Für Sigi

Die Deutsche Bibliothek – CIP-Titelaufnahme

Becker, Michael

Ein Spaziergang durch Physik und Kunst

Michael Becker

1. Auflage 2014

Einheitssacht.: Physik und Kunst <dt.>

ISBN 978-3-7357-0490-0

© 2014 Michael Becker

Herstellung und Verlag:

BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 9783735704900

Printed in Germany

Vorwort

Quantentheorie und Relativitätstheorie sind Meilensteine der theoretischen Physik. Sie beschreiben eine Welt, die unsere Alltagserfahrungen radikal in Frage stellt. Gerade für die Kunst, deren Ziel es ist, das Gewohnte und Vertraute in eine produktive Krise zu versetzen, bieten sie eine schier unerschöpfliche Inspirationsquelle.

Ein Wissenschaftler und ein Künstler unternehmen gemeinsam einen ausgedehnten Spaziergang durch die Natur. In ihren angeregten Gesprächen, die sie Zeit und Raum vergessen lassen, entdecken sie nach und nach erstaunliche strukturelle Parallelen zwischen den Gesetzen der Physik und der Kunst. Sie tauchen gemeinsam in die Welt der subatomaren Teilchen sowie der überdimensionalen kosmischen Zusammenhänge ein und staunen nicht schlecht über das kleine und große Universum als einer einzigen Symphonie aus Schwingungen und geistigen Klangformationen.

Was haben ein Atom und die Gesetze der Komposition gemein? Was verbindet die unglaublichen Eigenschaften der Suprafluidität mit den Werken eines Mark Rothko? Inwieweit kann die Unschärferelation Heisenbergs zu einer Methode der künstlerischen Forschung avancieren? Was haben Farbklänge mit den Erkenntnissen der Spektroskopie zu tun? Inwieweit kann Schwingung nicht nur materielle, sondern auch geistige Gegenstände erzeugen? Welche Parallelen bestehen zwischen Resonanz und bildnerischem Klang? Welche kunstrelevanten Erkenntnisse lassen sich aus der Vorstellung eines symmetrischen Urzustands des Universums ableiten? Worin besteht die Äquivalenz zwischen Energie und Materie in der Kunst? Vermag Kunst die Gesetze der Thermodynamik aus den Angeln zu heben? Was bedeutet Spannung für die Kunst? Inwieweit ist der Goldene Schnitt ein Instrument der Welterkenntnis? Warum sind die Gesetze der Quantenvers chränkung für die Kunst eigentlich nichts Ungewöhnliches? In welcher Hinsicht bestimmen Winkelverhältnisse die Struktur unseres materiellen und geistigen Lebens? Farbe als „Wirk“? Was hat das Pauli-Prinzip mit den Kompositionen eines Györgi Ligetis zu tun? Was vereinigt chemische und visuelle Bindungskräfte? Wie könnte eine Relativitätstheorie der Komposition aussehen? Welche Rolle spielt die Schwerkraft für die Kunst? Warum führt uns das Zwillings-Paradoxon Einsteins zu M.C. Escher und Josef Albers? Was bedeutet Trägheit für die Kunst? Was könnte eine Roche-Grenze der Kunst bedeuten? Wie könnte eine Kunst aussehen, die sich an den Gesetzen der Raumzeitkrümmung orientierte? Inwieweit ist ein Neutronenstern eine kubistische Realität? Fragen über Fragen, die heiß diskutiert werden.

Der Leser erfährt die Erkenntnisse der theoretischen Physik sowie der Kunsttheorie nicht als reines Faktenwissen, sondern als Bildungsgut, das neue Perspektiven des Denkens eröffnet. Dieses Buch richtet sich daher an alle, die bereit sind, transdisziplinäre Brücken zu schlagen, auf denen man zu Einsichten gelangt, die die spezialisierten Fächer für sich nicht bieten können, die aber zugleich eine offenkundige gemeinsame wissenschaftliche Basis besitzen.

Ich bedanke mich herzlich bei Prof. Dr. phil. Erich Gruber für seine fachliche Unterstützung. Durch ihn konnte ich vertiefende Einsichten in die außergewöhnliche und inspirierende Welt der Physik gewinnen.

Zum Autor

Michael Becker (Dipl.-Soz.) (geb. 1972) studierte an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt Soziologie, Philosophie, Kunstgeschichte, Psychoanalyse sowie parallel dazu Kunst an der Wiesbadener Freien Kunstschule, die 1972 von seinem Vater gegründet wurde und die er seit 1998 in leitender Funktion übernahm. Seine Dissertation entwickelt eine Konstitutionstheorie kunstpädagogischer Professionalität. Bis heute setzt er sich für eine intensive Grundlagenausbildung auf dem Sektor der bildenden Kunst ein. Folgende Bücher sind von Michael Becker im Buchhandel erhältlich: „Eine universelle Kompositionslehre“, „Methode der objektiven Werkanalyse“, „Subjektive Hermeneutik“, „Krise und Klang“.

Inhaltsverzeichnis

Aufbruch

W: Komm, mein Freund, lass uns spazieren gehen! Der heutige Morgen ist sehr vielversprechend, die Luft ist so angenehm, und meinen Mantel brauche ich sicherlich auch nicht mehr anzuziehen. Da fühlt man sich gleich viel befreiter! Das sind doch wirklich die besten Voraussetzungen für eine angeregte Diskussion.

K: Ja, gerne! Du weißt, ich genieße unsere Unterhaltungen. Hast du denn eine bestimmte Route im Sinn? Oder wollen wir es wieder drauf ankommen las sen?

W: Wir lassen es mal wieder drauf ankommen! Neue Wege im Leben führen zu neuen Wegen im Kopf! Zumindest wird man dem Neuen gegenüber aufgeschlossener, und am Ende ist man froh, etwas Anderes ausprobiert zu haben. Egal, wohin es letztlich führt. Das, was auf jeden Fall einmal zurückbleibt, ist dieses Moment von Frische, von Wagnis. Ich wünschte, ich könnte diese Erfahrungen noch stärker in meine Arbeit einbauen!

