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Für Lisa-Marie

Noch 21 Tage

20:50 Uhr

»Was wollen Sie von mir? Warum bin ich hier?«

Mach dich nicht lächerlich, Vera. Glaubst du, ich kann die Angst in deiner hohlen Stimme nicht hören?

»Geht es um Geld? Ich hab Geld. Wie viel wollen Sie?«

Nein, es geht nicht um Geld, Vera. Obwohl Geld irgendwann eine Rolle spielen wird. Aber nur eine ganz untergeordnete.

»Hallo! Reden Sie mit mir.«

Ich stelle den Lautsprecher stumm. Auf dem Monitor sehe ich, dass sie weiterspricht. Ich muss das nicht hören. Was wird sie schon sagen? In etwa das, was alle gesagt haben. Völlig uninteressant. Und noch ist der Klang ihrer Stimme zu schrill. Erst wenn sie ermatten, wenn sie weich und biegsam werden wie Eisen, das geschmiedet wird, höre ich sie gerne.

Ich prüfe, ob der Stimmenverzerrer an ist, und schalte das Mikro ein.

»Sei jetzt still, Vera. Ich muss dir etwas erklären.«

Sie verstummt, schaut voll banger Erwartung in die Kamera.

»Du hast wahrscheinlich bemerkt, dass du nicht nur an einer Kette, sondern auch an einem Stromkabel hängst. Solltest du auf die Idee kommen zu schreien, werde ich den Strom einschalten. Er wird dich nicht töten. Aber er wird dir wehtun.«

Sie muss ja nicht wissen, dass nicht nur ich den Stromschlag auslösen kann, sondern auch sie selbst. Obwohl ich ihr den genial einfachen Mechanismus nur zu gerne zeigen würde. Aber sie soll sich ja allzeit von mir beschützt fühlen. Auch wenn ich gar nicht da bin.

»Wenn du mir nicht glaubst, kannst du es gerne ausprobieren. Willst du es ausprobieren?«

Sie schüttelt den Kopf.

»Aber ich.«

Ich verpasse ihr eine Ladung. Sie zuckt, schreit auf, beherrscht sich aber gleich wieder.

»Hast du das Prinzip verstanden?«

Sie nickt.

»Gut. Ich will, dass du etwas tust. Hörst du mich?«

Wieder ein Nicken.

»Auf dem Monitor vor dir erscheint gleich ein Text. Ich möchte, dass du ihn laut vorliest. Siehst du das kleine Mikro? Geh ruhig näher ran, damit man dich besser versteht. Und lies so, dass der Ernst deiner Lage rüberkommt.«

Ihr Mund bewegt sich, sie sagt etwas, aber ich kann sie nicht hören, weil der Lautsprecher immer noch aus ist. Ich weiß trotzdem, was sie gesagt hat, ich habe es von ihren Lippen gelesen.

Werde ich hier sterben?

»Nein, wirst du nicht, Vera.«

Sie schöpft Hoffnung, weil sie nur hört: Du wirst nicht sterben. Dabei habe ich bloß gemeint, dass sie nicht hier sterben wird. Nein, Vera, hier bist du nur aus nostalgischen Gründen. Weil hier alles begann. The First Cut Is the Deepest. Den alten Song kennst du sicher. Mit dir wird sich ein Kreis schließen. Aber sterben wirst du nicht hier, sondern in einem engen, finsteren Loch, und ich werde jeden Seufzer, jedes Stöhnen, jeden Atemzug von deinen Lippen saugen.

»Hier ist dein Text, Vera. Lies!«

 

21:23 Uhr

Wie harmlos der Umschlag doch wirkt in diesem Apfelblütenweiß. Wie weich und leicht er sich anfühlt mit seiner Wattierung. Selbst mit Inhalt wiegt er fast nichts. Und doch wird er mehrere Leben verändern. Für immer. Ich stelle mir vor, wie Linus ihn, wenn er von der Schule kommt, aus dem Briefkasten nimmt, ins Haus trägt und ablegt. Ahnungslos. Wie er eben ist, der beschränkte Junge. Mit dieser außergewöhnlichen, unübertroffenen Gabe, um die niemand ihn so sehr beneidet wie ich. Und die er so wenig zu schätzen weiß.

Ich stecke den Umschlag in die unbenutzte Plastiktüte und ziehe die Latexhandschuhe ab. Morgen fahre ich nach Frankfurt und werfe ihn in einen Briefkasten. Einen, wo es weit und breit keine Überwachungskameras gibt. Man muss höllisch aufpassen heutzutage. Wäre doch schade, wenn dieses Spiel aus Nachlässigkeit enden müsste, ehe es richtig begonnen hat. Obwohl es kein Spiel ist. Eher eine Lektion.

Eine von der Sorte: Wer nicht hören will, muss fühlen.

Noch 19 Tage

13:16 Uhr

Wieder nur der Anrufbeantworter. Das war jetzt schon der dritte Tag in Folge. Langsam machte Linus sich wirklich Sorgen. Wo steckte seine Mutter bloß? Wenn sie verreist war, wieso hatte sie nichts gesagt? Einfach so zu verschwinden war eigentlich nicht die feine Art. Oder nahm sie es ihm doch übel, dass er nach der Trennung nicht mit ihr gegangen war?

Er hatte es ihr erklärt. Tausend Mal. Und sie hatte gesagt, es sei in Ordnung. Sie bleibe seine Mutter. Er könne zu ihr kommen, wann immer er wolle. Dann hatte sie ihm einen Zweitschlüssel für ihr neues Haus in die Hand gedrückt, mit der Bitte, seinem Vater nichts davon zu verraten. Unser kleines Geheimnis, hatte sie mit einem verschwörerischen Lächeln gesagt. So wie das eigene Zimmer, das sie ihm bei sich eingerichtet hatte. Und das Musikzimmer mit dem nagelneuen Klavier. Aber er hatte es trotzdem gehört, in ihrer Stimme. Wie enttäuscht sie war. Wie verletzt. So, als hätte er die Familie verlassen und nicht sie.

Linus schob sein Handy in die Hosentasche.

Ein Blick auf die Uhr. Wo blieb Lucy bloß?

Helle Stimmen, die er mehr spürte als hörte, ließen ihn aufblicken. Er hatte sich nicht geirrt. Er irrte sich nie. Zwei Mädchen in schulterfreien Tops waren auf den Hof getreten. Keine von ihnen war Lucy.

Linus stöhnte.

Die Hitze war unerträglich, selbst hier im Schatten. Nicht nur, dass sie ihm den Schweiß aus den Poren trieb, sie drückte auch unangenehm auf seine Ohren und brachte dabei selbst einen Klang hervor. Oder gab es diesen Klang nur in seinem Kopf? Nein, er wusste, dass er die Hitze hörte. So wie Kälte. Oder Nebel. Und tausend andere Sachen, die sonst niemand hörte. Doch wen wollte er mit so was schon beeindrucken? Wieso konnte er kein Sport-Crack sein? Oder wenigstens ein Mathe-Genie? Selbst das wäre cooler gewesen.

Ein Geräusch sickerte in die dumpfe Stille, erst klang es wie feines Rieseln von Sand, dann, mit zunehmender Lautstärke, als würde der Sand zwischen Steinen zerrieben. Mit zusammengekniffenen Augen schaute Linus die Straße hinab, wo sich nach einer Weile aus der flirrenden Luft über der Kreuzung eine Gestalt formte, die auf einem Skateboard stand. Sie kam rasch heran. Ein Junge in Baggy Pants und mit einem Basecap auf dem Kopf. Linus kannte ihn, wenn auch nur vom Sehen. Und von dem, was man über ihn erzählte. Es war Benny. Lucys kleiner Bruder mit der großen Klappe.

