Das weiße Haus

Roman

Tell me the tales,
that to me were so dear,
long, long ago –
long, long ago.

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Tage der Kindheit, euch will ich zurückrufen, Zeiten ohne Schuld, freundliche Zeiten, eurer will ich gern gedenken.

Meiner Mutter leichte Schritte werden durch helle Stuben klingen, und Menschen, die jetzt unter der Last des Lebens ergraut sind, werden lachen wie einst, als sie ihr Schicksal nicht kannten. Die Toten sollen wieder mit sanften Stimmen reden, und alte Lieder werden sich in den Chor der Erinnerungen mischen.

Doch auch bittere Worte werden erklingen, herbe Worte, wie Menschen sie sprechen, welche die harte Abrechnung mit dem schweren Leben kennen.

Tell me the tales,
that to me were so dear,
long, long ago,
long, long ago.

Es war daheim in der Dämmerstunde.

Draußen senkte sich sacht Schleier auf Schleier über den leuchtenden Schnee. Die Gebäude verdämmerten, die großen Pappeln verschwanden. Nur Jens, der Stallknecht, schlich mit seiner Laterne drüben bei den Ställen umher.

Drinnen saßen wir Kinder im Kreise auf Schemeln. Die Stube war groß, die Ecken fern. Vielleicht versteckten wir nur deshalb den Kopf hinter einer Gardine, weil es drinnen so dunkel war.

Mutters Stimme klang so zart, die Saiten des Klaviers tönten mehr wie eine Harfe:

Tell me the tales,
that to me were so dear,
long, long ago,
long, long ago.

Der Gesang verstummte. Man hörte keinen Laut. William, der der Mutter am nächsten saß, war auf seinem Schemel eingeschlafen.

»Mutter, sing weiter.«

Über die weißen Tasten fiel ein schwacher Lichtschein, glitt über alle Möbel und verschwand. Jens, der Stallknecht, trabte leise an den Fenstern vorbei mit seiner Laterne.

»Mutter, sing weiter.«

Eine Tür wird aufgemacht, ganz vorsichtig. Das war Vaters Tür.

Herr Peter grub wohl Runen in den Steg,
Dort, wo Klein Hellen oft nahm ihren Weg.
Drauf lichtet er den Anker,
Dem Winde durft er trau'n,
Er segelte von Dänemark
Und von den dänschen Frau'n.

Schöne Worte
Rühren manches Herz,
Schöne Worte
Brachten mir viel Schmerz,
Schöne Worte.

Alles ist still. Wie einen Schatten, fein und schlank, sehen wir die Mutter dasitzen. Wenn der Schatten schweigt, hört man die große Uhr.

Schöne Worte
Rühren manches Herz,
Schöne Worte
Brachten mir viel Schmerz,
Schöne Worte.

Draußen wird behutsam eine Tür aufgeklinkt. Es sind die Mädchen, die zuhören wollen. Um das Licht geschart, das im Messingleuchter auf dem Küchentisch steht, hören sie zu, wenn die Frau singt.

Der Großknecht schleicht herein. Die Holzpantoffel hat er vorsichtig ausgezogen und lehnt sich an den Türpfosten neben dem Wassereimer.

»Kinder.«

»Ja, Mutter.«

»Singt mit.«

Mutter erhebt die Stimme, schlägt die zitternden Tasten etwas kräftiger an und setzt wieder ein.

Herrlich ist die Erde,
Prächtig Gottes Himmel,
Schön ist der Seelen Pilgrimsgang.

Etwas ängstlich vor dem Dunkel kommen aus den Ecken die Stimmen der Kinder durch die Finsternis, geführt von der Stimme der Mutter.

Hin durch die weiten Reiche der Erde
Gehn wir zum Paradies mit Gesang.

Draußen in der Küche sitzen die Mädchen noch immer still um das brennende Licht.

Die Männer-Marie wischt mit dem Rücken der schwieligen Hand eine Träne fort

»Den Psalm,« sagt sie, »will die Frau sich vorsingen lassen, wenn sie einmal sterben muß.«

Alles ist still. Nur die große Uhr an der Tür spricht.

Da sagt aus seiner Ecke einer von den Knaben leise:

»Mutter, sing nochmal das Lied, das ich nicht verstehe.«

Der Mutter Schatten schweigt noch. Dann ertönen abermals – aber schwächer – die harfengleichen Töne:

Tell me the tales,
that to me were so dear,
long, long ago,
long, long ago.

Tage der Kindheit, euch will ich zurückrufen – ihr holden Zeiten ohne Schuld, da mein Herz froh war. Ihr Tage voll Zartheit, da die Tränen linde waren.

