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Die Autorin

Dr. phil. Anita Horn graduierte am C. G. Jung-Institut Küsnacht und arbeitet als Analytische Psychotherapeutin für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Sie promovierte in Politischer Philosophie an der Universität Zürich. In einem Grundlagenforschungsprojekt an der Universität St.Gallen untersucht sie Veränderungen individueller und sozialer Pathologien im Zeitalter der Digitalisierung sowie deren ethische Implikationen.

Anita Horn

Psychotraumatologie

Trauma-Folgestörungen und ihre Behandlung aus Sicht der Analytischen Psychologie

Verlag W. Kohlhammer

 

 

 

In der Seele steht alles mit allem im Zusammenhang:

die gegenwärtige Seele ist die Resultante einer Milliarden Konstellationen.

C.G. Jung

 

Gewidmet: Meiner Familie

 

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1. Auflage 2020

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-036608-4

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-036609-1

epub:    ISBN 978-3-17-036610-7

mobi:    ISBN 978-3-17-036611-4

Geleitwort

 

 

 

Dieser Buchreihe gebe ich sehr gerne ein Geleitwort mit auf den Weg. Dies geschieht heute an einer Station in der psychotherapeutischen Landschaft, von der aus man fast verwundert zurück blickt auf die Zeit, in der sich Angehörige verschiedener »Schulen« vehement darüber stritten, wer erfolgreicher ist, wer die besseren Konzepte hat, wer zum Mainstream gehört, wer nicht, und – wer, gerade weil er nicht dazu gehört, deshalb vielleicht sogar ganz besonders bedeutsam ist. Unterdessen wissen wir aufgrund von Studien zur Psychotherapie, dass die allgemeinen Faktoren, wie zum Beispiel die therapeutische Beziehungsgestaltung, verbunden mit der Erwartung auf Besserung, wie die Ressourcen der Patienten, wie das Umfeld, in dem die einzelnen leben und in dem sie behandelt werden, eine größere Rolle spielen als die verschiedenen Behandlungstechniken. Zudem – und das zeigen auch Forschungen (PAPs Studie, Praxisstudie Ambulante Psychotherapie Schweiz) – werden heute von den Therapeutinnen und Therapeuten neben den schulspezifischen viele allgemeine Interventionstechniken angewandt, vor allem aber auch viele aus jeweils anderen Schulen als denen, in denen sie primär ausgebildet sind.

Gerade aber, weil wir unterdessen so viel gemeinsam haben und unbefangen auch Interventionstechniken von anderen Schulen übernehmen, wächst auch das Interesse daran, wie es denn um die Konzepte der »jeweils Anderen« wirklich bestellt ist. Als Jungianerin bemerke ich immer wieder, dass Theorien von Jung als »Steinbruch« benutzt werden, dessen Steine dann in einer neuen Bauweise, beziehungsweise in einer neuen »Fassung« erscheinen, ohne dass auf Jung hingewiesen wird. Das geschah mit der Jungschen Traumdeutung, von der viele Aspekte überall dort übernommen werden, wo heute mit Träumen gearbeitet wird. Dass C.G. Jung zwar auch nicht der erste war, der mit Imaginationen intensiv gearbeitet hat, Imagination aber zentral ist in der Jungschen Theorie, wurde gelegentlich »vergessen«; die Schematheorie kann ihre Nähe zur Jungschen Komplextheorie, die 100 Jahre früher entstanden ist, gewiss nicht verbergen.

Vieles mag geschehen, weil die ursprünglichen Konzepte von Jung zu wenig bekannt sind. Deshalb begrüße ich die Idee von Ralf Vogel, eine Buchreihe bei Kohlhammer herauszugeben, bei der grundsätzliche Konzepte von Jung – in ihrer Entwicklung – beschrieben und ausformuliert werden, wie sie heute sich darstellen, mit Blick auf die Verbindung von Theorie und praktischer Arbeit. Ich bin sicher, dass von der Jungschen Theorie mit der großen Bedeutung, die Bilder und das Bildhafte in ihr haben, auch auf Kolleginnen und Kollegen anderer Ausrichtungen viel Anregung ausgehen kann.

