Udo Scheer

Die Sonne hat vier Ecken

GÜNTER ULLMANN – eine Biografie

mitteldeutscher verlag

Gewidmet Angelika Ullmann
Für Clemens und Kyrill

Inhalt

Cover

Titel

Widmung

Grüße den lieben Ullmann mit den filigranen, feintraurigen, tollen Gedichten

Einführung

Kindheit

Ich wuchs auf in einem Privilegium aus Liebe

Maurer, Musiker, Rekrut

Und der Himmel hängt voller Geigen

Die Zäsur 68

Panzer durch Greiz

Ich liebe Dich

Ein literarischer Weg

HaveMANN, BierMANN, UllMANN, FuchsMANN, VaatzMANN

Und Manfred Böhmes Janusgesicht

Das Corpus Delịcti

Die Krankheit

In tiefster Bedrängnis

Den politischen Störfaktor Ullmann ausschalten

Abgeholt

Sie wussten, was niemand wissen konnte

Innere Emigration

Literarischer Durchbruch und die Folgen

Zusammenbruch

Zwischen Gefängnis und Psychiatrie

Licht nach der Finsternis

Etwas tun

Angekommen

Träume werden in Wunden geboren

Epilog

Der alte Schlüssel für den neuen Garten

Das Geheimnis des Widerständigen

Utz Rachowski zu Udo Scheers Günter-Ullmann-Biografie

Anhang

Bibliografie Günter Ullmann

Quellennachweis

Abbildungsnachweis

Danksagung

Impressum

Grüße den lieben Ullmann mit den filigranen, feintraurigen, tollen Gedichten

Einführung

Morgens gegen halb sieben klingelte gewöhnlich das Telefon im Flur neben der Schlafzimmertür: „Auf, auf, sprach der Fuchs zum Hasen! Hörst du nicht, es wird zur Jagd geblasen!“ Dann folgte ein unverkennbar, vergnügtes Lachen aus der Muschel und die erwartungsfreudige Frage: „Hab ich dich geweckt?“

Günter Ullmann wusste, meine Frau und ich waren Frühaufsteher. Regelmäßige Anrufe, auch bei anderen, sobald er auf Arbeit kam, waren für ihn Ritual. Meist wollte er wissen, was es Neues gäbe, woran wir im Augenblick arbeiteten, was wir gerade lasen und ob wir von dem und dem Autor schon gehört hätten. Wenn er auf diese Weise einige Freunde angerufen hatte, zwischendurch Kaffee gekocht und die obligatorische Zigarette geraucht war, fing der Tag für ihn gut an. Seine Vorgesetzten in der Stadtverwaltung Greiz, in der er nach 1990 zunächst als Sachbearbeiter Kultur und später im Stadtmuseum eine Anstellung gefunden hatte, kapitulierten bald. Nur die Kosten für seine Privatgespräche sollte er selber tragen. Und die waren beachtlich.

Die kleine, abseits aller Hauptrouten gelegene Residenzstadt Greiz übte schon lange, bevor ich Günter Ullmann kennenlernte, einen besonderen Reiz auf mich aus – und wohl nicht nur auf mich. Nähert man sich dieser Stadt mit der Eisenbahn entlang des Flusslaufs der Weißen Elster mit ihren bizarren Felsformationen und dicht bewaldeten Hängen, fühlt man sich wie in eine Märchenwelt versetzt. Folgt man der B 92 mit dem Auto über die dünn besiedelte, überwiegend landwirtschaftlich genutzte Hochebene des Thüringer Vogtlandes, findet man sich nach einer plötzlichen, steilen Abfahrt wenige Kilometer vor der Stadt ebenfalls unversehens in einem von dunklen Nadelwäldern umgebenen Tal.

Hinter dem Ortseingang fällt auf einem gewaltigen Fels zunächst das wuchtige Obere Schloss auf. Nach einem Brand 1540 wurde es im Renaissance-Stil neu errichtet und später um profanere klassizistische Anbauten erweitert. Unter dem Schloss zieht sich in freundlichem Kontrast eine prachtvolle Straßenzeile im repräsentativen Jugendstil den Fluss entlang. Die verzierten Fassaden der Bürgerhäuser künden vom Wohlstand der Textilstadt vor hundert Jahren. Und als Greizer Novum präsentiert sich im Stadtzentrum mit dem neueren, schmucken Unteren Schloss ein zweites Residenzschloss. Die beiden einstigen Herrschaftssitze stehen als bleibende Erinnerung an die nochmalige Teilung des 316 km2winzigen Fürstentums Reuß, ältere Linie. Zusammen mit einem ausgedehnten Landschaftspark im englischen Stil, mit seinem Sommerpalais als Domizil einer zweihundertjährigen bedeutenden Kupferstich- und Karikaturensammlung, mit Parksee und Blumenuhr künden die beiden Schlösser heute von der Blütezeit und von Blüten deutscher Kleinstaaterei.

Der Umbruch nach 1989 bedeutete zunächst das weitgehende industrielle Aus für die Stadt und ihre Bewohner, die überwiegend in der Papier- und Textilindustrie gearbeitet hatten. Einzig das Greizer Textilmuseum erinnert noch an die „Stadt der Stoffe“. Die Einwohnerzahl sank seit dem Ende der DDR um fast dreißig Prozent auf 22.900 im Jahr 2010. Aber auch zuvor schon hatte die Zahl von 46.400 im Jahr 1946 bis 1989 kontinuierlich um ein Fünftel abgenommen. Zu abgelegen war diese Stadt hinter den Bergen. Zu sehr dem Verfall preisgegeben waren die Gebäude und architektonischen Schmuckstücke im Weichbild der Stadt und die an die Stadthänge geduckten Armenhäuser der Textilarbeiter vergangener Zeiten.

Zu meiner ersten Begegnung mit Greiz kam es 1973. Die Agonie und Tristesse, das Einheitsgrau, die extreme Luftverschmutzung in dieser Stadt in ihrer Tallage, das durch Papier- und Textilindustrie schwarzbraun verfärbte Wasser der Weißen Elster mit ihren Schaumkronen nahm ich nur am Rande wahr. In all dem unterschied Greiz sich kaum von anderen Orten in der DDR. Das Besondere dieser Stadt war, irgendwo da oben, in einem Mietshaus in der Franz-Feustel-Straße, wohnte der Dichter Reiner Kunze.

