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Für die Naturschützer Lateinamerikas,
die im Kampf für den Regenwald ihr Leben riskieren (KB)
Für Steff und Otti, die besten Freunde, die man haben kann (HPZ)
Katja Brandis, geboren 1970, hat Amerikanistik, Anglistik und Germanistik studiert und als Journalistin gearbeitet. Sie schreibt seit ihrer Kindheit und hat inzwischen zahlreiche erfolgreiche Abenteuer- und Fantasyromane für Jugendliche veröffentlicht.
Sie ist Mitglied in mehreren Naturschutzorganisationen und lebt mit Mann und Sohn in der Nähe von München. Mehr über sie auf www.katja-brandis.de
Hans-Peter Ziemek, geboren 1960, ist Biologe und Professor für Biologiedidaktik an der Universität Gießen. Er hat über zehn Jahre in einem Naturschutzzentrum gearbeitet und interessiert sich besonders für innovative Formen der Umweltbildung.
Brandis & Ziemek haben zusammen bereits den Roman Ruf der Tiefe veröffentlicht.

Prolog

Der Dschungel sieht seltsam aus durchs Nachtsichtgerät. Neongrün, fremdartig, giftig. Ich renne weiter, mitten durchs Dickicht, und mein eigenes Keuchen dröhnt mir in den Ohren. Weg, einfach weg, nur weg hier! Dornen zerren an meiner Haut, ich reiße mich los, ein scharfer Schmerz. Egal. Ich schluchze sowieso schon, mein ganzes Gesicht ist nass, ich bekomme fast keine Luft mehr.
Aber ich haste weiter, ducke mich unter Zweigen hindurch, schlage Lianen beiseite, laufe im Zickzack um Bäume herum. Zum x-ten Mal stolpere ich über einen morschen Ast und falle hin, meine Knie bohren sich in die feuchte Blätterschicht. Ich raffe mich wieder auf, hetze weiter, meine Gedanken peitschen mich voran. Falk. Wieso ist das alles passiert? Es geht nicht in meinen Kopf hinein, warum alles so kommen musste. Dieses Warum hämmert in meinem Kopf. Bohrt sich in mein Herz und versucht, es zu zersprengen.
Ich kann nicht mehr, es ist alles zu viel.
Weg, nur weg!
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Heiße Wut

Es ist Spätsommer, aber die Luft schmeckt schon nach Herbst. Wir haben eine Demo organisiert und auf dem Kapuzinerplatz und in der Tumblingerstraße wimmelt es von Menschen. Ein paar Elektroautos gleiten fast lautlos im Schritttempo vorbei, durch die Windschutzscheibe kann ich die finsteren Gesichter der Fahrer sehen. Ja, wir stören und das ist genau der Sinn der Sache. Ich stehe vor dem sandfarbenen Gebäude des Instituts für Tropenökologie, dort drinnen tagt der deutsche Umweltminister gerade mit Kollegen aus Asien, Afrika und Südamerika. Sie entscheiden über eine Welt, die ihnen nicht gehört, und über Wälder, die ihnen nichts bedeuten. Ein paar Polizisten stehen am Eingang, wachsam beobachten sie uns. Wir halten ihnen unsere Transparente ins Gesicht, auf denen Der Regenwald gehört allen! und Stoppt die Abholzung! steht. Um mich herum ist ein Gedränge, das immer dichter wird, mindestens siebenhundert Menschen sind es, oder schon achthundert, tausend? Ich fühle mich, als hätte ich auf nüchternen Magen Sekt getrunken. Es ist so schön, von Leuten umgeben zu sein, die alle das gleiche Ziel haben, die es auch nicht kaltlässt, was mit der Erde geschieht.
Ein schneller Blick in die Runde, um zu sehen, wo meine Freunde sind: Lena-Marie und ihr Freund Mark stehen dort vorne in der Menge, sie unterhalten sich gerade mit einem bärtigen Mann, auf dessen T-Shirt Ich esse keine Klone! steht. Sarah betreut den Infostand unserer Organisation Living Earth und quatscht mit einem jungen Paar. Als sie mich sieht, winkt sie mich heran. »Cat, könntest du ein paar Flyer verteilen?«
»Klar, mach ich.« Ich schnappe mir einen Packen vom Infostand und biete die Flyer Passanten an; viele von ihnen sind auf dem Weg zur Agentur für Arbeit, das klotzige Gebäude gleich nebenan. Manche lassen das Stück Papier in den nächsten Mülleimer segeln, aber andere lesen es und ein Mann geht sogar zum Infostand. Yeah! Wieder einer mehr.
Im Grunde warten wir. Darauf, was im Institut entschieden wird. Es geht um ein Abkommen zum Schutz der Regenwälder, schon längst hätte es beschlossen werden sollen. Jetzt haben wir schon das Jahr 2025 und noch immer wird um den genauen Wortlaut gefeilscht. Wir sind hier, um diese Minister daran zu erinnern, dass es viele Menschen interessiert, was sie dort drinnen aushecken. Die Kerle sollen hören, sehen und spüren, dass wir ihnen auf die Finger schauen.
Ich bin alle Flyer losgeworden und krame meine Kamera aus der Jackentasche, um ein paar Fotos für unseren Blog zu schießen. Doch ein rotes Licht blinkt auf – Akku leer. »Mist!«
»Passiert mir auch ständig«, sagt eine Stimme. Rechts neben mir in der Menge steht ein schlanker blonder Typ, vielleicht zwei, drei Jahre älter als ich und einen halben Kopf größer. Ziemlich gut sieht er aus, trotz oder vielleicht wegen der leicht gebogenen Nase. Unter seinen schlichten Non-function-Klamotten – sein Hemd sieht nicht aus, als könnte es irgendetwas – erkenne ich breite Schultern. Weil es inzwischen richtig voll ist vor dem Institut, stehen wir so nah beieinander, dass sich unsere Arme beinahe berühren. Er kramt in der Innentasche seiner blauen Windjacke. »Ich schau mal, ob ich noch einen hab.«
Als ich den alten Akku aus der Kamera gefummelt habe, hält er mir tatsächlich einen neuen hin. »Hey, danke«, sage ich. »Aber wie soll ich dir den zurückgeben?«
»War nicht so teuer. Schenk ihn einfach weiter, wenn jemand anders mal einen braucht, okay?«
»Okay«, sage ich und einen Moment lang lächeln wir uns an. Er hat graue Augen, die mich in Sekundenschnelle einzuschätzen scheinen, und einen spöttischen Zug um die Mundwinkel.
Bewegung kommt in den lebenden, atmenden Pulk, in dem wir stecken. Irgendetwas passiert. Wir sind fast ganz vorne, deshalb sehen wir, dass jemand aus dem Gebäude gekommen ist. Flankiert von Polizisten steht dort ein Mann im dunklen Anzug. Er versucht irgendetwas zu verlesen, aber keiner versteht ein Wort. Unruhiges Gemurmel um mich herum. Wir alle wollen jetzt endlich wissen, was los ist, ob das Schutzabkommen beschlossen worden ist oder nicht. Schließlich gibt jemand dem Mann ein Mikrofon. »Die Minister haben sich darauf verständigt, dass eine Expertenkommission bis zum Treffen im nächsten Jahr das Thema der illegalen Abholzungen näher untersuchen wird. Damit ist ein wichtiger Schritt in die Zukunft getan.«
Was soll das bedeuten? Das heißt doch, dass die Kerle sich nicht einigen konnten und wieder nichts passiert! Und innerhalb von drei Jahren wird im Regenwald ein Gebiet abgeholzt, das so groß ist wie Deutschland! Heiße Wut schießt in mir hoch, und den anderen scheint es auch so zu gehen, denn plötzlich ist es, als würde die Luft prickeln wie vor einem Gewitter. Die Polizisten spüren es auch, sie sammeln sich vor dem Institut. Dreißig, vierzig Gestalten, die alle gleich aussehen, weil die Helme ihre Gesichter verdecken. Jetzt wirken sie wie eine kleine Armee, mir wird bei diesem Anblick ein bisschen mulmig zumute. Zu ihrer Ausrüstung gehören Elektroschockgeräte – Taser –, unauffällige Geräte aus hellem Plastik.
