Manfred Geier

Die Brüder Humboldt

Eine Biographie

Inhaltsverzeichnis

Zitat

ERSTES KAPITEL - Eine traurige frühe Jugend

ZWEITES KAPITEL - Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen

DRITTES KAPITEL - Der erste Schritt in die Welt

VIERTES KAPITEL - Zu den Gegenständen selbst

FÜNFTES KAPITEL - Augenzeuge von merkwürdigen Begebenheiten

SECHSTES KAPITEL - Jeder Mensch muß ins Große und Ganze wirken

SIEBTES KAPITEL - Jenaer Verhältnisse

ACHTES KAPITEL - Welch ein Genuß!

NEUNTES KAPITEL - Vor der Welt muß man das Vaterland ehren

ZEHNTES KAPITEL - Ich bereue nicht, was ich gethan habe

Abbildungen

Anmerkungen

Literaturhinweise

Namenregister

Bildnachweis

 

Was das Sonderbarste ist, so gleichen

wir uns doch eigentlich in tausend Stücken.

Für einen dritten muß es kaum zwei Leute geben,

über die es so amüsant sein muß,

sich vergleichend zu mokieren.

Wilhelm von Humboldt

an seine Frau Caroline, 16. März 1814

ERSTES KAPITEL

Eine traurige frühe Jugend

Warum die beiden Kinder die Natur lieben, während sie sich von den Menschen gequält fühlen

Als im Sommer 1823 die Geheimrätin Kohlrausch aus Berlin und die Fürstin von Hohenzollern im böhmischen Marienbad Johann Wolfgang von Goethe kennenlernen, sind sie sehr erstaunt. Der Vierundsiebzigjährige sieht viel schöner und jugendlicher aus als auf allen Altersporträts. Kein Wunder, denn er selbst fühlt sich gerade temporär verjüngt durch die Liebe zur neunzehnjährigen Ulrike von Levetzow, die sich mit ihrer Mutter ebenfalls in Marienbad aufhält. Doch von dieser letzten Liebe Goethes haben die beiden Damen nichts gewusst, als sie den berühmten Dichter ins Gespräch zu locken versuchen. Er ist recht wortkarg, und meist bemerkt er nur, obwohl mit abwechselndem Tonfall und reizvoller Bedeutungsvielfalt: «Wunderlich genug!» Man kommt auch auf Frau Kohlrauschs Heimatstadt zu sprechen. Ist der Herr Geheimrat schon einmal in Berlin gewesen? Goethe verneint es. Doch als man später über den gemeinsamen Bekannten Wilhelm von Humboldt redet, der sich nach seiner Entlassung aus dem Staatsdienst 1820 in die Einsamkeit seines Familienschlosses Tegel nahe Berlin zurückgezogen hat, fällt es ihm wieder ein: «Ach ja, da haben wir einst einen frohen Tag verlebt.» Gelassen kommentiert Goethe seine Erinnerungslücke. «Da sehen Sie, wie man sich doch zuweilen verschnappt.»1 Dann wird er ernst und bricht das Gespräch ab. Man merkt, dass er an seinen einzigen Berliner Aufenthalt nicht gern erinnert werden will. Oder ärgert er sich über seine Vergesslichkeit?

Es ist ihm also zunächst nicht bewusst, was er einst erlebt hat. In seinem Tagebuch hat er es festgehalten. Es ist im Mai 1778 gewesen. Eine diplomatische Mission hat Goethe, der seit 1776 als Geheimer Legationsrat in alle politischen Händel am Weimarer Hof verwickelt war, mit dem damals noch sehr jungen Herzog Karl August von Sachsen-Weimar in die preußische Hauptstadt geführt. Inkognito, als ein Herr von Ahlefeld, ist der Herzog, begleitet von seinem Jugendfreund Kammerherr von Wedel und Goethe, nach Berlin und Potsdam gereist. Mit König Friedrich II., dem «Alten Fritz», musste über Sachsen-Weimars politische und militärische Position im Bayerischen Erbfolgekrieg verhandelt werden, der zwischen Preußen und Österreich unmittelbar bevorstand. Am 15. Mai war man in Potsdam angekommen. Es waren keine günstigen Eindrücke, die Berlin während der nächsten Woche auf Goethe machte. Das ungeheure Gewimmel von Menschen, Pferden, Wagen und Geschützen beunruhigte ihn. Er saß an der Quelle des Krieges «in dem Augenblick, da sie überzusprudeln droht»2.

Ein wenig Entspannung versprach die kleine Tagesreise am 20. Mai 1778, über die Goethe stichwortartig notierte: «Von Berlin um 10 über Schönhausen auf Tegeln. Mittags Essen. Über Charlottenburg nach Zehlendorf. Nachts 11 in Potsdam.»3 Er war also wirklich in Tegel gewesen, und Jahrzehnte später wird die Erwähnung des Namens «Wilhelm von Humboldt» ihn daran erinnern, hier einen frohen Tag verlebt zu haben. Das war der Anlass für jene kurze Geschichte, die oft kolportiert worden ist und auch in zahlreichen Biographien über die Brüder Humboldt ihren festen Platz gefunden hat: Goethe habe Wilhelm 1778 in Tegel besucht, «aber dieser war noch ein junger Mann, und zählte noch nicht unter die Nobilitäten»4. Ausführlicher hat es Julius Löwenberg in der dreibändigen wissenschaftlichen Biographie Alexander von Humboldt, Leipzig 1872, ausgemalt: «Auch Goethe war im Mai 1778 bei seiner einmaligen Anwesenheit in Berlin als Gast in Tegel eingekehrt. Sein guter Genius führte den Dichter aus seinem Misbehagen in dem märkischen Athen zu Fuss über Schönhausen und Tegel nach Potsdam. Im tegelschen Schlosse hielt er Mittagsrast, als wäre er angezogen von dem geistigen Zauber der Stätte, auf der Wilhelm und Alexander, damals noch elf- und neunjährige Knaben einer ihm verwandten Generation, zu seinen Füssen spielten.»5 Da kann man sehen, wie sich auch Historiker zuweilen «verschnappen» und ihrer Phantasie freien Lauf lassen.