K: Ja, du hast recht. Selbst so etwas Banales wie das Ausprobieren neuer Wanderwege kann das Denken insgesamt befreien oder zumindest den Anstoß für neue Überlegungen geben. Seltsam und aufregend zugleich, dass das Leben immer irgendwie frische Impulse braucht!

W: Das musst du als Künstler ja nun wirklich am besten wissen! Schließlich lebt deine Profession von neuen Impulsen, ohne sie wäre sie aufgeschmissen.

K: Ja, aber so geht es uns doch letztlich allen. Wenn du immer nur deine physikalischen Formeln herunterbeten und dich nur an das halten würdest, was dir vorgeschrieben wird, dann würdest du ja nie zu neuen Erkenntnissen gelangen können

Neue Erkenntnisse

W: Pah, sind es denn wirklich neue Erkenntnisse, die wir Wissenschaftler erzeugen? Oder sind es nicht einfach immer nur neue Glaubenssätze, neue gedankliche Konstruktionen, die mit der Wahrheit nicht sehr viel zu tun haben!?

K Zweifelst du etwa an deinen eigenen Fähigkeiten?

W: Ich glaube, das hat nichts mit Fähigkeiten zu tun. Denke dir einfach einmal den klügsten und genialsten Wissenschaftler, den du dir vorstellen kannst, also jemanden, der unglaubliche geistige Fähigkeiten besitzt. Dir dürfte er so vorkommen, als hätte er die Wahrheit über uns, unsere Welt, unser Universum tatsächlich in Händen. Und doch ist auch er nur ein Mensch, der unsere Welt mit den Augen und dem Verstand eines Menschen sieht und versteht, und daher wird auch seine Theorie eine Theorie eines Menschen sein, der versucht, ein klein wenig Licht ins unbekannte Dunkle zu bringen.

Das menschliche Licht

K: Wenn ich dich nun aber richtig verstehe, dann ist dieses Licht, das Licht in dieses ominöse unbekannte Dunkle bringen soll, nur ein menschliches Licht, also nicht ein objektives Licht, sondern nur ein Licht eines Menschen, dem gar keine andere Lichtquelle zur Verfügung steht!

W: So ist es, wir können alles immer nur auf unsere menschliche Weise sehen und verstehen.

K: Das klingt mir zu sehr nach Gefängnis! Dann muss uns ja die Welt immer fremd bleiben, selbst wenn wir das Gefühl haben, etwas an ihr erkannt zu haben Sind wir denn wirklich so klein und begrenzt? Ist es denn aber nicht gerade die Aufgabe eines Künstlers, diese Grenzen des menschlichen Verstandes zu sprengen? Wäre es nicht ungemein kleinkariert, sich mit dem zu bescheiden, das uns erkenntnismäßig zur Verfügung steht?

Jenseits der Grenzen

W: Nun, ich verstehe ja, dass ihr Künstler ein Problem damit habt, feststehende Grenzen zu akzeptieren. Und das ist ja gerade die Frische, die ich an euren Werken so schätze. Uns Wissenschaftlern geht es aber doch genauso, wir sitzen quasi im selben Boot. Uns fällt es genauso schwer, Grenzen zu akzeptieren. Ich denke, es ist überhaupt das Bedürfnis jedes Menschen zu erfahren, was jenseits seiner Grenzen liegt. Doch hier muss man meines Erachtens klar unterscheiden, man kann nämlich den Begriff Grenze unterschiedlich definieren.

K: Du meinst sicherlich einerseits die Grenze, die wir niemals überschreiten können und andererseits die Grenze, die wir durchaus in der Lage sind zu transzendieren!

W: Ja, genau. Ich denke, diese beiden unterschiedlichen Auffassungen von Grenze sollten einem immer klar bleiben. Denn dann eröffnen sich auf einmal ganz neue Chancen. Zu dem Ding an sich eines Kant werden wir niemals gelangen können, aber innerhalb der Grenzen unseres Verstandes, unseres Kategoriensystems eröffnen sich auf einmal ungeahnte Möglichkeiten.

K: Klingt vernünftig, diese Abgrenzung – im wahrsten Sinne. Aber warum sollte sich ein Künstler damit zufrieden geben? Warum sollte er innerhalb seiner Möglichkeiten und Begrenzungen verharren, nur weil es vernünftig wäre!? Mag ja sein, dass ihr Wissenschaftler an das Ding an sich nicht herankommen werdet, weil es einfach nicht geht. Aber der Künstler versucht es wenigstens. Er gibt nicht auf, an diese Unmöglichkeiten zu glauben und diese dann eben auch umzusetzen.

W: Und was wäre, wenn ich dir sage, dass wir das im Grunde gar nicht nötig haben, dass die Suche nach dem Ding an sich eher wie eine Flucht anmutet, eine Flucht vor den eigentlichen Erkenntnisproblemen und -herausforderungen, denen wir uns heute gegenübersehen. Wie du sehr wahrscheinlich schon gehört hast, gibt es in der Physik so unglaubliche Phänomene, die wirkliche Bestandteile unserer Welt zu sein scheinen, dass man sie nicht einfach in das Gebiet des unerkennbaren Ding an sich verbannen kann.

Mit bloßem Auge

K: Worauf willst du hinaus? Dass es ein Atom tatsächlich gibt, auch wenn man es nicht mit bloßem Auge sehen kann?

W: So ungefähr jedenfalls. Dein Ansatz mit dem bloßen Auge ist schon nicht schlecht. Immerhin könnte man ja behaupten, dass alles das, was für unsere Augen zu klein ist, um gesehen zu werden, für uns in Wirklichkeit nicht existieren kann. Es ist schlicht und ergreifend zu klein. Doch ist dieses Kleine, das nicht mehr mit bloßem Auge Sichtbare, nur aufgrund seiner Eigenschaft des Kleinseins dazu verurteilt, in das Reich des unerfahrbaren Ding an sich verbannt zu werden?

