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Jurriaan Kamer · Rini van Solingen

Formel X

Wie Sie die Prozesse in Ihrem Unternehmen extrem beschleunigen

Ein Businessroman

Aus dem Niederländischen von Rolf Dräther

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Jurriaan Kamer · jurriaan@formule-x.nl

Rini van Solingen · rini@formule-x.nl

Lektorat: Christa Preisendanz

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Translation Copyright für die deutschsprachige Ausgabe © 2020 dpunkt.verlag GmbH Wieblinger Weg 17 · 69123 Heidelberg

Autorisierte Übersetzung der niederländischen Originalausgabe

Hinweis:

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»If everything seems under control, you’re not going fast enough!«

Mario Andretti
(ehemaliger Formel-1-Fahrer)

Geleitwort von Robert Doornbos1

Obwohl mich die meisten Menschen als (ehemaligen) Autorennfahrer und Formel-1-Analysten bei Ziggo-Sport kennen, war es mein größter Kindheitstraum, einmal Wimbledon zu gewinnen. Von klein auf habe ich mich fortwährend mit Tennis beschäftigt und einige Jahre lang an Wettbewerben auf hohem Niveau teilgenommen, bis ich 1998 gemeinsam mit meinem Vater als Gast des Williams-Teams nach Spa-Francorchamps zum Grand Prix von Belgien eingeladen wurde. Es war sofort um mich geschehen. Diese Geräusche. Diese Kraft. Diese Geschwindigkeit. Wahnsinn! Auf dem Heimweg war mir völlig klar: Das ist mein Ziel, hier liegt meine Leidenschaft. Meinen Tennisschläger hängte ich an den Nagel und der Wunsch, mir eine Karriere als Autorennfahrer aufzubauen, war geboren.1

Weil ich hart daran arbeitete, niemals aufgab und alles für den Sport gab, stand ich genau sieben Jahre später im Startfeld der Formel 1. Meinen ersten Grand Prix fuhr ich auf dem Hockenheimring. Ganz vorne stand mein großes Idol Michael Schumacher. Den habe ich während des Rennens noch ein paar Mal gesehen … ich glaube, er hat mich mehr als vier Mal überholt. Aber das machte mir nichts aus; ich fuhr Autorennen! Insgesamt durfte ich elf Rennen in der Formel 1 fahren – eine fantastische Erfahrung. Erfolge im Autorennsport hatte ich später hauptsächlich in der amerikanischen Variante der Formel 1: der IndyCar-Serie2. In dieser Meisterschaft habe ich Rennen gewonnen und um den Meistertitel gekämpft. Die USA sind ein großartiges Land, um dort als Spitzensportler zu leben und zu wohnen. Während meiner Rennkarriere habe ich gelernt, dass Ziele entscheidend sind. Nur indem man sich ambitionierte Ziele setzt, gelingt es, alles aus sich herauszuholen und bis an die Grenzen zu gehen. Denn genau dort, im Grenzbereich, liegen die Chancen, besser zu werden. Noch gezielter, noch schneller, noch besser. Ein Ziel, viel Disziplin und unendlich viel Durchhaltevermögen. Dann ist der Erfolg immer in Reichweite.

Diese Erkenntnis habe ich auch in mein Leben nach der Rennkarriere mitgenommen. Nicht nur als Analyst, sondern auch als Unternehmer. Aus meiner Sicht sind es drei entscheidende Dinge, die ich in meinem Geschäftsleben noch heute täglich nutze. Zuallererst: eine konstante Balance zwischen risk und reward zu finden. Wie viel Risiko ist man bereit einzugehen, um sein Ziel zu erreichen, und wie hoch ist die damit verbundene Belohnung? In der IndyCar-Serie habe ich einen Teamkollegen verloren (Justin Wilson) und war selbst häufig genug arg lädiert. Es ist mir einige Male passiert, dass einen Tag nach dem Rennen jemand mit einem Scheck über Hunderttausend Dollar an meinem Krankenbett stand, weil ich den Preis für den »Kracher der Woche« gewonnen hatte. Mit einer kollabierten Lunge kann man aber nur mühsam lachen, das weiß ich aus eigener Erfahrung. Auch bei Investitionen in Startups nehme ich immer eine Risk-Reward-Abwägung vor. Dabei lasse ich mich so viel wie möglich von meinem Gefühl leiten, so wie hinter dem Steuer, doch immer wieder suche ich die Balance zwischen Gefahren und Erträgen.