Dass der alte Goethe in seinem Marienbader Kurgespräch den Namen Humboldt mit seiner Reise nach Berlin und Tegel assoziiert hat, ist allerdings nicht erstaunlich. Denn beide Brüder haben in seinem Leben eine wichtige Rolle gespielt, seit ihren Begegnungen und wissenschaftlichen Gesprächen, die im Dezember 1794 in Jena ihren Anfang nahmen. Sie haben ihm oft, wie er in mythologischer Anspielung auf das unsterbliche Zwillingspaar Castor und Pollux schrieb, als «Dioskuren auf meinem Lebenswege geleuchtet»6, Alexander mit seinen breitgefächerten Naturforschungen, die auch Goethes naturkundliche Arbeiten oft in Schwung gebracht haben, und Wilhelm mit seinen ästhetischen und literarischen Reflexionen.

Doch für ein frohes Zusammentreffen mit den Brüdern bereits im Mai 1778 spricht weder ein verlässlicher Tatsachenbericht, noch gibt es überzeugende Indizien. Goethe selbst ließ unbestimmt, wen er mit «wir» gemeint hat. War der Herzog mit ihm in Tegel gewesen? Und warum hat er überhaupt an diesem 23. Mai einen Tagesausflug nach Tegel unternommen? Man weiß es nicht. Vielleicht hatte er in Friedrich Nicolais populärer Beschreibung der königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam gelesen, dass zu den Sehenswürdigkeiten der umliegenden Gegend auch das Dörfchen Tegel gehört. An einem mehr langgestreckten als breiten Gewässer, das den Havel-Fluss ausweitete, lag dieser kleine Ort im Amt Schönhausen, und dicht daneben befand sich ein Schlösschen mit einem «schönen Garten und Weinberg, deren Lage sehr reizend ist. An der anliegenden Kette von Anhöhen, die sämtlich mit Bäumen bepflanzt sind, hat man mannigfaltige Spaziergänge und an vielen Orten reizende Aussichten über den Tegelschen See nach Spandau und den anliegenden Orten.»7 Vor allem für seine Bäume war auch der Tegeler Wald berühmt, in dem der Forstrat Friedrich August von Burgsdorf nicht nur umfangreiche Baumschulen für einheimische Gewächse angelegt hatte, sondern auch zahlreiche fremde, vor allem nordamerikanische Holzarten auf märkischem Sandboden zu kultivieren versuchte. Diese Hinweise könnten für Goethe verlockend gewesen sein, war er doch selbst seit dem Frühjahr mit der Neugestaltung des Weimarer Landschaftsgartens am «Stern» und des Tiefurter Parks beschäftigt. Vielleicht war an diesem kleinen Flecken Tegel, draußen vor den Toren der sich in Aufregung und Unruhe befindenden Stadt, etwas zu sehen, das er für seine botanischen Zwecke nutzen könnte. Aber vielleicht hat Goethe sich auch nur durch Nicolais Empfehlung nach Tegel locken lassen, dass man dort in einem guten Wirtshaus, dem «Neuen Krug», ausgezeichnet speisen könne, «daher oft, von Berlin aus, hieher Spazierfahrten geschehen. Die Mahlzeiten müssen vorher bestellt werden.»8

«Mittags Essen», hielt Goethe fest. Den Namen «Humboldt» erwähnte er nicht. Er war also um 10 Uhr morgens aufgebrochen, hatte das Oranienburger Stadttor bald hinter sich gelassen und sich in nordwestlicher Richtung auf den beschwerlichen tiefsandigen Weg begeben, der die Menschen und Tiere nur langsam vorwärts kommen ließ. Der Sand um Berlin war staubartig. Über den Bach Panko wird er gekommen sein, dann durch die ausgedehnten Fichten- und Kiefernwälder, die man damals noch «Heide» nannte, durch die Jungfern-Heide, die Heiligensee’sche und Spandauische Stadt-Heide. Wie eine Urlandschaft streckte sich dann der lange breite Ausläufer der Havel vor ihm hin, mit seinen vielen Inseln, dann noch ein Wiesengrund, durch den sich ein Bach schlängelte, der eine Mahl- und Sägemühle antrieb. Auf der einen Seite dieses Mühlenbaches lag das kleine Tegel, auf der anderen konnte man auf einem Schildchen am Waldrand lesen: «Das Schlösgen».

Beschreibungen und Zeichnungen des Schlösschens zu Tegel vermitteln uns ein Bild dieses Ortes, an dem die Brüder Humboldt die meiste Zeit ihrer Kindheit und Jugend verbracht haben. Vom Bach führte ein angenehm schattiger Zugang zum alten Gebäudekomplex, damals zentriert um einen kräftigen Turm, an den sich rechtwinklig ein zweistöckiges Wohnhaus und ein Wirtschaftsflügel anschlossen. Dazu gehörte auch ein landwirtschaftlicher Gutshof. Ein Ziehbrunnen sorgte für den Wasserbedarf, Scheune und Stall beherbergten Futter und Tiere, und seitab lag das bescheidene Weinmeisterhaus, dessen Bewohner sich um die Weinstöcke kümmerten, die auf eingezäunten Hügeln in der Nähe angepflanzt worden waren. Trotz des sandigen Bodens war der Tegeler Wein durchaus zu genießen, auch wenn er ein «etwas krätziges Tischgetränk»9 gewesen sein soll.

Vor allem im Sommer hielt sich die Familie Humboldt, der das Gut und das Schloss seit 1766 gehörten, an diesem landschaftlich schönen Ort auf, während sie im Winter das Berliner Stadthaus bevorzugte. Und während es sehr unwahrscheinlich ist, dass am 20. Mai 1778 der damals elfjährige Wilhelm und sein zwei Jahre jüngerer Bruder Alexander zu Goethes Füßen gespielt haben, so ist gewiss, dass es vor allem die natürliche Umgebung Tegels war, in der sie sich gern herumtrieben. Nicht ohne Wehmut haben sie sich später an den befreienden Eindruck erinnert, den diese Natur auf ihr kindliches Gemüt gemacht hatte.