K: Nun, nein! Klar, es gibt kleine Dinge, die wir zwar mit bloßem Auge nicht mehr sehen können, die wir aber dennoch erfahren können, nämlich indem wir einfach durch ein Mikroskop schauen.

W: Ja, genau. Ich kann also durch Instrumente meine Grenzen des Sehens und Wahmehmens und damit auch Erkennens erweitem. Diese Instrumente werden ja gerade deshalb erfunden und entwickelt, weil wir uns mit unseren natürlichen Grenzen des Sehens und Wahrnehmens nicht begnügen wollen.

K: Ja, das ist interessant, weil unsere natürlich auferlegten Grenzen zunächst einmal gar nicht unbedingt als Begrenzung aufgefasst werden müssten. Denn solange wir unsere Wirklichkeit einfach so hinnehmen, wie wir sie wahrnehmen, also für wahr halten, solange brauchen wir uns nicht um Erfindungen von Instrumenten bemühen, die in der Lage sind, unser natürliches Sehfeld zu erweitern.

W: So gesehen ist es schon recht bemerkenswert, überhaupt auf die Idee oder die reine Vermutung zu kommen, hinter den kleinsten noch sichtbaren Teilchen könnten sich noch kleinere Teilchen verbergen, die wir nicht mehr sehen können.

Existiert das Ding an sich überhaupt?

K: Stimmt! Absolut bemerkenswert! Jetzt frage ich mich aber, welche Rolle das Ding an sich vor der Erfindung des Mikroskops spielt. Solange dieses Instrument, mit dem man noch kleinere Elemente erkennen kann, für den Menschen nicht existiert, müsste man doch im Grunde davon ausgehen, dass das Kleine, nicht mehr mit bloßem Auge Sichtbare, entweder gar nicht existiert oder unserer Wahrnehmung – aufgrund deren Begrenzung – grundsätzlich, kategorisch verschlossen bleibt.

W: Du meinst, ob sich durch die Einführung des Instrumentes, das in der Lage ist, unsere Wahrnehmung zu erweitern, das Problem des Ding an sich erübrigt? Dass es also das Ding an sich gar nicht gibt, dass es also nichts gibt, das wir nicht doch eines Tages erfahren könnten? Wie also ein Baum unabhängig von unseren Erfahrungsmöglichkeiten aussieht? Dass es also irgendwann ein Instrument geben kann, das in der Lage ist, einen Baum darzustellen, wie er wirklich, in Wahrheit, unabhängig von uns, also von unserer Wahrnehmung, ist?

K: Ja, genau! Denn wenn ich in ein Mikroskop hineinsehe, dann sehe ich etwas, das unabhängig von meiner natürlichen Erfahrungsfähigkeit existiert; es existiert nur (für mich), wenn ich das Instrument nutze und hineinsehe.

Verlängerung unserer Erfahrungsfähigkeit

W: Gut, dass du von natürlicher Erfahrungsfähigkeit sprichst, denn durch das Instrument (Mikroskop) wird unsere Erfahrungsmöglichkeit künstlich verlängert und erweitert.

K: Nun, das mag sein, dass man das so definieren kann. Aber ist es denn wirklich so, wie du sagst? Sind denn die künstlichen Instrumente näher an der Wirklichkeit als unsere natürlichen? Was bedeutet denn eine künstliche Verlängerung unserer Erfahrungsmöglichkeiten überhaupt?

W: Nun, hätten wir in unserem Körper ein optisches Sinnesorgan, das so tief in das Kleinste vordringen könnte wie ein Elektronenmikroskop, dann wäre es ja nicht mehr nötig, ein entsprechendes Instrument künstlich herzustellen.

K: Stimmt! Aber selbst dann würde sich der Mensch begrenzt fühlen, denn kleinere Details könnte er dann immer noch nicht erkennen.

W: Man könnte sich also ernsthaft fragen, unter welchen Umständen sich der Mensch nicht mehr begrenzt fühlen würde! Wahrscheinlich dann, wenn er alles sähe und alles wüsste und alles unter seiner Kontrolle hätte.

Die Utopie der Allwissenheit

K: Das klingt nach Utopie. Außerdem müsste es dann auch keine Künstler mehr geben. Das Leben, so wie wir es momentan kennen, wäre sicherlich ein vollkommen anderes. Und wohl auch ein langweiligeres.

W: Uns Wissenschaftler würde es dann auch nicht geben. Denn das Wissen wäre ja bereits da! Es müsste kein neues Wissen geschaffen werden

K: Eine unglaubliche Vorstellung, dass alle möglichen künstlerischen Werke konkrete Wirklichkeit wären! Das Museum, das alle diese Werke beherbergen müsste, wäre unendlich groß. Und man bräuchte unendlich viel Zeit, sie sich anzusehen – aus der Perspektive unserer momentanen Möglichkeiten aus betrachtet.

W: Aber unsere Wirklichkeit und wohl auch unsere Möglichkeiten sind im Gegenteil offensichtlich sehr begrenzt.

K: Dennoch hat unser Geist ein Verlangen nach dieser Idee des Allmächtigen und Unendlichen.

Idee von Gott

W: Ich denke, damit hast Du so etwas wie Gott am Wickel. Anscheinend sind wir nicht das Ebenbild Gottes, sondern wir trachten danach, sein Ebenbild zu werden – ein Projekt, das allerdings zum Scheitern verurteilt ist

K: Das klingt natürlich ziemlich vermessen, aber in der Tat keimt in meiner künstlerischen Tätigkeit diese Idee des Göttlichen immer mal wieder auf: etwas zu erschaffen, das es so in der Form noch nicht gab.

W: Damit sagst du meines Erachtens aus, dass die Idee von Gott eigentlich eine von Menschen erdachte ist. Dass es Gott in diesem Sinne gar nicht gibt, sondern dass unser Denken in seinen Möglichkeiten, aber eben auch in seinen Begrenzungen die Vorstellung von Gott aus sich heraustreibt, als notwendige Konsequenz.

