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Prof. Dr. Alexander F. Wormit lehrt klinische Musiktherapie und leitet den Bachelorstudiengang Musiktherapie an der SRH Hochschule Heidelberg.

Prof. Dr. Thomas K. Hillecke ist Prodekan an der Fakultät für Therapiewissenschaften, lehrt klinische Psychologie und leitet die Masterstudiengänge Musiktherapie und Tanz- und Bewegungstherapie an der SRH Hochschule Heidelberg.

Prof. Dr. Dorothee von Moreau ist Studiendekanin an der Fakultät für Therapiewissenschaften und leitet die Lehrambulanzen Musiktherapie sowie Tanz- und Bewegungstherapie der SRH Hochschule Heidelberg.

Prof. Dr. Carsten Diener ist Prorektor für Forschung und Praxistransfer an der SRH Hochschule Heidelberg und leitet den Bachelorstudiengang Psychologie an der Fakultät für angewandte Psychologie.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-02942-6 (Print)

ISBN 978-3-497-61315-1 (PDF-E-Book)

ISBN 978-3-497-61316-8 (EPUB)

Hinweis: Soweit in diesem Werk eine Dosierung, Applikation oder Behandlungsweise erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass die Autoren große Sorgfalt darauf verwandt haben, dass diese Angabe dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes entspricht. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen oder sonstige Behandlungsempfehlungen kann vom Verlag jedoch keine Gewähr übernommen werden. – Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnungen nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