Verena Kast

Inhalt

 

 

 

  1. Geleitwort
  2. Vorwort
  3. 1 Einführung
  4. 2 Konzept und Diagnostik der Posttraumatischen Belastungsstörung
  5. 3 Physiologische Aspekte der Traumatisierung
  6. 3.1 Bedeutung der Scham
  7. 3.2 Der Körper als Instrument im Prozess der psychischen Wandlung
  8. 3.3 Medusa: Mythologische Trauma-Metapher
  9. 4 Der Begriff Trauma im Wandel der Zeit
  10. 4.1 Im Kontext von Hysterie und Kriegsneurose: Ursprünge des Trauma-Begriffs in der Psychiatrie und in der frühen freudianischen Psychoanalyse
  11. 4.2 Dissoziation – Kernkonzept der Psychotraumatologie
  12. 4.3 Freud: Dissoziation als Abwehr
  13. 4.4 Vom Kriegszitterer zum offiziellen Krankheitsbild
  14. 4.5 Geschichte des Trauma-Begriffs in der Psychoanalyse nach Freud
  15. 4.6 Einfluss der frühen Mutter-Kind-Beziehung und Bedeutung der Symbolisierungsfähigkeit
  16. 4.7 Zum Einfluss der entwicklungspsychologischen Bindungstheorie auf die Trauma-Theorie
  17. 5 Analytische Psychologie und Trauma – eine Verhältnisbestimmung
  18. 5.1 Trauma, Komplex und Dissoziation in der Theorie von C.G. Jung
  19. 5.2 Das Verhältnis von Komplex und Trauma als affektives Kontinuum
  20. 5.3 Dissoziation als Schutzmechanismus und Erfahrung bei emotionalen Entwicklungsblockaden
  21. 5.4 Die Bedeutung von Symbolen und inneren Bildern für die Überwindung von Dissoziationen
  22. 5.5 Jungs autobiographische Stellungnahme zur Erfahrung der Dissoziation
  23. 6 Nach Jung: Klassische und neuere Ansätze der Analytischen Trauma-Psychotherapie
  24. 6.1 Archetypische Erfahrungen und Bilder als Kern der individuellen Traumatisierung
  25. 6.2 Innere Trauma-Welten, Trauma-Archetyp und Trauma-Komplex
  26. 6.3 Traumdeutung und Aktive Imagination – Klassische Zugänge der Analytischen Psychologie
  27. 6.4 Aktive Imagination, Maltherapie und Mythodrama
  28. 6.5 Sandspieltherapie
  29. 6.6 Körperpsychotherapeutische Ansätze aus dem Bereich der Analytischen Psychologie
  30. 7 Fallbeispiele zu körpertherapeutischen Interventionen im Rahmen der Analyse
  31. 8 Chancen und Risiken
  32. Literaturverzeichnis
  33. Stichwortverzeichnis

Vorwort

 

 

 

Innerhalb der psychotherapeutischen Disziplin sind in den letzten Jahrzehnten neue Trauma-Therapieansätze entwickelt worden. Die Sensibilisierung für die psychischen und physischen Folgen von traumatischen Belastungen hat seit der Einführung der Diagnose der Posttraumatischen Belastungsstörung im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM III) 1980 zugenommen. Im Volksmund hört man den Begriff Trauma in unterschiedlichen Zusammenhängen: Ein Kind wurde durch Mobbing in der Schule »traumatisiert«, eine Person wurde durch eine Gewalttat, einen Blitzschlag oder den Verlust eines Angehörigen durch einen Autounfall »traumatisiert«. Diesem Common-Sense-Bewusstsein für das Phänomen steht die Komplexität des Krankheitsbildes gegenüber. Diese Komplexität spiegelt sich in den verschiedenen Methoden, die in der Psychotherapie entwickelt wurden. Techniken wie das Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR) oder die verhaltenstherapeutische Exposition stehen ganzheitlicheren systemischen, tiefenpsychologischen oder körpertherapeutischen Zugängen gegenüber. Unter den psychodynamischen Therapieansätzen wenig bekannt ist das Verständnis von psychischen Traumatisierungen nach C.G. Jung. Es ist mir ein Anliegen, den Beitrag der Analytischen Psychologie Jungs durch dieses Buch zur Diskussion zu stellen.