K: Interessant! Vor allem interessant, was sich alles so ergibt, wenn man sich mit dem Thema des Kleinen auseinandersetzt! Man kommt tatsächlich zu dem Gottesbegriff!

W: Wir Physiker werden in unseren Vorstellungen vom Allerkleinsten allerdings stark begrenzt. D.h. für uns gibt es bislang keine Möglichkeit, begründet von einem realen unendlich Kleinen auszugehen.

Was ist ein Faktum?

K: Das ist wohl das Los des Physikers, der sich an die Fakten halten muss. Doch da sind wir ja wieder beim Thema: Was versteht ein Physiker überhaupt unter einem Faktum?

W: Gute Frage! Ich würde sagen, ein Faktum in der Wissenschaft, speziell in der Physik, liegt dann vor, wenn Theorie und Experiment im Einklang stehen. Und vor allem: wenn ich mit und durch das Faktum in der Lage bin, Dinge, Prozesse, Reaktionen, Verhaltensweisen in der Zukunft vorauszusagen. Das Faktum wird quasi zu einem Gesetz, also zu etwas, das gesetzt wird und von dem aus eine bestimmte Zukunft erwartbar wird.

F: Ein Faktum hilft dir also, die Zukunft voraus zu sagen.

W: Richtig! Aber die Erforschung des unendlich Kleinen stößt logischerweise an Grenzen. Es gibt bislang kein experimentelles Verfahren, das in derartige kleine Tiefen vordringen könnte.

K: Das ist selbst für mich nachvollziehbar Dennoch fühle ich mich als Künstler keinesfalls verpflichtet, die Idee des unendlich Kleinen aufzugeben.

W: Wie darf ich das verstehen? Sicherlich ist die Idee eines unendlich Kleinen denkbar, aber ist sie überhaupt noch vorstellbar, geschweige denn künstlerisch realisierbar? Und was würde eine solche Realisierung bringen?

Unendlichkeit

K: Nun, mir ist klar, dass es nicht darum gehen kann, eine derart unvorstellbare Idee direkt künstlerisch, also zum Beispiel malerisch umzusetzen. Wie soll das überhaupt gehen! Wenn ich in zwei Spiegel blicke, die sich direkt gegenüberstehen, dann sehe ich zwar potentiell in die Unendlichkeit direkt hinein, mein Spiegelbild wird immer wieder und weiter hintereinandergestellt, dadurch wird es ja auch immer kleiner, doch irgendwann sind die Abbildungen so klein, dass es für meine Optik nicht mehr weitergehen kann. Irgendwann ist einfach Schluss. Die Darstellbarkeit einer perspektivischen Verjüngung und Verkleinerung ist genauso begrenzt. Irgendwann bin ich beim Kleinstmöglichen angelangt. Und dennoch ist eine solche perspektivische Staffelung überaus faszinierend. Wenn ich es schaffe, auf meinem Bildträger dieses Faszinosum angemessen umzusetzen, bin ich durchaus in der Lage, dem Betrachter zumindest das Gefühl eines Unendlichen zu vermitteln, und das aufgrund der begrenzten Mittel, die mir allein zur Verfügung stehen.

Lichtgeschwindigkeit

W: Nun frage ich dich aber, was die Vermittlung eines solchen Gefühls bringen soll? Einen relevanten Erkenntniswert kann dieses Gefühl meines Erachtens jedenfalls nicht beinhalten. Schließlich taucht nach unserem heutigen Kenntnisstand in unserer physikalisch messbaren oder zumindest erschließbaren Realität nichts, aber auch gar nichts auf, das den Wert von unendlich annehmen würde. Es scheint weder unendlich hohe Temperaturen, Weiten noch Geschwindigkeiten zu geben. Nehmen wir all eine das Beispiel der Geschwindigkeit des Lichts. Früher dachte man in der Tat, Licht sei unendlich schnell. Das lag unter anderem daran, dass zu diesen Zeiten noch keine ausreichend präzisen Messmethoden existierten. Heute weiß jedes Kind, dass auch die Lichtgeschwindigkeit absolut begrenzt ist, obwohl sie schneller als alles Andere im Universum ist. Immerhin bewegt sich das Licht konstant und immer und überall mit einer Geschwindigkeit von circa einer Milliarde Kilometern in der Stunde fort.

K Also im Vergleich zur Vorstellung einer unendlich hohen Geschwindigkeit im Schneckentempo. Arme Natur! Na gut, ich geb’s zu, das ist für unsere Verhältnisse schon ziemlich schnell.

W: In der Tat! Das Licht braucht von der Erde zum Mond und wieder zurück etwas mehr als eine Sekunde, oder eine Sekunde für circa 8 Umrundungen um die Erde. Das sind Werte, die man sich bildhaft gerade noch so vorstellen kann.

K Also, wenn ich schnell genug zähle, kann ich innerhalb einer Sekunde bis zur 8 gelangen. Um mir aber diese 8fache Erdumrundung vorzustellen, muss ich mir schon die Erde von weiter entfernt zu mir denken, als kleine Kugel etwa, die ich überschauen kann. Dann kann ich die 8fache Umrundung des Lichts in meiner Vorstellung starten lassen. Oder aber ich stelle mir im Gegenteil tatsächlich vor, ich würde direkt unten auf der Erde stehen, am besten in einer weiten Landschaft, und 8 Lichtblitze würden nach und nach innerhalb einer Sekunde hinterrücks an mir vorbeisausen, wobei die Lichtstrahlen etwas gekrümmt anmuten sollten, um der Kreisbewegung um die Erde gerecht zu werden.

W: Ja, ihr Künstler habt offensichtlich das Talent, euch Dinge vorzustellen, die man sich eigentlich gar nicht mehr vorstellen kann. Fühlst du dich denn aber jetzt immer noch der Idee des Unendlichen verbunden?

K: Also, wie gesagt: Ich als Künstler muss diese ärmlichen 300.000 Kilometer pro Sekunde als absolute Obergrenze von Geschwindigkeiten nicht akzeptieren. Dennoch sehe ich ein, dass der Betrachter meines Bildes auch noch die Chance haben sollte, tempomäßig mitzuhalten. Wenn es denn überhaupt um Geschwindigkeit in einer solchen künstlenrischen Arbeit gehen soll.