© 2020 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in EU

Covermotiv und Fotos im Innenteil: Christian Buck

Zeichnungen Innenteil: Vincent Bolz

Satz: Sabine Ufer, Leipzig

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

1    Vorwort

2    Einführung in den Leitfaden

3    Die Menschen im geriatrischen Setting

3.1  Der Patient

3.1.1  Der Demenz-Erkrankte

3.1.2  Der depressiv Erkrankte

3.1.3  Der Parkinson-Erkrankte

3.1.4  Der Schlaganfall-Patient

3.2  Der Angehörige

3.3  Die Pflegekraft

3.4  Weiteres Fachpersonal: Arzt, Psychologe, Sozialarbeiter, Ergo- und Physiotherapeut

4    Wissenschaftliche Perspektiven zur Musiktherapie mit älteren Menschen

4.1  Musiktherapieforschung und Evidenzbasierung

4.1.1  Die Evidenzdiskussion und die Musiktherapie

4.1.2  Ist die musiktherapeutische Praxis evidenzbasiert?

4.2  Aktuelle Entwicklungen in der Musiktherapie mit älteren Menschen

4.2.1  Demenz

4.2.2  Depression

4.2.3  Parkinson

4.2.4  Apoplex

4.3  Singen als Therapie

4.4  Wirkfaktoren der Musiktherapie

4.4.1  Aufmerksamkeitsmodulation
(A – attention modulation)

4.4.2  Verhaltensmodulation
(B – behaviour modulation)

4.4.3  Emotionsmodulation
(E – emotion modulation)

4.4.4  Kognitionsmodulation
(C – cognition modulation)

4.4.5  Kommunikationsmodulation
(I – interpersonal communication modulation)

4.4.6  Abschließende Bemerkung zu den heuristischen Wirkfaktoren

5    Der Musiktherapeut

5.1  Ausbildungs- und Berufsstandards

5.2  Grundlegendes Therapeuten- und Beziehungsverhalten

5.2.1  Therapeutische Begegnungshaltung

5.2.2  Grundlegende Gesprächstechniken

5.2.3  Grundlegende musiktherapeutische Haltungen und Basisfähigkeiten

5.2.4  Musiktherapeutische Techniken

5.3  Musiktheoretische, instrumentale und stimmliche Fähigkeiten

5.4  Besonderheiten in der Arbeit mit alten Menschen

5.4.1  Innere „hilfreiche“ Haltungen

5.4.2  Verwirrte und dahin dämmernde Menschen

5.4.3  „Immer wenn ich die Musik höre, denke ich an …“

5.4.4  „Wo man singt, da lass dich ruhig nieder …“

6    Musiktherapeutischer Interventionskatalog

6.1  Milieuorientierte Musiktherapie auf Station

6.1.1  Flurmusik

6.1.2  Hintergrundmusik (im Pflegealltag)

6.2  Musiktherapie im Zimmer des Patienten

6.2.1  Einzelmusiktherapie

6.2.2  Singen im Zimmer

6.2.3  Musik und Bewegung

6.2.4  Lieder im Pflegealltag

6.3  Musiktherapie im Extraraum

6.3.1  Gruppenmusiktherapie

6.3.2  Singen in der Gruppe

6.3.3  Musik und Bewegung

6.3.4  Angehörige in der Gruppe

6.4  Musiktherapie als Freizeitangebot

7    Evaluation des Interventionskatalogs

7.1  Qualitative Perspektive auf die Wirksamkeit der musiktherapeutischen Einzelmodule

7.2  Quantitative Perspektive auf die Wirksamkeit der musiktherapeutischen Interventionen

7.3  Zusammenschau der Evaluationsergebnisse

8    Zusammenfassung und Ausblick

9    Literatur

10  Sachregister

1Vorwort

Von Lutz Neugebauer

Musik als Therapie hat sich in den vergangenen Jahrzehnten als originärer Zugang zu Menschen mit besonderen Bedürfnissen bewährt. Seine Stärken hat dieser Behandlungszugang dort, wo Worte an Grenzen stoßen. Beispielsweise bei Menschen mit intellektuellen oder sprachlichen Begrenzungen, die auf angeborene oder erworbene Behinderungen zurückzuführen sind oder die aufgrund degenerativer Prozesse, neurologischer Störungen oder altersbedingter Begrenzungen in Erscheinung treten. Auch dort, wo Menschen unaussprechliches Leid erfahren haben, Traumatisierungen durch Krieg, Flucht, Gewalt oder Missbrauch, bietet die Musiktherapie einleuchtende und einfache Zugänge.

Auf die Patientengruppe im vorliegenden Buch bezogen, begegnen uns Menschen, bei denen in ihrem letzten Lebensabschnitt verbale Zugänge an Grenzen stoßen. Sie verstehen mitunter nicht mehr, was der andere sagt, können sich selber nicht mehr artikulieren, möglicherweise teilen sie nicht mehr die gleiche Realität mit uns. Musik – so wissen wir aus der Erfahrung und können es durch Forschungsarbeiten belegen – kann diese Menschen erreichen; jenseits des Wortes und des rationalen Verstehens.

Das weitet unseren Blick noch einmal. Es macht darauf aufmerksam, dass wir in der Beschreibung der Betreuten auch eine Beschreibung unserer Grenzen vornehmen; und die Formulierung des Wunsches, diese Grenzen zu weiten und zu überwinden – zumindest für Momente. Musik ist hierzu in der Lage.

Richard von Weizsäcker (1994) sagt in einem Essay über Musik, dass sie sich nicht an Grenzen halte. Vielleicht eignet sie sich genau deshalb als Therapie. Vergessenes kann gegenwärtig werden, Ungesagtes hörbar, Unzugängliches erkennbar. Einsamkeit kann in gemeinsamen Aktivitäten überwunden werden.

Musik lebt aus zwei Elementen, dem Eindruck und dem Ausdruck. Anders als bei einer verbalen Interaktion, die immer reziprok, also abwechselnd, idealerweise aufeinander bezogen und nacheinander verläuft, bietet Musik die Möglichkeit zu einer synchronen und simultanen Kommunikation. Eindruck und Ausdruck verschmelzen, wenn sich die gemeinsam handelnden Personen in der Musik treffen. Sie will nichts mitteilen, nichts vermitteln außer sich selbst. Sie entfaltet sich immer zeitlich und bietet so Möglichkeiten, z. B. zeitlich nicht-orientierten Menschen einen Referenzrahmen zu geben, der Orientierung wieder möglich macht.

Zur Musiktherapie wird Musik aber erst, wenn sie einen Bezug zu einer Diagnose hat, neue Erkenntnisse ermöglicht oder Wege zur Linderung, Überwindung oder Vermeidung von Leiden aufzeigt. Um von einer sinnvollen Freizeitgestaltung oder kulturellen Teilhabe zur Musiktherapie zu werden bedarf es einer guten und sachbezogenen Ausbildung, kooperativer Strukturen in den Einrichtungen und der Anerkenntnis, dass Musiktherapie ein besonderer Zugang zu besonderen Menschen ist. Es bedarf auch der Anerkennung auf Seiten der Kostenträger und der betreuenden Einrichtungen, nicht zuletzt einer gesetzlichen Absicherung des Berufes.

Hierzu können die Ergebnisse des Projektes Musiktherapie 360 ° beitragen, welche die Grundlage dieses Buches sind. Viele Kolleginnen und Kollegen werden sich in ihrer täglichen Praxis im hier Beschriebenen wiederfinden.