Kunze war ein achtungsvoll ausgesprochener Name in unserem Freundeskreis und im „Arbeitskreis Literatur“ Anfang der siebziger Jahre um Lutz Rathenow und Jürgen Fuchs. Wir studierten in Jena, Fuchs Sozialpsychologie, Rathenow Germanistik/Geschichte, ich etwas Technisches. Andere in unserem Kreis waren Lehrlinge und junge Arbeiter, denen ein Studienplatz verwehrt worden war. Wir rieben uns an Widersprüchen zwischen sozialistischem Ideal und der Wirklichkeit, und bald würde „der Staat mit Kanonen auf uns junge freche Spatzen schießen“, wie Siegfried Reiprich, der philosophische Kopf unter uns, es einmal formuliert hatte. Wir hörten Tonbandmitschnitte mit frechen Liedern des verbotenen Wolf Biermann, und es kursierten Schreibmaschinenabschriften mit in der DDR nicht veröffentlichbaren Texten und Gedichten. In Kunzes Gedichtzyklus die post lasen wir meisterhaft prägnant in Worte gesetzt unser eigenes Empfinden zwischen Bevormundung und dem kleinen Mut zum Aufbegehren: Sie / sind gott / Sie verpassen meinen briefen / grasgrüne uniformen / Sie / sind der feldwebel. Durch Gedichte wie Erinnerung an Greiz sahen wir uns bestärkt in unserem Spannungsverhältnis gegenüber dem „vormundschaftlichen Staat“: Häuserhänge wie / von naiven gemalt … // Am schloßturm / fahnen, ausgehängt nach / ost und west, zwei / taube ohren // (…) // Wälder wälder, auszuschweigen / das wort.

„Wälder, Wälder, auszuschweigen das Wort“ war der Code: Es gibt Gleichgesinnte, vieles ist zu sagen – für die richtigen Ohren!

Als 1973 bei Reclam Leipzig überraschend Reiner Kunzes Gedichtband Brief mit blauem Siegel erscheinen konnte, war der in keiner der Jenaer Buchhandlungen, die ich sofort aufsuchte, zu bekommen. Es war wohl Jürgen Fuchs, der den Tipp gab. Er, der im vogtländischen Reichenbach, keine zehn Kilometer von Greiz entfernt aufgewachsen war, hatte Reiner Kunze schon 1967/68 mit siebzehn, achtzehn besucht, um dessen Urteil über seine eigenen frühen Gedichte zu hören. Seither standen sie in Kontakt, und Fuchs sagte achtungsvoll: „Kunze hat mich nie zurückgewiesen. Er sagte höchstens in seiner Art, wie er pädagogische Ratschläge gibt: ‚Um Himmels Willen, bilden Sie sich aus, das ist alles viel zu früh!‘“

Nach Jürgen Fuchs’ Tipp: „Vielleicht in der privaten Buchhandlung Herz in Greiz“ setzte ich mich aufs Motorrad. Der Buchhändler lächelte, als er meinen verdutzten Blick sah. Da lag ein richtiger Stapel dieser begehrten Bändchen mit dem weißen Schriftzug Brief mit blauem Siegel auf schwarzem Grund hingezaubert neben der Kasse. Zu meinem bislang erfolglosen Bemühen meinte der Buchhändler verschmitzt: „Da der Dichter in Greiz wohnt, haben wir ein größeres Kontingent bestellt. Das ist doch ein Grund, oder?“

Ich war begeistert von der Klarheit der Sprache in Kunzes Gedichten und ich mochte Brecht. Bei Brecht gab es das Gedicht RUDERN, GESPRÄCHE // Es ist Abend. Vorbei gleiten / Zwei Faltboote, darinnen / Zwei nackte junge Männer: /Nebeneinander rudernd / Sprechen sie. Sprechend / Rudern sie nebeneinander.

Und dann las ich in Brief mit blauem Siegel:

RUDERN ZWEI // Rudern zwei / ein boot, / der eine / kundig der sterne, / der andre / kundig der stürme, / wird der eine / führn durch die sterne, / wird der andre / führn durch die stürme, / und am ende ganz am ende / wird das meer in der erinnerung / blau sein.

Gemessen an Kunzes Sprachkraft und der Dimension, die sein Gedicht eröffnete, erschien mir Brechts RUDERN, GESPRÄCHE nur noch wie eine blasse Skizze.

Wir waren beeindruckt von Kunzes Prägnanz, von der Intensität seiner Bilder. Er beeinflusste manchen in seinem eigenen Stil.

Erleben konnte ich ihn das erste Mal 1974 bei einer Verbandssitzung des Schriftstellerverbands Gera/Erfurt in Weimar. Jürgen Fuchs und ich waren als Gäste eingeladen, damals noch als potentielle Kandidaten für eine sozialistische Schriftstellerkarriere. Wir saßen dort einige Male zu dritt an einem einzelnen hinteren Tisch wie an einem Katzentisch. Die Mehrheit der regionalen Autorengrößen mied Kunze wie einen Renegaten, seit sein Gedichtband zimmerlautstärke in der Bundesrepublik erschienen war und er 1973 den „Großen Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste“ erhalten hatte. Wir beobachteten und amüsierten uns über diese Selbstdarsteller, etwa wenn Armin Müller mit seinem obligatorischen Glas Cognac am Präsidiumstisch Platz nahm oder wenn der Vorsitzende Harry Thürk sich in Klassenkampftiraden erging. Es war interessant, Kunze fiel vor allem durch seine Zurückhaltung auf. Manchmal machte er sich Notizen. Und irgendwann kursierte dieses Epigramm: dialek / tik // „Die Lehre von Karl Marx ist allmächtig, / weil sie wahr ist.“

Im Nachhinein erscheint es erstaunlich: Über Günter Ullmann, der nur zwei Straßenzüge von Kunzes entfernt wohnte, und der mit Jürgen Fuchs bereits befreundet war, sprach keiner von beiden.