W: Aber wie steht es im Allgemeinen mit dem Begriff des Unendlichen? Welche Aus drucks möglichkeiten gibt es denn dafür in der Kunst?

Das Unendliche

K Nun, um jetzt mal von den objektiven Möglichkeiten auszugehen, würde ich auf jeden Fall den Kreis wählen – zumindest als Ausgangsbasis. Der Kreis ist doch wirklich das perfekte Symbol für Unendlichkeit. Es geht immer und immer weiter, aber dennoch hat man das Gefühl, auf der Stelle zu treten. Der Kreis hat keinen Anfang und kein Ende, und doch oder gerade deswegen ist er gleichzeitig sehr begrenzt, in sich abgeschlossen. In dem Begriff des Unendlichen scheint der Begriff des Endlichen eingeschrieben zu sein, beide setzen sich offensichtlich gegenseitig voraus.

W: Aber dass du mit einem Kreis dein erwartungsfrohes Kunstpublikum hinter dem Ofen hervorlocken wirst, das glaube ich ja nicht. Außerdem ist die Form des Kreises derart bekannt und abgelutscht, dass sich keiner motiviert fühlt, deinem Gedankengang zu folgen.

K: Du hast natürlich vollkommen recht! Die Kunst besteht gerade darin, solche elementaren Gedanken sinnlich und suggestiv bildnerisch zu vermitteln, so dass sie beim Betrachter einschlagen. Wirkung ist alles in der Kunst.

Konzeptkunst

W: Nun, das gilt sicherlich nicht für alle Kunstarten oder -ismen. Soweit ich es beobachten konnte, kümmert sich die Konzeptkunst keinesfalls um eine ästhetische Vermittlung künstlerisch-philosophischer Ideen.

K: Lass mich bloß in Ruhe mit dieser Konzeptkunst! Seit Marcel Duchamp scheint sich der künstlensche Anspruch an sinnlicher, ästhetischer Vermittlung von Kunst davongestohlen zu haben. Am Ende haben wir nur noch halbseidene Philosophen, die nicht einmal mehr wissen, wie man sich professionell die Hände schmutzig macht, die sich aber trotzdem als Künstler ausgeben, und für deren Werke man zusätzliches Personal benötigt, das deren Sinn dahinter erklärt.

W: Bei diesem Thema kommst Du ja richtig in Rage.

K: Weil es mich halt auch tierisch aufregt.

W: Sag mal, blöde Frage, aber weißt Du noch, wo wir sind?

K: Wir waren gerade noch bei der Konzeptkunst

W: Nein, ich meine, wo sind wir? In welche Richtung müssen wir denn?

K: Da haben wir uns also verlaufen. Endlich haben wir genau das erreicht, was wir wollten. Und das schon so kurz nach unserer Abreise.

W: Trotzdem kein schönes Gefühl, wenn man nun gar nicht mehr weiß, wo man ist.

K: Wir sind in der ganzen Zeit nicht aus diesem Wald herausgekommen. Also sind wir zumindest nicht vollkommen orientierungslos, denn unsere Unterkunft befindet sich ja auch in diesem Wald. Er wird sicherlich nicht unendlich groß sein, irgendwann werden wir schon auf ein Feldstück oder ähnliches stoßen.

W: Wie Du meinst. Proviant haben wir ja genügend, und die Sonne steht mittlerweile im Zenit. Warten wir einfach einmal ab, wohin sie sich bewegen wird, dann können wir leichter die Himmelsrichtungen eruieren.

K: Du bist mir ja ein seltsamer Wissenschaftler, ohne Kompass und mit absolut überholten Vorstellungen, als wäre die Erde immer noch der Mittelpunkt der Welt.

W: Wovon du sprechen?

Und sie bewegt sich doch!

K: Du willst abwarten, wie die Sonne sich bewegt, ich dachte seit Galilei wüssten wir, dass sich die Erde um die Sonne dreht.

W: Ach so, ja, nun, selbst für einen Wissenschaftler ist es schwierig, permanent gegen die natürliche Erfahrung und das Offensichtliche anzukämpfen, das sich aus anderer Perspektive ganz klar als falsch herausstellt. Schließlich muss man sich regelrecht zwingen, die Dinge und ihre Verhältnisse umzudrehen und anders zu sehen.

K: Die Wahrheit liegt wohl immer hinter dem Offensichtlichen verborgen.

W: Ist das denn nicht in der Kunst genauso?

K: Aber sicher! Dem Offensichtlichen ist niemals zu trauen, und doch bauen wir darauf, dass der Betrachter des Werkes in die Falle tappt, dass er eben doch glaubt, was er sieht und empfindet. Aber wir müssen ja hier gar nicht von der Kunst und ihren illusorischen Tricks ausgehen. Im Alltag erliegen wir bereits ständig mannigfaltigen Illusionen und halten sie gleichzeitig für unsere letztgültige und einzige Realität. Der Prozess der Wahrnehmung ist dafür verantwortlich zu zeichnen. Jetzt kann man sich natürlich fragen, was eigentlich Realität ist. Ich unterstelle einfach einmal, dass unsere Realität die einzig mögliche ist.

W: Wenn ich also intuitiv, ohne großartig darüber nachzudenken, davon ausgehe, dass sich die Sonne am Firmament entlang bewegt, dass ich also wie selbstverständlich unterstelle, dass sich die Sonne um die Erde dreht, dann kann man Deiner Meinung nach gut und gerne davon ausgehen, dass diese Wahrnehmung eine für mich gültige Realität wiedergibt.