Ein Grund, dass sich die Sichtweise der Analytischen Psychologie wenig durchgesetzt hat, liegt an der Sprache von C.G. Jung. Begriffe wie Komplexe, Archetypen oder Symbole tönen in den Ohren außerschulischer Fachpersonen fremd und altertümlich. Vergleiche erfordern eine gemeinsame Begrifflichkeit. Ich glaube, dass es Aufgabe der jungschen Analytikerinnen und Analytiker ist, an einer sprachlichen Konvergenz zu arbeiten. Zum einen profitiert die Analytische Psychologie von der Integration neuerer Forschungsergebnisse, zum anderen kann sie zum Thema Attraktives beitragen. Diese therapeutische Herangehensweise ist insbesondere im Umgang mit komplex traumatisierten Patienten, die in der Folge eine Persönlichkeitsakzentuierung oder -störung entwickelt haben, sinnvoll und attraktiv. Dies auch theoretisch aufzuzeigen erfordert die Prüfung und Aktualisierung der ursprünglichen Annahmen. Zu dieser Aktualisierung gehört – gerade im Umgang mit Trauma-Patientinnen und -patienten – der bewusste Umgang mit Übertragungs- und Gegenübertragungsdynamiken, wie sie unter anderem über körperliche Empfindungen und den körpersprachlichen Ausdruck vermittelt werden. Im Zeichen dieser Auseinandersetzung steht das vorliegende Buch.

Mein Dank für die Realisierung dieses Buchprojekts gilt Renate Daniel, welche die Publikation als Studienleiterin am C.G. Jung-Institut Küsnacht angestoßen hat. Er gilt meinem Partner für die vielfache Unterstützung und Inspiration. Das Buch hat vom Feedback, der Expertise und den anregenden Diskussionen in der Supervision mit Mario Schlegel, Rosmarie Barwinski und Christine Hefti Kraus ungleich profitiert. Dankbar bin ich für viele erhellende Gespräche mit Kolleginnen und Kollegen, unter anderem am psychiatrisch-psychotherapeutischen C.G. Jung-Ambulatorium Zürich. Für den Erfahrungsaustausch und kluge Beiträge zur analytisch-psychologischen Trauma-Therapie bedanke ich mich insbesondere bei Michael H. Best, Barbara Frei, Andreas Kiriakidis und Serena Pavlovic. Mein Dank gilt insbesondere auch meinen Freundinnen Vernessa Riley Foelix und Patricia Illiosa, welche mir die Körperarbeit mit Patientinnen und Patienten nähergebracht haben.

Zugunsten einer lesefreundlichen Darstellung wird in diesem Text bei personenbezogenen Bezeichnungen in der Regel die männliche Form verwendet. Diese schließt, wo nicht anders angegeben, alle Geschlechtsformen ein (weiblich, männlich, divers).

1          Einführung

 

 

 

Die Analytische Psychologie nach C.G. Jung und insbesondere ihre Kerntheorie, die Komplextheorie, gründen mitunter auf Studien von Jean-Martin Charcot, Pierre Janet und Sigmund Freud. Diese legten wesentliche Grundlagen für die heutige Psychotraumatologie. Wenn wir zeitgenössische Erkenntnisse der Psychotraumatologie in ein Verhältnis zu aktuellen Ansätzen der Analytischen Psychologie setzen – und die Komplementarität des Krankheitsverständnisses und der Komplextheorie aufzeigen – wollen, müssen wir zunächst das Verhältnis der Analytischen Psychologie zur psychoanalytischen Tradition beleuchten. Innerhalb der Analytischen Psychologie gilt es, verschiedene neuere Ansätze aufzuzeigen, die zur Behandlung von traumatisierten Patientinnen und Patienten entwickelt wurden.