Begegnet sind Günter Ullmann und ich uns das erste Mal im Herbst 1990 im Gesamteuropäischen Studienwerk im kleinen Städtchen Vlotho zwischen Bielefeld und Hannover. Diese Stiftung, die seit Jahren osteuropäische Exilautoren und Oppositionelle zusammenbrachte, veranstaltete jetzt, da die Grenze offen war, erstmals ein „ost-ostdeutsches“ Autorentreffen zwischen ausgebürgerten und in der DDR mit Veröffentlichungsverbot belegten Schriftstellern. Der nach Westberlin ausgebürgerte Jürgen Fuchs hatte die Einladungsliste zusammengestellt. Er wollte engere Kontakte untereinander knüpfen. An dem großen lichtdurchfluteten Seminarraum beeindruckten selbst die auf die Scheiben aufgeklebten Vogelsilhouetten. Sogar die waren neu für uns aus der DDR. Ebenso neu für uns war die Kultur des Diskurses, etwa als es unter den anwesenden Literaturwissenschaftlern, unter ihnen Manfred Jäger aus Münster und Joachim-Rüdiger Groth aus Schwäbisch Gmünd, streitbar um die Frage ging: „Was bleibt von der DDR-Literatur?“ und unvermittelt eine Dame wissen wollte: „War der DDR-Staatsschriftsteller eine Charaktersau?“

Günter Ullmann in seiner Bescheidenheit wirkte in diesem Kreis überaus glücklich. In den Gesprächen, in denen er immer gern lachte, war er sofort sympathisch. Als ich meinte: Unfassbar, da wohnen wir keine fünfzig Kilometer entfernt und begegnen uns zum ersten Mal in Vlotho, und fortfuhr, vor ein paar Jahren hätte ich ihm etwas zu einigen seiner Gedichten geschrieben, leider ohne Antwort, wurde er ernst: „Ich konnte nicht.“ Damit stand etwas im Raum, das tiefer ging als diese drei Worte.

Abends lasen Autoren ihre Texte – Gabriele Stötzer, Joochen Laabs und mit dem meisten Zwischenapplaus Günter Ullmann aus seinem ersten, soeben erschienenen Gedichtbändchen Steinschrei. Die Aufmerksamkeit war für ihn Balsam nach einer Zeit, die er in zehn Worte gebannt hatte:

JAHRE SIND

staub

jeder tag ist ein

messer

am kind1

Er merkte wohl kaum, wie angespannt seine Finger, seine Hände zuckten, und wie auch die Füße ihr Eigenleben führten. Er las in die atemlose Stille hinein mit seiner angestrengt artikulierten, dennoch nicht immer klar verständlichen, leicht nasalen Stimme:

ELEGIE II

die rose schreit

in der nacht

die krähen zerhacken

den traum

sie haben eure

gesichter

die rose weint

in der nacht

die krähen zersingen

den traum

ich tanze2

Schon in den 1970er Jahren beeindruckten uns die von Günter Ullmann in Jena kursierenden Gedichte. Lutz Rathenow hatte einige aus dem Bauzyklus sandkorn in die illegal per Ormig-Verfahren vervielfältigte Gedichtsammlung des Arbeitskreises für unsere freunde aufgenommen. In diesem Zyklus schrieb Ullmann im Ton unterschwelliger Aggressivität, aber durchaus getragen von der Hoffnung auf Veränderbarkeit, über tägliche Absurditäten.

In diesen Gedichten zeigte sich bereits ein unverwechselbarer Stil, in dem Wahrnehmungen sich auf ihren Kern reduzieren und so den Raum für Assoziationen schaffen.

Jahre später bekam ich auf illegalem Weg die von Heinrich Böll und Günter Grass herausgegebene Literaturzeitschrift L ’80 in die Hände und las darin auch Gedichte von Günter Ullman. 1984 erschien, herausgegeben von Lutz Rathenow in Westberlin ohne Genehmigung des „Büros für Urheberrechte“, dem staatlichen Zensurorgan, die Anthologie einst war ich fänger im schnee. Auch darin war Günter Ullmann auf fünf Seiten vertreten. Unter den neun versammelten jungen Autoren fiel er durch seine besondere Intensität und Auflehnung auf:

wer lebt

mich

wer stirbt

mich

wer

spricht aus mir

wer füttert mich

mit daten

wer

nimmt mir

die worte

aus dem mund

wer ver-

dreht sie

wer nimmt das

gesicht

in wessen grab

werde ich

ich

MIT WESSEN STERBE-

URKUNDE

WIRST

DU

GE-

BOREN3

Keine Zeile schien zufällig. Jedes Wort stand ungeschützt und besaß Gewicht.

Die ungenehmigten Westveröffentlichungen sollten dramatische Folgen haben.

Im vertrauten Kreis wurde mitunter angedeutet, welchem Druck Günter Ullmann ausgesetzt sei: Publikationsverbot und Arbeit auf dem Bau, Verhöre durch die Staatssicherheit hätten in dem hochsensiblen Dichter Zustände von Verfolgungswahn ausgelöst, bis er unter dem psychischen Druck sogar Suizid versucht habe.

Über Jahre ahnt fast niemand, auch nicht Ullmann, welche hinterhältige Rolle Manfred Ibrahim Böhme in seinem Leben spielt. Zwischen Böhmes plötzlichem Auftauchen 1965 in Greiz bis zu seinem überraschenden Verschwinden 1977 nach Kunzes Ausreise prägt er Teile des Kulturlebens in der Stadt entscheidend mit. Als Leiter des Jugendklubs gründet er einen Lyrikzirkel und einen philosophischen Gesprächskreis. Dort führt er einen Kern von etwa fünfzehn jungen Leuten in ihrer gesellschaftskritischen Sinnsuche zusammen. Unter ihnen Günter Ullmann, der die Leitung des Lyrikzirkels übernimmt. Sie sind beeindruckt von Böhmes intellektuellem Auftreten und seinen reformsozialistischen Ideen. So findet der spätere kometenhafte Aufsteiger an die Spitze der Ost-SPD und Kandidat für das Amt des ersten frei gewählten Ministerpräsidenten der DDR 1990 schnell Zugang zu der Gruppe, die einmal als „Greizer Kreis“ Geschichte machen wird. Manchen fördert und alle bespitzelt er. Bis 1974 als IMS „August Drempker“, danach als IMB „Paul Bonkarz“, verfasst er teilweise schwer belastende Berichte und Einschätzungen über Reiner Kunze und den Freundeskreis um die Beatgruppe „media nox“. Günter Ullmanns geheimste Gedanken trägt er der Staatssicherheit zu. Das ist ein Judaskuss, der verheerende Folgen haben wird.

Günter Ullmann zieht sich in tiefste Selbstisolation zurück. Später, im Rückblick wird er sagen: „Ich weiß nicht, ob ich die DDR länger überstanden hätte.“

Von außen betrachtet erscheint es wie ein Phänomen: Das Vogtland, dieser abgeschiedene Landstrich am südlichen Ende der DDR im Dreiländereck Böhmen und Bayern, brachte die dichteste Dichte dissidentischer Dichter hervor.

Reiner Kunze, geboren 1933 im erzgebirgischen Oelsnitz, nahm seit 1962, bis zu seiner erzwungenen Ausreise 1977, für fünfzehn Jahre sein Domizil in Greiz.

Dem Nachbarort Reichenbach entstammen gleich drei Autoren, deren Namen für politischen Widerspruchsgeist stehen: Hans Joachim Schädlich, Jahrgang 1935, blieb nach seinem Protest gegen die Biermann-Ausbürgerung und nach seinem Prosaband Versuchte Nähe ebenfalls nur die Ausreise.