Witten, Dezember 2019 Prof. Dr. Lutz Neugebauer

2Einführung in den Leitfaden

Thomas K. Hillecke & Alexander F. Wormit

Dieser Praxisleitfaden ist ein Ergebnis des Projekts Musiktherapie 360 ° – Innovatives Konzept zur Etablierung modularisierter musiktherapeutischer Interventionen zur Steigerung der Lebensqualität von Patienten, Angehörigen und Pflegepersonal im Rahmen der Förderlinie Soziale Innovationen für Lebensqualität im Alter (SILQUA-FH) gefördert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF Programm SILQUA FH 2015).

Es braucht nicht eigens darauf verwiesen werden, dass Lebensqualität im Alter eine der vordringlichsten Herausforderungen in unseren alternden Gesellschaften darstellt. Bemerkenswert ist es, dass der Musiktherapie durch die Förderung des BMBF eine besondere Beachtung zuteil wird. Aus musiktherapeutischer Sicht mag dies verwundern, denn Musiktherapeuten sind international umfassend damit beschäftigt, sich in die Versorgung alter Menschen einzubringen. Allerdings wird dieses Engagement von außen, von den betagten Menschen selbst, ihren Angehörigen, den gerontologischen Fachdisziplinen und von den Gesundheitssystemen bisher nur wenig wahrgenommen. Ziele des Projekts waren daher die international vorliegenden Erkenntnisse systematisch zu erfassen und für die Praxis weiterzuentwickeln sowie damit eine musiktherapeutische Systematik zur Verfügung zu stellen, von der Menschen im höheren Lebensalter, deren Angehörige und das in diesem Bereich tätige Pflegepersonal profitieren können. Darüber hinaus galt es, Transparenz bezüglich des Potentials der Musiktherapie zu schaffen.

Keine andere Studie hat, die im Projekt Musiktherapie 360 ° fokussierte Integration von musiktherapeutischen Interventionen und deren Implementierung in Einrichtungen zur Versorgung alter Menschen ebenso systematisch untersucht. Damit ergänzt dieses Projekt die Forschungslandschaft durch seinen spezifischen Ansatz und den Versuch, eine adäquate Beschreibung der (sonst häufig ungenau und heterogen beschriebenen) möglichen musiktherapeutischen Interventionen für die Praxis zusammenzustellen, von denen Patienten, Angehörige und Mitarbeiter der Pflege profitieren können.

Der Leser kann einzelne Kapitel im Sinne von Fachartikeln oder auch systematisch interessengelenkt lesen. Für uns ergab sich daraus folgende Logik für den Aufbau:

Kapitel 3 beschreibt die Personengruppen, die in geriatrischen Settings vorgefunden werden.

In Kapitel 4 geht es um die wissenschaftlichen Perspektiven der Musiktherapie mit alten Menschen. Es werden die neuere Evidenzlage sowie mögliche allgemeine und heuristische Wirkmechanismen der Musiktherapie diskutiert.

Kapitel 5 fokussiert auf den Musiktherapeuten. Welche Ausbildungsvoraussetzungen, musiktherapeutischen Grundhaltungen, musikalischen und therapiepraktischen Fähigkeiten und Kenntnisse müssen vorhanden sein, um als Musiktherapeut im Arbeitsfeld Geriatrie erfolgreich arbeiten zu können.

Kapitel 6 präsentiert den musiktherapeutischen Interventionskatalog. Dieser wurde im Rahmen des Projekts Musiktherapie 360 ° aus der Literatur hergeleitet, systematisch zusammengefasst, modular konzipiert und teilweise, abhängig vom Bedarf, in den kooperierenden Einrichtungen in der Praxis erprobt.

In Kapitel 7 werden die quantitativen und qualitativen empirischen Evaluationsergebnisse des Projekts Musiktherapie 360 ° systematisch zusammengefasst und unter Berücksichtigung der Perspektiven von Patienten, Angehörigen und dem Pflegepersonal, Schlussfolgerungen bezüglich der Musiktherapie mit alten Menschen diskutiert.

Kapitel 8 fasst die Buchkapitel zusammen und liefert einen Ausblick.

