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Leo Tuor, geboren 1959, verbrachte vierzehn Sommer als Schafhirt auf der Greinahochebene. 1989–2000 Arbeit an einer sechsbändigen Werkausgabe des rätoromanischen Dichterfürsten und Historikers Giacun Hasper Muoth. Leo Tuor lebt in Val. Er schreibt Erzählungen, Kurztexte und Essays, sie wurden vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Schillerpreis und dem Hermann-Lenz-Stipendium.

Peter Egloff, 1950 in Zürich geboren, ist freier Journalist und lebt in Sumvitg, wo er seit 1975 auf die Jagd geht. Er hat von Leo Tuor auch «Giacumbert Nau. Bemerkungen zu seinem Leben» und «Onna Maria Tumera oder Die Vorfahren» übersetzt. Zuletzt ist von ihm «Der Bischof als Druide. Berichte aus Graubünden» erschienen.

LEO TUOR

GIACUMBERT

NAU

Bemerkungen zu seinem Leben

Aus dem Rätoromanischen von Peter Egloff

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Quatemberkinder
lernen viel leichter in der Schule,
und später sehen sie Geister
und Hexenspuk.

Fünf Sommer habe ich das weisse Pferd von Blengias gesucht, fünf Sommer lang. Ich habe es herausgefordert, provoziert, gereizt, habe es herbeigeflucht und herbeigebetet, geködert und gelockt, ihm aufgelauert. Nichts! Auch in drei Teufels Namen nicht!

Sähe ihn gern einmal, den Schimmel von Blengias, um nachher anständig krepieren zu können.

Ich erinnere mich.

Er war nicht gerade gross und nicht besonders schön. Schmale Schultern hatte er für einen Mann, und keine Haare auf der Brust. Ein Bein war etwas zu kurz, deshalb erkannte man ihn schon von weitem am Gang. (Obschon Hirt, ging er selten rasch. Vielleicht wegen diesem Bein, vielleicht weil er die Gewohnheit hatte, immer wieder stehenzubleiben, den Feldstecher zu nehmen und zu spiegeln.)

Eine feine Hand hatte er. An seiner Linken waren aber, bis auf den Daumen, alle Finger ab. Für mich war eigentlich nur etwas an ihm schön: die Augen. Es brauchte jedoch viel, bis er jemandem in die Augen schaute, denn er hatte die Tiere lieber als die Leute. Er hasste die Leute, und ganz besonders hasste er, was man «Volk» zu nennen pflegt, diese blinde, blöde Herde, die sich so leicht in die Richtung dirigieren lässt, die den Pfaffen und Politikern behagt.

Nein, Denken ist nicht die Stärke der Leute. Ora et labora und denk nichts. Arbeit haben und dumm bleiben und den immergleichen Brei bis zum Erbrechen wiederkäuen: So sind die Leute.

Hass, Hohn und Gelächter waren seine Waffen gegen die Dummheit. Schliesslich aber musste er wie ein verletztes Tier in die Berge weichen und dann verschwinden, verschwinden wie der Schnee vom letzten Jahr. Fragt nicht wohin.

Glauben hatte er keinen, und er vertraute nur seinem Hund. Als Albertina einmal sagte, dass sie ihn besuchen komme, meinte er: «Ich glaube es erst, wenn ich dich sehe.» Sie wehrte sich: «Wenn ich sage, ich komme, dann komme ich!» Er hatte nur leise und bitter gelacht und dann gesagt (zu Albertina? zu sich? – ich weiss es nicht): «Heisst es nicht, dass die, die auf den Alpen leben, einen eigenen Glauben haben?» Und noch hinzugefügt: «Glauben macht selig, und Sterben macht steif.»

Bereits mit siebzehn hatte er aufgehört, an den Gott der Katholiken zu glauben, den Gott der Sünden und der Beichtstühle, der immer zu den Pfaffen hielt, weil die Pfaffen sagten, was Gott sage. Früh hatte er aufgehört, an gepredigte Wahrheiten und an die Gerechtigkeit zu glauben.

Und noch etwas:

Er glaubte nicht, dass der Mensch gut sei.

«Ich weiss, dass ich schlecht bin.»

Das war einer seiner seltenen Sätze. Der Klang der sechs Wörter liess mich schaudern, und seine wunderschönen Augen glühten in meinen, als er hinzufügte: «Auch du weisst, dass du schlecht bist.»

Da wusste ich es.

Seine Seele schmerzte ihn oft, das verriet mir seine Stimme. Karg waren seine Worte, kaum jemals ganze Sätze. Man verstand nicht immer, was er sagte, was er meinte. Ich habe alles so aufgeschrieben, wie ich es gehört und gesehen habe. Seine Worte drangen mir ins Blut, ohne dass ich sie immer verstanden hätte.

Aber muss man immer alles verstehen? Giacumbert war sein Name, und denselben Anfangsbuchstaben hatten die Namen seiner Weiden.

Stolz war er auf seine Tochter, die er mit einer Verheirateten gemacht hatte. Stolzer noch war er darauf, dass er ein Kind mit genau der Frau hatte, mit der er es haben wollte, dass er sich dabei einen Dreck um Moral und Gesetz gekümmert und dass niemand nichts gemerkt hatte, nicht einmal der Alte (wie er ihren Mann zu nennen pflegte). So hatte er erstens sein Gaudi gehabt, hatte zweitens dafür gesorgt, dass sein Schlag nicht aussterben würde, und hatte obendrein alle Klatschmäuler gestopft. Warum er’s mir erzählt hat, weiss ich: Damit ich es aufschriebe, wenn er fort wäre, und so doch noch alle dahinterkämen.

Giacumbert ist fort, und die Weiden, die mit demselben Buchstaben begannen, sind zerstört.