Eine Gruppe Polizisten marschiert zum Infostand von Living Earth. »Baut das Ding ab, los, dalli«, befiehlt einer der Polizisten Sarah. Vielleicht kommen jetzt gleich die Minister aus dem Gebäude und dann soll ihnen der Anblick erspart bleiben. Doch Sarah kreuzt die Arme vor der Brust. »Alles angemeldet und genehmigt.«
»Weg damit, aber schnell«, wiederholt der Mann ungeduldig und spricht in ein Funkgerät.
Was dann passiert, bekomme ich nicht genau mit, weil sich jemand vor mir vorbeidrängt. Ich höre nur Sarahs Schrei und sehe, wie der Infostand umkippt. Bunte Flyer flattern zu Boden, Stiefel trampeln über sie hinweg. Erschrocken versuche ich Sarah zu Hilfe zu kommen und wenigstens ein paar Flyer aufzuheben, bevor sie alle nur noch zerknittertes Altpapier sind. Aber dann durchzuckt mich plötzlich ein heißer Schmerz, irgendwas ist mit meiner Schulter los, meine Muskeln verkrampfen sich bretthart. Völlig verblüfft taumle ich zur Seite. Einer der Polizisten hat mich mit dem Taser berührt! Aber wieso ich? Ich habe doch gar nichts getan!
Um den Infostand herum ist ein Gewühl von Leuten, alle schreien durcheinander, ein Polizist hat Sarah im Griff, und dort ist auch der blonde junge Mann in der blauen Jacke. Einer der Polizisten versucht ihn zu packen, bekommt einen Fußtritt von ihm ab und ist plötzlich am Boden, schlittert sogar auf dem Rücken noch ein Stück weiter. Wütend rennen zwei andere Polizisten mit dem Taser im Anschlag auf den blonden Typen zu, und mein Herz klopft wie ein Dampfhammer, ich kann es im ganzen Körper spüren. Wenn die ihn erwischen, machen sie ihn fertig, todsicher.
»Los, komm!«, schreie ich ihm zu, und das Wunder geschieht, die Leute öffnen irgendwie eine Gasse für uns beide, lassen uns durch. Und schließen sich vor den Polizisten zusammen wie eine Mauer, ohne auf die Taser zu achten. Fluchend drängen die Männer sich durch die Menge, hinter uns her.
Mir wird klar, dass die nicht so einfach aufgeben werden. Die lassen nicht mehr locker, bis sie den Blonden haben.
Jetzt sind wir am Rand der Menge angekommen und können anfangen zu rennen. In dieser Gegend hat meine frühere beste Freundin gewohnt, ich kenne mich hier aus. Aber es ist keine Zeit, dem Typen das zu sagen, ich hetze einfach voraus, und zum Glück fragt er nichts, er folgt mir einfach. Wir haben einen ganz guten Vorsprung. Und das Viertel ist voller versteckter Hinterhöfe und kleiner Durchgänge. Vielleicht schaffen wir es!
Wir biegen um die Ecke und laufen die Kapuzinerstraße hinunter, vorbei an verblüfften Leuten. Zum Glück versucht keiner, sich uns in den Weg zu stellen. Hier war doch irgendein Hinterhof, durch den es weitergeht? Ja, genau hier, in der Kapuzinerstraße 14!
»Stopp – hier rein!«, rufe ich, und wir stürzen uns in den Hinterhof mit abgestellten Fahrrädern und grauen Garagentoren, schlängeln uns an einer Absperrung vorbei in einen schmalen Weg. Den kennen die Polizisten garantiert nicht. Schon sind wir im nächsten Hof, rennen weiter, kommen in der Querstraße neben einem kleinen Getränkemarkt raus. Jetzt muss ich kurz nachdenken. Verdammt, wie kommen wir von hier aus weiter? In meinem Gehirn staut sich alles. Meine Schulter tut immer noch weh, ich kann den Arm kaum bewegen.
»Alles okay mit dir?«, fragt der Blonde leise. Unsere Augen treffen sich, und plötzlich ist meine Kraft zurück, fließen meine Gedanken wieder. Ich nicke und setze mich wieder in Bewegung. »Ich weiß nicht, ob wir sie schon abgehängt haben.«
Also rein in einen anderen Hinterhof, hier war doch irgendwo noch so ein Schleichweg. Mist, aber nicht in diesem Hof. Sackgasse!
Der Blonde beachtet es einfach nicht. Geschickt klettert er über den schmiedeeisernen Zaun, obwohl der mit fiesen Eisenspitzen gespickt ist. Ich bin mir sicher, dass mir die Dinger die Jeans aufreißen werden, aber egal, ich stelle einen Fuß auf eine eiserne Querstange, stoße mich mit dem anderen Fuß ab und schon bin ich drüber. Uff. Sogar die Jeans ist noch ganz.
In der nächsten Straße patrouilliert ein Streifenwagen, erschrocken ducken wir uns in eine offene Toreinfahrt. Haben die Polizisten uns bemerkt? Schnelle Bewegungen machen sie besonders misstrauisch, wir hätten uns nicht so verstohlen bewegen dürfen! Von hier aus kann ich den Streifenwagen nicht sehen – hat er angehalten? Wir pressen uns gegen die Wand der Einfahrt, so nah nebeneinander, dass ich fühlen kann, wie der Blonde Luft holt. Es riecht kühl hier, nach Beton und altem Motoröl.
Minutenlang geschieht nichts, keiner kommt. Nach ein paar Minuten verlassen wir die Toreinfahrt und gehen rasch weiter, bis wir mehrere Straßen entfernt sind. Hier müssten wir eigentlich in Sicherheit sein. Die Demo ist jetzt sehr fern, man hört nichts mehr davon.
Mein Atem geht schnell, aber nur vor Aufregung; ich laufe Halbmarathon und trainiere dreimal die Woche dafür.
Wir schauen uns an und dann müssen wir plötzlich grinsen. »Du gehst jetzt nicht wieder hin, oder?«, fragt der Blonde.
Ich verziehe das Gesicht und betaste meine Schulter. Zum Glück scheint sie sich langsam wieder zu erholen. »Nee, ich glaube nicht. Das war ja nur noch ein komplettes Chaos.« Hoffentlich ist den anderen Leuten von Living Earth nichts passiert!
»Wenn diese Betonköpfe von Ministern sich geeinigt hätten, wäre es nicht so weit gekommen«, sagt er und einen Moment lang sind seine grauen Augen dunkel wie Schiefer. »Diese ganzen politischen Manöver kotzen mich an.«
»Geht mir auch so.« Eigentlich könnte ich jetzt Tschüss sagen und gehen – zurück zur Zentrale von Living Earth oder nach Hause oder wohin auch immer. Aber meine Füße wollen sich einfach nicht bewegen. Noch einmal treffen sich unsere Blicke und die Wut verschwindet aus seinem Gesicht.