Das Projekt- und Autorenteam erhofft sich, dass Musiktherapeuten und auch anderes gerontologisches Fachpersonal von diesem Praxisleitfaden profitieren und dass er, insbesondere gegenüber Menschen im höheren Lebensalter sowie ihren Angehörigen, Transparenz bezüglich des Potentials von Musiktherapie schaffen kann. Wir erhoffen uns außerdem, dass unser Praxisleitfaden bei Kostenträgern, Trägern und Leitungen von Einrichtungen zur Versorgung alter Menschen Berücksichtigung findet, damit Musiktherapie zukünftig stärker in die Praxis implementiert werden kann.

Abschließend möchten wir uns bei allen Mitwirkenden und Beteiligten, den Patienten und Pflegeheimbewohnern, ihren Angehörigen, dem Pflegepersonal, den Leitungen der Einrichtungen, der SRH Hochschule Heidelberg und nicht zuletzt beim Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) für die Unterstützung herzlichst bedanken.

Aus Gründen der Lesbarkeit wurde im Text die männliche Form gewählt. Nichtsdestoweniger beziehen sich die Angaben auf Angehörige aller möglichen Geschlechter. Weiter entschieden sich die Autoren für die einheitliche Verwendung des Begriffs Patient. Dieser schließt immer Bewohner in Alten- und Pflegeheimen mit ein.

3Die Menschen im geriatrischen Setting

Von Dorothee von Moreau & Michael Keßler

Zum geriatrischen Setting in Alten- und Pflegeeinrichtungen, Seniorentageseinrichtungen, Fachkrankenhäusern oder Rehabilitationskliniken gehören Senioren mit ihren Erkrankungen und krankheitsbedingten Einschränkungen, Fachpersonal wie Fachpfleger, Fachtherapeuten, Sozialarbeiter der sozialen Betreuung, Seelsorger, Ärzte, aber auch die Angehörigen der Patienten, ehrenamtliche Helfer oder Alltagsbegleiter sowie Hauswirtschaftsfachkräfte. Einige dieser Personengruppen sollen im Folgenden mit ihren jeweiligen individuellen Belastungen und Bedürfnissen und den Möglichkeiten für disziplinübergreifende Zusammenarbeit näher beschrieben werden.

3.1Der Patient

Der Patient ist überwiegend 70 Jahre und älter. Wegen der höheren Lebenserwartung von Frauen ist der Anteil weiblicher Bewohner oft erheblich höher. Ab einem Mindestalter von 80 Jahren gelten Senioren bei einer auftretenden Erkrankung wegen des Risikos von Komplikationen und Folgeerkrankungen, der Gefahr der Chronifizierung der Erkrankung sowie des höheren Risikos eines Verlustes der Autonomie und des Selbsthilfestatus (Neubart et al., 2015) als besonders vulnerabel.

Stärker als das biologische Alter fällt jedoch nach der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie, der deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie und dem Bundesverband Geriatrie e. V. (BV Geriatrie), die geriatrietypische Multimorbidität ins Gewicht: Diese wird angenommen, sobald mindestens drei relevante Erkrankungen wie Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen, Schlaganfall, Pneumonie, Osteoporose, Knochenfrakturen, Vorhofflimmern, Parkinson, Delir, Demenz, Inkontinenz, Schlafstörungen oder bestimmte Tumorerkrankungen (Neubart, 2015) gleichzeitig bestehen.

Häufig nehmen die Betroffenen die Krankheitsfolgen als massivere Einschränkung der Lebensqualität wahr, als die eigentliche Erkrankung. Die International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps (ICIDH) beschreibt hier ein sog. Kaskadenmodell: Eine Krankheit (z. B. Hirntumor) bringt Schädigungen mit sich (z. B. Lähmung), die zu Störungen der Alltagsfähigkeiten (z. B. Unfähigkeit zu laufen) führen und schließlich eine Teilhabestörung (z. B. keine Möglichkeit zum Seniorennachmittag zu gehen) zur Folge haben. Neubart (2015) benennt die Störungen in der Mobilität und den Aktivitäten des täglichen Lebens, Störungen der Kommunikation sowie Probleme der Krankheitsverarbeitung als Fähigkeitsstörungen, die sich besonders einschränkend auf die Lebensqualität geriatrischer Patienten auswirken können. Die Bewahrung bzw. Steigerung der Lebensqualität ist aktuell ein wichtiges Kriterium für die Bewertung von Interventionseinsätzen in der Geriatrie, da viele chronische Erkrankungen im Alter noch nicht oder nicht mehr geheilt werden können (Dichter et al., 2011; Dröes et al., 2006).

In den folgenden Abschnitten werden die häufigsten alterstypischen Erkrankungen mit ihren Auswirkungen auf die Betroffenen näher beschrieben.