An Traumata bzw. an seelischen Verletzungen mit unterschiedlichen Intensitäten leiden die meisten, wenn nicht sogar alle Patienten. Dies bedeutet nicht, dass alle Patientinnen und Patienten mit seelischen Verletzungen diagnostisch als traumatisiert einzustufen sind. Eine psychische Traumatisierung wird als Folge eines Ereignisses oder einer länger andauernden gravierenden Belastungssituation beschrieben. Traumatische Lebensereignisse und langandauernde Belastungssituationen begegnen uns im psychotherapeutischen Alltag als Auslöser und Verstärker von akuten und chronifizierten psychischen Störungen. Aufgrund der Erlebnisintensität und des Fehlens einer adäquaten Reaktionsweise führt diese Erfahrung zu einer Störung des psychischen Gleichgewichts und dadurch zu einer vorübergehenden oder dauerhaften Schädigung (Müller, 1973, S. 536 f.). Ob eine dauerhafte Schädigung erfolgt, hängt von diversen Faktoren ab: Charakter, Persönlichkeit, Entwicklungs- und Reifestadium, Vulnerabilität, soziale Einbettung und Unterstützung, soziographische Situation, erworbene Resilienz, Kompetenzen und Coping-Strategien im Umgang mit Stress und Belastungen. Je nach Konstellation dieser Faktoren können belastende Lebensereignisse sowie sequentielle Belastungen zu unterschiedlichen Beeinträchtigungen führen. Diese reichen von der Posttraumatischen Belastungsstörung, welche beispielsweise als Folge von bereits einmaliger extremer Gewalteinwirkung auftreten kann, bis zu komplexen Traumatisierungen. Komplexe psychische Traumatisierungen, wie sie als Folge von Beziehungstraumata entstehen, können verschiedene Formen von Persönlichkeitsstörungen zur Folge haben. Kernberg korreliert beispielsweise narzisstische Persönlichkeitsstörungen mit Deprivations-Traumata im Säuglingsalter oder das Auftreten der Borderline-Persönlichkeitsstörung mit Traumata in der Wiederannäherungsphase im Kleinkindalter (Kernberg, 2009).

Dank der seit den 1980er Jahren ausgedehnten medizinischen und psychologischen Forschung zum Thema Traumatisierung steht uns eine Vielzahl von empirischen Untersuchungen im psychotherapeutischen Kontext zur Verfügung. Sie dienen der Klärung psychophysiologischen Zusammenhänge. Die Diagnose der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) identifiziert die ausgeprägteste Form einer pathologisch gewordenen Umgangsweise mit einer gravierenden seelischen Verletzung. Je differenzierter wir das Denken, Fühlen, Handeln und Empfinden eines Patienten verstehen, desto komplexer und feinkörniger lassen sich die physischen und psychischen Umgangsweisen mit Verletzungen nachvollziehen. Die neurologischen Coping-Mechanismen entsprechen bereits bei leichtgradigen seelischen Verletzungen einem Muster, das therapeutische Prozesse verständlicher macht. Auch die Fortschritte der Neurowissenschaften tragen dazu bei, die mentale, physische und emotionale Verarbeitung traumatischer Erfahrungen besser zu verstehen. Autoren wie Judith Lewis Herman, Bessel van der Kolk, Pat Ogden oder Peter Levine haben die Anwendung dieser Erkenntnisse im psychiatrischen, psychotherapeutischen Setting erprobt und weiterentwickelt. Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften erhellen zunehmend Zusammenhänge des sogenannten Embodiments, der körperlichen Repräsentation von Emotionen (Damasio, 2000). Durch das zeitgeschichtlich verstärkte Bewusstsein für häusliche Gewalt und sexuellen Missbrauch in Familien wurden insbesondere auch die Studien zu sequentiellen, komplexen und entwicklungsbezogenen Traumatisierungen ausgeweitet. Traumatisierungen, ob sie nun dem Vollbild einer diagnostizierten Posttraumatischen Belastungsstörung oder einer verschleierten Form von komplexen Entwicklungstraumata entsprechen, haben zahlreiche Ursachen. Neben selbst erlittenen Unfällen, emotionaler oder physischer Vernachlässigung in der Kindheit, schweren Krankheiten (z. B. Mitteilung einer Krebsdiagnose), Naturkatastrophen und Kriegserfahrungen können Arbeits- oder Verkehrsunfälle zu einer psychischen Traumatisierung führen.