Jürgen Fuchs, Jahrgang 1950, für seine Gedichte und Kurzprosa vom Studium der Sozialpsychologie in Jena exmatrikuliert, wurde nach neun Monaten U-Haft und Freikauf von Westberlin aus zu einem der wichtigsten Unterstützer der osteuropäischen und DDR-Opposition. Als andere Stimme der DDR-Literatur und für seine Diktaturaufklärung zog er Maßnahmen des MfS, Anschläge auf sein Leben und Morddrohungen bis kurz vor seinem viel zu frühen Tod 1999 auf sich. Utz Rachowski, Jahrgang 1954, vom Medizinstudium exmatrikuliert, sah sich konfrontiert mit 27 Monaten Zuchthaus wegen Verbreitung von Gedichten Kunzes, Biermanns und eigener „Hetzschriften in Versform“. Seinen Freikauf nach fast verbüßter Haft verdankte er Amnesty International.

Bernd Jentzsch, 1940 im vogtländischen Plauen geboren, avancierte mit seinen Gedichten und als Herausgeber der Lyrikreihe „Poesiealbum“ zu mehr als nur einem Geheimtipp, bis er nach Protest gegen die Ausbürgerung Biermanns von einer Arbeitsreise in die Schweiz nicht zurückkehren konnte, weil auch ihm in der DDR Gefängnis gedroht hätte.

Ebenfalls aus Plauen stammt der 1961 geborene Axel Reitel. Nach zweimaliger politischer Haft 1982 freigekauft, lebt er seither als kritischer Buch- und Feature-Autor in Westberlin.

Unter Insidern bekannt ist der Lyriker, Prosaautor und Essayist Uwe Grüning, der 1982 nach Greiz zog, der für seine Kritik am SED-Staat von der Stasi bearbeitet, keine Aufnahme in den Schriftstellerverband fand.

In harter Konfrontation mit dem SED-Apparat schrieb auch Klaus Rohleder aus dem nahe gelegenen Waltersdorf. Über den als „Beckett vom Bauernhof“ bekannt gewordenen Dramatiker und sein Theaterdebüt Das Fest urteilte Heiner Müller: „Fantastisch!“

Die Aura dieser und weiterer Dichter mit ihren bemerkenswerten Wechselwirkungen zwischen Literatur, Theater, Musik und bildender Kunst führte dazu, dass der Hamburger Publizist Jürgen Serke bei seinem ersten Besuch sofort nach der Grenzöffnung die Stadt Greiz spontan in den Rang „einer Hauptstadt der Poesie“ erhob.

Nicht von ungefähr schloss die Schriftstellerin Annegret Gollin in ihre Neujahrswünsche 1992 an mich diese Sätze ein: „… und grüße den lieben Ullmann mit den filigranen, feintraurigen, tollen Gedichten.“

Hätte es eines Anstoßes für ein Buch über das Leben und die Lyrik Günter Ullmanns bedurft, allein dieser Gruß hätte genügt. Am 4. August 2011 sollte Günter Ullmann seinen 65. Geburtstag begehen. Doch der war ihm nicht mehr vergönnt. Für viele völlig überraschend starb er am 9. Mai 2009 nach einer Umstellung der Psychopharmaka, die er als Folge von Stasi-Repressionen noch immer einnehmen musste. Das war auf den Tag genau zehn Jahre nach dem Tod seines Freundes Jürgen Fuchs. Bevor er zur Medikamentenumstellung ins Krankenhaus ging, hatten wir telefoniert. Nach seinen nächsten Projekten befragt, sagte er: „Ich arbeite an meinen Erinnerungen.“

Bei der Sichtung seines Nachlasses in seinem winzigen Arbeitsverschlag überrascht die Ordnung der auf den ersten Blick fast überbordenden Regale links und rechts. Dicht an dicht gestapelt liegen oder stehen Ordner mit Briefen, Fotos, Presse und mit von ihm geschaffenen Grafiken. In anderen Fächern stapeln sich Mappen und Hefter mit veröffentlichten und unveröffentlichten Gedichten, Epigrammen, Erinnerungen und Notizen. Zusammenstellungen für Buchprojekte tragen schon Arbeitstitel wie Der alte Schlüssel zum neuen Garten. Zahllose Blätter legen Zeugnis von einer Produktivität ab, über die Günter Ullmann selbst nie sprach. Auf einer dieser Mappen steht in kaligrafischer Schrift, außen Bleistift, innen rot unterlegt, das Wort NACHLASS. ‒ Als habe er erwartet, irgendwann würde jemand kommen und sein Werk sichten.

Kindheit

Ich wuchs auf in einem Privilegium aus Liebe

Als ich einmal um ein Begleitwort zu einem der Bücher Günter Ullmanns gebeten wurde, schrieb ich: „Soweit nichts Ungewöhnliches. Da wird einem der Eintritt in den Dichtergarten der DDR verwehrt. Er hat etwas zu sagen, eine Wahrheit, die der öffentlich zugelassenen widerspricht – und er bekommt die ganze Brutalität der Torwächter der sozialistischen Kultur zu spüren. Um sich nicht selbst aufzugeben, bleibt ihm über Jahre nur der Rückzug in die innere Emigration. Sein Arbeitszimmer wird Sinnbild für diese Zeit …“

Dieses Arbeitszimmer ist der Verschlag am Ende des Flures, kaum vier Quadratmeter klein. Darin ein einfacher Drehstuhl, eine hölzerne Schreibplatte, ein Viertelkreis, keine drei Handspannen groß, etwas verdeckt im Regalteil darunter jederzeit erreichbar, zwei Dutzend Schachteln Marlboro, an den Wänden links und rechts vom Fußboden bis zur Decke Regale, schwer beladen mit Büchern und Manuskripten, mit Ordnern und Mappen und immer wieder Bücher. Trotzdem findet sich zwischen ihnen Platz für Fotos und kleine Erinnerungsstücke. Die Einrichtung haben seine beiden Söhne Clemens und Kyrill perfekt an den Raum und den Seelenzustand ihres Vaters angepasst.

In diesem Verschlag schreibt Günter Ullmann in den letzten Jahren der DDR vierzehn Buchmanuskripte für die Schublade. Und hier entstehen mehrere Hundert seiner kleinformatigen Aquarelle und Monotypien.