Natürlich erfahrene vs. angelernte Realität

K: Ja, es ist eine Form von Realität, weil du sie so erfährst. Du erfährst, solange du dich auf der Erde befindest, sicherlich nicht, dass die Sonne um die Erde kreist, was den Tatsachen ja eher entsprechen würde. Du musst dich vielmehr dazu zwingen, es so zu sehen und wahrzunehmen. Und selbst wenn es dir kurzzeitig gelingt, so wirst du, sobald du dich nicht mehr darauf konzentrierst, zu deiner wahrnehmungskonformen Vorstellung zurückkehren. Man könnte also sagen, die uns vertraute und logisch erscheinende Realität widerfährt uns – einfach so. Das Wissen darum, dass es sich eigentlich anders verhält, erzeugt in uns eine andere Realität, eine angelernte. Diese muss uns zwangsläufig immer mehr oder weniger fremd erscheinen.

W: Aber was ist nun mit dem Wissen, das wir durch die Technik erhalten, also durch die von ihr erzeugten Instrumente, die uns helfen, die Erfahrungsfähigkeit unserer Welt künstlich zu erweitern? Kann es nicht sein, dass ich mich an den Anblick einer Welt, die ich durchs Mikroskop beobachte, derart gewöhnen kann, dass sie mir nicht mehr fremd erscheint, dass sie Bestandteil meiner Realität wird? Oder, um beim Thema der sich umkreisenden Gestirne zu bleiben: Kann ich nicht den Eindruck kontraintuitiver Fremdheit dadurch vermeiden oder sogar ins Gegenteil, nämlich einer erfahrbaren Realität, verkehren, indem ich mich mit diesem Thema gewohnheitsmäßig auseinandersetze, bis ich selbst daran glaube und überzeugt bin, dass es so ist, dass es Realität ist, und zwar keine angelernte, sondern eine erweiterte, die genauso zu unserem Leben gehört wie das tägliche Zeitunglesen?

K: Bist du sicher, also ich weiß nicht?! Wenn ich durchs Mikroskop blicke oder durch ein Teleskop, dann sehe ich zwar Zellhaufen oder den Saturn, aber zu beiden habe ich doch eigentlich überhaupt keine praktische Beziehung. Diese sind für mich einfach unerreichbar, es bleibt doch immer dieses Gefühl von Distanz zurück. Ich kann mich nicht in den Zellenhaufen hineinlegen, um ihn zu spüren, oder ich kann nicht einfach auf dem Saturn landen und mich auf seine Oberfläche setzen, um ein Picknick zu machen. Als Künstler kann ich mir diese Möglichkeiten aber durchaus vorstellen und auch realisieren. Deswegen denke ich, ein Künstler hat die Aufgabe, das Unmögliche möglich zu machen, zumindest virtuell. Die Grenzen der Wissenschaft zu sprengen.

W: Ich bitte dich! Selbst die Dinge, die dich unmittelbar umgeben, sind doch eigentlich höchst rätselhaft und unergründlich, wie steht es denn zum Beispiel mit deinem eigenen Selbst? Bist du etwa ganz bei dir, hast du dich zu hundert Prozent? Bist du dir über alles, was du bist oder sein könntest, im Klaren? Haben wir denn nicht auch zu uns selbst eine unüberwindliche Schranke, die Distanz vermittelt? Fremdheit im eigenen Hause sozusagen.

K: Das stimmt natürlich. Du meinst also, der Wunsch, auf dem Saturn zu landen oder sich selbst erkennen zu wollen, ist vergleichbar? Das heißt gleichermaßen herausfordernd? Der eine Wunsch nicht unrealistischer als der andere?

W: Ja, genau! Wir hatten ja schon vorhin diskutiert, dass selbst das, was wir direkt vor unserer Nase sehen, das Ergebnis eines illusionierenden Wahrnehmungsaktes ist. Ich will damit nur sagen, dass wir in jeder Hinsicht, gleichgültig, ob wir nun Instrumente nutzen oder einfach nur unsere Augen aufmachen, von faszinierenden Rätseln umgeben sind.

K: Ich denke, das ist genau der Stoff, der für die Kunst so inspirierend ist.

W: Und für die Wissenschaft.

K: Das heißt, uns interessieren die gleichen Dinge?

W: Nun, nicht unbedingt die gleichen Dinge, aber die gleichen Rätsel um die Din

Allgegenwärtige Krisen

K Klar, öffnet man sich den Rätseln des Lebens, dann öffnet man sich automatisch auch den Krisen, die an jeder Ecke auf einen lauem. Wissenschaftler und Künstler öffnen sich also gleichermaßen den allgegenwärtigen Krisen. Wir sitzen tatsächlich im selben Boot.

W: Dennoch gibt es natürlich auch ausgeprägte Unterschiede zwischen uns, einige davon haben wir ja bereits herausgearbeitet.

K: Dass der Wissenschaftler sich an Fakten halten muss, der Künstler dagegen nicht!

W: Ha, selbst der Künstler muss sich an bestimmte Fakten halten, damit er sich nicht mehr an die Fakten halten muss.

K Ich weiß, was Du meinst. Um kreativ sein zu können, muss man natürlich auch eine Basis haben, man kann sich nicht von vornherein dieser Basis entledigen, denn dafür brauchte man ja auch wiederum eine Basis.

W: Ja, so etwas wie Basissätze, Axiome, ohne diese könnten wir in der Mathematik oder Physik überhaupt nicht auskommen.

Axiome

K Mir scheint, als gäbe es mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede zwischen uns. In der Kunst gibt es auf jeden Fall solche Gesetze, die eigentlich nicht weiter hinterfragt werden können. Sie müssen vielmehr vorausgesetzt werden. Man könnte sie ästhetische Axiome nennen. Ein Beispiel für ein ästhetisches Axiom wäre, dass jedes Kunstwerk eine Grenze haben muss, eine Grenze zu seiner Umgebung, und dass aus diesem Axiom gefolgert werden muss, dass man als Künstler notwendig dieser Grenze eine bestimmte Form, eine Gestalt geben muss.

W: Meistens sind die Bilder aber doch einfach nur viereckig. Was gibt es da großartig zu beachten?