Zum Zweiten habe ich gelernt, wie wichtig Menschenkenntnis beim Aufbau von Teams ist. Im professionellen Rennsport auf höchstem Niveau dreht sich alles um das Team. Angefangen bei dem, der den Werkstattboden streicht, bis hin zu demjenigen, der die Leitung innehat. Sie alle sind vollwertige Mitglieder des Teams und jeder trägt auf seine Weise dazu bei, das Team voranzubringen. Wenn ich beispielsweise heutzutage einmal das Red-Bull-Team besuche, kenne ich bestimmt noch siebzig Prozent der Menschen dort. Und auch sie kennen mich noch, obwohl es inzwischen mehr als zehn Jahre her ist, dass ich im Red Bull RB2 meine Runden fuhr. Teammitglieder wachsen innerhalb des Teams, verbessern sich selbst und damit auch das Team. Darüber hinaus sind sie äußerst loyal, was ein Zeichen dafür ist, dass es stimmt.

Zu guter Letzt habe ich gelernt, dass für manche Menschen doch noch ein Unterschied zwischen Sponsoring und einem Darlehen besteht ;) Doch zum Glück ist diese Angelegenheit ganz und gar abgeschlossen.

Als Jurriaan und Rini mich baten, für dieses Buch ein Geleitwort zu schreiben, hatte ich einen Augenblick lang Zweifel. Was habe ich, ein ExSportler, in einem Managementbuch zu suchen? Obwohl ich nicht wirklich viel lese, war ich doch neugierig auf dieses Buch. Ich sehe nämlich immer mehr Parallelen zwischen der Formel 1 und der Wirtschaft: das Streben nach Perfektion, die schrittweise Verbesserung und die zunehmende Schnelligkeit und Agilität. In der Formel 1 dreht sich alles um das Rennen am Sonntag. Das ist entscheidend. Dort werden die Preise vergeben. Auch in der Wirtschaft gibt es solche Momente. Vielleicht nicht am Sonntagnachmittag, aber es gibt sie. Ist das gesamte Unternehmen dann einsatzbereit? Begreift jeder, dass nun, nach Tausenden Stunden gemeinsamer Vorbereitung, die Ernte eingefahren werden kann? Sind alle bereit, um für den ersten Platz durchzuhalten? Kurzum: Kann man sich auf seine Teammitglieder verlassen, wenn es wirklich ums Gewinnen geht? So gesehen ist es tatsächlich eine schöne Idee, einmal zu schauen, wie die Lektionen aus der Formel 1 auf das »normale« Wirtschaftsleben übertragen werden können. Vor allem, wenn es um Teamarbeit geht, denn darin zeichnet sich die Formel 1 aus.

Deshalb habe ich mit viel Freude das Manuskript gelesen und dieses Geleitwort geschrieben. Formel X liefert einen guten Überblick über Lektionen aus der Formel 1, die direkt in Unternehmen angewendet werden können. Und durch die erzählerische Form findet man schnell Zugang zu dem Buch. Es ist leicht lesbar; ich hatte es innerhalb weniger Stunden durch. Und das Wesentliche wird am Ende noch einmal in einem übersichtlichen Modell zusammengefasst. Das Buch handelt eigentlich mehr von selbstorganisierten Teams und Organisationsveränderung als vom Rennsport. Das fand ich persönlich etwas schade, denn Autorennen fahren ist meine Leidenschaft. Ich bleibe natürlich durch und durch ein Rennfahrer.

Nichtsdestotrotz verschafft dieses Buch einen hervorragenden Einblick, welche Aspekte der Formel 1 auch in der Wirtschaft relevant und anwendbar sind. Ich erkannte beispielsweise den Fokus auf Vereinfachung wieder oder die ständige Fragestellung: »Wird das Auto dadurch schneller?« Diese immer wiederkehrende Suche nach der extra Hundertstelsekunde, denn all die Hundertstelsekunden summieren sich zu ganzen Sekunden auf. Und die entscheiden dann über Gewinnen oder Verlieren. Auch der Fokus auf ständiges Lernen und Verbessern war mir nicht fremd. Damit ist die Formel 1 gespickt. In jedem Rennen lernen, wie das kommende Rennen noch besser werden kann. Darin liegt der Schlüssel zum Erfolg. Immer!