Am schönsten hat Wilhelm von Humboldt die Tegeler Landschaft seiner Verlobten Caroline von Dacheröden geschildert, als er ihr ein Bild des Ortes zu vermitteln versucht, an dem er groß geworden ist, und ihr damit zugleich einen Einblick in seine Charakterbildung öffnet, für die von Anfang an die Natur eine wichtige Rolle gespielt hat. «In Tegel ist’s sehr schön», schreibt er seiner geliebten «Li» am 8. Mai 1790 aus Berlin. «Die Gegend hat in der Tat etwas Romantisches, und für eine hiesige ist sie überschön. Und ich, der ich nun von meiner ersten Kindheit an da war, von wie vielen Erinnerungen werd ich ergriffen bei jedem Anblick. Wie oft stand ich, wie neulich, auf dem Weinberg und sah über das Feld und die Wiesen und den See und seine einzeln verstreuten Eilande hin! Sehnsucht dehnte dann meinen Busen aus.» (Br. I, 144) Die kleinen Hügel erschienen ihm damals wie Berge, und der See schien ihm ein Meer zu sein. Wunderbar fühlte er sich an diese Gegend gefesselt, deren Zauber ihn zutiefst berührte. Wenige Tage später, diesmal aus Tegel selbst, schreibt er seiner Geliebten, wie ihn wieder dieses sonderbare, nur selten ausgesprochene Gefühl überwältigt habe. Er erblickte «die Höhen, die Täler, die mir so manche schöne Freude gewährten von den ersten Tagen meiner Kindheit an. Wie mein Blick in der ersten weitstrebenden Jugend an dem See hing und sich hinausdachte, und weiter und immer weiter über die Fluren und Wälder, und wie sich das in mir abbildete, und ich so voll Mut und Lust war, weit zu wirken, große Taten zu vollbringen.» (Br. I, 460)

Von dieser jugendlichen Lust, die sich mit den frühesten Kindheitserinnerungen verbindet, ist in Wilhelm von Humboldts späten Jahren zwar nur noch wenig zu spüren. Sein energisches Streben nach großer Wirkung und sein Hinausdenken in die Ferne sind einem melancholischen Hang nach Einsamkeit gewichen. Doch auch dafür wird Tegel, wohin er sich für die letzten fünfzehn Jahre seines Lebens (1820 bis 1835) zurückzieht, der über alles geliebte Ort bleiben. Als habe er die Schönheit der Natur und die dadurch evozierte Freude seiner Jugend wiederfinden wollen, kehrt er mit seiner Frau Caroline in diese ländliche Gegend zurück, deren Bild er ihr dreißig Jahre früher so anmutig skizziert hat.

Jetzt bringt er es einer Freundin seiner Alterszeit in einer Reihe von Briefen anschaulich vor Augen. «Ich liebe Tegel sehr»10, schreibt er Charlotte Diede am 10. Juli 1822, während er gerade das alte schlichte Wohnhaus mit dem vierkantig derben Wohnturm durch Karl Friedrich Schinkel in jenes klassizistische, klar gegliederte Gebäude umbauen lässt, das bis heute nichts von seinem Reiz verloren hat. Damit ist nicht nur der griechische Geist in die märkische Landschaft eingezogen. Auch der Hausherr scheint endlich da angelangt zu sein, wo er einst mit kindlicher Naturfreude glücklich gewesen ist. Er preist der Brieffreundin die Gegend als die hübscheste um Berlin. Der große Wald, die schön bepflanzten Hügel mit ihrer Aussicht auf den See mit seinen vielen Inseln, das Haus, um das die hohen Bäume stehen, «die ich in meiner Kindheit erst in mäßiger Stärke sah, und die nun mit mir emporgewachsen sind»11, all das erfreut ihn wie das Kind, das er einst gewesen ist. Vor allem sind es die Bäume, die ihn noch immer verzaubern. Breitschattig stehen sie um das Haus und umziehen es mit einem bunten Fächer, berichtet er Charlotte Diede im Herbst 1824. In den Gärten und den Weinbergen stehen Obstbäume, der Park ist ein dichtes und dunkles Gebüsch, der See vom Wald umkränzt. «Ich habe eine besondere Liebe zu den Bäumen, und lasse nicht gern einen wegnehmen, nicht einmal gern verpflanzen. (…) Ueberhaupt liegt in den Bäumen ein unglaublicher Charakter der Sehnsucht, wenn sie so fest und beschränkt im Boden stehen, und sich mit den Wipfeln, so weit sie können, über die Grenzen der Wurzeln hinausbewegen. Ich kenne nichts in der Natur, was so gemacht wäre, Symbol der Sehnsucht zu seyn.»12

Auch im Denken und Fühlen seines jüngeren Bruders, von dem er während seiner Kindheit und Jugend keinen Tag getrennt war, hat die reizvolle Tegeler Landschaft nachhaltige Spuren hinterlassen. Ebenso anschaulich, fast schwärmerisch wie Wilhelm seiner Braut, hat Alexander von Humboldt diese Natur seinem geliebten Jugendfreund Carl Freiesleben geschildert. Er will ihm ein Bild seiner Kindheit entwerfen und zugleich Aufschluss über seinen Charakter geben. Am 5. Juni 1792 berichtet er dem Freund, mit dem zusammenzuleben er sich als größte Freude für seine Zukunft ausmalt, von einem Wochenendbesuch bei seiner Mutter in Tegel. Von Berlin lief er den weiten Weg hinaus zu dem Schlösschen. «Der Weg ist schrecklich sandig, geht aber durch einen dikken Wald», bis hin zu dem langgestreckten See, der von schön angebauten Inseln durchschnitten ist. «Hügel mit Weinreben, die wir hier Berge nennen, große Pflanzungen von ausländischen Hölzern, Wiesen, die das Schloß umgeben und überraschende Aussichten auf das mahlerische Ufer des Sees machen diesen Ort allerdings zu dem reizendsten Aufenthalte der hiesigen Gegend.» (Jbr., 192) Und wie sein Bruder vergisst Alexander von Humboldt nicht zu erwähnen, dass diese Natur ihm nicht nur eine überschwängliche Freude bereitete. Sie trug auch zu seiner geistigen Entwicklung bei, indem sie seine Gedanken anregte und sein Erkenntnisinteresse auf das Studium der Natur richten ließ.