Tage der Kindheit, als die Mutter lebte. – Ich weiß noch einen Tag, als wir Brombeeren sammelten, Mutter, wir Kinder und Tine aus der Schule.

Es waren so viele Beeren da, und die Ranken waren so schön. Hinunter in die Gräben, ging es und an den Hecken liefen wir entlang. Wir Kinder blieben an den Ranken hängen und kreischten. Unsere Gesichter waren schmutzig, daß wir aussahen wie die Schmiedbuben.

»Sieh einer den Jungen an, sieh einer den Jungen an!« rief die Mutter.

Tine aber hatte eine mächtige Ranke ergriffen, die reich voll dunkler Beeren prangte, und warf sie schnell der Mutter um die Schultern.

»Ach, Sie entzückende Frau,« sagte sie.

Die Mutter stand an der Hecke, die Ranke hing ihr auf die Brust herab. Hoch gegen den leuchtenden Himmel.

Tage der Kindheit, euch will ich zurückrufen.

Es war ein weißes Haus, und in dem Hause waren die Tapeten hell.

Alle Türen standen offen, auch im Winter, wenn mit Holz geheizt wurde.

Zwischen den Mahagonimöbeln standen Marmortische und auch weiße Konsolen, die von Augustenburg, vom Schloß, herübergekommen waren, als dort Auktion abgehalten wurde. Um die alten Porträte waren Immortellen gewunden, und es waren viele Efeupflanzen da, denn die Mutter liebte es, wenn der Efeu sich an einer hellen Wand emporrankte.

Die Gartenstube war so weiß, daß sie förmlich glänzte.

Die Kinder liebten diese Stube, vor allem aber die Gartentreppe, auf deren weißgestrichenem Geländer sie hinunterrutschten.

»Kinder, Kinder!« rief die Mutter, »lehnt euch ja nicht an das Geländer.«

»Um Gottes willen,« sagte sie zu Tine, der Lehrerstochter, »es endet eines schönen Tages damit, daß sie sich den Hals brechen. Wir schicken doch auch nie zum Tischler.«

Das Geländer war wackelig und wurde nie zurechtgemacht.

Aber die Gartentür wurde früh im Herbst geschlossen, der Riegel vorgeschoben und die grünen Gardinen über die weißen gehängt, damit es gemütlich wurde. Denn die Mutter liebte den Garten und die große Allee nicht, wenn nicht Sonne darüber war, Sonne, die lange schien.

»Gott mag wissen, wie es im Küchengarten aussieht,« sagte sie plötzlich zu Schullehrers Tine, wenn sie nachmittags beim Kaffee saßen.

Sie kam die neun Monate nicht in den Küchengarten.

Er lag weit abseits hinter der Pappelallee und hinter dem Wagentor, und die Kinder durften auch nicht hinlaufen, weil sie dann nasse Füße bekamen. Aber hin und wieder, wenn die Wege ganz aufgeweicht waren und man auf dem ganzen Hofe nicht gründen konnte, dann wollte die Mutter hin und nach dem Garten sehen.

In den Holzpantinen der Männer-Marie und mit hochgeschürzten Röcken zog sie los, über den Hof.

Alle Mädchen standen draußen auf der Treppe, um ihr nachzusehen.

»Kinderchen, Kinderchen!« rief sie; sie machte keine zehn Schritte, ohne mit den Holzpantinen stecken zu bleiben.

Wenn sie wiederkam, mußte sie warme Zwiebäcke zur Stärkung haben.

»Liebes Kind,« sagte sie zur Lehrerstochter, »daß die Leute im Winter nicht in der Stube bleiben.«

Die Kinder spielten auf dem Teppich. Er war rot und grau, mit vielen großen Feldern. Die Felder waren Königreiche, über die die Kinder herrschten, und um die sie kämpften. Sie zankten sich und vergossen Tränen. Sie verbarrikadierten ihre Königreiche mit den Möbeln. Die ganze Wohnstube sah aus wie Babylon im Aufruhr.

»Was die Kinder doch für einen Lärm machen,« sagte die Mutter zur Mamsell (sie stiftete sie aber selber dazu an).

»So, so, jetzt verliert Nina wieder die Mamelucken!«

Mit den Mamelucken war immer etwas los. Bald zerknitterten sie, und bald gingen sie im Kampf um die Königreiche verloren.

Vor den Fenstern lag der Schnee. Der Großknecht, der Knecht und der Kuhhirt versahen ihre Hantierung. Langsam und bedächtig gingen sie zwischen Ställen und Scheune hin und her.