Fazit: Formel X ist ein Buch, das sich gut liest und Einsichten vermittelt, wie man Lektionen aus der Formel 1 in die eigene Praxis überführen kann. Deshalb empfehle ich dieses Buch von Herzen. Ich wünsche viel Freude und Inspiration beim Lesen. Und danach … beschleunigen!

Robert Doornbos
Amsterdam, 9. April 2019

Inhalt

Die Geschichte

Prolog

Teil IFreies Training

Quickie

Ins Büro

»Kitchen Slow«

Ein Toast

»Formel Kitchen«

Das Interview

Teil IIQualifikation

Besprechung

Geht nicht – gibt’s nicht!

Ein Alptraum

Besser steuern

Das Ultimatum

Die Einladung

Teil IIIDas Rennen

Luxusmenschen

Verwunderung

Nachbesprechung

Teamchef

Lieber umkehren …

Teil IVNeustart

Weekly

Weiter verweisen

Ein Entscheidungsbaum

Hände

Schnell entscheiden

Teil VDie letzte Runde

Werksbesichtigung

Insomnia

Gesunder Menschenverstand

Automatisieren

Im Kiesbett

Verzweiflung

Teil VIZiellinie

Überholvorgang

Poleposition

Finish

Das Modell

SCHNELLER

Schnell und eigenverantwortlich entscheiden

Nordstern

Einfacher

Lernen und anpassen

Leidenschaftliche Teams

Elementare Physik

Rhythmus

Anhang

Mehr lesen?

Danksagung

Über die Autoren

Über den Übersetzer

Stimmen zum Buch

Die Geschichte

Prolog

Als das Echo der zugeschlagenen Tür verhallt, wird es auf einmal sehr still im Haus. Ist es wirklich das, was ich will? Und – ist es all das wert?

Dann klingelt mein Telefon. Die Nummer kenne ich nicht. Ich drücke den Anruf weg. Drei Sekunden später wieder dieselbe Nummer. Noch einmal drücke ich sie weg, werde aber sofort wieder angerufen. Also beschließe ich ranzugehen.

»Ronald Verhulst, ja bitte?« Ich merke selbst, wie gereizt das klingt. Am anderen Ende ist Poltern und Lärm zu hören und Musik im Hintergrund. Erst kann ich nichts verstehen, doch dann höre ich: »Hallo, hallo? Ich bin’s. Hörst du mich? Kannst du zu mir kommen? Ich muss dich unbedingt sprechen.« Es dauert einen Moment, ehe ich die Stimme von Henk, unserem Großaktionär, erkenne. Er klingt verwirrt. Scheint betrunken zu sein. Vor allem aber höre ich Panik in seiner Stimme. Natürlich kann ich zu ihm kommen. Für Henk würde ich alles tun – was auch passiert. Ich springe in mein Auto und fahre los.

Als wir uns knapp eine Stunde später treffen, ist er noch immer aufgewühlt. »All die Jahre habe ich verdammt hart gearbeitet, und nun ist das alles umsonst gewesen!« Das klingt nicht wie Henk. »Henk, was meinst du damit? Was ist los? Warum diese Panik?« »Hast du denn wirklich überhaupt nichts mitbekommen, Ronald?! Es ist in den letzten Monaten sehr schnell bergab gegangen mit meinem Geld. Ich bin fast pleite. Wir haben gerade noch Geld für die nächsten paar Wochen. Immer wieder habe ich aus eigener Tasche zugeschossen, aber damit ist nun auch Schluss!« Betrübt spricht er weiter: »Ich sehe die Schlagzeilen schon vor mir: vom Multimillionär zum Sozialhilfeempfänger!« Schweigend starrt er vor sich hin. Ich bin völlig perplex und weiß nicht, was ich sagen soll. Dann sieht er mich auf einmal an und packt mich fest an den Schultern. Mit ausgestreckten Armen schaut er mir direkt in die Augen, als er mich anfleht: »Du bist der Einzige, der uns jetzt noch retten kann, Ronnie. Bitte, ja? Nur du kannst das schaffen.«