Garantiert kein Zufall, dass er gerade jetzt hier aufkreuzte.

Das sah nach Ärger aus.

 

13:16 Uhr

»Hundertdreißig ist das absolute Limit. Nimm es oder lass es, aber mach schnell.«

Unentschlossen knabberte Viola an ihrer Unterlippe, während ihre Fingerspitzen verliebt den Touchscreen des Smartphones streichelten.

Lucy unterdrückte einen Stoßseufzer und wünschte sich ans andere Ende der Welt. Oder wenigstens in den Schatten des Ahorns vor dem Schulhof, wo sie Linus schon viel zu lange warten ließ. Wann würde diese dumme Gans sich endlich entscheiden?

»Was überlegst du groß rum? Im Geschäft zahlst du locker drei- oder vier Mal so viel. Hundertdreißig ist praktisch geschenkt!«

»Das Teil ist geklaut, oder?«

Lucy verzog den Mund. Sie hasste Simon dafür, dass er sie dauernd in solche Situationen brachte. Wieso ließ sie sich nur immer wieder von ihm einspannen?

Auf dem Flur vor dem Mädchenklo wurden Schritte laut. Shit! Unverkennbar Hausmeister Hanke mit seinen klobigen orthopädischen Schuhen. Vor der Tür verklang das dumpfe Schlagen seiner Schritte, dafür wimmerten die Türscharniere. Doppel-Shit! Gleich würde er vor ihnen stehen, mit dem fiesesten Grinsen auf dem Gesicht, das man sich vorstellen konnte. Hankes Gang mochte behäbig sein, im Kopf war er ziemlich fit.

Viola erstarrte zur Salzsäule. Wahrscheinlich sah sie schon einen fetten Verweis in ihre pinkfarbene Seifenblasenwelt flattern. Und mit ihm jede Menge Stress.

Die hatte doch keine Ahnung, was echter Stress war!

Schon einmal hatte Hanke Lucy bei so einer Aktion erwischt, aber da hatte sie sich noch herausreden können. Was schwer genug gewesen war. Hanke hatte bereits Simons Realschulkarriere beendet, als er ihn beim Aufbrechen eines Spinds ertappte. Er machte kein Geheimnis daraus, dass Lucy in seinen Augen keinen Deut besser war. Oder sogar noch schlimmer. Weil ihr unschuldiges Aussehen und ihr unscheinbares Auftreten alle täuschte. Alle außer ihn. Dass Lucy davongekommen war, wurmte ihn. Deshalb lauerte er seither auf die Gelegenheit, sie doch noch zu überführen. War sein großer Tag heute gekommen? Die doofe Viola würde seinem Verhör bestimmt keine fünf Minuten standhalten.

Sie packte die dumme Nuss am Handgelenk, zerrte sie in eine Kabine und schloss hinter ihnen ab. Keine Sekunde zu früh, denn schon hatte der Hausmeister den Waschraum durchquert. Nur noch drei Meter und eine dünne Tür trennten sie von ihm.

»Hallo?« Hankes ölige Stimme. »Ist da jemand?«

Ein deutlich hörbares Schnüffeln. Sein Raucher-Radar.

Die zugesperrte Kabinentür war ihm bestimmt nicht entgangen. Keine Chance also, dass er einfach wieder verschwinden würde. Außerdem – das fiel ihr erst jetzt ein – lag ihre Schultasche neben dem Heizkörper. Totstellen war also keine Option. Was blieb sonst noch?

»Kann man hier nicht mal in Ruhe pissen?« Je derber, desto besser.

Sie sah vor sich, wie Hanke seine wulstige Unterlippe nach vorne schob. Das machte er immer, wenn er unsicher war.

»Bist du das, Lucy Sommer?«

»Wollen Sie rein? Bitte!« Sie drehte das Schloss auf. »Was der Direktor wohl dazu sagt, dass Sie Mädchen aufs Klo nachschleichen?«

»Ist ja gut«, gab er zurück und humpelte davon.

Als er weg war, lachte Viola erleichtert auf.

»Ganz schön abgebrüht. Respekt.«

»Was ist jetzt? Nimmst du das Handy oder nicht?«

»Wie viel noch mal? Hundertzwanzig?«

»Hundertdreißig.«

Viola kramte die Scheine aus ihrer Hosentasche. »Man sieht es dir nicht an, Lucy, aber du bist echt cool.«

Nee, bin ich nicht, dachte sie. Wenn ich cool wäre, wäre ich gerade bei Linus.

 

13:28 Uhr

»Ich weiß genau, wer du bist, Alter.«

Bennys Stimme war eine Mischung von Quietsch- und Krächzlauten, von unkontrollierten Aufschwüngen und Abstürzen. Offenbar war er mitten im Stimmbruch.

Linus wich seinem frechen Blick nicht aus, schwieg jedoch hartnäckig.

Aus der Nähe betrachtet, fand er viel von Lucy in Bennys Gesicht wieder: ihren kleinen Mund, das schmale Kinn und die spitze Nase. Doch durch die fliehende Stirn, die struppigen Haare, die unter dem Basecap herauslugten, und die leicht vorstehenden Schneidezähne wirkte er wie eine Karikatur seiner Schwester.

»Du bist der, der mit meiner Schwester rummacht, oder?«

»So würde ich das nicht nennen.«

Bennys Zeigefinger tippte gegen seine Brust. »Mir egal, wie du das nennst, Alter. Bild dir bloß nichts ein.«

Linus schob die Hände in die Hosentaschen und trat von einem Bein auf das andere. Er war jetzt schon viel ruhiger. Dieser krächzende Junge, der ein bisschen wie ein zerfledderter Papagei aussah, war eher zum Lachen als zum Fürchten.

»Was gibt’s ’n da zu grinsen?«

Grinste er wirklich?

»Benny!«

Der Ruf kam vom Schulhof her. Lucy.

Fünf, vier, drei Sekunden, und sie war da. Das Warten auf sie war nur noch die Pause zwischen zwei Noten. Ein Teil der Musik. Und jetzt, als sie neben ihm stand – das schönste Gefühl auf der Welt.

»Lass Linus in Ruhe!« Sie fuhr ihren kleinen Bruder mit einer Heftigkeit an, die man ihr auf den ersten Blick gar nicht zutraute.

»Linus«, mokierte sich Benny kichernd. »So heißt doch nur ein Spasti.« Er wurde ernst, nahm die Kappe vom Kopf, kämmte mit den Fingern durchs platt gedrückte Haar und setzte sie wieder auf. »Simon schickt mich.«

»Bin gleich bei dir«, sagte Lucy zu Linus und schob ihren kleinen Bruder ein Stück weit fort.

Nicht weit genug.

Er wollte ihr Gespräch nicht belauschen. Trotzdem hörte er, wie Benny sagte: »Hast du die Kohle?« Mehrere Geldscheine wanderten von ihrer Hand in die seine. Was ging da vor sich? Ganz koscher wirkte es nicht. Als Benny das Geld in seine Hosentasche geschoben hatte, boxte Lucy ihn ohne Vorwarnung gegen die Schulter.

»Spinnst du! Das hat wehgetan!«, kiekste er und rieb sich die getroffene Stelle.

»Hau bloß ab. Und sag Simon: Das war das letzte Mal. Hanke hätte mich fast erwischt.«

Benny warf sein Skateboard auf die Straße, sprang darauf und rollte los. »Bitch …«, zischte er zwischen den Zähnen, aber das konnte außer ihm selbst nur Linus verstehen.

Lucy flüchtete in seine Arme. Sie musste den Kopf in den Nacken legen, um ihm ins Gesicht schauen zu können. Ihre grünen Augen funkelten ihn an.