Fast mit den gleichen Worten haben sich die Brüder Humboldt an den Genuss erinnert, den ihnen die reizende, anmutige, zauberhafte, überschöne, romantische, hübsche Natur bereitete. Doch sie haben nicht nur diese Empfindung miteinander geteilt. Beide vollzogen gleichermaßen auch die darauffolgende überraschende Wende. Denn voller Dramatik haben beide Brüder die Naturidylle in eine Katastrophenschilderung ihrer frühen Jahre umkippen lassen. Kaum hat Alexander von Humboldt seinem Freund Freiesleben die malerische Tegeler Landschaft beschrieben, überrascht er ihn mit dem Hinweis, dass gerade dieser Ort, sooft er ihn besuche, in ihm Wehmut und Trauer errege: «Hier in Tegel habe ich den größeren Theil dieses traurigen Lebens zugebracht, unter Leuten, die mich liebten, mir wohl wollten, und mit denen ich mir doch in keiner Empfindung begegnete, in tausendfältigem Zwange, in entbehrender Einsamkeit, in Verhältnissen, wo ich zu steter Verstellung, Aufopferungen p. gezwungen wurde. Wenn ich mich noch jetzt, da ich frei und ungestöhrt hier lebe, hingeben will in den Genuß, den die reizende, anmuthsvolle Natur hier in so reichem Maaße gewährt, so werde ich zurükgerufen durch die widrigsten Eindrükke, durch Erinnerungen an meine Kinderjahre, die fast jeder leblose Gegenstand hier rege macht.» (Jbr., 192)

Einsamkeit, Verstellung, Zwang: Mit ähnlichen Worten schildert Wilhelm von Humboldt die traurige Stimmung, unter der er als Kind litt. Nachdem er seiner geliebten Caroline das Bild einer gemeinsamen glücklichen Zukunft entworfen hat, teilt er ihr mit, dass seine Kindheit «öde und freudenlos» (Br. I, 39) dahingewelkt ist. Er verspricht der Verlobten einen gemeinsamen Himmel von Freuden, den er umso strahlender imaginiert, je dunkler er seine Jugend darstellt: «Ich hatte so eine traurige frühe Jugend. Die Menschen quälten mich; ich hatte keinen, der mir etwas war, aber wenn ich mir auch einmal einen so idealisierte – so konnt ich nicht mit ihm umgehen.» (Br. I, 134) Freude an der Natur, die den Blick ins Freie und Weite schweifen ließ; und Leiden an einer Lebensform, die einengte und in die quälende Einsamkeit trieb – um diese Entgegensetzung verstehen zu können, müssen wir nun unsere Aufmerksamkeit auf die Menschen richten, die in der Kindheit und Jugend der Brüder Humboldt die Hauptrollen spielten.

Der Vater. Alexander Georg von Humboldt ist 1720 im pommerschen Zamenz geboren worden. Mit sechzehn Jahren wurde er Soldat und nahm als Dragoneroffizier an den drei Schlesischen Kriegen teil. Im letzten dieser Kriege, der sieben Jahre dauerte, hat er nicht bis zum Ende mitkämpfen können. Wegen einer schweren Verletzung musste der königlich preußische Major 1761 den Kriegsdienst verlassen. Doch weil er in diesem Siebenjährigen Krieg das Vertrauen von König Friedrich II. gewonnen hatte, wurde er drei Jahre später zum Kammerherrn der Prinzessin Elisabeth von Braunschweig-Wolfenbüttel ernannt, der ersten Gemahlin des preußischen Thronfolgers und späteren Königs Friedrich Wilhelm II. Lange ist er es nicht geblieben. Bereits im Frühjahr 1769 wurde er, keineswegs ungnädig, aus seiner Stellung am kronprinzlichen Hof in Potsdam entlassen, nachdem die Ehe zwischen Prinz und Prinzessin gescheitert war. Nach dieser ehelichen Katastrophe konnte Major von Humboldt sich nun ohne Amt ins Privatleben zurückziehen und sich ganz um seine eigene Familie und seinen ansehnlichen Besitz kümmern. Er war bereits 46 Jahre alt gewesen, als er 1766 seine 21 Jahre jüngere Frau geheiratet hatte, die das Tegeler Schloss und anderen bedeutenden Grundbesitz als Mitgift in die Ehe brachte.

Doch bevor wir uns der Mutter von Alexander und Wilhelm von Humboldt zuwenden, noch ein kurzer genealogischer Hinweis auf die Familiengeschichte väterlicherseits, die sich bis ins frühe 16. Jahrhundert verlässlich rekonstruieren lässt.13 Bemerkenswert ist dabei nicht nur, dass die Humboldts (auch: Humpolt oder Homboldt), die ursprünglich aus dem ostdeutschen Pommern stammten, in einem weitläufigen Netz verwandtschaftlicher Beziehungen mit französischen und schwedischen Familienmitgliedern verbunden waren. Für ihre gesellschaftliche Position war auch bedeutsam, dass sie nicht zum alten Adel des preußischen Junkertums gehörten. Sie waren Bürger, erfolgreich und strebsam tätig als Handwerksmeister und Leibgardisten, Bürgermeister und Amtsschreiber, Hofkammer- und Legationsräte. Zwar hatten einige Humboldts als Offiziere den brandenburgischen Kurfürsten gedient. Doch erst Hans Paul Humboldt, königlich preußischer Hauptmann und Herr auf Gut Zeblin in Pommern, erbat und erhielt 1738 von seinem «Allerdurchlauchtigsten, Grossmächtigsten König und Allergnädigsten Herrn»14 Friedrich Wilhelm I. den erblichen Adelstitel. Das war der Vater von Major Alexander Georg von Humboldt, der nun zwar auch die Vorrechte eines «von» besaß, aber doch nicht durch die einengende Tradition der alten preußischen Landadelskaste beherrscht war.

Alexander Georg hat das Vertrauen des Hofes besessen. Auch nach seinem Ausscheiden aus dem Hofdienst gehörte er zum vertrauten Kreis des künftigen Königs Friedrich Wilhelm II. Man sprach davon, dass er unter diesem König Minister geworden wäre, wenn er noch den Thronwechsel erlebt hätte. Er war kein bornierter Höfling, sondern ein vielseitig interessierter Kopf, der für die neuen Ideen der Aufklärung offen war. Auf einem der seltenen Porträts, die von ihm erhalten sind, blickt er mit klaren, wachen Augen den Betrachter an, während um seine Mundwinkel ein leichtes, amüsiertes Lächeln spielt. Man schätzte ihn als einen Mann von Verstand und Geschmack. «Für einen solchen haben ihn Hohe und Niedere im Umgang erkannt und deswegen hochgeachtet. Er war auch ein großer Menschenfreund, leutselig und wohltätig. Sein Tod, welcher am 6. Januar 1779 im 59. Jahr seines Alters erfolgte, ward daher von jedermann bedauert.»15 Bekannte, die ihn gern im Schlösschen Tegel besuchten, dessen Umgebung er zu einer reizvollen Landschaft kultivierte, lobten seine leichte und muntere Unterhaltung, seinen liebenswürdigen Charakter, seinen aufgeklärten Freisinn und menschlichen Frohsinn, all das also, was «einen charmanten Kontrast mit der leisen Ruhe und Gemessenheit seiner Frau»16 bildete.