Teil I

Freies Training

Neun Monate zuvor

Quickie

Neun Monate zuvor, an einem Samstagnachmittag im März

»Ronald, warum unternimmst du nichts dagegen? Du bist doch der Geschäftsführer?«, ruft meine Frau verärgert vom Sofa im Wohnzimmer aus. Ich hole mir gerade in der Küche einen Espresso. Sie hat unsere Werbespots noch nie ausstehen können, aber dieses Mal klingt sie noch gereizter als sonst. »Das geht nun echt zu weit! Dieser Spot ist wirklich extrem sexistisch!«

Ich habe Yvonne kennengelernt, als ich in Hannover Logistik studierte. Wir wohnten im selben Studentenwohnheim. Als ich sie das erste Mal sah, war ich sofort verrückt nach ihr. Es war wirklich Liebe auf den ersten Blick. Naja, von meiner Seite aus. Nicht aber bei Yvonne. Sie hatte eine nahezu undurchdringliche Mauer gegen alle Avancen testosterongesteuerter Studenten um sich errichtet. Doch ich war fest entschlossen und habe echt lange durchgehalten – von Blumen bis zu Briefen und von Schokolade bis hin zu Rosenblättern. Am Ende ließ sie sich überzeugen und ging mit mir aus. Noch im selben Monat haben wir unsere Studentenzimmer gekündigt und eine kleine Wohnung gemietet. Nach dem Studium haben wir geheiratet.

In dem Werbespot spielt unser Firmeninhaber und Großaktionär, Henk Sneller, die Hauptrolle. Er ist wie ein Cowboy gekleidet: nackter Oberkörper, braune Stiefel, Jeans und auf dem Kopf ein großer grauer Cowboyhut. Sein langes graues Haar schaut als Pferdeschwanz darunter hervor. In dem Reklamespot protzt er mit seinem braungebrannten, behaarten Brustkorb. Henk ist schon weit in den Sechzigern, aber ich muss zugeben, dass er mit seiner schlanken, muskulösen Statur um einiges jünger aussieht. Links und rechts hat er jeweils den Arm um die Hüfte eines gut aussehenden Fotomodels gelegt. Die beiden tragen Arbeitskleidung unseres Unternehmens, jedoch eher die wenig verhüllende, ultrakurze und hautenge Variante. Sie schmachten mit einer sexy Pose in die Kamera und beide haben eine Hand auf Henks nackter Brust liegen.

Mit einem breiten Grinsen und einem kräftigen Augenzwinkern sagt Henk: »Howdy! Da bin ich wieder, der Küchen-Cowboy. Sie wollen eine neue Küche, haben aber nicht viel Zeit? Dann gehen Sie schnell auf die Website von Kitchen Quick. Wir sind auf schnelle und sehr zufriedenstellende Lieferung spezialisiert. Also – Lust auf einen Quickie? Dann schnell zu kitchenquick.nl. Für schön, gut und schnell!!« Der Spot endet mit einem breiten Lächeln und ebensolchem Augenzwinkern von Henk, während ihm beide Models gleichzeitig einen Kuss auf die Wangen drücken.

Die Werbung ist natürlich absichtlich irritierend und völlig übertrieben. Genau dadurch fällt sie auf. Natürlich habe ich Henk schon vorgeschlagen, deutlich professionellere Werbespots zu machen, doch davon wollte er nichts wissen. »Sie wirken sich doch positiv auf die Verkaufszahlen aus, oder?«, war seine Reaktion. Und da hat er Recht. Je mehr über unsere Werbung gesprochen wird, desto mehr verkaufen wir. Und wenn die sozialen Medien explodieren, dann regnet es bei uns Aufträge.

Inzwischen sind schon wieder vier Jahre vergangen, seit Henk mich bat, für ihn bei Kitchen Quick zu arbeiten. Ich war reif für eine Veränderung, nachdem ich rund acht Jahre bei einer großen Supermarktkette in verschiedenen Managementfunktionen tätig war. Dort herrschte ein permanenter Druck, immer wieder auf der Karriereleiter einen Schritt höher zu klettern, hoch oder raus. Davon hatte ich irgendwann einfach genug. Ich nahm mir einen Karrierecoach, der mir den Rat gab, mich auch einmal bei kleinen und mittelständischen Unternehmen umzuschauen. Er brachte mich direkt mit einem seiner Kunden in Kontakt: Kitchen Quick – ein durch und durch bodenständiges Unternehmen, allerdings mit einem Firmengründer und Großaktionär amerikanischer Herkunft.