»Sorry, dass ich zu spät war. Bist du sauer?«

Wie sollte er? Sie im Arm zu halten, entschädigte ihn für alles.

»Was war los?«

»Ach, nichts.« Sie schlug die Augen nieder. »Nur jemand, dem mein Bruder Geld geliehen hat.«

Die Worte klangen hohl. Dünn. Etwas höher als üblich. So klangen Lügen. Verstellung. Aber auch Verlegenheit und Scham. Was davon war es?

Linus war peinlich berührt. Weil sie etwas zu verbergen versuchte, ohne zu ahnen, dass das bei ihm nicht so einfach war. Und weil er, ohne es zu wollen, tiefer in ihr Leben eingedrungen war, als sie ihm erlaubte. Was gingen ihn ihre Geheimnisse an? Er wollte sie nicht erfahren. Nicht so.

 

14:24 Uhr

Linus hielt den Klingelknopf gedrückt, mindestens zehn Sekunden lang. Das dauernde Ding-Dong, das gedämpft aus dem Inneren des Hauses drang, fing an ihn zu nerven. Er ließ den Knopf los.

»Und jetzt?«, fragte Lucy.

Er griff in die Hosentasche, zog einen Schlüssel heraus, der an einem roten Bändchen hing, und schob ihn ins Schloss.

»Wir sehen bloß nach, was los ist. Danach gehen wir in den Park. Versprochen.«

»Hm«, machte sie nur, aber es klang wie: Was soll schon los sein? Deine Mutter ist nicht zu Hause. So was kommt vor.

Die Tür war abgeschlossen. Seine Mutter war also weggegangen. Er atmete auf. Die Sorge, sie könnte schwer verletzt irgendwo im Haus liegen, hatte sich erledigt. Er trat in den Flur. Lucy blieb einen halben Schritt hinter ihm.

Nach dem Brummen der Welt draußen wirkte die Stille hier drinnen betäubend. Er blickte sich um. Überall aufgeräumte Leere. Was hatte er erwartet?

Auf einem Tischchen stand das Telefon in der Station, ein rotes Lämpchen blinkte.

»Hallo? Mama?«

Keine Antwort. Wie erwartet.

»Sehen wir uns um.«

»Findest du das wirklich okay?«

»Wir wühlen ja nicht in ihren Sachen.«

Sie gingen in jedes der zahlreichen Zimmer. Keine Spur von seiner Mutter. Aber auch keine leeren Kleiderbügel in den Schränken und keine Lücken in den Reihen der Toilettenartikel, Duftflaschen und Schminksachen. Die mit Aufklebern bedeckten Koffer standen in der Abstellkammer. Verreist war sie anscheinend nicht. Auch das Auto stand an seinem Platz in der Garage. Das war allerdings merkwürdig. Linus’ Mutter ging eigentlich keinen Meter zu Fuß.

 

14:42 Uhr

»Mama, wo steckst du denn? Melde dich doch!«

Die Stimme auf dem Band klang wie eine schlechte Kopie seiner wirklichen Stimme. Befremdlich. Er drückte den Skip-Knopf, um zu den nächsten Nachrichten zu springen. Die meisten stammten von ihm selbst, dazwischen war eine von Beatrice, einer alten Freundin seiner Mutter, und eine von Onkel Frido aus Mannheim. Ein paar Anrufer hatten einfach aufgelegt. Einmal fragte sein Vater, wie es so ginge. Obwohl er behauptete, keinen Kontakt zu ihr zu haben. Keine große Überraschung. Er hatte ihm das eh nicht geglaubt.

»Glaubst du, ich darf mir einen Joghurt nehmen?«, rief Lucy aus der Küche.

»Klar.«

Nach den neuen Nachrichten ging er zu den alten über, die seine Mutter noch nicht gelöscht hatte. Zum Glück war sie darin ziemlich nachlässig.

Lucy kam mit einem Maracuja-Joghurt in den Flur.

»Und?«

»Nichts so weit.«

»Der Mülleimer ist leer.«

Er sah sie an und verstand, was sie meinte. Bevor man für längere Zeit wegfuhr, brachte man den Müll raus. Also war sie doch verreist?

Eine Aufnahme, die nur aus einem Räuspern bestand, ließ Linus aufhorchen.

»Das kommt mir bekannt vor«, sagte er.

Lucy sah ihn erstaunt an. »Das Räuspern? Klang für mich wie jedes andere.«

Er ignorierte ihre Bemerkung, konzentrierte sich nur auf die Aufnahme. Doch es folgte bloß noch ein Piepen, danach Stille.

»Und jetzt?« Lucy löffelte weiter ihren Joghurt.

»Keine Ahnung. Ich kapier nicht, warum sie sich nicht meldet.«

»Was meint denn dein Vater?«

»Nichts. Wir reden nicht über meine Mutter. Oder so gut wie nicht. Das ist …«

Er brach mitten im Satz ab, denn er hatte etwas auf dem Boden bemerkt. Einen schwarzen Splitter, kleiner als eine Träne. Er hob ihn auf. Eine Seite war glatt poliert, die andere kantig und spitz. Anscheinend war er aus einem größeren Stück herausgebrochen.

»Was ist das?«, fragte Lucy.

»Keine Ahnung. Was denkst du?«

Er präsentierte ihr den Fund auf seiner Fingerspitze. Sie betrachtete ihn genau, wiegte unschlüssig den Kopf.

»Könnte Onyx sein.«

»Onyx?«

»Das ist so ’n Schmuckstein. Mein Opa hatte einen Ring mit so einem.«

Linus konnte sich nicht erinnern, an seiner Mutter jemals einen schwarzen Stein gesehen zu haben. Doch das musste nichts heißen, so genau kannte er sich in ihrer Schmuckschatulle auch wieder nicht aus. Er legte den Splitter neben das Telefon.

»Und jetzt?«, fragte Lucy noch einmal und leckte sich Joghurt von der Lippe.

 

15:32 Uhr

Versonnen betastete er ihr rotes, lockiges Haar, das ihren halben Rücken bedeckte, während ihr Kopf an seiner Schulter ruhte. Kaum zwei Meter entfernt zogen tuschelnd die Wellen des kleinen Bachs vorüber, über ihnen wölbte sich die schmale Fußgängerbrücke. Die Welt schien ganz weit weg zu sein. Er war schon oft hier vorübergekommen, und doch hätte er dieses wildromantische Plätzchen unter der Brücke ohne Lucy nicht kennengelernt. »Hier hab ich schon als Kind gern gespielt«, hatte sie ihm erzählt, und er hatte sich vorgestellt, wie Klein Lucy mit einem Hofstaat aus Puppen und Einhörnern hier residierte.

»Wär es nicht toll, wenn wir hier unten wohnen würden?«, sagte sie, und das Echo ließ ihre Stimme noch voller klingen.

»Ja, ganz toll. Wie zwei Penner. Und unsere Adresse wäre: Unter der Brücke sieben.«

Sie lachte kurz auf, dann sagte sie: »So doch nicht. Eher wie …«

»Schon klar. Wie in einem romantischen Märchen.«

»Du bist doof.«

»Und du total süß.«

Sie schmiegte sich noch etwas enger an seine Schulter.

Er führte seine Hand an ihrem Rückgrat entlang, bis zum Ansatz ihres Pos, hielt kurz inne, schob seine Finger erst unter den Bund der Jeans, dann unter den ihres Slips. Ihre nackte Haut zu fühlen, erregte ihn, und es war ihm ein wenig unangenehm, dass sie das wohl auch spürte. Andererseits war es vielleicht gerade das, was sie spüren wollte, denn wieso sonst drückte sie ihren Oberschenkel so in seinen Schritt?