Im Rücken, an die Schiebetür gepinnt, künden Plakate von einigen seiner Lesungen und von Auftritten mit der Free-Jazz-Band „media nox“ aus der Zeit nach 1990. Zum Nachdenken, Schreiben und Rauchen – in der ansonsten von seiner Frau Angelika energisch als raucherfrei durchgesetzten Wohnung – kann er die Tür bequem zuschieben oder sie halb offen lassend mitverfolgen, was in der Wohnung geschieht.

ABENDS

sitz ich am liebsten

allein in meinem zimmer

und höre durch den türspalt

auf die schritte meiner kinder4

Direkt vor seinem Schreibplatz schätzt er das große Fenster, durch das er sehen kann, wer auf das Haus zukommt, das den Blick auf den alten Kirschbaum lenkt, den er liebt, der Erinnerungen weckt:

ERINNERUNG

Wir waren freche Buben, hatten Kirschen geklaut und waren erwischt worden. Mein Freund Rudolf bekam Dresche. Als sie bei uns zu Haus petzten, sagte meine Hohndorfer Oma, bevor sie das Fenster zuknallte, „Zaunstacheten neintreten macht unser Günterle nicht, und wenn er mal an die Kirschen langt, ist das auch nicht so schlimm.“

Sie sagte weder zu mir noch zu meinen Eltern etwas davon. Hätte ich es nicht zufällig mit angehört, hätte ich nie erfahren, dass sie alles wusste. Ich erinnere mich gern an sie und wünsche allen Kindern eine so gute Großmutter.5

Es sind vor allem die Erinnerungen an eine glückliche Kindheit, über die Günter Ullmann später sagt: „Ich wuchs auf in einem Privilegium aus Liebe.“

Geboren wird er am 4. August 1946 als drittes von vier Kindern in Hohndorf bei Greiz, wo seine Mutter Erna (geb. 1918) einer Bauernfamilie entstammt. Sie ist eine schöne und energische Frau. Sein Vater, Gottfried Ullmann, Jahrgang 1917, wird als Soldat in den Zweiten Weltkrieg eingezogen, er kommt als Schreiber nach Frankreich und nach dem Krieg in Bad Kreuznach in Gefangenschaft. Später tritt er in die SED ein und wird Abteilungsleiter Handel und Versorgung beim Rat des Kreises Greiz. Er geht zeitig am Morgen und kehrt oft erst spät abends wieder zurück. An Wochenenden und Feiertagen ist er häufig als Schlagzeuger einer Tanzcombo unterwegs. Im Alter von nur vierundvierzig Jahren stirbt er an einem Herzinfarkt. Da ist Günter Ullmann fünfzehn.

Als er drei ist, ziehen die Eltern, sein fünf Jahre älterer Bruder Dieter, seine zwei Jahre ältere Schwester Karin und er von Hohndorf nach Greiz in eine Wohnung in der Zeulenrodaer Straße. In dem großen Haus stehen ihm alle Türen offen, die Bewohner verwöhnen den aufgeweckten Jungen, der dafür dankbar ist und so schön staunen kann. Vor allem Tante und Opa Barth, wie er sie sein Leben lang nennen wird, schließen ihn in ihr Herz. Mit sensibler Intensität erfährt das Kind in den ärmlichen Verhältnissen der Nachkriegszeit den Reichtum, den Zuwendung und Liebe ausmachen. In einem biografischen Abriss wird Günter Ullmann später schreiben: „Ich lebte im Paradies und wusste es nicht.“

Weihnacht 1951

Die Dachstube war klein und hatte schräge Wände. Tante Barth strickte Strümpfe, Opa war draußen. (…) Wir waren gleich Freunde geworden. Ich konnte kaum auf den Tisch gucken und wollte „rei rei“ machen. Tante Barth brachte einen großen weißen Bogen und einen Stift. Ich malte und als ich aufschaute, sah ich neben dem winzigen Fenster den Weihnachtsbaum stehen.

Tante Barth saß am Tisch neben mir und Opa Barth war draußen. Ein Wunder war geschehen. Der Weihnachtsmann hatte das geputzte Bäumchen, während ich malte, durch das Fenster gereicht. Das war das schönste Weihnachten, das ich je erleben durfte.6

Als er vier oder fünf ist, kommt er einmal zu Tante Barth gelaufen. Eine Wespe hat ihn in den Finger gestochen. Sie zieht den Stachel und fragt, wie das denn geschehen konnte? Da sagt der Junge: „Das ist ein goldener Vogel gewesen.“ Er lässt sich nicht davon abbringen, er habe einen goldenen Vogel gefangen.

Günter Ullmanns Schwester Karin erinnert sich:

Als wir 1952 in das Haus in der Beethovenstraße zogen, war Günter ungefähr sechs. Auch nach dem Umzug hat er Tante und Opa Barth oft in der Zeulenrodaer Straße besucht. Tante Barth hat ihm Leckereien zugesteckt. Opa Barth ging mit ihm spazieren. Der Opa hat mit ihm gemalt und Bücher vorgelesen. Auch als Günter schon in Irchwitz eingeschult war, hat er das beibehalten: An den Wochenenden packte er sein Köfferchen und ging zu Tante und Opa Barth. Ihre Kinder waren schon erwachsen, und sie haben sich des Kleinen gern angenommen. Sie haben ihn geliebt und verwöhnt.

Unsere Mutter hat ihn auch geliebt. Als Kind war er oft kränklich, er hatte immer wieder Nasennebenhöhlenentzündung. Deswegen lag er öfters im Kinderkrankenhaus, wo ihm die Nebenhöhlen durchgestoßen werden mussten.

Unsere Oma mütterlicherseits, Martha Rothe, eine Bauersfrau, hat ihn auch vergöttert, weil er ihrem Mann ähnelte. Sie war sehr belesen und hat viel Radio gehört. Besonders gern hörte Günter zu, wenn sie, wie das damals üblich war, Sagen und Mythen aus der Gegend erzählte.

Die Eltern kaufen ein größeres Bürgerhaus auf dem Hainberg, doch der kleine Junge besucht weiterhin gern seine Großmutter in Hohndorf, und Barths erwählt er sich als zweite Familie. Am liebsten lauscht er den Geschichten, während Tante Barth Strümpfe strickt, die sie ihm Jahr für Jahr zu Weihnachten schenkt. Sie spielen zu dritt Mensch ärgere dich nicht. Er erinnert sich gern daran: „Mit den armen Leuten verbrachte ich die glücklichsten Jahre meiner Kindheit. Bei ihnen war ich richtig zu Hause. Wenn die Sonne schien, gingen wir spazieren. Wir sammelten Pilze, Beeren und Holz oder fütterten die Eichhörnchen, die uns aus der Hand fraßen. Meine Kindheit war leicht wie ein Schmetterling.“ Manchmal darf er sich bei ihnen sogar seine Lieblingsspeise, Zitterklöße, wünschen.