Ich beschloss, mich als Geschäftsführer zu bewerben, und wurde eingestellt. Ganz sicher ein Wagnis für Henk, denn ich war noch nicht einmal dreißig und hatte keinerlei Erfahrung mit Küchen. Doch Henk ist jemand, der nach Potenzialen Ausschau hält, und die sah er offenbar in mir.

Am Anfang musste ich erst einmal lernen, mit ihm klarzukommen. Henk ist ein unkonventioneller Mann, der irgendwie alles auf die Reihe kriegt. »Geht nicht – gibt’s nicht!« ist sein Motto. Er ist eigensinnig, gewitzt und klug, ein richtiger Unternehmer also, jemand, der überall Chancen wittert, Geld zu verdienen. Und das mit Erfolg. Bereits vor seinem Dreißigsten war er schon Multimillionär. Dies ist etwas, womit er sich gern brüstet. Ich denke, das hat mit seinen amerikanischen Wurzeln zu tun. Meist trägt er extravagante und auffällige Kleidung. Er besitzt beispielsweise eine große Kollektion glänzender Lackschuhe in den verrücktesten Farben: knallrosa, grellgrün, … Doch wenn ich ehrlich bin: Mit seinem gebräunten Gesicht und seinen langen grauen Haaren steht ihm das alles immer gut.

Henk wollte sich aus dem Tagesgeschäft ein Stück weit zurückziehen. Der »Laden«, wie er immer sagt, lief ja eigentlich beinahe von allein. Man traf Henk immer seltener in den Geschäftsräumen an. Er kümmerte sich nun hauptsächlich um allerlei neue Start-ups. Ich glaube, Kitchen Quick zu führen, war für ihn nicht mehr so spannend. »Ich will einen Geschäftsführer, der auf meine Rente aufpasst«, war seine Hauptmotivation, mich einzustellen.

Für diesen Job mussten wir von unserem Appartement im Zentrum von Hannover in eine Wohnung im Umland ziehen. Für Yvonne bedeutete das kein großes Problem, denn als Interim-HR-Managerin ist sie es gewohnt, im ganzen Land Aufträge zu haben. Und ich fand es einfach schön, künftig etwas ländlicher zu wohnen. Es ist eine schöne Umgebung für Kinder, falls wir einmal welche haben sollten.

Kinder oder keine – dieses Thema führt immer wieder zu Diskussionen zwischen Yvonne und mir. Sie hat sich immer gewünscht, zwei Kinder zu haben. Yvonne ist jetzt einunddreißig und damit ein paar Jahre jünger als ich, und nachdem ihre jüngere Schwester gerade ein Baby bekommen hat, meldet sich auch bei ihr die biologische Uhr. Ich möchte auch gerne eine Familie haben, bin mir aber darüber im Klaren, dass das eine Entscheidung ist, die man nicht rückgängig machen kann. Und wir haben noch eine Menge Pläne, zu denen Kinder nicht so recht passen: Reisen, Karriere machen und vielleicht sogar ein paar Jahre im Ausland leben. Yvonne redet in letzter Zeit immer häufiger darüber, schwanger zu werden. Gleichzeitig hat sie vor ein paar Wochen eine anspruchsvolle Ausbildung zur Organisationsberaterin begonnen. Sie merkt, dass sich die Anforderungen an die Arbeit als HR-Managerin gerade stark verändern. Immer häufiger besteht im Markt Nachfrage nach Freiberuflern mit Kenntnissen über neue Organisationsformen. Meiner Meinung nach ist diese berufliche Veränderung eine gute Idee, bevor wir konkret an das Gründen einer Familie denken. Ich hoffe sehr, dass sie zuerst ihre Ausbildung abschließt. So wie ich Yvonne kenne, wäre eine Kombination aus Arbeit und Ausbildung und Schwangerschaft zur gleichen Zeit zu viel für sie.

Doch zurück zu meinem Job als Geschäftsführer bei Kitchen Quick. Im Vergleich zu meinem bisherigen Gehalt müsste ich um dreißig Prozent zurückstecken, wenn ich diesen Job annehme. Deshalb fragte ich Henk, ob ich zur Kompensation Geschäftsanteile bekommen könnte. Er hätte prinzipiell nichts dagegen einzuwenden, meinte er, nur nicht sofort. »Anteile muss man sich verdienen«, sagte er. Das konnte ich gut verstehen. Wir haben uns darauf geeinigt, später noch einmal darauf zurückzukommen.