Die Mutter. Marie Elisabeth Colomb ist zwar 1741 in Berlin zur Welt gekommen. Aber zu ihrer Familiengeschichte haben vor allem Franzosen, Schotten und Niederländer beigetragen. Die Colombs lassen sich genealogisch bis auf den Stammvater Jean Colomb (1589  1672) zurückverfolgen, der Grund- und Hausbesitzer im südfranzösischen Städtchen Blausac war. Sein Sohn Henri musste als Hugenotte nach der Aufhebung des Edikts von Nantes 1695 aus Frankreich fliehen, ging zunächst nach Kopenhagen, wo er Madeleine de Moor heiratete, die wiederum Tochter eines anderen Flüchtlings war, des aus dem holländischen Geldern stammenden Direktors der bedeutendsten Pariser Spiegelmanufaktur. Vor allem durch ihn wurde ein stattliches Vermögen erwirtschaftet, das schließlich über die Colomb-Linie bis zu Marie Elisabeth gelangte, wobei auch der höhere preußische Beamte und Generalfiskal Wilhelm Durham, seinerseits schottischer Herkunft, keine unbedeutende Rolle spielte. Es sind also mannigfache und wechselvolle Schicksale gewesen, die sich hinter den Namen dieser multinationalen Ahnentafel mütterlicherseits verbergen.

Auch das Leben der Marie Elisabeth Colomb verlief in keiner ruhigen Bahn. Von bürgerlicher Herkunft aus hugenottischer Tradition, mit einem bemerkenswerten Vermögen, zu dem auch das «Colombsche Palais» in der Berliner Jägerstraße 22 am Gendarmenmarkt gehörte, wurde sie, gerade achtzehn Jahre alt, von ihren Eltern mit dem preußischen Hauptmann und wohlhabenden Gutsbesitzer Friedrich Ernst Baron von Holwede verheiratet, der wiederum das Erbpachtgut Tegel und das Gut Ringenwalde in die Ehe einbrachte. Und als schon bald ein Sohn geboren wurde, schien einem angenehmen Leben nichts mehr im Wege zu stehen. Doch bereits zwei Jahre später starb überraschenderweise Baron von Holwede. 1765 war Marie Elisabeth von Holwede eine junge Witwe geworden, mit einem kleinen Kind an ihrer Seite. Was konnte sie tun, um ihre gesellschaftliche Position zu halten und ihrem vaterlosen Kind eine standesgemäße Erziehung zu ermöglichen?

Sie wählte den noch immer junggeselligen, bereits 46 Jahre alten Kammerherrn und Major Alexander Georg von Humboldt zu ihrem zweiten Mann, den sie 1766 heiratete. Es soll eine «Neigungsehe»17 gewesen sein, auch wenn dabei finanzielle Vorteile und standesgemäße Überlegungen eine Rolle gespielt haben werden. «Seine Frau lebte mehr neben als mit ihm»18, weiß man über diese Beziehung zu berichten. Doch das sind Vermutungen, weil sich keine verlässlichen zeitgenössischen Informationen finden lassen. Mehrfach festgestellt worden sind nur die unterschiedlichen Charaktere und Verhaltensweisen der beiden Eheleute. Gegen die leutselige Leichtigkeit und muntere Heiterkeit ihres zweiten Mannes kontrastierte die zurückhaltende Ruhe und gleichmütige Kühle der Frau von Humboldt. Förmlich soll ihr Auftreten gewesen sein, korrekt, steif und ernst. Mit strenger Sparsamkeit achtete sie auf das Vermögen, in ständiger Angst vor dem Verarmen. Auch war sie häufig «leidend», meist still für sich, wobei über die Ursachen geschwiegen wurde. Sie «scheint eine jener Naturen gewesen zu sein, die weder sich noch anderen eine Gefühlsäußerung, vielleicht kaum ein lebhaftes Gefühl selbst gestatten»19. Das mag überzeichnet sein, da wir über ihre innere Gefühlswelt weder von ihr selbst noch von ihren Bekannten erhellende Auskünfte besitzen. Wir müssen uns in dieser Hinsicht mit der Charakterisierung begnügen, die Frau von Briest nach einem Besuch im Humboldt’schen Haus ihrer Schwester mitgeteilt hat: Frau von Humboldt, «ich versichere Dich, sieht heute so aus, wie sie gestern aussah und morgen aussehen wird. Der Kopfputz wie vor zehn Jahren und länger; immer glatt, fest, bescheiden! Dabei das blasse, feine Gesicht, auf dem nie eine Spur eines Affektes sichtbar wird, die sanfte Stimme, die kalte, gerade Begrüßung und die unerschütterliche Treue in allen ihren Verbindungen.» (Br. I, 54 f.)

Sie tat ihre Pflicht. Ihre Gefühle hielt sie verschlossen. Bereits im ersten Ehejahr brachte sie am 22. Juni 1767 in Potsdam, wo ihr Mann noch im Hofdienst als Kammerherr tätig war, Wilhelm zur Welt. Zwei Jahre später, am 14. September 1769, wurde Alexander in der Jägerstraße 22 geboren. Mit unerschütterlicher Treue sorgte sie sich um das familiäre Leben und die Vermögensverhältnisse. Aber was empfand sie für ihren Ehemann? Hat sie ihre Kinder geliebt? Und welchen Einfluss hatte ihr kühle Ausstrahlung auf deren Charakterbildung? Das sind nicht nur biographisch bedenkenswerte Fragen. Auch die beiden Söhne haben sie sich gestellt, verunsichert durch diese Mutter, die keine rechte Fühlung zu ihnen aufnahm, aber ständig etwas an ihnen auszusetzen hatte.