Erinnere mich noch an einen Vierzeiler, den er gerne hersagte (wegen dem Klang der Wörter vielleicht, ich weiss es nicht):

Lag ich just in Träumen flott
auf dem Altar beim grossen Gott,
hab der Gerechten Schlaf gestört
und mich an deinem Leib betört?

Als ich ihn zum letzten Mal sah, rief er:
«Wir sehen uns noch, spätestens in der Hölle.
Die Schönen sind dort unten. Addio!»

Rot & Weiss waren seine liebsten Farben.

Du kommst zu mir,
du fragst mich, wer Giacumbert sei.
Was soll’s. Nenn Giacumbert einfach den Mann
der Gaglinera.

Die Gaglinera ist dort, wo die Hühner einen Hirten haben.

Wer ist Giacumbert?

Wer ist die Gaglinera?

Vielleicht erfährst du es, indem du es erspürst, und sonst eben nicht, in Gottesnamen.
Aber wenn du einmal über den Pass kommst, dann wird dein Auge die Kargheit des Bodens sehen und die Kargheit der Wörter, und vielleicht spürst du dann die vage Seele jenes Menschen aus Fleisch, den ich Giacumbert nenne.
Wenn du das spürst, dann bist du selber Giacumbert oder Albertina, und dann sind deine liebsten Farben

Rot & Weiss.

Wenn du über den Diesrut kommst und das Auge dafür hast, dann siehst du in der Ebene auf kleinem Hügel den Steinhaufen, der einmal die Hütte des Rosshirten war.
Wenn du das Auge hast.
Dein Auge, deine Seele.

Giacumbert schiebt den Hut zurück.
Die Ebene interessiert Giacumbert nicht,

Piano della Grena.
Giacumbert geht in einem fort.
Giacumbert zwängt sich verbissen den schwarzen Pfad hinan, wie seine Tiere, schiebt den Hut noch weiter aus der Stirn, rammt den Stock auf die Steine, zwischen die Steine, in den Rasen.

Giacumbert zwängt.

Giacumbert lauscht, wie es flüstert, erzählt,
lauscht in sich gekauert,
Giacumbert lauscht dem Hirten,
dem Tal, seinem Raunen.

Der Geist und das Tal sterben nie.

Wohin führen deine Pfade, Giacumbert? Und die Pfade in deinem Kopf? Und dein harter Schädel?

Wie dein Hirn winden sich deine Pfade, folgen einander nicht am Schnürchen wie deine Tiere.

Aber müssen die Pfade nicht wie die Tiere gehen, gehen, vergehen?

Was hältst du die Nase in die Luft?

Bist kein Barometer. Dieses Gespür hatten die Alten. Das Gespür fürs Wetter hast du nicht mehr.

Geh in deine Hütte, geh schlafen und lass das Wetter machen!

Das Wetter findet im Freien statt.

Wo ist das Läger für die Nacht,
wo sollen sie ruhen,
wo?

Sie sind aufgestanden, stehen reihenlang am morgengrauen Horizont. Gereckte Hälse, Köpfe, wie Männchen auf dem gletscherrunden Fels.

Die weissen Schnüre bewegen sich herab.
Eine, zwei, plötzlich vier,
eine rascher.

So viele längliche Perlen.

Das also wäre die Gaglinera.

Es ist sechs Uhr, und Giacumbert ist schon ganz verschwitzt.
Schaut und schaut, staunt und staunt
in den jüngsten Tag.

Giacumbert schaut finster und eilt wie ein Teufel über Höcker und Furchen der Gaglinera. Mal siehst du Giacumbert, mal nur seinen Hut, mal siehst du gar nichts von Giacumbert.
Es muss nach Schnee riechen.
Von den Bauern keine Spur.
Giacumbert flucht, um sich zu wärmen.
Es riecht nach Schnee.

Die Gaglinera wird weiss.
Wo sind deine Tiere, Giacumbert?
Wo ruhen deine Tiere heut nacht?

Stumm legt sich der Schnee in die Gaglinera, glättet ihr Gesicht.

Giacumbert? Bist eingenickt?
Über deinem Tisch bist du eingenickt, Giacumbert?
Aber was solltest du im Bett!
Dein Bett in dieser Henkershütte ist zu kurz. Du hast es schlechter als deine Hunde, die schon lange schlafen und nur ab und zu mit einem Auge blinzeln, um zu schauen, ob du nicht bald die Lampe löschen wirst.

Giacumbert schleift die Alte hinter sich her.
Heute geht’s zur andern Hütte.
«Aah-ti-ti-ti-ti-tit-aaaaaaaaaaa!»
Sie hat’s nicht eilig, die Alte, zupft rechts noch vom Pfad ein Kräutchen und links vom Pfad einen Halm, reckt den Hals nach diesem Strauch und rupft an jenem Büschel. Ihr mä-hää wird gedehnter und kürzer, je nachdem wie stark der Strick sie würgt. Zurück schaut er, Giacumbert, finster, am Ende schon fast mit seiner Geduld, halsüberkopf stolpernd übers kleine Zicklein, das bald hinten, bald vorn ihm zwischen die Beine gerät aus Vorwitz.

Liegt auf dem Bauch am Boden jetzt er, Giacumbert, Hirt seiner Ziegen.

Nur Geduld, bis zum Abend sind wir vielleicht dort, wo wir möchten. Ah-ti-tit!

Das Zicklein leckt ihm das Ohr aus.

Giacumbert kaut sein Brot.
Hartes Brot ist nicht hart,
auch nach zweidrei Wochen nicht.
Giacumbert kaut sein trockenes Brot.
Hartes Brot gibt es nicht.

Giacumbert nagt feierlich an seinem Brot