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Abbildung 3.1: Im Alter hat der Erhalt der Lebensqualität eine wichtige Bedeutung.

3.1.1 Der Demenz-Erkrankte

Demenz (F00-F03) zeigt sich durch Störungen kortikaler Funktionen in den Bereichen Gedächtnis, Denken, Orientierung, Auffassung, Rechnen, Lernfähigkeit, Sprache und Urteilsvermögen. Kognitive Defizite können zudem die Emotionsregulation, das Sozialverhalten und die Motivation beeinträchtigen. Eine Demenz kann sowohl bei neurodegenerativen Krankheiten wie der Alzheimer-Erkrankung, bei zerebrovaskulären Störungen (vaskuläre Demenz), als auch bei anderen primären oder sekundären Erkrankungen des Gehirns auftreten. Auch Tumore, Hämatome oder andere raumgreifende Ereignisse können mit Demenzen einhergehen (DIMDI, 2018). Mischformen sind nicht selten. Je nach Demenzart gibt es unterschiedliche Verlaufsformen. Die Einteilung in Schweregrade hat sich daher über die verschiedenen Verlaufsformen als valide bewährt (Möller et al., 2015).

Verlaufsformen und Schweregrade

Leichte Demenz (Phase I der Alzheimer-Demenz): Sie ist gekennzeichnet durch leichte Gedächtnisverluste mit schwachem Erinnerungsvermögen für kurz zurückliegende Ereignisse, eingeschränkter Urteilsfähigkeit, eingeschränkter visuell-räumlicher Orientierung (besonders in fremder Umgebung) und Wortfindungsstörungen. Die Betroffenen können neue Informationen nicht mehr speichern, Dinge werden verlegt, der Weg zur Haltestelle wird nicht mehr so schnell gefunden, Alltagsaktivitäten werden vergessen oder vernachlässigt und nicht selten bringen sich die Betroffenen in Gefahr, wenn sie z. B. vergessen, den Herd auszuschalten. Viele Betroffene nehmen den Verlust ihrer Kompetenzen deutlich und schmerzlich wahr und versuchen, diese vor sich und/oder Angehörigen und Freunden zu verschleiern oder zu kompensieren. Gefühle von Angst oder Scham, Depressivität, Gleichgültigkeit oder Unruhe treten auf. Sozialer Rückzug ist häufig die Folge und geht mit dieser leichten Verlaufsform einher. Gleichzeitig wird ein Verlust über die Kontrolle von Affekten berichtet, weshalb Betroffene oft anders (aggressiv, mürrisch, abweisend, überschwänglich …) reagieren, wenn sie emotional berührt sind. Vom Umfeld, wie vom Betroffenen selbst, wird dies oft als befremdlich und irritierend wahrgenommen.

Mittelgradige Demenz (Phase II der Alzheimer-Demenz): Sie geht einher mit tiefgreifenden Störungen des Gedächtnisses: nicht nur kurz zurückliegende Ereignisse, auch frühere Erinnerungen gehen verloren, teilweise auch das Erkennen der Angehörigen oder der vertrauten Umgebung. Diese Desorientierung im Alltag und die Unfähigkeit, Handlungen zu planen und durchzuführen, macht eine Anleitung oder Begleitung in fast allen lebenspraktischen Bereichen notwendig. Die sprachliche Verständigung wird wegen Störungen im Sprachverständnis und dem sprachlichen Ausdruck (Wortverwechslungen, Silbenverdrehungen) zunehmend schwierig. Das Urteilsvermögen ist schwerer beeinträchtigt. Es gibt kein damals und heute, kein vorhin und jetzt. Der Betroffene ist gänzlich der momentanen Situation ausgeliefert. Der eigene Kontrollverlust wird nicht mehr wahrgenommen und deshalb auch nicht mehr verleugnet, vertuscht oder abgewehrt. Aufkommende Erinnerungen können nicht als zurückliegende Geschehnisse eingeordnet werden, sondern werden ungefiltert mit aller Intensität im Hier und Jetzt erlebt. Darüber hinaus sind Betroffene oft von Sinnestäuschungen verunsichert (das eigene Spiegelbild wird als fremde Person wahrgenommen); auch von Wahnerleben wird berichtet (wobei oft unklar bleibt, ob das Erleben wahnhaft verzerrt ist oder ob eine nicht klar zu benennende, biografische Erinnerung das momentane Erleben dominiert). Der Verlust an Autonomie, Kontrolle, Selbstbestimmung, Orientierung und Verständnis ist für die Betroffenen oft schwer erträglich und geht mit Angst und dem Gefühl von Isolation einher: Unruhiges Umherwandern, starke affektive Schwankungen, manchmal auch Aggressivität stellen Angehörige oder Pflegende vor große Herausforderungen: Ein gut gemeintes Umlenken des Affekts (sofern es den bestehenden Affekt nicht aufgreift und bestätigt) kann im Betroffenen das verwirrende Gefühl verstärken, nicht gemeint, verstanden oder gar hier falsch zu sein.