Was ich an unserer Werbung am schwierigsten finde, ist nicht so sehr der Stil. Natürlich hat Yvonne Recht, dass sie ziemlich sexistisch ist, doch Werbung ist nun einmal dazu da, um aufzufallen und für Umsatz zu sorgen. Und in dieser Hinsicht funktionieren die Werbespots hervorragend. Was mich wirklich stört, ist die Botschaft darin. Der Küchen-Cowboy versichert nämlich, dass wir eine Küche wie einen »Quickie« liefern können, aber das stimmt ganz und gar nicht! Im Mittel liefern wir eine Küche innerhalb von ungefähr zwölf Wochen. Meist sind wir etwas schneller, aber es passiert auch, dass es länger dauert. Das ist nicht wirklich ein Problem, denn die Konkurrenz hat vergleichbare Lieferzeiten, aber zu hohe Erwartungen zu wecken, finde ich nicht klug. Dadurch enttäuschen wir am Ende nur unsere Kunden.

Bevor ich Geschäftsführer wurde, hat Henk bereits selbst vergeblich versucht, die Lieferzeiten zu verkürzen, und dies verbunden mit großem Frust sowohl bei ihm als auch bei den meisten Mitarbeitern. Denn abgesehen von kleinen Beschleunigungen hier und da im Prozess, blieb es doch im Großen und Ganzen bei den drei Monaten. Das nervte Henk maßlos, was mich nicht verwundert, denn er ist von Natur aus sehr ungeduldig. Wenn Henk sich etwas überlegt hat, dann erwartet er, dass andere das innerhalb weniger Stunden umsetzen können. Er hat überhaupt kein Zeitgefühl. Es scheint, als wolle er einfach nicht begreifen, dass manche Dinge Wochen und Monate brauchen können, ehe sie sich verändert haben. Das ist auch einer der Gründe, weshalb viele seiner Pläne versanden. Denn bereits während der Umsetzung einer seiner Ideen im Unternehmen hat er oft schon wieder eine viel bessere Idee. Unsere langjährigen Mitarbeiter haben sich inzwischen daran gewöhnt. Viele von ihnen warten erst einmal ab, wenn Henk einen Vorschlag äußert. Sie wissen nämlich, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis er seine Meinung wieder ändert.

Diese Grundhaltung finde ich schwierig, denn wenn ich einen Mitarbeiter um etwas bitte, muss ich jetzt immer überprüfen, ob er es auch wirklich erledigt. Ich möchte ja Vertrauen in meine Mitarbeiter haben, aber die Praxis hat mich gelehrt, dass das nicht ausreicht. Und diese Botschaft vermittle ich auch all meinen Führungskräften: »Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser!«

Ich konnte nicht ahnen, dass es genau diese Haltung war, die uns beinahe zum Verhängnis werden sollte …

Ins Büro

Montagmorgen – ein Arbeitstag wie viele andere

Ich fahre heute mit dem Auto zur Arbeit, weil ich abends noch einen Termin habe. Insgesamt hat Kitchen Quick vier über das Land verteilte Showrooms. Doch meistens halte ich mich in der Firmenzentrale auf, wo unsere Küchen auch produziert werden. Ich stelle mein Auto auf dem Parkplatz hinter dem Haus ab. Früher gab es für die Geschäftsleitung ein paar reservierte Parkplätze direkt am Haupteingang, auf denen Henk gern die größten und teuersten Autos parkte. »Dann können die Leute sehen, dass es hier sehr gut läuft!«, war dafür seine Begründung. Ich hielt dagegen, dass das für Zulieferer immer ein Zeichen ist, sich um die Preisgestaltung nicht zu viele Gedanken machen zu müssen. »Genug Geld hier«, strahlte das meiner Meinung nach aus.