»Ach übrigens – danke«, sagt er. »Für das eben.« Auch er scheint nicht gehen zu wollen. Noch immer sehen wir uns an.
»Kein Problem«, meine ich und wundere mich darüber, warum mein Herz schon wieder so schnell schlägt. Ich will ihn fragen, wie er heißt, aber da meldet sich sein Handy, er blickt auf das Display und runzelt die Stirn. »Ich muss los«, sagt er hastig und hebt die Hand zum Gruß. Ein paar Sekunden später ist er hinter der nächsten Ecke verschwunden und die Straße ist furchtbar leer ohne ihn.

Auf Entzug

In der Zeit nach der Demo bin ich irgendwie neben der Spur. In der Schule – der International Academy Munich – hänge ich nur lustlos auf meinem Stuhl, der Unterricht rauscht an mir vorbei. Der blonde Typ geht mir nicht aus dem Kopf. Statt in 3-D-Simulation an meinem Projekt, einem Berggipfel mit umherfliegenden Steinadlern, weiterzuarbeiten, versuche ich ein Phantombild von ihm zu erstellen. Vielleicht könnte ich es ins Netz stellen und so herausfinden, wer er ist; vielleicht findet er das lustig und meldet sich von selbst.
Doch das Zeichnen klappt nicht so richtig; meine Mutter ist zwar Kunsterzieherin, aber ich selbst bin eine Niete in Kunst. Wütend lösche ich das Bild wieder, weg damit! Es sieht ihm überhaupt nicht ähnlich. Und warum zum Teufel habe ich ihn nicht einfach nach seinem Namen gefragt? Kann man wirklich so dämlich sein?
»Kommst du voran?« Plötzlich steht Herr Brooks neben mir und späht über meine Schulter. Ich zucke zusammen. »Äh, ja, irgendwie schon.«
Herr Brooks schaut erstaunt auf meinen völlig weißen Monitor. »Irgendwie schon?«
»Genau«, sage ich und lade schnell meinen Berg, auf dem sich winzige Alpinisten zum Gipfel vorarbeiten. Zufrieden zieht Brooks ab.
Als ich auch in Interkultureller Kommunikation kaum den Mund aufkriege, zischt mir meine beste Freundin Eloísa zu: »Nicht abschwächeln, Cat! Heute Abend, du weißt schon. Die Nacht aller Nächte!«
»Schon klar«, flüstere ich zurück. Heute ist die Party zu ihrem siebzehnten Geburtstag – Eloísa ist ein paar Monate älter als ich –, und sie hat ihre Eltern überreden können, ihr die Wohnung zu überlassen und lange auszugehen.
Blöderweise bin ich absolut nicht in Partystimmung. Im Gegenteil, ich will alleine sein, dann kann ich in Gedanken noch einmal den Film der Demo und unserer Flucht ablaufen lassen. Also rufe ich Eloísa nach Schulschluss nur schnell zu: »Bis später dann!«, und verdrücke mich in den Nymphenburger Park, der mehr schlecht als recht meine Zuflucht geworden ist, seit wir vor einem Jahr hierhergezogen sind.
Ich brauche es einfach, im Wald zu sein. Manchmal setze ich mich ins Gras oder auf einen Felsen und werde ein Teil der Stille, beobachte, nehme einfach alles in mich auf, was ich höre und sehe. Dabei kann ich fast fühlen, wie ich Kraft tanke.
Doch in Nymphenburg funktioniert das nur mäßig, dort sind überall Schilder in den Boden gerammt, auf denen Trampelpfad – bitte nicht betreten, Bitte Wege nicht verlassen, Radfahren und Radschieben verboten und dergleichen steht. Jedes Mal, wenn ich an einem der Dinger vorbeikomme, zuckt mein rechter Fuß, weil er unbedingt gegen dieses Schild treten will.
Trotzdem tut es mir gut, mich eine Stunde lang im Park herumzutreiben. Danach schaffe ich es, nach Hause zu radeln und mich auf die Party vorzubereiten. Eloísas Geschenk ist fast fertig, ein mit Blüten verzierter Trinkkelch nach einem Design aus ihrem Heimatland Venezuela. Jetzt muss ich ihn nur noch vom 3-D-Drucker meines Vaters herstellen lassen, doch das Ding streikt. »Morscher Mist, druck jetzt, oder ab auf den Schrottplatz!«, schreie ich ihn schließlich an. Die Drohung wirkt.
Als ich endlich mitsamt Geschenk vor Eloísas Haustür stehe, höre ich schon die Bässe dröhnen. Irgendjemand lässt mich rein und mir schlägt ein Geruch nach Räucherstäbchen und ein Gewirr deutscher und spanischer Stimmen entgegen. Ich verstehe das meiste davon, Spanisch habe ich schon seit der fünften Klasse.
Ich schlängele mich durch und gehe auf die Suche nach Eloísa, um sie an mich zu drücken. Eloísa holt tief Luft, als sie den schimmernden, rubinroten Kelch auspackt. »Der ist wunderschön«, sagt sie und umarmt mich. Aber Zeit zum Reden bleibt uns keine, gerade treffen die nächsten Gäste ein und schon ist Eloísa wieder weg. Ich schlendere herum, hole mir ein Glas Moonwater und finde mich neben einem schlaksigen Jungen mit rundem Gesicht und dunklen Locken auf dem Wohnzimmersofa wieder.
»Andy«, stellt er sich fröhlich vor. »Und du bist Katharina, oder? Die Neue auf der International Academy?«
»Nenn mich Cat«, sage ich sofort. »Na ja, so neu auch nicht mehr. Ich bin schon vor einem Jahr von der Waldschule auf die Academy gekommen.«
»Von einer Waldschule?!« Entgeistert schaut er mich an.
Die Reaktion kenne ich schon. »Es ist nicht so, dass man dort nur Dinge wie den Lebenszyklus des Regenwurms lernt«, sage ich. »Ich war eben früher in einem Waldkindergarten, und als gleich nebenan diese Schule im Perlacher Forst gegründet wurde …«
Seine blauen Augen blitzen. »Haben deine Eltern denn gewusst, was sie dir mit so einer Kindheit antun?«
Verblüfft starre ich ihn an. »Äh, wieso?«
»Damit züchtet man doch nur unglückliche Menschen heran, die ihr Leben lang eine Sehnsucht haben nach etwas, das es kaum noch gibt«, erklärt er. »Oder sollen sie die paar jämmerlichen Bäume in den Städten umarmen, die eh nur noch Hundeklos sind?«
»Ich bin also eine Art seelischer Krüppel und habe es nur noch nicht gemerkt?«, frage ich irritiert zurück und schaue mir den Typen genauer an. Er sieht nicht aus, als hätte er schon jemals irgendwas mit Blättern aus der Nähe gesehen. Dafür trägt er eins dieser eng anliegenden, pseudoabgewetzten Outfits, die Strom aus Körperwärme und Sonnenstrahlen erzeugen, man braucht den eingebauten Player nie aufzuladen. Außerdem überwachen die Klamotten seinen Puls und sprechen ihm wahrscheinlich auch noch gut zu, wenn es ihm schlecht geht. Ein Technik-Freak.
