint so«, stimmte Drew ihm zu. »Besonders, da ich ihm gesagt habe, er soll Minerva und ihre Kleinen vorerst nicht davon vertreiben. Man könnte meinen, ich hätte etwas Verwerfliches vorgeschlagen – Mord oder Verrat oder etwas in der Art.«

Sein Freund nickte ernst. »Oder den Rothschild zum Fischgang.«

»Dann kommen Sie mal.« Drew nahm Madeline beim Arm und drehte sie zum Tisch herum. »Das Essen wird kalt, und Ihren Freundinnen ist das zweifelhafte Vergnügen, den jungen Mr Dennison kennenzulernen, schon viel zu lange vorenthalten worden.«

»Es ist nett, ein paar neue Mädchen für die Festlichkeiten hier zu haben.« Nick verlagerte seinen Teller in die linke Hand und strich sich mit der rechten das Haar zurück. »Miss Parker, mag eine von Ihren Freundinnen vielleicht Kriminalromane?«

Madeline lachte. »Sie lesen nur das Kinomagazin.«

Ornament

Die Party an jenem Abend war verschwenderisch und angemessen stilvoll. Weltmännische Herren in Smoking und Fliege führten elegante Damen in transparenten Abendkleidern mit gewagtem Rückenausschnitt und tiefem Dekolleté zum Abendessen. Auf das üppige Mahl folgten Drinks und der Tanz im Ballsaal, der offenbar aus dem Mittelalter stammte. Später sollte es auf dem Rasen vor dem Haus noch ein extravagantes Feuerwerk geben. Madeline hatte seit ihrer Einführung in die Gesellschaft vor vier Jahren viele festliche Empfänge besucht, von denen einige atemberaubend kitschig und protzig gewesen waren, doch an Luxus und Pracht übertraf dieser Abend sie alle. Es wäre perfekt gewesen, wenn Drew nicht so sehr mit all den anderen Gästen beschäftigt gewesen wäre und sie sich der Aufmerksamkeit des abscheulichen David Lincoln hätte entziehen können.

Er hatte sich ihr vorgestellt – kühn, beinahe selbstgefällig –, und nun hielt er sie schon zum zweiten Mal an diesem Abend an sich gedrückt. Sie konnte es kaum erwarten, dass dieser Tanz endlich vorbei war. Der Mann stank nach Alkohol und abgestandenem Zigarettenrauch, und die Art und Weise, wie er sie dicht an sich zog und wie seine Hand ein wenig zu vertraulich auf ihrem bloßen Rücken entlangglitt, war ihr äußerst unangenehm. Sie wünschte, sie wäre etwas zurückhaltender bei der Auswahl ihres Abendkleides gewesen. Vielleicht hatte Muriel recht und sie war doch eher der Typ für Batist.

Sie schaute sich nach einer Fluchtmöglichkeit um und entdeckte Drew mitten im Raum. Niemand anderes als Muriel klammerte sich an seinen Arm, schaute mit arglosen blauen Augen zu ihm auf und gurrte ihm zweifellos zu, er sei ein großer, starker Mann. Er schien sich unbehaglich zu fühlen und plante offensichtlich selbst ein Fluchtmanöver. Madeline konnte ein leises Kichern nicht unterdrücken.

»Was ist, Miss Parker?«, fragte Lincoln und hielt sie noch fester an sich gedrückt.

»Was? Oh, verzeihen Sie bitte. Es ist nichts. Nur, ähm –« Sie schaute zu ihm auf und wandte dann den Blick ab. »Mir ist ein wenig warm, es sind so viele Menschen hier im Raum. Könnten Sie mir vielleicht etwas zu trinken holen?«

»Natürlich«, sagte er, sein Lächeln war überlegen und vieldeutig. »Wenn ich eine Dame außer Atem bringe, ist es mir lieber, wenn wir dabei allein sind.«

Mit einer Verbeugung ließ er sie am Ende des Raumes stehen. Kaum hatte er ihr den Rücken gekehrt, huschte sie in den Flur hinaus. »Als ob ich je mit dir allein sein würde.« Sie schaute sich um und versuchte, sich zu orientieren. Dies war keiner der großen Korridore, die zu den anderen Flügeln des Hauses führten. Es war nur ein kleiner Flur, getäfelt mit prächtigem Mahagoni und mit einem Plüschteppich ausgelegt – in jeder Hinsicht prachtvoll, wenn man von der Größe absah. Sicher ließ sich hier eine abgelegene Ecke finden, eine Bibliothek vielleicht oder ein Wohnzimmer, wo sie sich ein wenig aufhalten konnte, bis Lincoln anderweitig beschäftig war.

Sie probierte die erste Tür aus, die sie fand, und musste feststellen, dass sie verschlossen war. Wahrscheinlich eine Besenkammer oder eine Art Lagerraum. Die nächste Tür führte zu einem nüchternen Durchgang, der aussah, als würde er in der Küche enden. Vielleicht würde sie auf diesen zurückgreifen müssen, wenn es nicht noch etwas Aussichtsreicheres gab. Schließlich drückte sie die Tür ganz am Ende des Flures auf.

»Madeline, Liebes, komm doch herein.«

»Onkel Mason!«