Kaum war ich frisch als Geschäftsführer eingestellt, habe ich mir die Umfrage zur Mitarbeiterzufriedenheit angesehen. Daraus ging hervor, dass die reservierten Parkplätze für die Geschäftsleitung vielen Mitarbeitern ein Dorn im Auge sind. Das konnte ich gut nachvollziehen, denn in meinem früheren Job hatte ich mich auch immer über den Sonderstatus der Geschäftsleitung geärgert. Das Topmanagement hatte sogar einen eigenen Lift, der von der Tiefgarage direkt in die »Executive«-Etage fuhr. Nein, in meinem Unternehmen wollte ich keine Sonderparkplätze. Henk hielt von meiner Entscheidung überhaupt nichts. Erfolg muss man schließlich zeigen, aber er versprach, sich weniger ins Tagesgeschäft einzumischen. Dafür hatte er schließlich mich eingestellt.

Wenn ich morgens in der Firma ankomme, drehe ich eigentlich immer dieselbe Runde. Zunächst begrüße ich die Mitarbeiterinnen am Empfang. Danach gehe ich nach rechts in die Werkhalle: das Herz unseres Unternehmens. Hier werden die Küchen produziert. Sie steht voller Sägemaschinen und anderer Geräte. Es ist sehr staubig hier, überall liegt Sägemehl und es riecht immer herrlich nach frisch gesägtem Holz. Hier arbeiten rund dreißig Menschen. Ich kenne sie alle vom Sehen und die meisten auch mit Namen. Doch in ihren Overalls sehen sie sich alle ziemlich ähnlich. Und sie reden auch alle ein bisschen dasselbe. Ein paar Worte zu wechseln ist oft nicht drin, denn jeder trägt wegen der lauten Sägemaschinen Gehörschutz.

Mitten in der Halle, direkt bei der Kaffeemaschine, ist Theos Büro. Er ist der Leiter der Werkstatt, d.h. unserer Produktionsabteilung. Theo versucht seit Jahren, bei uns in der zweiten Etage ein Büro zu bekommen, doch ich unterstütze das nicht, denn ich bin davon überzeugt, dass sich ein Produktionsleiter direkt bei seinen Mitarbeitern in der Werkhalle aufhalten sollte. Als ich an seinem Büro vorbeikomme, klopfe ich kurz ans Fenster und winke ihm zu. Er telefoniert gerade.

Theo ist ein Baum von einem Kerl, gut zwei Meter groß, mit einer riesengroßen Nase. Er ist inzwischen über fünfundfünfzig, sieht aber für sein Alter noch richtig jung aus. In seinem lockigen schwarzen Haar ist noch kein bisschen Grau zu sehen. Es geht das Gerücht um, dass er es färbt, aber das streitet er vehement ab.

Als Kitchen Quick vor mehr als dreißig Jahren gegründet wurde, war Theo einer der ersten Mitarbeiter. Damals erhielt er den Spitznamen »die Säge«. Im Laufe der Zeit ist er bis zum Produktionsleiter aufgestiegen. Kaum zu glauben, dass er als Schreiner angefangen hat. Heute trägt er beispielsweise einen Anzug. Ich finde das ja ein bisschen eigenartig, als Produktionsleiter im Anzug herumzulaufen. Die Werkstatt ist staubig – schade um die gute Kleidung. Aber gut, von mir aus kann jeder selbst entscheiden, was er oder sie anzieht.

Theo sitzt seinen Leuten immer ziemlich im Nacken. Eines seiner Mottos ist: »Mitarbeiter sind von Natur aus faul.« Mitarbeiter sind ein notwendiges Übel, findet er. Sie verfügen nicht über das erforderliche Qualitätsniveau, tun nie wirklich das, was man von ihnen erwartet, machen genau im verkehrten Moment einen entscheidenden Fehler und sind krank, wenn es am wenigsten passt. Ich finde, diese Einstellung ist kompletter Unsinn, und diskutiere deshalb regelmäßig mit ihm darüber.

Von der Werkstatt laufe ich zum anderen Ende des Gebäudes und nehme dort den Lift in die dritte Etage. Dort befindet sich der Kundenservice, eine große Abteilung, die sich mehr und mehr hin zu einem professionellen Call-center entwickelt. Ein großer Raum voller Menschen, die mit Headset vor einem Computermonitor sitzen. Hier geht es oft zu wie in einem Gänsestall, bei all dem Geschnatter der Mitarbeiter. Ich frage mich, wie Menschen bei solch einem Krach überhaupt arbeiten können. Zum Glück hören die Kunden am Telefon nichts von all diesen Umgebungsgeräuschen.