Wenn die Stalltür geöffnet wurde, hörte man die Kühe brüllen.

»Mutter,« sagte Nina, »da brüllt Williams Kuh.«

Aber es konnte auch passieren – wenn der Vater aus war –, daß die Mutter den Kuhhirten bat, alle Kühe »nur einen Augenblick« in den weißen Hof hinauszulassen. Und nun sprangen sie alle vierzehn, die roten, die weißen und die scheckigen, im Schnee herum, während die Kinder juchzten.

»Macht die Zauntür zu, macht die Zauntür zu!« rief die Mutter. Sie lachte am lautesten, mitten auf der Treppe stehend. Aber in eine von den scheckigen war der Teufel gefahren.

»O, wie die springt,« sagte die Mutter.

Sie rannte so weit, den Schwanz steil in die Luft, daß sie erst oben beim Dorfschulzen eingefangen wurde.

Wenn der Vater nach Hause kam, war die Stalltür geschlossen, und der Hof lag wieder ruhig da wie früher.

Die Mutter aber hatte Zahnschmerzen bekommen, weil sie mit bloßem Kopf auf der Treppe gestanden hatte.

Tine mußte geholt werden.

Tine mußte fortwährend geholt werden. Tine kam, den Kleiderrock über dem Kopf zusammengeschlagen.

»Gott, was Sie für eine Kälte mitbringen,« sagte die Mutter, die immer fröstelte, sobald nur eine Tür ging.

»Tine, ich habe Zahnweh,« sagte sie.

Der Toilettenspiegel mußte mitten auf einen großen Tisch gestellt werden, und es mußte mit kleinen Zweigen von einem Busch, der im Garten des Lehrers wuchs, geräuchert werden. Alle Kinder, Tine und die Mamsell standen herum.

Das ganze Schlafzimmer war in Qualm gehüllt, während die Mutter den geöffneten Mund über die rauchenden Zweige hielt.

»Tine, Tine, jetzt!« rief die Mutter.

Tine sollte mit einer Haarnadel in die Zähne hineinstechen.

»Da ist er, da ist er!« rief die Mutter.

»Seht den Wurm!«

Tine hatte sich angestrengt, und es fiel ein Stück Email vor dem Toilettenspiegel nieder.

Die Mutter glaubte unerschütterlich, es sei ein Wurm, und wenn drei bis vier Würmer herausgekommen waren, hatte sie nie mehr Zahnweh.

Tine war aber die einzige, die sie herausstochern konnte. Sie stocherte sie gewissenhaft aus allen Zähnen der Kinder heraus.

»Lieber Fritz,« sagte die Mutter zum Vater, der Einwendungen machte, »ich sehe doch die Würmer mit diesen meinen beiden Augen. Aber es muß mit Karböllings Busch geräuchert werden.«

Der Kreisarzt in Sonderburg sagte, der Rauch vom Busch des Lehrers sei sehr giftig.

Ein Zahnwehprozeß konnte gut einen halben Nachmittag ausfüllen, bis die Dämmerung hereinbrach.

In der Dämmerung war es herrlich im Waschhaus. Der warme Dampf füllte den ganzen Raum, und das Feuer unter dem Kessel sah aus wie ein großes, rotes Auge. Die Mädchen klopften das gewaschene Zeug mit Hölzern, daß es nur so schallte. Die Mutter saß auf einem Dreifuß mitten im Lärm.

Nirgendwann und nirgendwo ging den Mädchen das Mundwerk so wie im Waschhaus.

Der ganze Dorfklatsch strömte zur Tür herein.

Die Mutter konnte auf ihrem Dreifuß stundenlang zuhören, bis sie plötzlich wieder in die Stube zurücklief.

Und unweigerlich sagte sie nach solchen Stunden im Waschhause: »Gott im Himmel, was solche Leute für Ideen haben.«

Und es war, als schöbe sie mit ihren schönen Händen etwas von sich weg.

»Daß Sie das alles mit anhören mögen!« sagte Tine.

»Ja, sie sehen so drollig aus,« sagte die Mutter und machte den Mädchen alles nach.

Sie konnte jeden einzigen Menschen imitieren, der ins Haus kam.

Aber meistens blieb sie während der Dämmerung in der Wohnstube. Dort sang sie. Es gab aber auch Dämmerstunden, in denen sie im hohen Rohrsessel auf dem Fenstertritt sitzen blieb, die Hände im Schoß.

Dann sprach sie leise in die stille Stube hinein.

Sie sprach am liebsten davon, wie es sein würde, wenn sie alt wäre und graues Haar bekäme, ganz graues Haar.