Jetzt grinst er mich an. »Ein Krüppel? Wer weiß. Ich kenn dich ja nicht genauer.« Andy trinkt seine Cola aus. »Ich geh mir jetzt eine Portion Curry holen, soll ich dir was mitbringen?«
»Nein, danke«, sage ich niedergeschlagen. Denn wenn ich genauer darüber nachdenke, hat er recht. Ich werde unruhig und bekomme schlechte Laune, wenn ich zu lange drinnen bin. Ganz klar Entzugserscheinungen. Ich bin süchtig. Aber ich mag meinen Eltern nicht die Schuld daran geben – es hat Spaß gemacht auf der Waldschule, verdammt viel Spaß. Ich habe Addieren und Subtrahieren mit einem Stapel Fichtenzapfen gelernt, Sport hatten wir im schuleigenen Klettergarten. Klassen oder Altersstufen gab es keine, wir wurden alle zusammen unterrichtet. Wenn uns etwas interessierte, konnten wir ein Projekt dazu beginnen und so lange forschen, wie wir wollten. Die einzigen Dinge, die mich nervten, waren das fade, da salzlose Essen und die irgendwie heilige Aura der Schulleiterin.
»Hey.« Andy ist schon wieder da, ohne Curry. Er muss auf halbem Weg zum Buffet umgekehrt sein. »Sorry. Hab ich alles nicht bös gemeint, okay? Hast du Lust, bei Gelegenheit mit mir zu einem Multiplayer-Game zu gehen oder so?«
»Eher nicht«, sage ich höflich; er gefällt mir nicht mal annähernd so gut wie der blonde Junge von der Demo.
»Schade. Oder lieber in den Biergarten?« Andy gibt noch nicht auf.
Der Typ nervt. Aber ich weiß schon einen Weg, um ihn loszuwerden. »Du könntest zu einem Treffen von Living Earth mitgehen«, schlage ich mit honigsüßer Stimme vor. »Da merkst du bestimmt auch, wie toll es ist, Bäume zu umarmen.«
Das hätte ich besser nicht gesagt, denn drei Tage später steht er tatsächlich neben mir in der Zentrale von Living Earth, einem umgebauten Laden im Westend. Wir haben sogar ein eigenes Schaufenster, normalerweise hängt darin ein riesiges Bild des Planeten Erde. Darauf blenden wir kleine Info-Marker ein, sodass man sieht, wo auf der Welt gerade unsere Projekte laufen und was wir genau machen.
»Na, hast du dich inzwischen von dem ganzen Moonwater erholt?«, fragt Andy mich, und wir quatschen noch einen Moment über die Party, die am Schluss ein kleines bisschen wild geworden ist – ich erinnere mich nicht mehr an alles, muss ich zugeben. Besonders Eloísas Freunde aus Südamerika wissen wirklich, wie man feiert, ich weiß noch ganz vage, dass wir zum Schluss auch auf der Straße getanzt haben, weil drinnen nicht genug Platz war.
Während wir reden, schaut sich Andy neugierig in unserer Niederlassung um. »Wenigstens riecht’s gut bei euch –nach Heu«, sagt er und es stimmt. Das mit dem Heu liegt irgendwie an unserem biologisch abbaubaren Teppich, und heute duftet es noch dazu nach Honig, weil mitten auf dem Tisch ein offenes Glas steht. Ein junger Hobbyimker, der seine Bienenstöcke auf einem Hausdach am Westpark stehen hat, lässt uns mal wieder kosten.
»Was hast du erwartet, Kuhstall-Aroma?«, fragt ihn Sarah, unsere Büroleiterin.
»So was in der Art«, sagt Andy und setzt sich dann neben mich. War wohl nicht zu vermeiden. Wir unterhalten uns ein bisschen, und ich erfahre, dass er Molekularbiologie studiert. Wahrscheinlich ist sein IQ höher als der bescheidene Betrag auf meinem Bankkonto.
Außer uns und Sarah sind noch zwei andere Mitglieder da: Lena-Marie, eine der Fleißigsten in unserem Team und der einzige Mensch in meinem Bekanntenkreis, der sich für Stabheuschrecken begeistern kann. Außerdem Jonas Kübler, ein Doktorand, der unglaublich gut organisieren kann und leider überhaupt keinen Humor hat. Während ich mit den dreien quatsche, bekomme ich mit, dass heute noch ein Neuer zum Treffen kommen wird. Einmal war er schon da, und anscheinend hat er Eindruck gemacht, denn irgendwie wollen alle nur über ihn reden und über sonst nichts.
»… und in Berlin hat er bei diesem Fischadler-Projekt mitgemacht, hab ich gehört – die haben sogar ’nen Hubschrauber eingesetzt«, erzählt Sarah gerade, setzt sich auf die Kante ihres Schreibtisches und wippt mit dem Fuß. Sie trägt rote Ballerinas, natürlich aus Kunstleder. Keiner von uns findet es besonders gut, Tieren die Haut abzuziehen und daraus Kleidung zu machen.
»Weißt du, warum er nach München gekommen ist?« Lena-Maries Augen glänzen ganz seltsam. Sarah schüttelt den Kopf. »Nö. Keine Ahnung. Vielleicht wegen dem Unfall mit dem Hubschrauber, ich glaube, da hat er sich verletzt. Kann sein, dass er danach genug hatte von der ganzen Sache in Berlin.«
»Wegen des Unfalls«, korrigiert Jonas, und Sarah, Lena-Marie und ich rollen die Augen zur Decke. Es fällt Jonas nicht auf, oder vielleicht ist es ihm egal, jedenfalls redet er einfach weiter: »Ich habe gehört, er hatte irgendwie Ärger dort an der Uni und will jetzt hier weiterstudieren.«
»Aber er …« Lena-Marie unterbricht sich. Jemand ist hereingekommen, ein blonder junger Mann.
Mein Herz stolpert, fängt sich wieder, rast weiter. Ich habe ihn sofort erkannt.
»Hallo, Falk! Alles klar?«, sagt Sarah lässig und der Neue sagt »Hi«. Lena-Marie schiebt ihm den Sessel hin, nicht irgendeinen Stuhl, sondern den Sessel, das Prunkstück unseres Büros, rot mit eingestickten silbernen Mustern. Aber der Neue setzt sich nicht. Er sieht sich ganz in Ruhe in unserer kleinen Niederlassung um, mustert die hellen Holzmöbel, die Kaffeetassen mit den witzigen Sprüchen drauf, die Stapel von Broschüren und Poster von vergangenen Aktionen an den Wänden.
Dann bemerkt er mich – und auf einmal hellt sich sein Gesicht ein kleines bisschen auf, ist da eine neue Wärme in seinen grauen Augen. Auch den anderen fällt es auf, sie blicken mich an, verblüfft und ein wenig neidisch, aber ich registriere es nur am Rande. Falk und ich lächeln uns zu, kaum merklich. Es ist wie ein Geschenk, dass ich nun weiß, wie er heißt.
Sarah und die anderen besprechen die neusten Aktionsvorschläge, die auf der Networking-Plattform von Living Earth eingestellt worden sind. Ich sage so wenig, dass Lena-Marie schließlich ruft: »Cat! Hallo, jemand zu Hause?«, und versucht, mir gegen die Stirn zu klopfen.