Je besser wir die physischen Prozesse und Abwehrmechanismen, welche die psychischen Störungsbilder begleiten, verstehen, desto größer wird unsere Kenntnis der Symptomatik. Dieses Wissen ist auch die Basis therapeutischer Interventionen, die dem Schweregrad der Traumatisierung und der Stabilität des Patienten angepasst sein müssen. Während die unbewussten Prozesse mental oft diffus und schwer fassbar bleiben, erlauben die Schulung der Körperwahrnehmung und der Umgang mit der körperlichen Symptomatik, die beispielsweise bei Affektausbrüchen feststellbar ist, den Patientinnen und Patienten, schrittweise einen selbstwirksamen Zugang zur Emotionsregulierung zurück zu erlangen. Van der Kolk beschreibt, wie traumatische Erlebnisse der Vergangenheit über bewusste physische Erfahrungen transformiert werden können und die emotionale Kontrolle stückweise wiedergewonnen werden kann (van der Kolk, 2015). Das Studium der psychischen und physischen Reaktionsweisen auf seelische Verletzungen ist deshalb ein wesentlicher Schlüssel, um das Erleben sowie die funktionalen und dysfunktionalen Verhaltensmuster des Patienten zu erkennen. Seelische Verletzungen und ihre Überwindung gehören zur individuellen Lebens- und zur kollektiven Menschheitsgeschichte. Ihre Überwindung führt oftmals zu Wandlungsprozessen und neuen Entwicklungsmöglichkeiten. Während nicht alle Patienten auf belastende Lebensereignisse traumatisiert reagieren, liegen der traumatischen Reaktion allgemeine oder archetypische psychische Reaktionsmechanismen zugrunde, die für das Verstehen und den Umgang mit seelischen Verletzungen relevant sind. Die biophysische Reaktion auf Traumata ist trotz der kulturell unterschiedlichen Bewältigungsstrategien universell. Sie nimmt oftmals prägenden Einfluss auf die Familien- und Generationsgeschichte, auf das Selbstverständnis und die individuelle und kollektive Identität der Betroffenen.

Die Analytische Psychologie C.G. Jungs ermöglicht den Zugang zur Psychotraumatologie durch den geteilten Fokus auf dissoziative Phänomene. Der Begriff der Dissoziation, den der französische Psychiater Pierre Janet (1859–1947) prägte, spielt in der Analytischen Psychologie sowohl für das Krankheitsverständnis der Neurose wie für die Komplextheorie eine entscheidende Rolle. Jungs Interesse an den Emotionen als verbindendes Element zwischen Körper und Seele steht am Anfang seiner Entwicklung der Komplextheorie. Unter einem Komplex versteht Jung einen gefühlsbetonten psychischen Inhalt oder einen Vorstellungskomplex, der größtenteils unbewusst ist. Wird dieser Komplex durch eine Erfahrung angestoßen, welche eine ähnliche emotionale Färbung hat, kann der Komplex getriggert werden und das Verhalten der Person autonom steuern (image Kap. 7).

Traumata beschreibt Jung als besonders intensive Komplexe. Entsprechend verstärkt sind die dissoziativen Prozesse bei traumatischen Komplexen. Jung versteht unter Dissoziationen zunächst eine psychische Reaktion, die zur Entstehung von Neurosen – im Extremfall auch zu Psychosen – führen kann. Eine Dissoziation tritt auf, wenn verschiedene Persönlichkeitsanteile unvereinbar sind. Wenn die bewusste Einstellung der Person beispielsweise gegensätzlich zu einem unbewussten Impuls oder Drang steht, dann muss der unbewusste Impuls abgespalten werden, um das positive Selbstbild intakt zu halten. Beispielsweise erfolgt bei einem konservativ sozialisierten Mann, der sich unbewusst in einen Kollegen verliebt, sich jedoch aus moralischen oder konventionellen Gründen seine Homosexualität nicht bewusst zugestehen kann, eine besonders kategorische Abwertung des Kollegen. Diese erfolgt stellvertretend bzw. projektiv für die Selbstabwertung des Mannes für seine sexuelle Ausrichtung, die er sich aufgrund seiner bewussten Einstellung nicht eingestehen kann. In der jungschen Terminologie stehen sich der Schatten und die Persona gegenüber: Der unerwünschte Persönlichkeitsanteil kontrastiert mit der Selbstdarstellung in der Außenwelt (Persona als Maske des Einzelnen im sozialen Raum), welche zur Aufrechterhaltung des positiven, bewussten Selbstbildes beiträgt. Der dissoziative Vorgang bindet Energie und hemmt die Spontanität der Person. Die Gefühle der Liebe und Zuneigung müssen verdrängt werden.1