Er hörte sich selbst trocken schlucken, während ihm gleichzeitig der Schweiß aus den Poren zu rinnen begann.

Ob sie wohl schon Erfahrungen mit Jungs hatte? Nicht viele, sagte ihm sein Gefühl.

Er musste an seinen bisher einzigen, eher unglücklichen Versuch letztes Jahr im Schullandheim denken. Sonja Veth aus der Parallelklasse. Ihre Figur hatte ihm gefallen und ihr süßes Lächeln, doch er war nicht richtig in sie verliebt gewesen, und sie auch nicht in ihn. Vor allem die Neugierde hatte sie beide angetrieben, und da sich die Möglichkeit ergab und das eine oder andere Bier sie mutiger gemacht hatte, als sie eigentlich waren, wollten sie sie nicht einfach verstreichen lassen. Eine dumme Idee, wie sich zeigte. Er war von einer Sekunde auf die nächste stocknüchtern gewesen, hatte sich von da an selbst reden und atmen gehört wie einen Fremden, und dadurch wurde das Ganze rasch peinlich, weshalb sie es sein ließen, bevor groß was passiert war.

Mit Lucy sollte es anders sein. Und das würde es auch. Neben den Gefühlen für sie verblasste alles, was er jemals für ein Mädchen oder überhaupt einen Menschen empfunden hatte.

»Woran denkst du?«, fragte sie da, hob den Kopf und sah ihn an. Ihre Wangen glühten wie Abendrot.

»Nichts Bestimmtes.«

Er küsste sie zärtlich auf die Nasenspitze. Das Pulsieren in seinem Bauch wurde wuchtiger, eine neue Hitzewelle brandete an, und seine Ohren waren erfüllt vom Klang ihres weich fließenden Atems.

»Ich liebe dich, Linus Dorn.«

»Nicht so sehr wie ich dich, Luzia Sommer.«

»Ich liebe dich aber unendlich. Mehr geht nicht.«

»Doch. Unendlich und eins.«

Sie schob ihre Hand unter sein Shirt und die Brust hinauf. Über seinem Herzen hielt sie kurz inne, wie um dem Pochen unter der Haut nachzuspüren. Dann wanderte die Hand weiter, bis unter seine Achsel. Ihre Fingerspitzen kitzelten ihn ein wenig, doch es war schön. Erregend. Er wollte ihr näher sein, als er jemals irgendjemandem gewesen war. Er wollte –

»Was geht ’n hier ab!?«

Linus zuckte heftig zusammen, und doch nicht so sehr wie Lucy. Als hätte eine Schlange nach ihr geschnappt, schnellte ihre Hand unter seinem Shirt hervor. Sie setzte sich neben ihm auf, ihr Schatten fiel über ihn.

»Was willst du?«, fragte sie rau.

Der Typ trat näher. Er war einige Jahre älter als Linus, Anfang oder Mitte zwanzig.

»Woher weißt du überhaupt, dass ich hier bin?«

»Glaubst du, ich kenn deine Verstecke nicht?«

Lucy wandte sich an Linus. »Den einen Bruder von mir hast du heute ja schon kennengelernt. Das ist der andere: Simon.«

Die Ähnlichkeit war nur auf den zweiten Blick erkennbar. Simon war mittelgroß und gedrungen, über seinen dunklen Augen wölbten sich dichte Brauen. Obwohl er überlegen und lässig auftrat, klang er die ganze Zeit, als erhole er sich von einer Anstrengung.

»Mama braucht dich«, sagte er zu Lucy.

Die schnaubte genervt.

»Komm schon. Hoch mit dir!« Simon packte sie am Arm und zog sie auf die Beine wie ein unartiges Kind.

»He!« Linus sprang auf.

Simon fuhr herum, doch Lucy schob sich zwischen sie. »Lass gut sein«, bat sie erst Linus und dann ihren Bruder: »Du auch. Gehen wir.«

Sie schnappte sich ihre Schultasche und warf Linus über die Schulter einen Abschiedskuss zu.

Er trat unter der Brücke hervor und schaute den beiden nach. Während Lucy ihr Fahrrad aufschloss, das neben seinem an einen Laternenpfahl gekettet war, kehrte Simon um und kam zu ihm zurück.

»Hör mal, Junge«, sagte er und legte Linus die Hand in den Nacken, was seltsam wirkte, denn er war einen Kopf kleiner und musste daher zu ihm aufsehen. »Glaub bloß nicht, du kannst bei meiner naiven Schwester problemlos einen wegstecken, klar? Das läuft nicht.« Er drückte ihm die Fingernägel in die Haut, ließ ihn dann los und klopfte ihm auf den Rücken. »Wir haben uns verstanden. Nichts für ungut.«

»Pah«, machte Linus, als Simon weg war. Wenn er glaubte, ein paar markige Worte und ein Auftritt wie aus einem schlechten Gangsterfilm reichten, um ihn von Lucy fernzuhalten, täuschte er sich gewaltig.

 

16:07 Uhr

»Bist du sauer?«, fragte Simon.

Lucy saß mit eingezogenen Schultern und verschränkten Armen auf dem Beifahrersitz. Aus dem Kofferraum klang immer wieder das Klappern ihres Fahrrades, das Simon unsanft hineingeworfen hatte. Dass ausgerechnet er den Moralapostel spielte, war der reinste Witz. Aber es hatte keinen Sinn, mit ihm zu streiten. Immer drehte er sich alles so hin, wie er es brauchte.

»Er ist bestimmt ein netter Kerl, aber … Jungs in dem Alter wollen nur Mädels rumkriegen. Ist nun mal so. Sie können gar nichts dafür. Das sind die Hormone. Ich weiß das. Ich war genauso.«

Du bist noch immer so!, wollte sie schon protestieren, verkniff es sich aber.

»Klar, er sagt, dass er dich liebt und so. Wahrscheinlich glaubt er das auch. Aber kaum hat er dich gehabt, liebt er in null Komma nix eine andere.«

Seine Hand ging vom Schalthebel zu ihrem Gesicht, neckisch kniff er sie in die Wange. Doch sie zog ihren Kopf weg.

»Bloß dass sich so ein Schnösel an dir die Hörner abstößt, Kirsche, dafür bist du echt zu schade. Das lass ich nicht zu.«

Lucy rollte mit den Augen. Sie brauchte keinen Beschützer mehr. Sie war alt genug, auf sich selbst aufzupassen. Eigene Erfahrungen zu machen.

»Was ist jetzt eigentlich mit Mama?«

 

16:44 Uhr

Der Raum lag in pechschwarzem Dunkel. Nur dort, wo der Rollladen nicht ganz schloss, sickerte ein schmaler Streifen Licht herein. Abgestandene, staubige Luft. Und diese Stille. Kein Laut. Nicht mal ein Atmen. Wie in einer Grabkammer.

»Lucy? Bist du das?«

»Ja, Mama.«

Den Weg von der Tür zum Bett fand sie im Dunkeln.

»Wie geht es dir?«

Keine Antwort, nur ein Schnauben. Dann: »Wo warst du? Schule ist doch schon lange aus.«

Sie schwieg. Wahrscheinlich wusste ihre Mutter längst über Linus Bescheid. Von Simon. Oder Benny.

»Ich dachte, du kommst überhaupt nicht mehr.«

Sie legte die Hand auf die dicke Daunendecke, unter der ihre Mutter begraben war. »Jetzt bin ich ja da, Mama. Hast du deine Medikamente nicht genommen?«

»Die helfen doch eh nicht.«

Natürlich halfen die Medikamente. Aber nur, wenn man sie rechtzeitig einnahm. Was sie aus irgendeinem Grund nicht tat.