Schnell weiche ich aus, zwinge mir ein Lächeln ab und versuche, irgendetwas zur Diskussion beizutragen. Falk sagt ebenfalls nicht viel, er hört zu und beobachtet. Auch hin und wieder mich. Unwillkürlich frage ich mich, ob ihm gefällt, was er sieht. Irgendjemand hat mir mal gesagt, dass ich ein Durchschnittsgesicht habe, was mich eine Woche lang zutiefst erschüttert hat, und meine Figur ist eher sportlich als sexy. Aber immerhin erkennt man mich sofort an meinen kurzen, hellblonden, stachelspitzen Haaren und an meinen grünen Augen. Ja, klar, Katzenaugen, den Vergleich habe ich schon ungefähr tausendmal gehört.
Während die anderen diskutieren, beugt sich Andy zu mir und fragt leise: »Sag mal, was ist das da auf dem Regal? Das Gehörknöchelchen eines Wals oder so?«
Ich muss lachen und flüstere zurück: »Das ist nur ein Stück Treibholz, das mal irgendwer von einem Projekt in Feuerland mitgebracht hat.«
»Ach so. Lustig. Gibst du mir mal die Adresse eurer Networking-Plattform?«
Kann er haben. Er tippt sie sofort in sein Notebook, dann kann ich mich wieder den anderen zuwenden.
Als das Treffen beendet ist, verabschieden wir uns und schließen im Hinterhof unsere Fahrräder auf. Ich lauere auf eine Gelegenheit, mit Falk zu reden, aber er achtet nicht mehr auf mich. Lena-Marie quatscht gerade mit ihm und fragt ihn über seine Aktivitäten in Berlin aus. Währenddessen trödele ich im Hinterhof herum, packe umständlich meinen Rucksack neu und trinke einen Schluck aus meiner Wasserflasche. Andy lehnt sich neben mich an die mit Efeu überwachsene Backsteinmauer des Hofes. »Hat mir eigentlich ganz gut gefallen bei euch«, sagt er und ich zwinge mir ein Lächeln ab. »Schön. Kannst ja mal bei einem Projekt mitmachen, wenn du Lust hast.«
Falk schiebt sein Rad, ein altes schwarzes Mountainbike, auf den Bürgersteig, und mir wird klar, dass er gleich weg sein wird. Enttäuschung schneidet in mein Herz. Wir haben kein einziges persönliches Wort gewechselt, und ich habe keine Ahnung, ob er noch einmal bei uns aufkreuzen wird. Vielleicht habe ich mir ja nur eingebildet, dass da irgendetwas zwischen uns ist … eine Schwingung, eine besondere Wärme. Oder ist er ein Frauenheld, dem sowieso alle nachlaufen, mache ich mich komplett lächerlich, wenn ich ihn nach seiner Handynummer frage?
Gerade verabschiedet er sich von Lena-Marie, winkt kurz in meine Richtung und schwingt sich auf sein Rad. Einen Moment später ist er außer Sicht.

Am Ufer

Niedergeschlagen stehe ich vor dem Büro von Living Earth und Worte prasseln gegen meine Ohren. Andy erzählt irgendetwas, aber ich habe keine Lust mehr, zuzuhören. »Ciao, man sieht sich«, sage ich zu ihm und radele selbst los.
Ich bin so fertig, dass ich fast übersehen hätte, dass vor einer Bäckerei zwei Straßen weiter ein altes schwarzes Mountainbike steht. Moment mal, gehört das nicht Falk? Ich kehre um, halte an und steige mit weichen Knien ab.
Er steht gerade an der Theke und bestellt ein Roggenbrötchen. Fragend blickt mich die andere Verkäuferin an und ich krächze: »Ein Croissant, bitte.«
Falk wendet sich zu mir um, erkennt mich. »Alles klar?«, fragt er beiläufig und ich nicke. Wir setzen uns vor die Bäckerei auf eine niedrige Mauer und ich beiße in mein Croissant, Blätterteig krümelt auf den Boden. Jetzt oder nie, schießt es mir durch den Kopf.
»Den Akku hab ich noch nicht weiterverschenkt«, sage ich. »Gab noch keine Gelegenheit. Vielleicht behalte ich ihn auch einfach, als Glücksbringer.«
»Gilt nicht«, sagt Falk und wir grinsen uns an. Das fühlt sich gut an, plötzlich ist da wieder eine Verbindung zwischen uns.
»Na gut, dann wechselt er bald den Besitzer«, gebe ich nach.
»Was macht deine Schulter? Wieder okay?«, fragt er.
Unwillkürlich knete ich die Stelle durch, an der mich der Taser berührt hat. »Ja. Aber ich hätte nicht gedacht, dass das so wehtut.«
»Früher waren Taser in Deutschland verboten.« Falk steht auf, aber er geht noch nicht zu seinem Rad. Er streckt sich nur und lässt kurz den Blick schweifen. »Dein Freund ist schon weg?«
»Was für ein Freund?«, frage ich verdutzt.
»Der Dunkelhaarige.«
Ich muss lachen, so erleichtert bin ich. »Der ist nicht mein Freund. Nur ein Bekannter. Wir haben uns neulich auf einer Party kennengelernt und er wollte mal zu einem Treffen kommen.«
Falk nickt und lässt sich nicht anmerken, was er denkt. »Bist du nächstes Mal wieder da? Beim Treffen?«, fragt er.
»Ja«, antworte ich sofort.
»Gut«, sagt er und schwingt sich auf sein Rad. »Also bis dann.«
Gut. Das Wort geht mir durch und durch. Er findet es gut, dass ich da sein werde.
Es fällt mir schwer, bis zum nächsten Mittwoch zu warten. Aber dann ist es endlich so weit und diesmal ist alles anders. Andy ist nicht da. Falk sitzt mir gegenüber, und immer wieder treffen sich unsere Blicke, ganz kurz nur. Und nach jedem dieser Momente fühle ich mich ein wenig lebendiger.
Später, als wir uns auf den Heimweg machen, versucht Lena-Marie wieder, sich mit Falk zu unterhalten, doch er antwortet so kurz angebunden, dass sie es schließlich aufgibt. Falk und ich trödeln herum, bis alle anderen weg sind, dann schieben wir schweigend unsere Räder über den Gehsteig.
»Wohin fährst du jetzt?«, frage ich ihn.
»Nach Hause. Ich wohne an der Isar, ist echt schön da.« Beiläufig fügt er hinzu: »Wir könnten da noch was trinken.«
»Jetzt?« Überrumpelt schaue ich auf die Uhr, obwohl ich weiß, wie spät es ist. Das geht jetzt doch alles schneller, als ich erwartet habe. Fast ein bisschen zu schnell. Aber habe ich mir nicht eben gewünscht, dass er so etwas sagen würde? Also antworte ich genauso beiläufig: »Klar, warum nicht.«
Er schwingt sich auf sein Mountainbike, das wahrscheinlich noch aus dem letzten Jahrhundert stammt und weder Tacho noch Navi hat. Weil ich mich besser auskenne, übernehme ich wieder die Führung; wir rasen quer durch Sendling und fahren an der Brudermühlbrücke zur Isar runter. Jetzt scheint Falk zu wissen, wo er ist, er zieht an mir vorbei und fährt voraus.
Ich mag diese ganze Gegend total, die Isar schlängelt sich wie ein Wildfluss durch die Stadt, grün wie Glas ist ihr Wasser. Auf ihren breiten Kiesbänken und endlosen Uferwiesen habe ich schon als Kind gespielt. Das hätte ich diesem Andy sagen sollen, dass es gerade in München sehr viel mehr Natur gibt als ein paar Hundeklo-Bäume!