Die Symptome der Erkrankung können im häuslichen Umfeld oft nicht mehr kompensiert oder aufgefangen werden. Nicht selten führen sie zu emotionalen Überforderungen bei den Betroffenen und ihren Angehörigen. Darüber hinaus ist für die Angehörigen das Erlebnis verkannt bzw. nicht mehr erkannt zu werden, ein Schock, wird als Kränkung erlebt und kann nicht verstanden oder nachvollzogen werden. Der Verlust des Ichs entfremdet die Betroffenen zusätzlich von den Angehörigen (und umgekehrt). Angesichts des veränderten Erlebens der Betroffenen fällt die Alltagsverständigung schwer oder wird situativ unmöglich. Tagesbetreuung oder der Umzug in ein Pflegeheim wird unausweichlich.

Schwere Demenz (Phase III der Alzheimer-Demenz): Sie zeigt sich in schwersten Gedächtnisstörungen, v. a. auch im Verlust des prozeduralen Gedächtnisses. Einfachste Handlungsabläufe, wie sie im Laufe des Lebens automatisiert wurden (u. a. Essen und Körperpflege) verlieren sich, sodass auch grundlegende Funktionen nicht mehr beherrschbar sind: Es kann zu Gehstörungen, unsicherem Stehen, Schluckstörungen, Inkontinenz bis hin zur Bettlägerigkeit kommen. Einfachste Abläufe, wie das Trinken, werden verlernt, sodass der Betroffene hier auf Hilfe angewiesen ist, ohne deren Notwendigkeit verstehen zu können. Die Pflege kann hier zur großen Herausforderung werden, weil sie als Angriff oder Übergriff erscheint. Oft kommt es zum Verlust der eigenen Sprache als Selbstausdruck und zum Verlust des Sprachverständnisses. Verständigung über Sprache ist somit nicht mehr möglich; verbale Äußerungen haben einen sinnentleerten Charakter (Echolalie, Palilalie). Eigene Impulse, Affekte und auch das Bedürfnis nach Affektaustausch scheinen zurückzutreten. Der Betroffene kann weder eigene Gefühle noch eigene Bedürfnisse adäquat äußern, selbst wenn er noch zu verbalen Äußerungen fähig ist. Ebenso laufen verbale Zuwendungen von anderen oft ins Leere. Angehörige können nicht verstehen, dass der Betroffene Worte nicht mehr einordnen kann. Der an Demenz Erkrankte ist in dieser Phase über gesprochene Worte nicht mehr erreichbar. Was dagegen in der missglückten Begegnung vermittelt wird, ist die Atmosphäre der Hilflosigkeit, die den Rückzug der Betroffenen zusätzlich verstärkt. Das Erleben der Betroffenen wird als traumähnlich oder vor-sich-hin-dämmern beschrieben, wobei die Abgrenzung zwischen Schlaf, bzw. Traum und Wachheit verschwimmt. Reaktionen auf Zuwendungen bleiben aus. Muthesius et al. (2010) sprechen in diesem Stadium von einem „verschwindenden Selbst“. In diesem Stadium, in dem Worte nicht mehr sind als Schall und keine Bedeutung mehr transportieren, ist es wichtig, dem Betroffenen eine Atmosphäre von Schutz, Sicherheit, Geborgenheit und liebevoller Zuwendung zu ermöglichen.