»Ist es sehr schlimm?«

Nur ein tiefes Seufzen. Ihre Mutter griff nach ihrer Hand und drückte sie so fest, dass es wehtat.

Sie dachte an Linus. An das schöne große Haus seiner Mutter. An den Garten und das blitzblanke Auto in der Garage. An das Zimmer, das sie für ihren einzigen Sohn eingerichtet und das er noch nie genutzt hatte, genauso wenig wie das glänzende Steinway-Klavier im Musikzimmer. Eine andere Welt war das, unendlich weit weg von ihrer.

In der Ruhe dieser Gruft kamen ihr ihre Gedanken so laut vor, dass sie fürchtete, ihre Mutter könnte sie hören.

»Was ist das für ein Geruch?« Ihre Mutter zog Lucys Hand erst ganz unter ihre Nase und roch daran, um sie im nächsten Moment von sich wegzustoßen. »Igitt! Was ist das?«

Was meinte sie? Sie roch selbst an ihrer Hand. Und da spürte sie an ihren Fingerspitzen wieder Linus, seinen Herzschlag, die weiche Haut unter seinen Achseln.

»Wieso hast du dir nicht die Hände gewaschen? Du weißt doch, wie empfindlich ich bei einem Anfall bin. – Geh weg! Wasch dich! Und mach mir meinen Tee!«

»Ja, Mama.«

 

16:57 Uhr

Sie verharrte regungslos vor der Tür, starrte auf ihre Finger, die Linus berührt hatten, führte sie an die Nase und atmete tief ein. Ihr war plötzlich zum Heulen zumute. Wegen ihrer Mutter, ihren missratenen Brüdern, ihrem Vater; wegen Linus und dem Zimmer, das er nicht nutzte, so wenig wie den Flügel; wegen ihrer Liebe, die auf einmal so aussichtslos erschien und doch so schön war.

»Und?«

Das Wort, nur geflüstert und dennoch wie ein Schrei in der Stille.

Sie blickte auf.

Simon stand in der Küchentür und sah sie an.

Benny stand in der Tür zu seinem Zimmer und sah sie an.

Ihr Vater stand in der Tür zu seinem sogenannten Büro und sah sie an.

Sie sagte nichts, sondern ging an Simon vorbei in die Küche, um Teewasser aufzusetzen. Simon trat hinter sie, Benny trippelte herein, die Pantoffeln ihres Vaters schlurften über das Linoleum. Das Und? hing noch immer in der Luft.

»Sie will Tee«, brach sie das Schweigen, »und anscheinend weiß hier keiner außer mir, wie man Wasser zum Kochen bringt.«

 

16:57 Uhr

Der blütenweiße, wattierte Umschlag stach zwischen der anderen Post, die den Schlitz des Briefkastens verstopfte, deutlich hervor. Linus zog den ganzen Packen heraus, klemmte ihn in den Gepäckträger und fuhr die Auffahrt hinauf.

Seit das Buch seines Vaters auf dem Markt war, wurde er mit Leserpost überschüttet. Einen solchen Erfolg hatte niemand erwartet. Wer interessierte sich schon für forensische Phonetik? Wer wusste überhaupt, was das war? Doch ein paar Auftritte und Interviews im Radio und Fernsehen hatten genügt, um aus dem Langweilerthema einen brennend interessanten Stoff zu machen. Analyse von Tondokumenten, Stimmenvergleiche, spektakuläre Fälle. Schon dachten die Leute, was sein Vater machte, wäre eine Art Ohren-CSI. Er galt als brillanter Kriminalist, Forensiker und Gehörgenie. Brillant war er, ein besonders feines Gehör hatte er auch, aber er war kein Kriminalist, sondern Professor für Phonetik, mit Schwerpunkt Stimmerkennung und Forensik. Nur gelegentlich half er bei Ermittlungen mit.

Linus legte die Post auf den Küchentisch und fischte den weißen Umschlag aus dem Haufen. Er war leicht wie Luft. Der Absender hatte die Anschrift nicht von Hand daraufgeschrieben, sondern auf weißes Papier ausgedruckt, ausgeschnitten und aufgeklebt. Manche Leute waren ganz schön umständlich. Linus tastete den Brief ab und erspürte zwischen der Polsterung einen schmalen, länglichen Gegenstand. Möglicherweise ein USB-Stick.

Sein Handy klingelte. Lucy, stand im Display. Er nahm ab.

»Wollte dich eh gleich anrufen«, sagte er. »Alles klar bei dir?«

»Alles gut. Und bei dir?« Die Freude, ihn zu hören, perlte durch ihre Stimme.

»Alles bestens. Was war denn mit deiner Mutter los? Hoffentlich nichts Schlimmes.«

»Sie hat schon ihr Leben lang Migräne. Total heftig. Und wenn sie einen Anfall hat, muss ich da sein.«

»Übel.«

»Und wie. – Hör mal, ich möchte mich für meine Brüder entschuldigen. Sie sind nicht so fies, wie sie rüberkommen. Sie meinen halt, sie müssten mich beschützen.«

Glaubte sie wirklich, dass das ihre Motive waren? Den beiden machte es einfach Spaß, ihre Schwester zu kontrollieren. Und die Eltern ließen sie anscheinend gewähren. Oder machten es vielleicht sogar genauso.

»Eigentlich ist das jetzt mein Job. Dich beschützen, meine ich.«

»Nee. Eigentlich ist das mein Job. Aber uns beide gibt es noch? Meine Brüder haben dich nicht abgeschreckt?«

»Deine Brüder sind mir egal. Ich will nicht mit ihnen zusammen sein, sondern mit dir.«

»Immer noch?«

»Natürlich.«

Nein, sie klang nicht so, als hätte sie ernsthaft befürchtet, er würde sie bloß wegen ihrer Brüder fallen lassen. Aber das aus seinem Mund zu hören, hob eindeutig ihre Stimmung.

»Alles wird gut«, sagte er, »wir sehen uns morgen bei der Probe.«

Er legte den weißen Umschlag, den er die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte, zur anderen Post.

 

20:28 Uhr

»Hi, Pa.«

Linus folgte seinem Vater in die Küche, wo der ein Bier aus dem Kühlschrank holte und in großen Schlucken herunterstürzte. Dann deutete er auf den Küchentisch.

»Die heutige Post?«

Linus nickte.

Sein Vater schlurfte an den Tisch, stellte das halb geleerte Bier hin, blätterte flüchtig durch den Stapel Briefe und seufzte. »Hätte ich bloß dieses verdammte Buch nie geschrieben.«

Na klar, dachte Linus und grinste in sich hinein. Er wusste genau, wie stolz sein Vater auf seinen Erfolg war.

Jetzt nahm er das weiße Kuvert und betrachtete es von beiden Seiten. »Können die Leute nicht mal ihren Absender draufschreiben?«

»Weißt du zufällig, was mit Mama los ist? Ich quatsch ihr seit Tagen auf den AB und die Mailbox, aber sie meldet sich nicht.«

»Was fragst du mich?«

»Ich dachte halt …«

Den weißen Umschlag noch immer in der Hand, kam sein Vater näher.

»Wir müssen akzeptieren, dass deine Mutter jetzt ihr eigenes Leben hat und uns keine Rechenschaft mehr schuldig ist.«

Und das ausgerechnet von dir, dachte er, sagte aber: »Ich war heute bei ihr. In ihrem Haus.«

Sein Vater sah ihn irritiert an.

»Ich hab ’nen Schlüssel.« Er zog ihn aus der Hosentasche. Das rote Bändchen lag wie ein offener Schnitt über seinem Handballen. »Sie hat mir auch … ich hab dort ein Zimmer.« Das Klavier verschwieg er lieber.