K Nun, ein Bildformat könnte im Grunde alle möglichen Formen annehmen. Wir sprachen vorhin vom Kreis – in einem anderen Zusammenhang – , du kennst doch sicherlich auch Kunstwerke, deren Formate kreisförmig sind, oder? Also, anhand des Kreises konnten wir ja auch schon ein bestimmtes Thema, das der Unendlichkeit, dingfest machen. Mit dem Format kann man also schon einiges zum Ausdruck bringen, ohne dass man in es selbst schon etwas hineinzeichnen oder malen müsste.

W: Interessant. Das Format ist also schon mit Inhalt, mit Aussage, mit Bedeutung angefüllt und transportiert diese auf ästhetischem Wege. Das Ergebnis ist eine bestimmte Wirkung.

K: Ja, wie gesagt, Wirkung ist alles. Gibt es denn etwas Vergleichbares auch in deiner Profession?

Das Atom – als Modell

W: Dass durch die Form oder Struktur der Grenze zwischen etwas Innerem und etwas Äußerem bereits die Qualität von etwas festgelegt würde!? Nun, ich könnte mich zunächst einmal fragen, ob es für das von dir angesprochene Axiom gegebenenfalls sogar eine physikalische Erklärung gibt.

K: Das wäre interessant! Aber wie will man das physikalisch erklären?

W: Stimmt, das ist schwierig, zumindest könnte man es wahrnehmungspsychologisch erklären. Aber ich möchte ja zur Physik eine direkte Parallele finden. Nun, da würde mir zum Beispiel das in sich abgeschlossene System des Atoms einfallen. Die Form oder Struktur des Atoms bestimmt seine Eigenschaften und damit auch Wirkungen. Natürlich muss man hier mit dem Begriff der Form aufpassen, immerhin hat bislang noch niemand ein Atom direkt gesehen. Aber vorstellbar ist, dass ein Atom irgendwie schon eine Grenze haben dürfte, zumindest eine Grenze seiner Wirkung auf seine Umgebung. Seine Form beziehungsweise Struktur bestimmt sowohl, wie es sich auf seine Umgebung auswirkt, als auch, wie seine Umgebung in der Lage ist, auf es einzuwirken.

K: Wenn das wirklich so ist, dann erkenne ich hier in dieser erstaunlichen Parallele tatsächlich so etwas wie ein universelles Axiom. Kann man denn nun aber wirklich und begründbar sagen, dass ein Atom eine bestimmte Form hat?

W: Nun, zumindest hat es eine räumliche Ausdehnung. Also müsste es ja auch automatisch eine bestimmte Form haben. Ich denke aber, dass wir hier zu sehr unser alltägliches Vors tellungsvermögen bemühen. Da muss man etwas aufpassen. Wenn man an ein Atom denkt, stellt man sich immer gleich bildhaft dieses bekannte Modell vor, bei dem Teilchen, die Elektronen, um den Atomkern, bestehend aus Protonen und Neutronen, herumsausen. Solange man sich eingesteht, dass es sich dabei lediglich um ein Modell handelt, finde ich das in Ordnung. Aber die Realität sieht sicherlich ganz anders aus. Dennoch, wenn man recht bedenkt, geht es uns doch mit den großen, greifbaren Dingen in unserem Leben ähnlich. Wenn wir an den Begriff Stuhl denken, dann haben wir auch erst einmal ein Modell eines Stuhles im Kopf. Ein Modell, das begrifflich das Wesentliche eines Stuhles beinhaltet, unabhängig einer konkreten Ausprägung. Also muss auf jeden Fall einmal eine Sitzfläche vorliegen, gegebenenfalls dann noch eine Stuhllehne; und dass natürlichdie Sitzfläche etwas vom Boden erhaben sein sollte, sonst könnte man sich ja gleich auf den Boden setzen. Modelle sind also Abstraktionen, die aber doch in der Lage sind, das Wesentliche eines Gegenstandes zu erfassen. So gesehen hat ein Modell von etwas auch eine Grenze, man könnte sagen eine Eigenschaftsgrenze. Das Wesentliche wird vom Unwesentlichen getrennt, abgespalten. Im Prozess der Modellbildung wird nunmehr die Form und damit auch die Grenze des Gegenstandes herausgearbeitet.

K Aber fällt dir denn dabei nicht auf, dass das alles menschliche Konstruktionen sind!? Offensichtlich haben wir das Bedürfnis, Modelle von unserer Welt zu entwickeln. Aber ob diese die Wirklichkeit widerspiegeln, steht doch auf einem ganz anderen Blatt.

W: Nun, die Modelle sind im Grunde nie fertig. Sie sind Ergebnisse von beziehungsweise Ableitungen aus Experimenten, und in der Wissenschaft herrscht der Vorbehaltgrundsatz, der uns davor schützt, ein absolut fertiges Modell unterstellen zu müssen.

K: Aber wie ist denn nun die Form eines Atoms zu charakterisieren, und wie bestimmt diese Form seine Eigenschaften und Einflussmöglichkeiten in Bezug auf seine Umgebung?

W: Erstens ist festzustellen, dass die unterschiedlichen Grenzeigenschaften eines Atoms die unterschiedlichen chemischen Elemente unserer Welt hervorbringen, diese reichen bekanntermaßen über den leichten, einfach aufgebauten Wasserstoff bis hin zu den schwersten Elementen, zum Beispiel Uran.

K Was für Grenzeigenschaften sind das denn?

W: Das sind solche Eigenschaften, die die einzelnen Elemente untereinander unterscheidbar machen.

K Aber wie passt das zum Format eines Bildes oder zur Grenze eines Kunstwerkes?

W: Nun, mir fällt dabei auf, dass man das Format eines Bildes nicht als bloße Hülle oder Umgrenzung verstehen sollte, die man nachträglich mit Bildelementen anfüllt. Vielmehr ist das Format die Grenze der Ausdrucksgestalt. Erst wenn die Gestaltung beendet ist, ist auch das Format, die Abgrenzung zur Umgebung endgültig definiert. Bei einem Atom ist das auch nicht anders.