KONDENSMILCH

Tante Barth brachte gezuckerte Kondensmilch mit und ich durfte die Dose ganz allein auslöffeln. So etwas Feines hatte ich überhaupt noch nicht gegessen. Sie sagte nur: „Iss, die Milch ist von einer süßen Kuh.“7

Opa Barth erzählt dem Jungen von seinem Leben als Kommunist während der Nazi-Zeit. Mit seinen Berichten über Unterdrückung und Kolonialismus weckt er in dem Jungen lebenslang einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und er führt ihn ein in die Magie der Literatur, in die Abenteuer des Robinson Crusoe und in die Welten von Jack London und Mark Twain.

In einem unserer Gespräche sagte Günter Ullmann: „Ich hatte eine schöne Kindheit und manchmal, wenn ich an diese Zeit zurückdenke, schreibe ich ein Kindergedicht. Dann tauche ich in diese Kindheit ein.“

Für Martha und Paul Barth

und Martha Rothe

KINDHEIT

die brotsuppe auf dem tisch

die kirschen hinterm zaun

die welt ein fisch

das herz ein clown8

Zu Hause liegt die Erziehung weitgehend in den Händen der Mutter, die, seit der jüngste Sohn Gerhard 1956 geboren ist, vier Kinder mit milder Strenge erzieht.

Gerhard, das sensible, hochintelligente Kind wird später in der Schule Klassenbester, er ist der Lieblingsbruder des zehn Jahre älteren Günter.

Am Vater bewundert er besonders dessen schöne hohe Schrift, und er wird sich zeit seines Lebens an jenes Stück Traubenzucker erinnern, das er von ihm auf dem Weg hinunter in die Stadt bekam: „Ich habe noch heute den Geschmack im Mund.“

Besonders gefällt ihm, wenn sie gemeinsam im Bayerischen Rundfunk Fortsetzungsgeschichten über den Verbrecherkönig „Dick Dickens“ lauschen. Das ist ihr Geheimnis. Niemand darf wissen, dass der Genosse Gottfried Ullmann Westradio hört. Über seinen Vater sagt Günter Ullmann: „Nie habe ich zu Hause Prügel gekriegt. Wir liebten ihn alle sehr. Er hatte so gütige Augen.“

Die Mutter ist evangelisch. Auch wenn sie mit Rücksicht auf die Stellung ihres Mannes nun seltener in die Kirche geht, so hört sie doch fast jeden Sonntag den bayerischen Radiogottesdienst. Eine der tiefen Wurzeln für die spätere, ganz eigene Religiosität Günter Ullmanns dürfte in ihrem Glauben zu finden sein.

MUTTER

Meiner Mutter habe ich viel zu verdanken,

zum Beispiel die christliche Erziehung

in einer atheistischen Zeit.9

„Liebe und Einfachheit“, sagt der ältere Bruder Dieter, „waren starke Seiten unserer Mutter. Sie hat Günter und uns alle sehr geliebt.“

Und doch hätte sich der Junge, wie wohl jedes Kind von seiner Mutter gewünscht, dass sie mehr Zeit für ihn gehabt hätte. Aber Erna Ullmann hat es, besonders nach dem Tod ihres Mannes, mit vier Kindern nicht leicht. Weil sie Geld verdienen muss, arbeitet sie in der Sportschule als Beiköchin.

Gern stellt sie ihm den fünf Jahre älteren Bruders Dieter, dessen Fleiß und gute Noten, als Vorbild hin. Anlass für Ermahnungen gibt es durchaus. Hat doch der Jüngere längst seinen eigenen Kopf. Dabei kennt schon damals niemand alle Seiten an ihm wirklich. Zu Hause meist brav und bisweilen in sich gekehrt, genießt er bei Barths das Glück und ihre Zuwendung in vollen Zügen.

Zusammen mit Rubi, Rudolf Kuhl, einem der engsten Freunde seit Kindertagen, bauen sie sich ihre eigene Welt, leben ihre Streiche aus, den Lehrern gilt er als Störenfried und die Klasse wird ihm zum Publikum. Er macht die Erfahrung, Rollenkünstler sein bietet Schutz und bringt Aufmerksamkeit. Für die einen der, für die anderen der zu sein, wird Günter Ullmann später so weit treiben, dass man im Elternhaus nichts von seinen Gedichten, unter Lyrikern nichts über seine Malerei, und nur im engsten Freundes- und Familienkreis etwas über die Stasi-Verfolgung und seine Krankheit weiß. Fast jeder, der ihn zu kennen meint, wird irgendwann überrascht. Während die meisten Künstler und Persönlichkeiten im öffentlichen Leben auf ein möglichst fest gefügtes Außenbild von sich hinarbeiten, legt Günter Ullmann darauf keinen Wert.

Sein Bruder Dieter, Facharzt für Chirurgie im Ruhestand, aber noch immer mit dem Krankenhaus verbunden, meint rückblickend:

Mit Günter musste unsere Mutter strenger werden, als er in die Schule ging. Er hat später über sich geschrieben: „Ich war der Klassenkasper.“ Das wussten wir so nicht. Gut, im Hausaufgabenheft hatte er in der Woche manchmal zwei Einträge: „Günter schwatzt in der Klasse.“ – „Er kaspert in der Klasse herum.“ Aber zu Hause hat sich das eigentlich nicht gezeigt. Wir haben jahrelang unter dem Dach zusammen im selben Zimmer gewohnt. Nein, zu Hause war er nicht kasprig.

Wenn Günter Ullmann von seinen Kinderstreichen erzählt, erwacht der Schalk in ihm. Da gab es diesen Nachbarn, dem sie Baldrian an die Tür spritzten, um die Kater mit ihren Gesängen anzulocken. Oder da war jener Hans, der sein Bier immer in einem Zug austrank, dem sie Käfer in die Flasche füllten, und er trank angeblich die Flasche auf ex. Oder man darf sich seine Unschuldsmine vorstellen, wenn er erzählt, wie der Freund wochenlang mit ihm trotzte: „Ich hatte Rubi an der Nase getroffen, ohne zu bemerken, dass es kein Schneeball sondern eine gefrorene Pferdesemmel war.“

Schon etwas älter bringt er einen Liebesbrief seiner Schwester Karin zur Post und drückt ihm ein Schwein aus dem Kinderstempelkasten auf. Niemand ist vor ihm wirklich sicher, auch nicht die von ihm verehrte Tante Barth, der er schon mal fast die ganze Erdbeertorte wegisst. Als Hainbergbande verteidigen sie ihr Revier oben auf dem ehemaligen Greizer Galgenberg gegen die Politzbande vom Berg gegenüber.