 BEISPIEL 

Im Pflegeheim besuche ich Frau Müller, um eine Einzelmusiktherapie durchzuführen. Sie sitzt in ihrem Zimmer am Tisch. Von den Pflegekräften weiß ich, dass sie bereits seit zwei Stunden beim Frühstücken ist. Sie erinnert sich an mein Gesicht und lächelt mich an. Sie fragt mich, wie es meinen Kindern gehe und ob zuhause alles in Ordnung sei. Wie jede Woche erinnere ich sie mit meiner Art und meinem Auftreten an ihren Sohn. Aufgrund der räumlichen Entfernung kann dieser nur einmal im Monat seine Mutter im Pflegeheim besuchen. Ich weise sie nicht auf ihre Verwechslung hin und antworte: „Zuhause ist alles gut. Aber viel wichtiger ist die Frage, wie es dir geht.“ Sie erzählt mir, dass sich ihr Ehemann Richard schon so lange nicht mehr gemeldet hat, aber heute Abend von der Arbeit wieder nach Hause kommen wird – ihr Mann ist vor acht Jahren verstorben. Weiter beschwert sie sich über die vielen fremden Leute, die in „ihrem Haus“ (dem Pflegeheim) umherlaufen. Sie sei noch sehr wohl selbst in der Lage, zu putzen und die Wäsche zu machen! Ich gehe im Gespräch wieder zurück zu ihrem Ehemann und erinnere sie daran, wie gerne sie doch zusammen gesungen haben. Ich nehme meine Gitarre und wir singen unser Begrüßungslied „Kein schöner Land in dieser Zeit“ …

3.1.2 Der depressiv Erkrankte

Depressive Erkrankungen gehören auch in hohem Alter zu den häufigsten psychischen Störungen und treten bei geriatrischen Patienten verstärkt auf. Insbesondere scheint auch eine hohe Komorbidität mit koronaren Herzerkrankungen und Diabetes mellitus zu bestehen. Weiterhin wird häufig festgestellt, dass auf einen Schlaganfall oder Herzinfarkt eine Depression folgt. Da sich die Symptome demenzieller Erkrankungen teilweise mit denen depressiver Erkrankungen überschneiden, ist eine klare Abgrenzung häufig schwierig (Robert Koch-Institut, 2010).

Zu den Symptomen einer depressiven Episode (F32.-) gehören neben einer gedrückten Stimmung die Verminderung von Antrieb, Aktivität, Appetit, der Fähigkeit zu Freude, Interesse und Konzentration. Müdigkeit kann selbst nach kleinen Anstrengungen auftreten. Es liegen meist Schlafstörungen (z. B. Ein- und Durchschlafstörungen, Früherwachen) vor, und fast immer eine Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls und des Selbstvertrauens. Betroffene sind wenig schwingungsfähig oder zeigen sich manchmal auch agitiert (DIMDI, 2018).

Zu den Besonderheiten der sog. Altersdepression gehört, dass bei älteren Menschen häufig gesundheitsbezogene Probleme im Erleben der Betroffenen im Vordergrund stehen bzw. die depressiven Symptome von körperlichen Beschwerden überlagert sind. Unspezifische Symptome wie Schwindel, Kopf- oder Rückenschmerzen überwiegen, während die typische Stimmungsveränderung meist schleichend im Hintergrund erfolgt oder als Folge der körperlichen Beschwerden verkannt wird. Im Alter deutlicher auftretende Sprech- und Denkhemmungen werden häufig als erste Anzeichen einer Altersdemenz von den Betroffenen ängstlich abgewehrt oder verschwiegen. Auch tun sich ältere Menschen aufgrund ihrer Sozialisation schwerer, psychische Erkrankungen als eigenständige Erkrankungen wahrzunehmen und zu akzeptieren, d. h. auch darüber zu sprechen. Ältere Menschen haben ja z. T. noch erlebt, dass zur Zeit des Nationalsozialismus psychisch Kranke als „lebensunwert“ abgestempelt, sterilisiert oder ermordet wurden, oftmals wurde das Thema auch ängstlich tabuisiert. So bleibt die Depression häufig unerkannt und unbehandelt.

Erst im weiteren Verlauf werden die psychischen Veränderungen deutlicher: Liebgewonnene Aktivitäten oder Kontakte werden unwichtiger, die Stimmung ist über längere Zeit gedrückt, übliche Möglichkeiten der Aufheiterung scheitern, die Betroffenen ziehen sich weiter zurück und wollen ihre vier Wände nicht mehr verlassen. Bei Männern zeigen sich depressive Symptome nicht selten durch vermehrte Reizbarkeit, Aggressivität bzw. Ärger- oder Wutanfälle, vermehrtes Suchtverhalten, Feindseligkeit und Abweisung auch gegenüber geliebten Menschen. Der soziale Rückzug begünstigt das Kreisen um körperliche Beschwerden, die eigene Nutzlosigkeit und erlebte Verluste. Dies wiederum verstärkt negative Gedankenschleifen, die durch fehlende Aktivität und das Gefühl der eigenen Wertlosigkeit Schlaflosigkeit begünstigen. Antriebs- und Lustlosigkeit, Gleichgültigkeit gegenüber Menschen und Umgebung, emotionale Abstumpfung und das Nachdenken über den Tod werden im sozialen Umfeld nicht selten als alterstypische Veränderungen fehlinterpretiert („das ist halt so im Alter“).