Mit äußerst distanziertem Ton hat später Alexander von ihr gesprochen, als habe er seine Erinnerungen löschen wollen. In einer autobiographischen Skizze sind nur die knappen sachlichen Hinweise zu finden: dass seine Mutter französischer Herkunft war und dass sie «Opfer»20 brachte, um den Kindern eine sorgfältige wissenschaftliche Ausbildung bieten zu können. Ausführlicher hat Wilhelm seine Mutter charakterisiert. Das lag nicht nur daran, dass er schon früh seine besondere Begabung für genaue Menschenbeobachtung entwickelt hat, die ihn später zu einem Meister der Charakterologie und Physiognomik werden ließ. Es ist auch in der Ähnlichkeit begründet, die er zwischen sich und seiner Mutter wahrgenommen hat, während Alexander eher dem Vater glich, nicht nur mit seiner weltoffenen Heiterkeit, sondern auch im körperlichen Ausdruck. Als ihn ein entfernter Verwandter väterlicherseits besuchte, stellte Wilhelm von Humboldt fest, dass dieser «dem Alexander sprechend ähnlich sieht. Mir sieht er gar nicht gleich, ich gleiche aber auch mehr meiner Mutter als meinem Vater, und so wundert es mich nicht.» (Br. III, 384) Er war wie sie recht klein, hielt seine Gefühle verborgen, war meist ernst und zeigte auch jene scheinbare Unveränderlichkeit, die für seine Mutter typisch gewesen ist. Wer ihn näher kannte, stellte erstaunt fest, er sei von keinem Alter gewesen. «Humboldt war nicht jung, weil er sechzehn, nicht alt, weil er sechzig Jahre zählte; nicht die Zeiten traten in ihm hervor, er nur in ihnen, und Humboldt der Knabe wie Humboldt der Greis war vor allem Humboldt, dies wesentliche Gepräge stand in ihm, alle Jahreszahlen hindurch, unverändert fest.»21

Wie bewusst ihm die Ähnlichkeit zwischen sich und seiner Mutter war, wird deutlich, als er 1814 aus London seiner Caroline mitteilt: «Ich gehe mit gesperrten Armen wie die selige Mama umher und klappere mit den Zähnen.» (Br. IV, 354) Die vor der Brust verschränkten Arme schützen nicht nur ein wenig vor der Kälte, sondern drücken auch die Abwehr aus, mit der sich der Mensch gegen die Welt zu verschließen versucht. Von dieser «gesperrten» Haltung seiner Mutter ist Wilhelm besonders berührt, als er ihr seine Heiratsabsichten mitteilt. Schweigsam geht sie darüber hinweg. Die Liebe ihres Sohnes scheint sie nicht zu interessieren. Nur über die finanziellen Herausforderungen dieser Eheschließung macht sie sich Gedanken. Liebe scheint für sie ein Fremdwort zu sein. Es kommt ihr kein einziges Mal über die Lippen. In dieser Hinsicht hat es Wilhelm besonders erschreckt, als er seine Mutter in Tegel besucht, um mit ihr über seine Hochzeitsabsicht und Zukunftsplanung zu sprechen. 28. Oktober 1790, Donnerstagabend: «Heute in Tegel sah ich einen Tintenfleck auf einem hübschen Tisch meiner Mutter und fragte danach. ‹Dein Vater hat ihn noch gemacht›, sagte sie mir, ‹ich habe schon so viel daran gewaschen, aber er will nicht rausgehn.› Neulich einmal war der Tag, wo wir sonst den Geburtstag meines Vaters feierten. Ich erinnerte meine Mutter daran, und sie wußt es nicht mehr. Ich bin wohl ein Kind, etwas andres von den Menschen zu erwarten; aber es durchschauerte mich so schrecklich.» (Br. I, 258) Und einige Monate später, als er kurz vor seiner Heirat noch einmal in Tegel ist, berichtet er seiner liebsten Li von den Nachmittagen, die er mit der Mutter verbringt: «Du kannst leicht denken, welch eine Leere da herrscht.» (Br. I, 479)

Die Hauslehrer. Wilhelm und Alexander von Humboldt haben nie eine Schule besucht. Sie haben keine Klassenkameraden kennengelernt, mit denen sie spielen und ihre kindlichen Freuden und Sorgen hätten teilen können. Ständig waren sie unter der Aufsicht von Erwachsenen, die zwar das Beste für sie wollten, aber ihre Empfindungen nicht nachvollzogen. Ihre Erziehung und Ausbildung lag, wie es in vielen vornehmen und begüterten Familien üblich war, in der Hand von Hauslehrern. Das waren meist junge Gelehrte bürgerlicher Herkunft, die sich als «Hofmeister» ihr erstes berufliches Auskommen verdienten. Wilhelm und Alexander haben sich darüber nie laut beschwert. Sie lobten die sorgfältige Erziehung, die sie im Sommer auf dem Tegeler Landsitz, im Winter in der Berliner Stadtwohnung erhielten.

Der erste dieser Privatlehrer war allerdings nicht für sie, sondern für ihren einige Jahre älteren Halbbruder eingestellt worden. Es war der später als Pädagoge, Buchverleger und Kinder- und Jugendbuchautor berühmt gewordene Johann Heinrich Campe, ein junger Theologe, der 1769 aus dem düsteren Halle an der Saale nach Berlin gekommen war, wo, wie er hoffte, der Geist der Aufklärung von Friedrich dem Großen königlich gefördert wurde. Campe hatte sich ein wenig vertraut gemacht mit den pädagogischen Vorstellungen der Philanthropisten oder «Neueren Erzieher», die keine Untertanen abrichten wollten, sondern mündige Bürger heranzubilden versuchten, deren Glückseligkeit nicht im göttlichen Jenseits erhofft, sondern im weltlichen Diesseits verwirklicht werden könne. Jeder Mensch sollte seine eigenen Kräfte und Fähigkeiten entfalten können, um für sich selbst so glücklich und für andere so nützlich wie möglich zu werden. Seine erste pädagogische Tätigkeit begann Campe im Hause der Humboldts, wo er sich vier Jahre der Erziehung des Stiefsohns des alten Majors widmete. Wilhelm und Alexander waren noch zu klein, um am Unterricht konzentriert teilnehmen zu können. Doch einige elementare Kenntnisse sind auch ihnen durch Campe vermittelt worden. Vor allem Wilhelm hat sich noch in seinen letzten Lebensjahren gern an diesen «menschenfreundlichen» Hauslehrer erinnert, nicht zuletzt wegen einiger Bäume, die er im Tegeler Park gepflanzt hatte und die nun groß geworden waren: «Ich habe bei ihm schreiben und lesen gelernt, und etwas Geschichte und Geographie nach damaliger Art, die Hauptstädte, die sogenannten sieben Wunderwerke der Welt u.s.f. Er hatte schon damals eine sehr glückliche, natürliche Gabe, den Kinderverstand lebendig anzuregen.»22

Bereits 1773 gab Campe seine Hofmeisterstellung auf und wurde Feldprediger im Regiment des Kronprinzen Friedrich Wilhelm. Ihm folgte, ebenfalls nach einem Theologiestudium an der Universität Halle, Johann Koblanck, der nun auch Alexander lesen und schreiben lehrte. Nach kurzer Zeit wechselte er, wie Campe, zum Militär und wurde Feldprediger bei einem königlichen Infanterieregiment. Nach ihm wurde ein Johann Clüsener als Hauslehrer eingestellt. Mitte der siebziger Jahre hat auch Campe noch einmal kurzzeitig bei den Humboldts unterrichtet.