»Bei der Dissoziation wird die Selbstwahrnehmung bzw. Selbsteinschätzung vorübergehend so verändert, dass der Betreffende ein anderes Bild von sich selbst erhält. Die Dissoziation dient dazu, interpersonelle oder intrapsychische Spannungen, die durch mit dem Selbstbild zusammenhängende Konflikte ausgelöst werden, zu reduzieren. Stärkere dissoziative Phänomene treten häufig nach Traumatisierungen in Erscheinung.« (Müller & Müller, 2003, S. 91)

Werden die emotionale Fracht und der abgespaltene Persönlichkeitsanteil nicht integriert, fehlt jedoch die Akzeptanz des ganzen eigenen Wesens. Dies führt zu innerem Leiden, das sich im neurotischen Fall beispielsweise in Form psychischer Ängste oder Zwänge zeigt. Unbewusst radikalisiert sich der persönliche Komplex der Person – die unangenehmen Symptome rufen nach Bearbeitung. Um die Ängste zu überwinden, muss der persönliche Komplex im Kern bearbeitet werden.

Die Erforschung der psychischen Wirklichkeit, welche sich insbesondere dann, wenn ein Komplex aktiviert ist, für die Person als untrügliche Realität anfühlt, obwohl sie allenfalls in einem starken Kontrast zur äußeren Welt und der Wahrnehmung der Mitmenschen steht, faszinierte Jung. Er stellte fest, dass die Assoziationen bei hysterischen Patientinnen und Patienten durch einen dominanten Komplex überschwemmt wurden, welcher oftmals auf ein früheres Trauma zurückging. Erst die bewusste Durcharbeitung dieses Komplexes ermöglichte dessen psychodynamische Bewältigung und Assimilierung. Über das Assoziationsexperiment beobachtete Jung eingehend die körperlichen Symptome komplexhafter, das heißt emotional aufgeladener, Reaktionsweisen, welche als Indikatoren zur Aufdeckung von verborgenen innerseelischen Konflikten dienten. In seinen Ausführungen zur Transzendenten Funktion beschreibt er, wie vielfältig die unbewussten Vorgänge sich bei den Menschen über symbolisches Material und über die körperlichen Bewegungen ausdrücken können. Unbewusste oder dissoziierte Inhalte können beispielsweise beim spontanen Gefühlsmalen oder im Sandspielprozess auftauchen und ausgedrückt werden.

Therapeutisch impliziert die Arbeit mit dissoziativen Symptomen also in der Analytischen Psychologie vermehrt auch die Integration der körperbewussten Arbeit. Auch aktuelle, klinisch orientierte Trauma-Theorien integrieren Janets Verständnis struktureller Dissoziationen prominent (van der Hart, Nijenhuis & Steele, 2008). Die Bedeutung der Leiblichkeit und der Integration von Interventionen, welche Bewegung, Atmung und Körperwahrnehmung schulen, ist verhaltensmedizinisch erwiesen und grundlegend für eine erfolgreiche Exposition.