Problematisch bei depressiven Erkrankungen ist die Gefahr von Suiziden. Die Anzahl der Suizide nimmt auch mit steigendem Alter weiter zu: 42 % aller Suizide werden von Menschen über 65 Jahren verübt (Statistisches Bundesamt, 2017), wobei die „stillen“ oder „verdeckten“ Suizide (z. B. durch Verweigerung der Nahrungsaufnahme oder Unterlassen von notwendiger Medikamenteneinnahme) zu einer hohen Dunkelziffer beitragen.

 BEISPIEL 

Herr Gustav sitzt alleine an seinem Tisch im Gemeinschaftsraum des Pflegeheimes. Vereinzelt sitzen noch weitere Bewohner an den Tischen im Raum. Keiner spricht. Ich freue mich schon auf das Singangebot im Gemeinschaftsraum und setze mich neben Herrn Gustav. Seit dem Tod seiner Frau vor drei Jahren bleibt er lieber für sich und meidet soziale Kontakte. Er wohnt seit vier Wochen in der Einrichtung. Die Entscheidung seiner Kinder kann er nicht nachvollziehen. Er fühlt sich ins Pflegeheim abgeschoben. Die Hoffnung seiner Kinder, dass die Lebendigkeit und Fröhlichkeit des Vaters wieder zurückkehrt, hat sich bisher noch nicht erfüllt. Wenn Herr Gustav spricht, ist seine Sprache sehr monoton und abgehackt. Er kann sich an den vielen Angeboten zur Beschäftigung nicht erfreuen. Die meiste Zeit des Tages verbringt er an seinem Platz im Gemeinschaftsraum und schaut starr auf den Tisch. Herr Gustav leidet an einer sogenannten Altersdepression.

3.1.3 Der Parkinson-Erkrankte

Zu den Hauptsymptomen der Erkrankung gehören, neben Bradykinese (Bewegungsverlangsamung) oder Akinese (Bewegungsblockade) auch Tremor (unwillkürliches Zittern), Rigor (Bewegungssteifigkeit) und posturale Instabilität (Störung der Halte- und Stellreflexe bzw. Instabilität in der Körperhaltung). Außerdem können diverse nicht-motorische Begleitsymptome wie Verschlechterung des Geruchssinns, Schlafstörung, depressive Verstimmung, diffuse Schmerzen auftreten (Braak et al., 2004; Chaudhuri et al., 2006; Parkinson aktuell, 2019).

Verlaufsformen und Schweregrade

Die Parkinson-Erkrankung beginnt schleichend mit einer Verschlechterung des Riechvermögens und schmerzhaften, überwiegend einseitigen Muskelverspannungen im Schulter-Arm-Bereich, sowie Abgeschlagenheit, plötzlichen Schweißausbrüchen, innerer Unruhe und Schlafstörungen, typischerweise einhergehend mit heftigen Bewegungen der Arme oder Beine im Schlaf.

Im weiteren Verlauf werden erste, diskrete Bewegungsstörungen deutlich: Die Betroffenen haben Schwierigkeiten bei feinmotorischen Alltagstätigkeiten wie Knöpfen oder Schreiben. Mehrere Bewegungen aufeinander abzustimmen scheint zunehmend schwer zu fallen. Unbemerkt verändert sich das Gangbild, wird kleinschrittiger, nach vorne gebeugt und die Arme schwingen (oft einseitig) beim Gehen weniger mit. Bisweilen zittern die Hände in Ruhe (Ruhetremor), auch die Handschrift wird unleserlicher und kleiner. In diesem Stadium erleben sich die Betroffenen stark verunsichert, sie versuchen die Symptome vor sich und/oder Angehörigen zu verbergen oder abzutun. Der zunehmende Kontrollverlust aber gewinnt über alle angestrengten Kompensationsversuche die Überhand, was zu Scham, Verzweiflung und Rückzug führen kann. Das Erleben der Betroffenen wird von der Umwelt oft nicht deutlich wahrgenommen, da als Folge der Erkrankung auch die Gesichtsmimik beeinträchtigt ist (Maskengesicht) und die Stimme leiser wird.

wie ein Zahnrad