KINDERKRIEG

Die Stadtbande hatte verloren,

die Hainbergbande gesiegt.

Bevor der gefangene Anführer

in die Holzhütte gesperrt wurde,

peitschte ihn Klaus

mit Disteln und Brennnesseln aus.

Als der Gepeinigte zu schreien begann,

sagte Peter:

„Du sagst doch selbst,

Krieg ist schön

und das Leben wäre sonst viel

zu langweilig!“10

Mit Besuchern geht Günter Ullmann gern in den naturbelassenen Park auf dem Hainberg mit seinen ausladenden Bäumen und verwilderten Büschen, mit dem steinernen Torbogen und den verwitterten Natursteintreppen. Das vergnügte Blitzen in seinen Augen lässt ahnen, welche Erinnerungen dabei in ihm wach werden.

Rudolf Kuhl, Bandleader und Saxophonist der Jazzgruppe „media nox“, Werkzeugschlosser, Mitbegründer und einer der Hauptorganisatoren der Bürgerrechtsbewegung „Neues Forum“ im Herbst 1989 in Greiz, erzählt über ihre Freundschaft:

Nach meinen Erinnerungen haben wir uns im Alter von sechs Jahren kennengelernt, kurz bevor wir in die Schule kamen.

Wir waren beide nicht so, wie man sich Jungs gemeinhin vorstellt: Wir waren nicht besonders kräftig und sportlich, dafür Tagträumer und Spinner, die gern herumalberten. Wir passten nicht in die gängigen Schablonen. Wir haben die Welt für uns erobert, Pflanzen und Tiere beobachtet und Blumen sehr gemocht. Es hat uns begeistert, was die Natur hervorbringt.

Ich habe eine Landschaft aus Moos gebaut, in der ich versuchte, Ameisen und Marienkäfer zu dressieren, indem ich sie meine Straßen entlanglaufen ließ. Günter und ich waren uns sehr ähnlich. Das hat uns verbunden.

In der Schule hatten wir beide Probleme mit Gleichaltrigen. Das begann in der zweiten, dritten Klasse. Für die anderen zählte nur noch Fußball. Einige waren da auch richtig gut. Rainer Schlutter schaffte es später sogar zum Nationalspieler in der DDR.

Günter und ich waren die zwei Kleinsten und ziemlich schwächlich, im Fußball die absoluten Pfeifen. Körperlichen Auseinandersetzungen gingen wir lieber aus dem Weg. Bevor es zu einer Prügelei kam, hatte Günter zum Beispiel als Ausrede parat: „Ich hab aber heute meine guten Schuhe an!“

Trotz unserer Handicaps hatten wir ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Anerkennung, besonders durch die Jungs. Was die Mädchen über uns dachten, interessierte uns nur im Geheimen. Nach außen hin waren die für uns Zicken.

Deswegen haben wir als Clique auch den AWC gegründet, den Antiweiberclub. Wir schworen uns, der Erste, der heiratet, muss in ein Heringsfass randvoll mit Wasser steigen. Günter hat als Erster geheiratet. Das Fass stand drei Tage vor dem Haus und wir haben gefrotzelt. Dann ist er zu Gelis (seine Frau Angelika, d. Verf.) Entsetzen resolut hineingestiegen.

Wir suchten Anerkennung in jeder Beziehung. Und die bekamen wir auch nach und nach. Es ging im Grunde nur darum, außergewöhnlich zu sein, Dinge zu tun, die sonst niemand tat. Also haben wir unsere Eigenheiten gepflegt. Als die Mädchen Jean Marais auf den Plakaten vergötterten, bauten wir unsere Gegenkultur auf – auch zu dieser musikalischen Schnulzenlandschaft, die in den fünfziger Jahren ausgeprägt war. Dagegen haben wir, schon lange, bevor wir selbst Musik machten, den Rock ’n’ Roll gesetzt.

Günter war begeistert von der Rock ’n’ Roll-Persiflage: „Charlie Brown … / Ja, wenn der Lehrer spricht, wer hört gar nicht hin? / Charlie Brown hat nur immer Unsinn im Sinn … / Wer trinkt Aquavit und bringt in die Schule weiße Mäuse mit? Charlie Brown, Charlie Brown, / das ist ein Clown …“ Der Titel hat ihm den Spitznamen Charly eingebracht. An seinen Vati kann ich mich nur wenig erinnern. Er hat Fußball gespielt, ich glaube als Tormann, und er war Schlagzeuger in der Horst-Wende-Combo. Er ist früh gestorben.

Seine Mutter hatte eine sehr bestimmende Art, mit den Dingen umzugehen. Sie war von Haus aus Bäuerin und mit der Landwirtschaft verwachsen. Alles, was sie machte, war bodenständig und ganz selbstverständlich. Sie war eine resolute Frau.

Eine Episode, die Harald Seidel, der zwei Klassenstufen ältere Schulfreund erzählt, ist auch von Günter Ullmann über seine Mutter überliefert: Seidel, im Freundeskreis Schotte, von Beruf Reparaturschlosser, Bass-Gitarrist der „media nox, 1989 Mitbegründer der Sozialdemokratischen Partei SDP in Schwante bei Berlin, von 1990 bis 2004 Landtagsabgeordneter in Thüringen, erinnert sich:

Gerhard, der jüngere Bruder und er gingen immer etwas gebeugt, das war eine Haltung, die auch etwas ausdrückte. Seine Mutter rief dann im Befehlston aus dem Fester: „Geht grade!“ Da lief Charly wie ein Lineal. Es klingt kurios, aber Charly war damals der Lustigste unter uns.

Rudolf Kuhl:

Ich glaube, niemand hat Günters Sprache so geprägt, wie seine Mutti. Sie hat mit sehr einfachen, klaren Worten gesprochen, in Begriffen, die man von früher her kennt, zum Beispiel „gute Butter.“ Diese Vereinfachungen und Typisierungen haben sich unbewusst auch auf Günters Sprache und auf die Wortwahl in seinen Gedichten übertragen.

In einem Porträt über seine Mutter klingen die Liebe und Achtung des Sohnes an, aber aus den eigenen Lebensvorstellungen heraus durchaus auch eine Distanz.

DER SPRUCH

Mutter ist ihren Lebtag nicht

aus Hohndorf und Greiz

hinausgekommen.