»Warum hast du das nie erwähnt?«

»Sie wollte es nicht. Kennst sie ja. Ich war also heute bei ihr, und es wirkte irgendwie komisch dort. Weißt du zufällig, ob sie verreist ist oder so?«

Sein Vater drehte das weiße Kuvert in seinen Händen hin und her, betrachtete es und ertastete seinen Inhalt. Die Luftpolsterfolie wisperte unter seinen Fingern.

»Fühlt sich an wie ein USB-Stick. Wahrscheinlich soll ich wieder für einen wildfremden Leser irgendwas auswerten. Als ob ich sonst nichts zu tun hätte.«

Linus schnaubte genervt. »Pa!«

Da legte ihm sein Vater die Hand auf die Schulter. »Lass mich dir etwas über deine Mutter sagen. Du weißt, dass ich sie noch immer liebe, und die Trennung wollte sie, nicht ich. Sie ist eine gute Mutter, kein Zweifel, aber sie ist auch eine Frau, die …« Er suchte nach einer passenden Formulierung. »Die gerne Spielchen spielt. Erinnerst du dich noch, wie sie eine ganze Woche nicht mit uns geredet hat, weil wir … ich weiß gar nicht mehr, warum …«

»Wir wollten Urlaub in den Bergen machen und nicht am Meer.«

Er lachte auf. »Stimmt. Und jetzt diese Sache mit einem Zimmer für dich in ihrem Haus. Das ist völlig in Ordnung für mich, sie ist deine Mutter. Aber wieso macht sie ein Geheimnis daraus?«

Linus schwieg. Es stimmte. Sie hatte ihre Launen und Eigenheiten.

»Was ich sagen will, Linus: Mach dir keine Sorgen. Es hat deine Mutter schwer getroffen, dass du nicht mit ihr gegangen bist. Vielleicht ist ihr Abtauchen ihre Art, dich dafür zu bestrafen.«

Linus nickte. Wahrscheinlich hatte sein Vater recht. Sehr viel besser fühlte er sich aber nicht. Wieso ließ sie ihm erst die Wahl, wenn sie hinterher beleidigt war, weil er sich nicht für sie entschied?

»Genug für heute.« Sein Vater ging zum Küchentisch und legte das weiße Kuvert auf den Poststapel. »Das hat auch bis morgen Zeit.«

Noch 18 Tage

09:15 Uhr

Es war schwer, nicht den Verstand zu verlieren. Nicht in Panik zu geraten. Nicht auszurasten. Vor allem, da sie nicht einmal wusste, wie lange sie schon hier war, in diesem Gefängnis, in das nichts von außen herein-, und nichts von drinnen hinausdrang. Die Lampen in den Ecken erloschen nie, so wenig wie die Webcam an dem Laptop, durch die er sie beobachtete. Und durch die sie sich auf dem Display selbst zusah, wie durch seine Augen.

Was sah sie?

Eine Frau in einem Designerkostüm, mit einer Kette an den Füßen und einem Stromkabel am Körper. Zum Sitzen und Liegen hatte sie eine muffige alte Matratze. Hinter ihr stand eine chemische Toilette. Sie wollte lieber nicht daran denken, dass er sie auch beobachten konnte, wenn sie sie benutzte. Er kam nie herein, wenn sie wach war. Nur wenn sie schlief. Dann stellte er etwas zu essen und zu trinken hin, meist Sandwiches auf Papptellern und Wasser in Plastikflaschen, oder er räumte den Abfall weg.

Sie wusste nicht, ob er auch noch andere Dinge tat. Mit ihr. An ihr. Sie glaubte es nicht. Trotzdem checkte sie jedes Mal, ob etwas an ihr anders war: der Rock über die Knie geschoben, die Bluse aufgeknöpft, die Unterwäsche verrutscht. Es war nie etwas festzustellen. Und doch wurde sie das Gefühl nicht los, dass in der Zeit, in der sie geschlafen hatte, etwas mit ihr geschehen war.

Er wird mich nicht töten. Das sagte sie sich immer wieder. Er wird mich nicht töten. Es war ihr Mantra.

Was ließ sie das glauben?

Dass er sich nicht blicken ließ. Dass er seine Stimme verzerrte.

Oder tat er das nur, weil er wollte, dass sie hoffte? Weil Hoffnung sie gefügig machte?

Nein. Das wollte sie nicht denken.

Er würde sie nicht töten. Er würde sie nicht töten.

Aber irgendetwas würde er tun.

Irgendetwas.

 

16:25 Uhr

Lucy war froh, dass die Probe vorbei war und sie endlich aus diesen blöden Klamotten rauskonnte. Minirock, Push-up-BH, enges, bauchfreies Top, Plateauschuhe – das war nicht ihr Ding. Dauernd verrutschte irgendwas oder kniff einen an allen möglichen Stellen. Und von wegen Kostümprobe! Spießrutenlauf hätte es besser getroffen. Bei dem Aufzug hätte sie gleich splitternackt auftreten können. Wie sie alle angestarrt hatten. Hatten ein paar Mädchen nicht sogar gekichert?

Solange es nur ums Singen gegangen war, war sie total entspannt gewesen. Aber das? Obwohl man es sich ja hätte denken können, wenn die doofe Zimmermann Regie führte. Die trug ja selbst dauernd so knappes Zeug und machte damit die ganz Schule kirre, einschließlich des Lehrerzimmers. Wieso hatte sie sich bloß überreden lassen, die Hauptrolle zu übernehmen? Die Nebenrolle des schüchternen Mauerblümchens im knielangen Rock und mit dem rosa Blüschen war doch wie für sie geschrieben.

»Du warst super!«

Linus’ Augen glänzten, als er ihr das vom Keyboard aus zurief, kaum dass sie hinter der Bühne hervorgetreten war. Dann verabschiedete er sich eilig von den anderen Musikern und kam zu ihr.

»Ich will bloß noch weg hier«, sagte sie sofort.

»Was hast du denn? Du siehst klasse aus in dem Outfit. Alle waren total begeistert.«

»Ha-ha.«

»Nee, im Ernst. Ich schwör!«

Vielleicht hatte er ja recht. Aber sie wollte trotzdem nicht so angesehen werden, wie sie angesehen worden war. Auch von ihm nicht.

»Gehen wir. Bevor die Zimmermann mir rät, ich soll das in meinen Alltag einbauen.«

Das war ihr üblicher Spruch, wenn sie einem einen Rat gab: Du solltest das in deinen Alltag einbauen.

Linus zwinkerte. »Vielleicht solltest du das ja wirklich.«

»Jungs!« Sie rollte mit den Augen und ging los.

Kaum hatte sie vor der Mehrzweckhalle ihr Handy eingeschaltet, klingelte es schon. Dieter, stand im Display.

»Amor«, sagte sie in Richtung Linus und nahm ab. »Ich hasse dich!« Das galt Dieter.

Der lachte sein kehliges Lachen in ihr Ohr. »Wie ist es denn gelaufen, in Kostümen?«

»Alles super!«, rief Linus von der Seite.

Sie drehte sich von ihm weg. »Von wegen alles super! Alle haben mich angegafft, als wäre mir die Hose geplatzt. Ich komme mir in dem Outfit total bescheuert vor. Wieso hast du mich bloß dazu gebracht, mich für diese Rolle zu bewerben?«

»Deal ist Deal. Du bringst wenigstens ein bisschen Glanz in die albernen Songs. Und ich bin sicher, dass du alle umgehauen hast.«

Ein blöder Deal war das! Sie wünschte, sie und Linus hätten ihren Klavierlehrer nie zur musikalischen Leitung dieses bescheuerten Musicals überredet. Wieso leitete die Zimmermann überhaupt die Theater-AG, wenn sie keine Ahnung von Musik hatte? Und wieso fand sich an zwei Schulen nicht wenigstens ein Musiklehrer, der den musikalischen Part übernahm? Wurden die nicht für so was bezahlt?