Dann kam Kunth. 1777 ist er als Erzieher in den Familienkreis der Humboldts eingetreten. Er war zwanzig Jahre alt und auch, wie viele Hofmeister, Sohn eines protestantischen Geistlichen. Aber auf dem Pädagogicum in Halle und an der Universität Leipzig hatte er sich mehr mit den alten (Griechisch, Lateinisch) und den neueren Sprachen (Französisch, Italienisch) und mit juristischen Themen beschäftigt als mit dem theologischen Fachstudium. Er strebte eine politische Stellung im preußischen Staatsdienst an, als ihn Major von Humboldt in einer Berliner Gesellschaft traf und diesen rechtlich denkenden, gewissenhaften Mann als Hofmeister für den zehnjährigen Wilhelm und den achtjährigen Alexander einstellte.

Zwölf Jahre lang war Gottlob Johann Christian Kunth Erzieher der beiden Jugendlichen, bis diese 1789 in Göttingen zu studieren begannen und Kunth sich erfolgreich um seine eigene politische Karriere kümmern konnte. Dabei hat Kunth die übernommene Aufgabe zunehmend geschätzt. Auch seine beiden Zöglinge haben sich lebenslang für die Ausbildung bedankt, die sie unter Kunths Aufsicht bekommen haben. «Ich genoß, gemeinschaftlich mit meinem älteren Bruder Wilhelm, im Hause der Mutter, unter der Leitung eines talentvollen Mannes (des nachmaligen Geheimen Oberregierungsrats Kunth) eine überaus sorgfältige wissenschaftliche Erziehung.»23 Das schrieb Alexander von Humboldt 1852, im Alter von 83 Jahren. Ähnlich hat Wilhelm in einem Brief an Goethe 1826 seinen alten Lehrer und «ältesten Freund» gelobt: «Mir und meinem Bruder Alexander ist er besonders teuer, da er unsere Erziehung von unsrem 10. und 8. Jahre an bis zur Universität ausschließlich geleitet hat, und wir gewiß ihm nur die Richtungen schuldig sind, die wir nachher im Leben genommen.»24

Nicht nur für ihre Ausbildung war Kunth die wichtigste Leitfigur. Auch zur charakterlichen Bildung scheint er viel beigetragen zu haben. Dafür spricht der seelische Schmerz, den Alexander seinem ersten Lehrer Campe am 1. Mai 1789 aus der Universitätsstadt Göttingen mitteilt, wo er sich zum ersten Mal in seinem Leben, ohne seinen Bruder und ohne Kunth, «ganz, ganz allein» befindet: «Ich darf Ihnen nicht sagen, wie schwer es meinem Herzen wurde, mich von einem Führer zu trennen, der mit der edelsten Aufopferung zwölf Jahre alle Mühseligkeiten der Erziehung ertragen hat und dem ich alles, die Bildung meines Kopfes und meines Herzens verdankt habe.» (Jbr., 51) Was Alexander seinem verehrungswürdigen Freund Campe offenbart, schreibt Wilhelm mit gleicher Emphase drei Wochen später (22. Mai 1789) an Caroline von Dacheröden: «Du sahst in diesen Tagen, Li, einen Menschen bei Dir, der Dich gewiß sehr lebhaft an mich erinnerte. Ich meine Kunth. O! Lina, was der Name für Bewegungen in mir erregt, so oft ich ihn nur aussprechen höre, kannst Du nicht glauben. Er erinnert mich an Szenen, deren Andenken mich ewig erschüttern wird. Er leitete meine ganze Kindheit. Wie ich jetzt bin, so ward ich, nicht durch ihn, aber bei ihm, auf seine Veranlassung.» (Br. I, 38)

Was auf den ersten Blick als Lob und Dank erscheint, gibt sich bei genauerem Hinsehen als Abwehr zu erkennen. Würde man nämlich die Geschichte dieser Kopf- und Herzensbildung durch Kunth kennen, so müsste man beide Kinder bedauern und dafür dankbar sein, dass sie überhaupt noch leben. «Öde und freudlos ist meine Kindheit dahingewelkt», fährt Wilhelm fort, nachdem er kurz zuvor Kunths ewiges Andenken beschworen hat. Nur in der Liebe und in der Nähe zu den gemeinsamen Freunden sieht er ein Licht, das die Dunkelheit seiner Kindheit aus seinem Bewusstsein vertreiben kann. «Einmal glücklich zu sein im Kreise einer glücklichen Familie.» (Br. I, 39) Voller Sehnsucht ist dieser Wunsch, dessen Stärke sich nur aus den «kummervollen Empfindungen» erklärt, die Wilhelm zu überwältigen drohen, wenn er durch den Namen «Kunth» an Szenen seiner Kindheit erinnert wird. Nur wenige Wochen später, am 16. August 1789, wird Alexander aus Göttingen gleichgestimmt an einen Freund schreiben, «dass jeder Gedanke an meinen Berlinischen Aufenthalt mit Kummer verwebt ist. Unglükkliche Familienverbindungen, eine widrige Lage, in der man Leuten zürnen muß, die man aus so manchen andern Gründen hochschätzt – alles das wird meine künftige häusliche Ruhe stöhren. Wohl mir dann in Deiner Nähe! Du wirst mich das Glück fühlen lassen, zu wissen, dass unter allen Gütern der Erde, ein Freund das schäzbarste, so wie das unvergänglichste sei.» (Jbr., 67)