Mit der zunehmenden Entstehung und Beachtung körpertherapeutischer Ansätze verstärkt sich das Anliegen, dem Phänomen des Körpers und seinen vielfältigen Ausdrucksweisen im Rahmen des Psychotherapiesettings einen gebührenden Platz einzuräumen. Durch die kreative und ganzheitliche Ausrichtung der Analytischen Psychologie, welche die malerische Gestaltung von Gefühlen und später die Sandspielmethode als genuine Therapiemethoden standardisiert hat, sind Erkenntnisse zur Bedeutung des Körperbezugs früh selbstverständlich integriert worden. Die im letzten Jahrhundert durch Studien und Erkenntnisse parallel zur Psychoanalyse gewachsene Tradition von Gestalt- und Körpertherapeuten, wie beispielsweise Wilhelm Reich (Vegetotherapie), Alexander Lowen, Frederick Matthias Alexander (Alexander-Technik), Hilarion Petzold (Integrative Therapie) oder Moshé Feldenkrais (Feldenkrais-Methode), erwies sich als reichhaltige Quelle von Anregungen für körperorientierte Therapeuten unterschiedlicher Couleur. In der Analytischen Psychologie haben tanztherapeutische Ansätze wie das Authentic Movement von Mary Starks Whitehouse und Joan Chodorow aus den USA die Bedeutung von Körpersprache und Bewegung erforscht und beschrieben. In der europäischen Analytischen Praxis haben sich diese Erkenntnisse bislang jedoch erst marginal durchgesetzt. Die Bewegungstherapeutinnen erkannten, dass die Übersetzung von starken Emotionen wie Trauer oder Wut in spontane Bewegungen sowie das bewusste Atmen, Dehnen und Schütteln der Körperteile in der therapeutischen Praxis einerseits zu Entlastung und Affektregulierung führen kann, andererseits als Unterstützung der Bewusstwerdung von unbewussten Verhaltensmustern dient. Persönlichkeitsanteile und (schambesetzte) Verhaltensmuster, welche über eine direkte kognitive oder emotionale Konfrontation noch nicht aushaltbar sind, können über die Bewegung im geschützten Raum der therapeutischen Beziehung oft einfacher zugelassen werden. Der Zugang zum eigenen Schatten, also die Einsicht und Integration von Selbstanteilen, welche schwer mit dem Selbstbild zu vereinbaren sind, kann über das bezeugte und eingeschränkt bewusste Bewegungsspiel erarbeitet werden. Den innerseelischen Prozess auf der körperlichen Ebene mit durchzuarbeiten und ihm über Bewegung einen zusätzlichen Darstellungsraum zu verleihen, führt beim Patienten einerseits zur Verankerung bewusst gewordener Inhalte, andererseits zu überraschenden Körper- und Bewegungsimpulsen, die das Geschehen auf neue Weise integrieren und transformieren. Das bewusste Erlernen von Atemtechniken und die Unterstützung der Fähigkeit, Emotionen durch Bewegungen darzustellen, kann hierbei über leichte Übungen einen einfachen und selbstwirksamen Zugang zur eigenen Emotionsregulierung und zur inneren Abgrenzung unterstützen.

Für die Bedeutung eines – unter anderem – leiborientierten Zugangs spricht auch die psychoanalytische These, dass durch Traumatisierungen die Symbolisierungsfähigkeit verschüttet werden kann. Traumatisierungen bezeichnen psychische Störungen im präverbalen Bereich. Im Hinblick auf die Arbeit mit traumatisierten Menschen, deren Mentalisierungsfähigkeiten beeinträchtigt sind, ermöglicht die symbolorientierte Arbeitsweise der Analytischen Psychologie einen wertvollen therapeutischen Zugang. Die selbstwirksame Erfahrung der Emotionsregulation über das Malen der eigenen Gefühle, welche Jung beschreibt, kann die schrittweise Wiedergewinnung der Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Realität unterstützen. Die Symbolisierungsfähigkeit wird angeregt. Ihre Wiedergewinnung ist Voraussetzung für den tieferen analytischen Prozess. Bei Menschen, die über imaginative oder gestalterische Techniken keinen Zugang zur eigenen psychischen Innenwelt finden, können körperorientierte Techniken auf der Grundlage einer tragenden therapeutischen Beziehung diesen Zugang anstoßen.