Während wir weiter in Richtung Süden die Isar entlangfahren, am Tierpark Hellabrunn vorbei, beginne ich langsam, mich zu wundern. Wo genau wohnt Falk hier eigentlich, und wie hat er es geschafft, in dieser Gegend eine bezahlbare Wohnung zu finden? Vielleicht hat er ein winziges Zimmer in irgendeiner WG.
Zehn Minuten später sind wir praktisch aus der Stadt raus, ganz selten begegnet uns mal ein anderer Radler oder ein Jogger, und noch immer fahren wir am Fluss entlang, die Bäume strecken ihre Äste nach uns aus. Jetzt wird mir doch ein ganz klein wenig mulmig zumute. Bin ich eigentlich bescheuert, dass ich mit einem fast völlig Fremden in den Wald fahre? Ich mag nicht fragen: ›Sind wir bald da?‹, das klingt nach Kleinkindergequengel, aber irgendwann werde ich anhalten und umkehren. Jetzt? Nein, noch nicht jetzt, noch nicht …
Als hätte Falk meine Gedanken gespürt, bremst er plötzlich, steigt ab und lehnt sein Rad gegen einen Baum. Sein Gesicht leuchtet, als er über die glitzernde Fläche der Isar und den breiten Kieselstrand des Ufers blickt. »Wir sind da. Gefällt’s dir?«
»Äh, ja«, sage ich und steige langsam ab. Weit und breit kein Gebäude in Sicht, wenn man die Großhesseloher Brücke und das kleine Wasserkraftwerk nicht mitrechnet, die man von hier aus gerade noch erkennen kann. Ein blaues Warnschild verkündet WEHR – Lebensgefahr 500 m.
»Was magst du trinken, Cat?« Falk stört sich überhaupt nicht an meinem verwirrten Blick. »Limo, Saft oder Wasser?«
Klingt, als habe er hier ein kleines, aber feines Restaurant. Ich fühle mich wie im falschen Film, aber ich sage einfach nur: »Saft«, und warte ab, was passiert. Falk stapft in den Wald davon, und meine Neugier siegt, ich gehe ihm hinterher. An dieser Stelle ist der Buchenwald zwischen dem Fluss und der steilen Flanke des Hochufers ziemlich breit und dicht. Ich weiche einem quer liegenden Baumstamm aus und dann entdecke ich das grüne Zweimannzelt mit Camouflagemuster. Es steht in einer Bodenmulde, sodass es vom Weg aus nicht zu sehen ist. Soso!
Falk wendet sich um und der ironische Blick seiner grauen Augen fordert mich heraus.
Ich sage nicht, dass es verboten ist, hier zu zelten, mitten im Landschaftsschutzgebiet. Stattdessen gehe ich neugierig um sein Zelt herum und schaue es mir an. »Du hast das Tarnmuster selbst aufgemalt, oder? Sieht cool aus.«
Er nickt. »Hat mich einen ganzen Tag gekostet, aber es hat sich gelohnt.« Sein Blick ist weicher geworden, vielleicht weil ihm klar geworden ist, dass er von mir keine blöden Bemerkungen zu erwarten hat. Mag ja sein, dass Falk in München offiziell als Obdachloser gelten würde, aber ich verstehe ihn gut, es ist wirklich traumhaft hier. Bevor wir mit zwei Kunststoffbechern und einer Kirschsaftflasche zum Kieselstrand hinunterklettern, ziehe ich die Schuhe aus und grabe meine Zehen in die helle, pudrige Erde des Uferstreifens. Dann setzen wir uns auf die Kiesel, die strahlend hell sind, selbst jetzt noch, im weichen Licht des Septembernachmittags. Wir blicken über die Weite des Flusses hinweg bis zur dunkelgrünen Mauer der Bäume am anderen Ufer.
»Ist doch komisch – manchmal findet man etwas, obwohl man gar nicht danach gesucht hat«, sagt Falk leise, und weil er mich dabei von der Seite ansieht, weiß ich, dass er jetzt nicht über die Isar spricht.
»Hast du gewusst, dass ich bei Living Earth bin?«, frage ich und erinnere mich daran, dass ich an diesem Tag mehrere Buttons getragen habe, nicht nur unseren.
Er schüttelt den Kopf und dann reden wir über andere Dinge. Über Demos, auf denen wir schon waren; darüber, als welches Tier wir gerne wiedergeboren werden würden; über den Regenwald, den Falk schon ein paarmal selbst gesehen hat und ich noch nie. Eigentlich seltsam – ich kämpfe für etwas, das ich nicht mal kenne.
Beim Reden habe ich, fast ohne es zu merken, Steine zusammengeklaubt – eine blöde Angewohnheit von mir, ich muss immer meine Hände beschäftigen. Nur weiße habe ich gesucht und jetzt liegt ein Stapel davon neben mir. Falk betrachtet ihn interessiert. »Was fängst du jetzt damit an?«
»Nichts«, sage ich verlegen.
Seine Augen funkeln verschmitzt. »Komm, wir machen was draus. Etwas, über das sich die Leute wundern können, wenn sie hier vorbeikommen.«
Ich denke einen Moment lang darüber nach. »Ah, ich weiß was. Wie wäre es mit einer Spirale aus Steinen in unterschiedlichen Farben?«
»Klingt gut«, sagt Falk, und wir fangen gleich an, dafür Kiesel zu suchen. Doch schließlich beschwert er sich: »Mensch, meine Lieblingsfarbe fehlt.«
»Welche denn?«
»Orange.«
Ich muss lachen. »Echt unpraktisch. Du kannst dein Zelt nicht orange anmalen, sonst wird’s sofort entdeckt. Und mit ’ner Jacke in der Farbe bist du bei Demos viel zu auffällig.«
»Man kann halt nicht alles ausleben«, meint er und zuckt lächelnd die Achseln. Als ich weitersuche, halte ich die Augen nach einem orangefarbenen Kiesel offen, und tatsächlich, ich finde einen. Er ist fast perfekt rund und fühlt sich gut an in der Hand, weil das Wasser ihn schon Hunderte von Jahren lang glatt geschliffen hat. »Hier. Schenk ich dir.«
Unsere Hände berühren sich einen Moment, als ich ihm den Stein in die Hand drücke, und unsere Blicke treffen sich, halten sich fest. »Danke«, sagt Falk und nimmt den Stein so vorsichtig, als sei er ein Juwel. Irgendwie weiß ich, dass er ihn tatsächlich aufbewahren wird. »Und was ist mit dir? Jetzt hoffe ich mal, dass du nicht auf Lila stehst, sonst suche ich in zehn Jahren noch.«
»Es ist noch schlimmer – Azurblau«, gestehe ich.
»Okay«, sagt Falk und denkt kurz nach. »Lass dich überraschen.« Nach gründlicher Suche überreicht er mir einen ovalen, flachen schwarzen Stein. »Schau jetzt genau hin«, sagt er, während er eine Handvoll Wasser über den Stein gießt … und das Blau des Himmels spiegelt sich darauf.
»Siehst du es?«, fragt Falk leise und ich kann einfach nur nicken.