Was ist in ihrer Kindheit geschehen, um im Rückblick an all diese Ödnis, Gedrücktheit, Widrigkeit und Freudlosigkeit erinnern zu können, die Alexander und Wilhelm ihren späteren Freunden und Lieben mitteilen, um ihnen ihren Charakter und ihre Wünsche zu vermitteln? Sie haben keine Freunde gehabt und fühlten sich nicht wirklich geliebt. Niemand war da, der mit ihnen harmonierte. Die Hauslehrer kamen und gingen. Es mögen fähige Pädagogen gewesen sein, die über ein reichhaltiges Wissen verfügten. Aber statt auf die Empfindungen ihrer Schüler einzugehen, scheinen sie beruflich nur an deren geistiger Entwicklung interessiert gewesen zu sein. Auch Kunth leistete in dieser Hinsicht wichtige Arbeit. Nicht nur die guten französischen Kenntnisse der beiden Brüder gingen auf ihn zurück. Er hat mit ihnen auch lateinische Texte gelesen, die er in gutes, vor allem grammatisch korrektes Deutsch übersetzen ließ. Aber all das gleichsam mit einem erhobenen Zeigefinger, ständig korrigierend und kontrollierend, fast zwanghaft seinen Zöglingen über die Schultern schauend, ohne ihnen einen eigenen kindlichen Spielraum zu lassen. Dabei waren es keine peinigenden Strafen, die von diesem pedantischen, oft auch verdrießlichen Mann ausgingen. «Es war kein Befehlen, kein eigentliches Fordern von seiner Seite, nur so ein Gekränktsein, oder Sichstellen über die Dinge, die ihm missfielen.» (Br. I, 115) An fast allem hatte er etwas auszusetzen. Es wundert nicht, dass die beiden Kinder unter unaufhörlicher Aufsicht lernten, jede freiere Äußerung ihres Charakters zu unterdrücken und ein raffiniertes Netz von Verstellungen auszubilden.

Doch Kunth hätte wahrscheinlich auf die Bildung des Kopfes und des Herzens der beiden Brüder weniger Einfluss gehabt, wäre da nicht jenes Schicksalsjahr gewesen, dessen einschneidende Bedeutung Wilhelm von Humboldt zunächst nur andeutet. «Bis in mein zwölftes Jahr war ich natürlich, wie alle andern Kinder sind, nur ein wenig unartiger und verzogener als die gewöhnlichen»25, schreibt er 1787 in seinem ersten Brief an die Jugendfreundin Henriette Herz. Was in diesem zwölften Jahr geschah, wird er erst 1825 seiner Altersfreundin Charlotte Diede mitteilen: «Meinen Vater habe ich schon früher in meinem zwölften Jahre an einer Krankheit verloren, die bloß zufällig war, da er seinem sonstigen Gesundheitszustande nach noch lange hätte leben können.»26

Am 6. Januar 1779 starb Alexander Georg von Humboldt. Sein Tod wurde von allen, die diesen heiteren und unterhaltsamen Menschenfreund näher kennengelernt hatten, bedauert, war damit doch auch das einzige belebende und anregende Element im Hause Humboldt verschwunden. Frau Marie Elisabeth von Humboldt, verwitwete von Holwede, hatte zum zweiten Mal ihren Mann verloren. Sie wurde zunehmend kränkelnd, durch ihren leidenden Zustand verstimmt und immer ungeeigneter zu einer lebendigen Unterhaltung. Aus der Gesellschaft zog sie sich in sich selbst zurück «und beschränkte zuletzt all ihre Wünsche und Bestrebungen darauf, ihre Söhne zu jeder geistigen und sittlichen Vollkommenheit, welche für Menschen erreichbar ist, sich erheben zu sehen»27

Unterweisung zur Glückseligkeit nach der Lehre Jesu 28Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft

Glaubt Wilhelm bis in sein zwölftes Jahr «natürlich» gewesen zu sein wie alle anderen Kinder, so stellt er nun fest: «Mir gab die Natur wenig, was ich von ihr empfing, zerstörte das Schicksal früh.» (Br. I, 52) Die natürliche kindliche Lebenslust, die sich am väterlichen Vorbild zumindest ansatzweise entwickeln konnte, macht einer erschreckenden Kälte Platz, «an der ich kranke». (Br. I, 52) Wilhelm stürzt in eine tiefe Melancholie. Den Menschen, die ihm nahe sind, erscheint er als fühllos, menschenfeindlich, in sich gekehrt. «Es war eine tötende Gleichgültigkeit in mir», wird er seiner Li 1790 im Rückblick auf seine Jugend mitteilen, «so gar keine Erwartung und kein Bemühen, mir Freude zu machen, so ein bloßes Umtreiben und ein ewiges Studieren. Denn die meisten Menschen und Dinge waren mir nur so weit lieb, als ich an ihren lernen konnte.» (Br. I, 258) Ständiges Studieren, ununterbrochenes Lernen und intensives Lesen sollen die Leere ausfüllen, in die Wilhelm 1779 gestürzt ist. Das konnte auf den ersten Blick durchaus positiv klingen, wie in seinem Brief aus Tegel an Henriette Herz 1787: «In meinem zwölften Jahre gewann ich durch die Lektüre der alten Geschichte auf einmal Geschmack an Literatur und Wissenschaften. Ich saß fast immer bei meinen Büchern und war äußerst arbeitsam.»29 Kunth und seine Mutter werden sich gefreut haben.

Bruchstück einer Selbstbiographie    

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Niemand hat diesen wesentlichen Unterschied der beiden Brüder, die bei völlig gleicher Erziehung seit ihrer Kindheit in Temperament, Charakter, Neigung und wissenschaftlichen Interessen voneinander abwichen, besser erkannt und beschrieben als Wilhelm von Humboldt, der nach einem Treffen mit seinem Bruder in London am 9.Oktober 1818 seiner Frau Caroline schrieb: «Ich hätte durch das, was man durch immer auf äußere Gegenstände gerichtete Aufmerksamkeit ausrichtet, es nie weit gebracht. Ich bin von Natur und von Kindheit an mehr von einer innerlichen Natur gewesen. Meine äußeren Sinne selbst schon sind weder sehr scharf noch gerade ausgebildet. (…) Unsere Erziehung war eigentlich gemacht, das zu befördern. Alexanders ganz entgegengesetzte Natur hat sich davon losgemacht, und die Schranken, die man ihm von dieser Seite entgegensetzte, durchbrochen. Ich habe die Erziehung, die man mir gab, in meiner Manier aufgenommen und diese verstärkt.» (Br. VI, 336f.)