Sie hätte nicht vermutet, dass der feine Dieter so hinterhältig sein konnte. Bloß weil er sich opferte, wollte er sie auch leiden sehen. Dabei hätte er einfach Nein sagen können, wenn er diese Art Musik so schrecklich fand.

»Wo warst du heute eigentlich? Wir haben dich vermisst.«

»Ihr seid nicht mein einziges Projekt. Aber beim nächsten Mal bin ich wieder dabei. Versprochen. Ich muss aufhören. Grüß mir Linus.«

Er legte auf. Sie drehte sich zu Linus um. »Wusstest du, dass wir ein Projekt von Dieter sind?«, fragte sie scherzhaft, während sie das Handy einsteckte.

»Klar.« Er imitierte Dieters Stimme, seinen Singsang und den winzigen österreichischen Akzent: »Ihr sollt die Welt eines Tages mit lauter kleinen Mozarts und Beethovens beglücken. Nur deshalb habe ich euch verkuppelt.«

Sie schüttelte den Kopf, konnte sich ein Lächeln aber nicht verkneifen.

»Apropos Projekt«, sagte Linus da. »Ich würde dich nachher gerne meinem Vater vorstellen. Und später natürlich auch meiner Mutter, wenn sie wieder da ist. Keine Sorge, sie werden dich mögen.«

Ihr Lächeln versteinerte. Wie kam er plötzlich auf die Idee? Sie hatten noch kein einziges Mal über so was gesprochen.

»Ich mag deinen kleinen Platz unter der Brücke, wirklich«, schob er eilig nach. »Ist total romantisch und so. Aber bei mir könnten wir abhängen, Musik hören, fernsehen. Wenn mein Vater dich erst kennt, kannst du kommen und gehen, wie du willst. Er ist total entspannt.«

Das beruhigte sie kein bisschen. Seit sie das Haus seiner Mutter gesehen hatte, wusste sie, mit wem sie es bei seiner Familie zu tun hatte: mit feinen, gebildeten Leuten. Wie passte sie da rein? Bestimmt wimmelte es nur so von ungeschriebenen Regeln, von denen sie noch nie etwas gehört hatte, und von Fettnäpfchen, die sie überhaupt nicht bemerkte. Sie würde in eines nach dem anderen hineintapsen, und dann würden alle die Nase über sie rümpfen, über Lucy, den Tölpel.

Vielleicht auch Linus.

»Ich weiß nicht …«

Er zupfte an ihrem Ärmel. »Ach komm, Süße. Bitte. Immerhin kenne ich schon die Hälfte deiner Familie.«

Klasse! An die Begegnungen mit ihren Brüdern erinnert zu werden, machte die Entscheidung kein bisschen leichter. Ganz im Gegenteil.

 

17:09 Uhr

Linus’ erster Blick galt dem Briefkasten. Nichts ragte aus dem Schlitz. Also schon geleert. »Wir sagen einfach nur kurz Hallo. Alles total entspannt«, sagte er zu Lucy, die den ganzen Weg über sehr schweigsam gewesen war. Aber in seinem Bauch ging es plötzlich zu wie in einem Ameisenhaufen. Von wegen alles total entspannt. Gar nichts war entspannt. Am wenigsten er selbst. Sie war seine erste Freundin, seine große Liebe, und das hier machte es endgültig offiziell. Wieso wurde ihm das erst jetzt klar?

Als sie wenig später ihre Räder die Auffahrt hinaufschoben, entging ihm nicht, mit welchem Staunen Lucy das Haus und den großen Garten betrachtete. Das war so viel besser als alles, was sie aus den Sozialbauten kannte. Sie würde es hier mögen. Sich wohlfühlen. Es vielleicht bald als ihr zweites Zuhause ansehen. Der Gedanke machte ihn glücklich.

Als sie um die Ecke bogen, sah er, dass das Auto fehlte. Es stand weder vor dem Haus noch in der weit offenen Garage. »Mein Vater ist gar nicht da. Komisch …«

Lucy atmete hörbar aus.

Und auch er selbst wurde lockerer. Ein bisschen Aufschub bis zum großen Moment war nicht schlecht.

»Komm rein.«

Seltsam. Die Haustür stand einen Spalt offen. Noch seltsamer: Der Schlüssel seines Vaters hing am Schlüsselbrett. War er doch da? Linus horchte angestrengt in die Stille. Nichts. Da überfiel ihn ein unheimliches Déjà-vu.

»Pa? Hallo?«

Keine Antwort. Die absurde Vorstellung, dass nach seiner Mutter auch sein Vater einfach so verschwunden sein könnte, blitzte in ihm auf.

Blödsinn! Er war bestimmt nur kurz weg, um irgendwas zu besorgen.

Ein Unbehagen blieb.

»Ich ruf ihn mal an.«

Er holte sein Handy heraus, wählte per Kurzwahl. Dem Tuten in dem einen Ohr folgte mit etwas Verzögerung ein Klingeln in der Küche. Sein Vater hatte das Handy liegen lassen.

Sein Vater hatte das Handy liegen lassen?!

Das war eigentlich völlig unmöglich. Zumindest war es noch nie passiert.

Für alles gab es eben ein erstes Mal, beschwichtigte er sich selbst.

»Er wird schon kommen.« Er steckte sein Handy ein und ging voraus in die Küche. »Was willst du trinken?«

»Egal. Was du trinkst.«

Ihre Worte drangen kaum zu ihm durch, etwas anderes hatte sein Interesse auf sich gezogen: die Post auf dem Küchentisch. Die Briefe vom Vortag lagen nahezu unberührt da, die Briefe von heute aber waren wirr durcheinander über den ganzen Tisch verteilt. Nur ein Umschlag war geöffnet: der weiße, wattierte.

»Stimmt was nicht? Linus?«

Lucys Stimme, wie ferner Hall.

Er wandte sich ihr halb zu. »Was?«

»Du bist auf einmal so komisch.«

»Alles gut. Ich will nur was nachsehen …«

Er ging zum Tisch und nahm das weiße Kuvert. Schaute hinein. Es war leer.

Hatte das etwas zu bedeuten?

Wieso sollte es?

Er ließ das Kuvert fallen und wandte sich um. Zu Lucy. Seiner Lucy.

»Alles gut«, wiederholte er. »Was wolltest du trinken?«

»Egal.«

»Cola?«

Sie nickte.

Er ging zum Kühlschrank und schenkte die Getränke ein. Alles würde sich in Wohlgefallen auflösen. Ganz bestimmt. Vielleicht wollte sein Vater ihn ja überraschen. Damit, dass seine Mutter wieder aufgetaucht war und zu ihnen zurückkehren würde und alles wieder so sein würde wie früher. – Nein, vermutlich war das zu schön, um wahr zu sein. Doch wäre etwas geschehen, etwas Schlimmes, hätte sein Vater ihn längst verständigt.

 

17:32 Uhr

Lucy in seinem Zimmer zu sehen war wie eine Erleuchtung für ihn. Ihren scheuen Atem zu hören, hier, und ihre tastenden Schritte auf dem Teppich. Es war, als habe er das Zimmer am Morgen als Kind verlassen, um nun mit ihr als ein anderer zurückzukehren. Vielleicht noch nicht gerade als Mann, aber doch erwachsener. Echos künftiger Ereignisse hallten zu ihm herüber wie Geräusche aus einer tiefen, dunklen Höhle: Hier auf der durchgesessenen Couch würde er mit ihr fläzen und Musik hören, Filme gucken, Spiele spielen. Er würde sie küssen, berühren und irgendwann auch mehr. Hier würde es passieren, und ihn erfüllte nicht nur ein erwartungsfrohes Glücksgefühl, sondern auch Angst, denn erst jetzt wurde ihm klar, wie groß das war, was gerade mit ihm passierte.