Wir arbeiten lange an der Spirale, die vor allem aus schwarzen und weißen Kieseln bestehen soll. Während sie wächst, vergessen wir die Zeit. Ein paar Mücken fliegen Angriffe auf uns, aber keiner von uns beachtet sie. Ich schicke eine SMS an meine Eltern, dass ich nicht zum Abendessen heimkomme. Wird zwar blöde Bemerkungen geben, aber das ist es mir wert. Als wir Hunger bekommen, teilen wir uns ein Sandwich aus Falks Rucksack.
»Also, mehr als einen Stern kann ich deinem Ufer-Restaurant leider nicht geben«, flachse ich. »Dazu war wirklich zu wenig Tomate drauf.«
Falk grinst. »Nächstes Mal belege ich es mit drei Scheiben, bekomme ich dann drei Sterne?«
Die Sonne ist schon fast verschwunden, als unser Werk schließlich fertig ist. Wir stehen dicht nebeneinander und betrachten die schwarz-weiße Spirale andächtig. »Hast du sie dir so vorgestellt?«, fragt Falk und ich nicke. »Schön ist sie geworden«, sage ich und weiß, dass ein Teil dieses Ufers jetzt für immer uns gehört.
Es ist fast dunkel – höchste Zeit, dass ich mich verabschiede. »Ich muss los, das Licht an meinem Rad ist kaputt, im Dunkeln damit unterwegs zu sein ist keine gute Idee.«
Im Halbdunkel sehe ich, wie Falk mich lächelnd anblickt. »Ich dachte, Katzen sehen gut im Dunkeln.«
»Ja, klar«, gebe ich zurück. »Aber davon habe ich ja nichts, wenn mich irgendjemand nicht bemerkt und über den Haufen fährt.«
Wir balancieren mit bloßen Füßen auf den Kieseln und sehen uns an. Ich würde ihn so gerne umarmen, aber ich traue mich nicht. Niemand hat je behauptet, dass ich besonders mutig wäre. Wenn ich genau darüber nachdenke, war Falk auf dieser Demo zu helfen schon mit das Mutigste, was ich je gemacht habe.
Aber bevor ich mich für irgendetwas entscheiden kann, zieht Falk mich an sich. Einen Moment lang hält er mich fest, ich lege vorsichtig die Arme um ihn und genieße es, seinen warmen Körper zu spüren. Dann lässt er mich behutsam los. »Komm gut nach Hause, Cat.«
Wir tauschen noch schnell unsere Handynummern aus, dann schwinge ich mich auf mein Rad. Unter meinen Reifen spulen sich die Kilometer ab, aber ich bemerke es kaum, ich bin wie in Trance. Ein Teil von mir ist immer noch dort am Ufer, bei ihm.
Als ich heimkomme, ist meine Schwester Juliet – wie immer ganz in Schwarz – gerade dabei, meinen Vater anzuschreien. »Mann, ich fasse es nicht, ich hab doch schon gesagt, dass ihr meinetwegen mein Handy orten lassen könnt! Ihr wisst in jeder Sekunde, wo ich bin – wieso darf ich trotzdem nur bis zehn weg?«
»Weil du erst vierzehn bist«, sagt mein Vater ungerührt. »In deinem Alter durfte ich abends gar nicht ausgehen.«
»Was kann ich dafür, dass du im Mittelalter aufgewachsen bist?« Schnaubend will Juliet in ihr Zimmer abziehen, doch dann sieht sie mich und stutzt. Vielleicht kann man Verliebtheit sehen, wie eine Art Schimmern, das einen umgibt. Ich komme gerade noch dazu, den Kühlschrank aufzumachen und mir ein Käse-Sandwich zu basteln, da greift mich Juliet schon am Arm und zieht mich in ihr Zimmer. Sie startet auf ihrem Player ein paar SharkDrive-Songs, die mir eigentlich zu hart sind, aber wenigstens dafür sorgen, dass niemand uns belauschen kann. Wir werfen uns auf ihr Bett mit den rot-schwarzen Seidenbezügen, die sie sich zum Geburtstag gewünscht hat. »Kenn ich ihn?«, fragt sie, stützt sich auf einen Ellenbogen und schaut mich neugierig an.
»Wen?«, sage ich, um sie aufzuziehen, aber dann erzähle ich ihr doch alles und krümele ihr Bett voll, weil ich zwischendurch das Sandwich weiteresse.
»Ich hätte doch zur Demo mitkommen sollen, ich wusste ja nicht, dass da interessante Typen rumhängen«, seufzt sie und kneift sich in die Hüfte, um zu prüfen, ob sich dort in der Zwischenzeit irgendwelcher Speck abgesetzt hat.
»Quatsch«, sage ich. »Du hast es doch gar nicht nötig, dich von Polizisten zusammenschlagen zu lassen, um Jungs kennenzulernen.«
Ob das etwas wird mit Falk und mir? Ich wünsche es mir so sehr.

Mut

Wir sitzen in der S-Bahn und fahren gerade am Hauptbahnhof vorbei, auf dem Weg zu einem Laden, vor dem wir für Living Earth Flyer verteilen wollen. Ich glaube, Falk kommt vor allem wegen mir mit. Weil er anscheinend nicht gerne über sich redet, habe ich ihn gegoogelt. Obwohl er nur vier Jahre älter ist als ich, hat er schon geholfen, in Finnland eine Robbenkolonie zu verteidigen, in Berlin Fischadlerküken mit Ringen zu markieren und in Guyana eine Artenzählung im Regenwald durchzuführen. Im Vergleich dazu ist es für ihn bestimmt unglaublich öde, einen schicken Laden zu belagern, der Möbel aus Tropenholz verkauft.
Es fühlt sich so gut an, neben ihm zu sitzen. Ich achte auf kaum etwas anderes und die Unterhaltung des Paars gegenüber blende ich sowieso lieber aus. Die beiden waren mir auf den ersten Blick unsympathisch, als sie eingestiegen sind. Beide sind etwa Mitte fünfzig. Sie trägt ein Kleid, aus dem sie beinahe rausquillt, und eine teure Handtasche; ihr sorgfältig geschminkter Mund wirkt verkniffen. So wie ihr Trachtenjacken-Mann blickt sie gerade ungnädig zu einer dunkelhaarigen Frau mit drei quirligen Kindern hin, die schräg gegenübersitzt. »Diese Ausländer können ihre Gören wirklich gar nicht unter Kontrolle halten«, sagt die Frau jetzt zu ihrem Mann. Natürlich so laut, dass die dunkelhaarige Frau es sicher gehört hat. Peinlich berührt schaue ich aus dem Fenster, obwohl es dort nur die Tunnelwand zu sehen gibt. Was für eklige Leute!
Dann höre ich Falks Stimme. »Diese Bemerkung war dumm und rassistisch«, sagt er zu der Frau, so laut und deutlich, dass jeder in diesem Bereich der S-Bahn es mitbekommen hat. Köpfe wenden sich ihm zu, erstaunte Blicke treffen ihn, und die dunkelhaarige Frau mit den Kindern lächelt Falk dankbar zu. Die älteren Herrschaften sagen nichts mehr und starren Falk giftig an. Falk schaut ihnen einfach weiter in die Augen, ganz ruhig, und an der nächsten Station verlassen die beiden die S-Bahn, auf einmal haben sie es eilig.
Ich bin unglaublich stolz auf Falk. Aber ein schlechtes Gefühl bleibt. Er hätte nicht der Einzige sein dürfen, der etwas sagt – warum habe ich eigentlich nichts gesagt, obwohl ich die Bemerkung doch auch völlig daneben fand?