K Ich denke, das ist bei allen Objekten so Deswegen können wir hier wohl tatsächlich getrost von einem universellen Axiom sprechen.

W: Das Interessante an der Form oder Struktur von Atomen ist aber nun, dass deren Aufbau einerseits immer sehr vergleichbar ist, dass aber andererseits durch das Hinzutreten eines Teilchens, zum Beispiel eines einzigen weiteren Protons (was allerdings auch das Vorkommen weiterer anderer Nukleonen wie Neutronen zur Folge hat) die Eigenschaft des Elementes sich stark verändert. Was ich sagen will: Im Grunde besteht jedes Atom immer aus den gleichen Bausteinen, nur deren zahlenmäßiges Aufkommen führt dazu, dass es ganz andere Eigenschaften besitzt.

K: Ich verstehe. Aber ist das denn in einem Kunstwerk nicht auch so? Wenn wir einmal von der Malerei ausgehen, dann besteht jedes Werk immer aus Farben. Nehmen wir an, uns stünden lediglich die drei Grundfarben zur Verfügung: Gelb, Rot und Blau. Diese drei Farben bilden dann die drei Grundbausteine des Werkes. Verändere ich nun die Mengenanteile, wäre ich in der Lage, eine Vielzahl unterschiedlichster Ausdruckseigenschaften zu erzeugen. Ich könnte also mit denselben Grundbausteinen eine ganze Palette unterschiedlichster Ausdrucksgestalten kreieren. Werke mit sehr diffenerenden Eigenschaften.

W: Diese Parallele leuchtet mir ein. Allerdings könntest du ja mit viel mehr Bausteinen, sprich Farben, arbeiten, in der Welt der Atome ist die Auswahl stärker begrenzt, deswegen gibt es auch nicht unendlich viele Elemente, sondern nur 118, zumindest sind so viele bislang bekannt. Aber auch die Atome beziehungsweise Elemente gehen untereinander eine Vielzahl von Verbindungen ein, es entstehen Zusammenschlüsse von Atomen zu Molekülen, und diese Zusammenschlüsse ermöglichen ihrerseits die Vielfalt des Lebens. Im Grunde sind beide Bereiche also in der Tat absolut vergleichbar.

Selbstbespiegelung unseres Geistes

K: Faszinierend! Jetzt kommt aber mal wieder der Philosoph in mir durch, denn ich frage mich, woher das kommt, dass wir überhaupt eine solche Parallele zwischen zwei ganz unterschiedlichen Sphären ziehen können!? Ist es vielleicht nur die Art, wie wir denken, dass also unser Denken eben so funktioniert, wie es funktioniert, und dass wir unsere vergleichenden Schlüsse aus einer gewissen Denknotwendigkeit heraus ziehen, und nicht aus einer Notwendigkeit heraus, die in den Dingen selber wohnt?

W: Du meinst, dass sich unser Verstand immer nur selbst bespiegelt? Dass wir Zusammenhänge erkennen wollen, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt? Also, das könnte man so sehen, aber es muss auch nicht unbedingt so sein. Es könnte und dürfte sich meines Erachtens im Gegenteil so verhalten, dass genau unsere geistige Fähigkeit, solche Parallelen zu ziehen, gewissermaßen ihren Ursprung in den Gesetzmäßigkeiten haben, die wir in den Struktureigenschaften der Materie vorfinden. Nur, wie kommen diese geistigen Prinzipien in die Materie hinein?

Geistige Strukturen

K: Ich würde mal behaupten, dass jeglicher Zusammenhang zwischen Elementen eine Struktur erzeugt, und dass diese als geistige Struktur aufzufassen ist, deswegen sind wir auch in der Lage, diese zu lesen und zu erkennen. Schließlich sind wir ein Teil dieser Welt, ausgestattet mit der Fähigkeit, Strukturen zu lesen.

Geist und Materie

W: Du würdest also nicht sagen, dass ein geistiges Prinzip vor allem anderen existiert, durch das erreicht wird, dass sich komplexere Strukturen aufbauen können.

K DU meinst ein universelles schöpferisches Prinzip, das keinen materiellen Trä-ger benötigt? So etwas wie Platonische Ideen?

W: Ja, genau! Aber natürlich schwer vorstellbar, dass es etwas Geistiges geben könnte, das keinen materiellen Träger hat. Ich denke, dass man Geistiges und Materielles nicht so starr gegenüberstellen sollte: da die Materie, dort der Geist. Es ist, glaube ich, eher wie ein Geben und Nehmen.

K Ich versuche einmal, diesen Gedanken auf die Kunst und den Malprozess zu übertragen. Dort habe ich zunächst erst einmal nur eine materielle Ausgangs Situation. Farben, Pinsel, Leinwand etc. Reine Materie. Wobei – bei der Leinwand ist schon etwas mehr, da habe ich, falls ich die Leinwand auf Keilrahmen aufziehe, schon mehr als nur Materie. Denn mit der bespannten Leinwand habe ich ja schon eine bestimmte Formung der Materie, ich habe ein bestimmtes Format als Bildträger. Und ein Format ist nicht mehr nur Materie.

W: Aber, entschuldige, dass ich dich unterbreche, hat denn die Materie nicht auch schon eine Form? Die Farbe zum Beispiel, ich denke, du gehst von Farben aus der Tube aus, die man sich im Laden kaufen kann... Wenn es sich um Ölfarben handelt, dann besteht die Form der Materie ja bereits darin, dass Farbpigmente mit Ölvermischt und dann in eine Tube gefüllt werden. Aber selbst, wenn der Menschüberhaupt noch keinen Einfluss auf die Form der Materie ausgeübt hat, besitztdoch schon jegliche Materie eine bestimmte Form, also auch einen bestimmtenCharakter. Das hat uns ja bereits bis zu den Atomen geführt... Man müsste alsokonsequenterweise sagen, dass der innere Aufbau eines Atoms bereits eine geistigeStruktur aufweist.

K Aber worin besteht dann eigentlich Geist? Und wie kann Geist ohne materiellen Träger existieren?

Geist als Beziehung