»Nicht schlecht«, sagte sie nur und strich mit den Fingerspitzen über den Bezug des Sofas.

»Ich möchte hier gerne was verändern. Vielleicht kannst du mir ja Tipps geben.«

»Klar.«

Sie ging ein paar Schritte im Zimmer herum. Steuerte plötzlich auf den Schreibtisch zu. Anscheinend hatte sie ihr Foto bemerkt, das halb unter der Schreibunterlage hervorlugte. Sie legte den Finger darauf. »Ich bin wohl dein schmutziges Geheimnis.« Aber die Röte auf ihren Wangen zeigte ihm, dass sie das ganz gerne war.

»Es wird sogar noch schmutziger. Schau mal.« Er nahm zwei Karten vom Schreibtisch, die an einer Stiftebox gelehnt hatten, und hielt sie ihr hin. »Kennst du die beiden?«

»Die sind doch von den Peanuts, oder?«

»Genau. Linus …« Er sprach seinen Namen englisch aus. »Und Lucy. Wie wir.«

»Witzbold.« Sie lächelte verhalten.

»Keine Sorge, ich hab keine Schmusedecke. Zum Schmusen hab ich ja dich.« Er drückte ihr einen Kuss auf die Lippen.

Dann stellte er die Karten zurück an ihren Platz.

In diesem Moment vernahm er einen Ton, so dünn wie ein Haar. Das Tor an der Einfahrt.

Sofort kehrte die Nervosität zurück.

»Mein Vater kommt.«

Sie lauschte und sagte: »Ich hör nichts. Bist du sicher?«

»Hundertpro. Wir gehen besser runter.«

Sie kamen im Wohnzimmer an, als der Wagen vor das Haus rollte und der Motor erstarb. Beinahe im selben Augenblick wurde die Autotür aufgerissen und gleich wieder heftig zugeschlagen, eilige Schritte, dann ebenso die Haustür: aufgerissen, zugeschlagen.

»Linus?! Linus!«

Eher ein Hilfeschrei als ein Rufen.

»Ich bin hier, Pa. Im Wohnzimmer.«

Lucy drängte sich an ihn, er nahm ihre Hand, die kalt und feucht war.

Im nächsten Moment flog die halb offene Tür ganz auf, und Linus’ Vater stand vor ihnen. Sein Gesicht war gerötet, sein Blick unstet, der Mund stand offen, so als habe er etwas sagen wollen, es sich aber in letzter Sekunde verboten. Linus nicht allein vorzufinden, überraschte ihn offenbar, aber so sehr? Er wirkte wie jemand, der tief erschrocken, tief verunsichert war.

»Pa, das ist Lucy. Eine Freundin. Also, nicht irgendeine Freundin. Sie ist meine Freundin, und …«

»Ja, ja«, fiel ihm sein Vater ins Wort. »Wieso bringst du einfach jemanden mit? Hättest du nicht vorher anrufen können?«

Irgendetwas lief hier ganz und gar nicht nach Plan.

»War nur so ein spontaner Einfall. Ich dachte halt … sie ist meine Freundin und du … würdest sie gerne kennenlernen …«

»Ja, ja, irgendwann, aber nicht jetzt.«

Lucy wirkte wie versteinert. Total eingeschüchtert. Was war nur mit seinem Vater los? Auch wenn er sie aus irgendeinem Grund nicht leiden konnte, musste er doch nicht so unfreundlich sein.

»Entschuldige mal, Pa …!«

»Junge Dame, du siehst ja, es ist gerade nicht so günstig. Also bitte …« Er wies mit der Hand zur Tür, seine Finger wippten auffordernd, als ginge es darum, einen lästigen Vertreter loszuwerden.

Stumm und blass machte Lucy einen Schritt zur Tür. Er hielt sie fest. Er war kurz davor, zu explodieren. Wie konnte sein Vater ihr das nur antun! Wie konnte er ihm das antun!

»Das ist echt das Letzte!«, schrie er ihn an. »Wenn Lucy geht, gehe ich mit.«

»Du bleibst hier, Herrgott!«, schrie jetzt auch sein Vater. »Wir müssen reden! Sofort!«

Lucy zog ihre Hand aus seiner. »Lass nur«, hauchte sie tonlos. »Wir sehen uns morgen.«

Was sollte er tun? Sie gehen lassen? Mitkommen? Seinen Vater verärgern oder seine Freundin enttäuschen?

Sie war schon an der Tür, als er ihr doch noch folgte. Da packte ihn die breite Hand seines Vaters an der Schulter und hielt ihn zurück. Sein Mund kam so nahe an sein Ohr, dass er den heißen Atem an Hals und Nacken entlangkriechen spürte. Ein merkwürdiges Gefühl, und es wandelte sich in Entsetzen, als sein Vater ihm, am ganzen Körper bebend, zuflüsterte: »Es ist etwas passiert …«

 

17:58 Uhr

Sie hatte nicht gewollt, dass Linus ihretwegen mit seinem Vater Streit bekam. Deshalb war es besser gewesen, dass er blieb und die Situation klärte. Trotzdem war sie enttäuscht. Erst hatte er getönt, er werde mit ihr gehen, und dann war er doch geblieben, nachdem ihm sein Vater etwas zugeflüstert hatte. Eine Drohung? Jedenfalls etwas, das ihm wichtiger war als sie.

Mit einem fetten Kloß im Hals schob sie das Fahrrad hinab zur Ausfahrt. In ihrem Kopf lief alles noch einmal ab wie ein schlechter Film: Der Vater, wie er in der Tür stand. Sein fast schon verstörter Blick. Linus, der erst für sie eintrat und dann einen Rückzieher machte. Sie zur Tür brachte. Und dort anscheinend ganz vergaß, sie zu küssen. Bloß ein knappes Tschüs, sonst nichts. Was war passiert? Wie hatte das nur so schiefgehen können?

Und nun stand sie auch noch vor dem verschlossenen Tor und kam nicht hinaus. Keiner hatte daran gedacht, es ihr zu öffnen. Sollte sie hinübersteigen? Wie eine Diebin? Eine Unerwünschte, die sich eingeschlichen hatte und entdeckt worden war? Sie wollte hier bloß noch weg. Aber ihr Fahrrad! Wie kriegte sie das auf die andere Seite des Tors?

Zorn flammte in ihr auf. Sie packte die Gitterstäbe und rüttelte an ihnen.

»So ’ne Scheiße!«

Es dauerte ein paar Sekunden, dann setzte das Tor sich in Bewegung. Anscheinend hatte Linus sich doch noch an sie erinnert und die Fernsteuerung betätigt. Mit einer Erleichterung in der Brust, die sich wie ein Schmerz anfühlte, schaute sie über die Schulter, in der Hoffnung, dass er vielleicht in der Auffahrt stand und ihr nachsah. Doch da war niemand.

Bedrückt stieg sie auf und fuhr die Straße hinab. Zu beiden Seiten hohe Zäune und Hecken, dahinter Villen und frei stehende Häuser. Wenn ich irgendwo hier wohnen würde, dachte sie, hätte sein Vater mich nicht so einfach vor die Tür gesetzt. Egal, was passiert ist.

Aber sie wohnte nicht hier. Sie wohnte auf der anderen Seite der Stadt, in den Sozialbauten