Wenn man sie fragte,

ob sie nicht einmal verreisen möchte,

sagte sie nur:

„Der Himmel ist überall blau.“11

Im Unterricht haben es die Lehrer nicht ganz leicht mit Günter Ullmann. Als er wieder einmal nachsitzen muss und deshalb die Schulspeisung verpasst, fordert er das Essengeld zurück und macht seinen Lehrer damit so zornig, dass der ihn die Treppe hinunterstößt. Als er mit anderen zusammen den Staatsbürgerkundeunterricht stört, bis die ganze Klasse nachsitzen muss, rächen sie sich in der nächsten Stunde mit einem alten, in die Lehrertasche geschmuggelten Käse: „Der Gestank war so gewaltig, dass das Klassenzimmer geräumt werden musste und die Politshow ausfiel.“

Manchmal sagt Günter Ullmann schmunzelnd: „In der Schule war ich der Klassenkasper“, und er sagt: „Ich war ein fauler Hund.“ Doch auch wenn die Mehrzahl der Fächer ihn nicht interessiert, hat er doch drei Lieblingsfächer: Erdkunde, Deutsch, Geschichte.

Schon frühzeitig träumt er davon, den afrikanischen Völkern zu helfen, sich vom Kolonialismus zu befreien und er wünscht sich ein besseres Leben für die Menschen in der Dritten Welt.

Gerechtigkeitssinn, gepaart mit Einfühlungsvermögen und Wertschätzung den einfachsten Dingen gegenüber, viel Fantasie und einen durchaus selbstkritischen Blick findet man immer wieder bei ihm, so auch in seinem Klassenaufsatz, Klasse 7:

Ein Stück Papier erzählt

Als ich mich über die Hausaufgaben machte und ein Blatt aus dem Hausaufgabenheft riß, hörte ich ein Stöhnen und danach diese Geschichte meines Heftes: „Ich habe viel erlebt. Am schönsten war es, als ich als Tanne im Wald stand. Doch dann kamen Holzfäller und sägten mich ab. Man hackte mir mit der Axt meine schönen stacheligen, grünen Zweige ab, entfernte meine Rinde und brachte mich in eine Fabrik. Hier wurde ich zerkleinert und zu Brei gekocht. Dann steckte man mich in einen riesigen Kessel, wo man mich mit Säure vermischte. Ich wurde zu Fasern zerkocht, zerschlagen und zermahlt. Schließlich ward ich zu richtiger Holzgrütze. Man rührte und schüttelte mich so sehr, daß meine Fasern sich miteinander verflechteten und vermengten. Ich wurde von heißen Walzen geglättet und geplättet, bis ich vollkommen glattes Papier war. Schließlich wurde ich zu feinen feuchten und lockeren Papierrollen aufgerollt. Darauf wurde ich noch von Maschinen zerschnitten, liniert, geheftet und in einen Umschlag gelegt. Wenn ich gewusst hätte, wie es mir ergehen würde, hätte ich mich nicht so stolz gefühlt. Nachdem ich von einem Schüler gekauft worden war, wurde ich nur noch beschmiert, Blätter wurden herausgerissen und auf vielen Seiten standen Vieren und Fünfen.“

Nachdem ich die Geschichte meines Heftes vernommen habe, habe ich mir vorgenommen, meine Hefte anständig zu behandeln.

Inhalt: 2 Ausdruck: 2
Fehler: 3 Form: 3
Gesamt: 2

Als Schüler an der Irchwitzer Dorfschule liegen Günter Ullmanns Potentiale weitgehend brach. Zugleich ist er findig darin, möglichst wenig zu tun. Statt eigener Hausaufgaben im Zeichenunterricht gibt er schon mal Arbeiten seines älteren Bruders ab. Der Ruf des Klassenkaspers und lernfaulen Schülers drückt seine Noten. Karin, seine Schwester sagt rückblickend:

Nach seiner Jugendweihe und Konfirmation, Günter hatte beides gemacht, kam er in der neunten Klasse von der Schule in Irchwitz nach Greiz, um die Mittlere Reife abzulegen. Da wurde er richtig gut. Er hätte durchaus Lehrer werden können, wenn seine Stimme durch die Nebenhöhlenentzündungen nicht so in Mitleidenschaft gezogen worden wäre und wenn die Mutter nicht gesagt hätte: Ich brauche hier einen Handwerker für das Haus.

Maurer, Musiker, Rekrut

Und der Himmel hängt voller Geigen

Als die Zeit gekommen ist, sich für einen Beruf zu entscheiden, bleibt Günter Ullmann lange unentschlossen, er findet nichts, was seinen Neigungen wirklich entspricht. Die Angebote der Berufslenkung erschöpfen sich für ihn weitgehend in der Landwirtschaft mit einer Ausbildung zum Agrotechniker oder Tierzüchter, in der Industrie als Mechaniker oder Elektroniker oder auf dem Bau: „Keiner wusste, was ich werden sollte. Der Barths Opa sagte: ‚Versuchs doch mal mit dem Bau.‘“

Tatsächlich hat wohl die Mutter seinen Berufsweg entschieden. Dieter, der große Bruder, würde Arzt werden und Karin, seine ältere Schwester, Krankenschwester. Mit ihrem Sinn für das Praktische meint die Mutter, jetzt, wo sie das Haus hätten, müsse es auch erhalten werden. Und da sie weiß, dass Günter am ehesten auf Opa Barths Rat hört, bittet sie den alten Mann, ihn zum Bauberuf zuzureden. Gebaut werde überall. Da werden immer Leute gebraucht.

Der Bruder Dieter erinnert sich, wie er mit dem Jüngeren, ihr Vater war da bereits tot, nach Gera gefahren ist und ihn an der Schule in der Schenkendorfstraße und im Internat angemeldet hat.

Nach drei Jahren macht Günter Ullmann 1966 Abitur und seinen Berufsabschluss als Baufacharbeiter. Dabei ödet ihn die praktische Ausbildung zunehmend an. Wieder und wieder heißt es, akkurate Mauern setzen, um danach wieder den Mörtel von den Steinen zu kratzen und sie für den nächsten Tag säuberlich aufzustapeln. Es ist gut vorstellbar, wie der schmächtige Baulehrling demonstrativ auf kürzesten Wegen über Stein- und Kieshaufen stapft und so seinen Frust ablässt.

Dieter Ullmann sagt rückblickend:

Die Normen als Bauarbeiter konnte er nicht schaffen. Gearbeitet hat er später als Bauschreiber, Bauökonom und Lagerverwalter. Er akzeptierte diese Tätigkeit, bei der er nebenher auch schreiben konnte. Als Maurer hätte er das nicht gekonnt. Aber im Büro blieb ihm Zeit für seine Gedanken und manchmal zum Lesen und Schreiben.