»Du hast das Richtige getan, fand ich«, sage ich zu Falk, als uns die Rolltreppe schließlich zur Oberfläche trägt. »Ich hätte denen auch die Meinung geigen sollen.«
»Ja«, meint Falk schlicht. Ich werde nicht schlau aus seinem Gesichtsausdruck.
Beim Verteilen der Anti-Tropenholz-Flyer klebt ein freundliches Lächeln auf meinem Gesicht, doch eigentlich fühle ich mich elend. Erst als die Mitglieder einer anderen Umweltschutzorganisation eintreffen, werde ich ein bisschen lockerer. »Na, wenn das nicht die Katharina ist!«, ruft mir einer der Jungs schon von Weitem entgegen und grinst mich an. »Übrigens, du hast vergessen, das Graffito anzuschalten.«
»Mist, hoffentlich zieht mir die Chefin nichts vom Gehalt ab«, stöhne ich theatralisch und aktiviere rasch die Graffiti-Funktion an meinem Pad. Jetzt wird Vorbeigehenden die Information, wer wir sind und warum wir hier herumstehen, automatisch auf ihr Handy geschickt und eine Minute lang angezeigt. Wer sich dafür interessiert, kann das Graffito speichern, alle anderen brauchen nur abzuwarten, bis es sich von selbst wieder löscht.
»Wär schon praktisch, wenn wir überhaupt ein Gehalt kriegen würden, von dem jemand was abziehen könnte«, seufzt eins der Mädchen und wirft Falk neugierige Blicke zu. Er hat sich den anderen bisher nicht vorgestellt und beobachtet gerade den Möbelladen und die hineingehenden Leute.
»Wir bekommen bei Living Earth eine Stundenpauschale – allerdings nur sechs Euro«, erkläre ich und den anderen bleibt der Mund offen stehen. »Kein Witz? Unglaublich! Keine Selbstausbeutung!«
Ich kenne das nicht anders, weil ich es bei Living Earth von Anfang an so erlebt habe. Aber es dauert eine Weile, bis die anderen sich damit abgefunden haben.
Weil Falk außer »Hi« immer noch kein Wort gesagt hat, übernehme ich es, ihn den anderen vorzustellen, dann legen wir mit unserer Aktion los. Eigentlich ist es nicht erlaubt, Kunden direkt anzuquatschen, aber weder Falk noch die anderen kennen Hemmungen. »Wussten Sie schon, dass uralte Bäume im Dschungel gefällt worden sind, um die Möbel in diesem Laden herzustellen?« Auch ich bringe den Spruch und freue mich darüber, dass manche Leute wirklich zuhören und den Shop gar nicht erst betreten. Es dauert nicht lange, bis der Ladenbesitzer wutentbrannt herauskommt und uns zur Rede stellt. »Was fällt Ihnen ein, meine Kunden zu belästigen?«
Falk lächelt ihn freundlich an. »Wussten Sie schon, dass uralte Dschungelbäume gefällt worden sind, um die Möbel in Ihrem Laden …?«
»Ich rufe die Polizei!«, brüllt der Typ uns an und verschwindet wieder hinter den Glastüren.
Mein Herz beginnt zu hämmern, und am liebsten wäre ich jetzt ganz woanders, aber die anderen bleiben cool und machen einfach weiter. Also zwinge auch ich mich, weiter mit freundlicher Miene Infos auszuteilen. Schon ein paar Minuten später hält ein Streifenwagen neben uns und zwei Beamte steigen aus.
»Ihre Personalien bitte«, sagt der eine zu mir, und ich spüre, wie meine Wangen heiß werden, wahrscheinlich bin ich knallrot geworden.
»Äh, ja.« Ich fummele meinen Ausweis aus der Tasche und einer der Polizisten scannt ihn ein. Da fällt mein Blick auf Falk und ich stutze. Diesmal kann ich den Ausdruck deuten, mit dem er mich anblickt – er sieht enttäuscht aus, und das fühlt sich an, als bohre sich eine lange Nadel ganz langsam in mein Herz. Jetzt merke ich, dass keiner der anderen Umweltschützer sich einfach so identifiziert hat. Stattdessen gibt einer der anderen Jungs freundlich zu bedenken, dass alles, was wir hier tun, durch die Meinungs- und Versammlungsfreiheit abgedeckt ist, und woher bitte sie das Recht nehmen würden, uns zu kontrollieren?
Oh Mann. Wahrscheinlich hätte ich das sagen sollen. Stattdessen habe ich pariert wie ein Schaf.
Auf der Fahrt zurück zur Living-Earth-Zentrale ist Falk sehr schweigsam und er schaut mich nicht an. Ich weiß, dass alles verloren ist, wenn ich jetzt nichts sage. Also presse ich hervor: »Ich habe blöd reagiert vorhin.«
»Schon okay«, sagt er, aber er sieht mich immer noch nicht an. Und das liegt sicher nicht daran, dass es in der U-Bahn gesteckt voll ist, wie immer zur Hauptverkehrszeit, um uns drängen sich andere Menschen, Körper an Körper. Es riecht stickig, nach verbrauchter Luft und Schweiß.
Nein, nichts ist okay! Mir ist klar, dass wir über das reden müssen, was geschehen ist, und zwar unbedingt und bald. Doch hier in der U-Bahn geht das nicht, und auf gar keinen Fall geht es in der Living-Earth-Zentrale, wo Lena-Marie und die anderen garantiert die Ohren spitzen werden. Bei der nächsten Station – Universität – nehme ich einfach Falks Hand, zerre ihn nach draußen. Verblüfft lässt er es geschehen. Von hier aus ist es nicht weit bis zum Englischen Garten, dem mit Abstand schönsten Park in München, meiner Oase. Schweigend gehen wir nebeneinanderher, und es macht mir Hoffnung, dass Falk meine Hand nicht losgelassen hat. Er hat kräftige, sehnige Hände, die Hände eines Kletterers.
Je näher wir den Wiesen und Bäumen kommen, desto entspannter scheint er zu werden, aber das bedeutet noch nicht, dass er wieder mit mir redet. Schließlich gehen wir einfach quer über eine mit Herbstlaub getüpfelte Wiese – hier gibt es zum Glück keine Verbotsschilder – und setzen uns ans Ufer des Eisbachs. Ich ziehe meine Füße im Schneidersitz unter mich und warte darauf, was jetzt kommt.
Falk atmet tief durch, dann wendet er sich mir zu. »Wenn man sich wirklich ernsthaft für etwas einsetzen will, dann darf man nicht schon beim ersten Widerstand einknicken«, sagt er leise. »Sonst ist man kein echter Umweltschützer und wird nie einer sein.«
Ich nicke und spüre, wie mein Gesicht wieder zu brennen anfängt. Aber ich fühle mich auch irgendwie erleichtert. Er macht mir keine Vorwürfe, er sagt einfach nur die Wahrheit. Eine Wahrheit, auf die ich auch selbst hätte kommen können. Und auf einmal ist der Weg, der vor mir liegt, klar: Ich will nicht den Rest meines Lebens Flyer verteilen, ich will mehr tun als das – falls ich dazu fähig bin. »Kann man das lernen? Nicht einzuknicken?«
»Ja«, sagt er und plötzlich ist die Wärme zurück in seiner Stimme. Fest umschließt seine Hand die meine. »Ja, ich glaube, das kann man lernen.«