Und wenn sie Witwe wäre, und alle ihre Kinder erwachsen, und sie arm.

»Furchtbar arm,« sagte sie.

Dann könnte abends nichts auf den Tisch kommen als Butter und Käse in der alten kristallenen Käseglocke.

»Die Butter muß aber gut sein,« sagte sie. Und sie malte sich aus, wie weiß das Tischtuch sein sollte, und wie die Kinder alle von ihrer Arbeit kommen und am Tisch bei ihr den Tee trinken sollten, bei ihr, die grau und still und alt dasaß und arm war. Denn die Armut war für sie eine Art träumerischer Sorglosigkeit.

Sie hatte wohl nie andere »Arme« gesehen als die in den kleinen weißgetünchten Häusern an der Dorfstraße.

Wenn der Tee getrunken war und der Vater fort, kamen die besten Stunden. Das war die Zeit, wo die Puppen hervorgeholt wurden. Der Speisetisch wurde ausgezogen, wie zu einer Gesellschaft, und die Mutter thronte mitten unter all ihren Pappschachteln, in denen die Puppen aufbewahrt wurden.

Jetzt, jetzt durften sie herausgeholt werden, denn jetzt war Vater aus.

Und dann kamen sie hervor zu Hunderten. Es waren Figuren aus Modejournalen, auf hölzerne Klötze geklebt. Jede hatte einen Namen, der auf die Rückseite geschrieben war, jede war etwas – alle wurden sie aufgestellt, über den ganzen Tisch hin. Und die Komödie begann, während die Mutter dirigierte.

Die Puppen gaben Gesellschaften und machten Visiten.

Sie plauderten, sie machten Knixe und Bücklinge. Die Mutter wurde rot vor Anstrengung, und sie rückte herum und leitete alles, die Arme weit über den Tisch ausgestreckt.

Die Kinder hatten auch ihre Puppen und die Mamsell ebenfalls. Aber nie gingen die Papierpuppen der Mutter nach Wunsch, und sie redete für alle.

»Jungfer Jespersen, Jungfer Jespersen, Sie vergessen Fräulein Lövenskjold.«

»Fräulein Lövenskjold« war stehen geblieben, und sie sollte sich bewegen. Für die Mutter waren es nicht Puppen. Für die Mutter waren es Menschen. Sie sprachen und mimten und sangen. Sie spielten hundert Komödien. Bald in einem Badeort und bald in Paris.

Die Kinder sahen zu, als zöge die ganze Welt, vornehm und fein, vor ihnen auf dem Tisch vorbei.

Die Mädchen kamen herein. Sie mochten so gern zuhören. Sie verstanden kein Wort, aber sie standen kerzengerade da, die Hände unter den Schürzen, und hörten zu. Wenn mit den Puppen etwas Trauriges passierte, weinten sie. Aber mitten in der Komödie sprang die Mutter auf, und die Puppen wurden durcheinandergeworfen – in die Schürzen, in die Schachteln. Der Vater kam nach Hause.

»Den Tisch zusammenklappen, den Tisch zusammenklappen!« Mägde und Kinder kriegten es eilig. Die Mutter selber ließ vor Schreck alles liegen.

»Gott, daß die Kinder auch noch auf sind,« sagte sie. Und die Kinder kamen Hals über Kopf ins Bett. Die Mutter aber saß mitten auf dem Sofa zwischen den beiden Mahagonischränken und war so erschrocken, daß sie Eingemachtes und Zwieback haben mußte ...

Sie kostümierte auch die Mägde.

Es war an einem Abend, als sie mit den Kindern allein zu Hause war.

Da wurde draußen laut an das Hoftor geklopft, und die Mamsell mußte hinausgehen und aufmachen und kam schreiend zurück.

»Ein Landstreicher ... Ein Landstreicher ...«

Und der Landstreicher kam in die Stube herein, während die Mutter am lautesten schrie. Häßlich war er anzusehen, und die Kinder kreischten. Plötzlich aber entdeckt einer der Jungens, daß es »die große Marie« ist.

»Mutter, es ist die große Marie!« schreit er. Aber im selben Augenblick flüstert die Mutter der Marie zu:

»Gib Nina eins an die Ohren.«

Und Nina kriegte von Maries Fäusten eine Ohrfeige, daß es nur so klatschte.

Da glaubten die Kinder, es müsse ein Landstreicher sein.

Hinterher aber bot die Mutter der Männer-Marie einen Schnaps an, und den mußte sie austrinken, denn jetzt war sie ja eine richtige Mannsperson.