Die vorliegende Auseinandersetzung beginnt mit einem Überblick über die Verwendung des Begriffs Trauma in der aktuellen Psychopathologie. Seit die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) 1980 erstmals als psychische Störung klassifiziert wurde, wird der Begriff Trauma im öffentlichen Sprachgebrauch oftmals reduziert auf diese Diagnose. Entsprechend scheint der Überblick über das Krankheitsbild mit seiner Diagnostik und der emotionalen, kognitiven und vegetativen Symptomatik relevant, um als Referenzpunkt die Abgrenzung vom historischen Begriff Trauma in der Psychoanalyse zu erleichtern. Die Geschichte des Trauma-Begriffs und seiner Erforschung im Gebiet der Psychoanalyse wird historisch rekonstruiert, bevor die entwicklungspsychologischen Grundlagen zur Mentalisierungsfähigkeit und Bindungstheorie besprochen werden, die für das Verständnis der innerpsychischen Mechanismen bei Traumatisierungen bedeutsam sind. Anschließend wird die Auseinandersetzung mit dem Trauma-Begriff aus der Sicht der Analytischen Psychologie erörtert. Die theoretische Verhältnisbestimmung zwischen der analytischen Psychologie, der Psychoanalyse und den Forschungsergebnissen der medizinischen und psychologischen Psychotraumatologie wird insbesondere hinsichtlich der Komplextheorie und hinsichtlich des Begriffs der Dissoziation unternommen. Insgesamt werden die Phänomene von Dissoziation und Traumatisierung mithilfe der Kombination verschiedener psychoanalytischer Modelle und klinischer Theorie beschrieben. Komplementäre Aspekte zwischen beispielsweise der Objektbeziehungstheorie, der Mentalisierungstheorie und der Analytischen Psychologie zu beleuchten, scheint mir trotz der teils unterschiedlichen Grundbegrifflichkeiten attraktiv und erhellend. Im Bewusstsein, dass dieser Versuch der Kombination von verschiedenen psychoanalytischen Modellen und Begrifflichkeiten ein kontroverses Unterfangen darstellt, scheint mir dennoch eine vorurteilsfreie Revision und die Offenheit zur schulenübergreifenden Betrachtung gerade hinsichtlich des noch gering systematisierbaren Forschungsbereichs der Psychotraumatologie sinnvoll. Im Schlussteil werden neuere Trauma-theoretische Ansätze aus der Analytischen Psychologie vorgestellt. Die therapeutische Umsetzung des jungschen Krankheitsverständnisses wird anschließend anhand der körper- und tanztherapeutischen Methoden von Marion Woodman, Mary Starks Whitehouse und Joan Chodorow aufgezeigt. Die Integration von Emotionen und die Überwindung von Dissoziationen über gezielte Interventionen der Körperarbeit, welche auch direkt in das psychoanalytische Therapiesetting eingebaut werden können, wird anhand der Berichte dieser Autorinnen aufgezeigt. Anhand dieser theoretischen Grundlage und anhand von Fallbeispielen werde ich für eine verstärkt körperbewusste Haltung und für den Mut zu gezielten, verantwortungsbewussten körpertherapeutischen Interventionen innerhalb des psychoanalytischen Settings argumentieren.

1     Die Unterscheidung der Begriffe Dissoziation, Abspaltung, Komplex, Trauma und des psychoanalytischen Begriffs der Verdrängung wird in den Kapiteln 3 und 4 ausführlicher besprochen.

2          Konzept und Diagnostik der Posttraumatischen Belastungsstörung

 

 

 

Im gegenwärtigen öffentlichen Sprachgebrauch wird der Begriff Trauma mehrheitlich mit der psychiatrischen Diagnose der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) assoziiert. Zur Abgrenzung vom historischen, in der Psychoanalyse verwendeten Trauma-Begriff scheint ein Überblick über die aktuelle Diagnostik und die Beschreibung des PTBS-Störungsbildes angezeigt. Dieser Überblick dient der Umrahmung des theoretischen Krankheitsverständnisses in der psychopathologischen Diagnostik, welches das psychotherapeutische und psychoanalytische Schaffen und die Wahl der Intervention beeinflusst.