Dort in der dritten Etage treffe ich Laura, die Leiterin des Kundenservice. Sie macht ihre Arbeit gut und sitzt oft noch selbst am Telefon, um Kunden zu beraten. Laura hat eine hohe Stimme, die freundlich, aber auch durchdringend ist. Sie hat lange blonde Haare und trägt eine kleine schwarze Brille. Wir haben sie eingestellt, als sie gerade ihr Studium in Kommunikation abgeschlossen hatte. Sie ist blitzgescheit und innerhalb weniger Jahre zur Abteilungsleiterin aufgestiegen. Laura hat wirklich ein Herz für die Kunden. Im laufenden Tagesgeschäft, wenn wir oft nur mit uns selbst beschäftigt sind, sorgt sie wieder dafür, dass wir die Kunden nicht vergessen. Von Natur aus ist sie ein klein wenig gegen die etablierte Ordnung, stellt oft Dinge infrage und fürchtet sich nicht, mit Tabus zu brechen. Gut, so jemanden in seinem Führungsteam zu haben!

Neben dem Kundenservice befindet sich die Kantine, ein freundlicher, großer Raum mit viel Tageslicht. Zum Mittagessen haben hier alle Platz, sodass wir nicht in Schichten essen müssen. Es ist wirklich gemütlich. Das Mobiliar haben wir erst kürzlich erneuert. Wir nutzen die Kantine auch gern, wenn es etwas zu feiern gibt. Hier haben wir beispielsweise vor Kurzem auf Theos dreißigjähriges Dienstjubiläum angestoßen.

Durch die Kantine laufe ich hinüber zur Abteilung Auslieferung. Sie wird von Wilma geleitet. Ihre Abteilung sorgt dafür, dass die Küchen beim Kunden aufgebaut und angeschlossen werden. Das erfordert viel Maßarbeit, denn letztlich ist jedes Haus und jede Küche anders.

Wilma ist sehr freundlich, ein richtiger »Menschen-Mensch«. Ich finde das ein schreckliches Wort, aber zu ihr passt es wirklich. Sie ist ein soziales Wesen, will für jeden das Beste und tut für ihre Mitarbeiter unglaublich viel Gutes. So hat sie sich die Geburtstage all ihrer Mitarbeiter notiert und besorgt immer ein persönliches Geschenk.

Ungeachtet der Tatsache, dass die Auslieferung die größte Abteilung in unserem Unternehmen ist, benötigt sie kaum Arbeitsplätze im Gebäude. Die Monteure sind nämlich fast nie im Büro. Wenn sie hierherkommen, dann nur um Küchen und Materialien abzuholen und in ihren Lieferwagen zu laden. Danach sind sie schnell wieder weg, auf dem Weg zum Kunden.

Vor einiger Zeit hatte Wilma ihren Arbeitsplatz ins Erdgeschoss verlegt, in die Werkstatt, direkt in Theos Nähe. So konnte sie ihre Mitarbeiter ohne großen Aufwand treffen, wenn sie hereinkamen, um Material aufzuladen. Doch das war nicht von Erfolg gekrönt. Wilma und Theo sind einfach zu gegensätzlich. Schnell kabbelten sie sich wegen jeder Kleinigkeit und so zog Wilma wieder zurück in den dritten Stock.

Nach einem kurzen Gespräch mit Wilma über den Stand der Dinge und die viele Arbeit in der Abteilung gehe ich über die Treppe hinunter in die zweite Etage. Am Fuße der Treppe spreche ich kurz mit meinen beiden Kollegen aus der Finanz- und Personalabteilung.

Dann gehe ich weiter, um nachzusehen, ob Paul, unser Leiter der Abteilung Verkauf & Planung, im Büro ist. Er ist der Vorgesetzte aller Verkäufer, die in den Showrooms arbeiten. Paul ist ein aalglatter Kerl, ein regelrechter Prototyp eines Verkäufers. Immer in Schlips und Kragen, mit Gel im Haar, einem breiten Lächeln und schneeweißen Zähnen. Und er ist stolz auf seine etwas zu große Armbanduhr und den leicht protzigen BMW. Ich weiß, dass einige Kollegen ihn hinter seinem Rücken »den Aal« nennen. Doch offenbar haben sie Respekt vor Paul, denn sie wagen es nicht, ihn so zu nennen, wenn er dabei ist.